37813.fb2
Chicago hing wie eine Glitzerkette am Michigansee. Der von den Gebäuden und Lichtern reflektierte Schnee gab der Stadt eine zusätzliche Dimension.
Harriet, Carmen, Miguel, Jane und Ricky wohnten imTremont, einem noblen kleinen Hotel abseits der Michigan Avenue.
Ricky hielt eine Krawatte in blassem Lila an ein rosafarbenes Oxford-Leinenhemd. Er war ein Mann, der ein verwegenes Aussehen nicht scheute. Senffarbene Hosen und ein marineblauer Blazer vervollständigten seine Garderobe. Als er so in seinen Jockeyshorts dastand, bewunderte Jane seine Beine. Sie hatte diese Beine seit Jahren vor Augen, gewiß, aber noch immer fand sie sie attraktiv. Ricky Cooper, klein von Statur, war ein Mann, der auf Frauen wirkte. Sein Intellekt, verbunden mit aufrichtiger Menschenliebe, machten ihn zu einem populären Fernsehkommentator. Wenn er nicht auf Sendung war, gab es zwar auch für ihn gelegentlich gereizte und sorgenvolle Momente, doch solche Augenblicke waren selten.
Jane machte vielen Männern angst, weil sie so stark war. In Ricky hatte sie einen Ebenbürtigen gefunden. Daß sie eine so tolle Person war, beeinträchtigte ihre Beziehung nicht. Wenn die Avancen seiner Anhängerinnen Ricky einmal in Versuchung führten, brauchte er nur einen Blick auf die Männer zu werfen, die ständig an Janes Fersen hingen, um bei der Stange zu bleiben. Inzwischen wußten beide, daß sie praktisch haben konnten, wen sie wollten. Sie wollten einander.
Als Jane vor sechs Jahren Ricky zum erstenmal begegnete, war er zu ihr herübergekommen und hatte geflüstert: «Sie haben so wundervolle Augen.»
«Fällt Ihnen nichts Originelleres ein?» bekam er darauf prompt zu hören. Keine Frau hatte je so mit Ricky geredet. Jane Fulton war es völlig gleichgültig, daß er ein stadtbekannter Mann war, einer, der in der Welt herumkam, und eine Fernsehpersönlichkeit. Für sie war er nichts als ein allzu selbstsicherer Typ, und sie fühlte sich gelangweilt. Davon angestachelt, wollte er sich ihre Zuneigung erobern, bloß um zu beweisen, daß er es konnte. Er versuchte es mit sämtlichen alten Maschen. Erst schickte er Blumen. Sie gingen postwendend an ihn zurück. Er versuchte es mit Anrufen, Briefchen und Pralinen. Er ging sogar so weit, ein Schulorchester aus Philadelphia anzuheuern, das in die Redaktion desInquirer einzog und Sousa-Märsche spielte. Jane haßte John Philip Sousa. Dies zog sich monatelang hin. Schließlich, als alles nichts fruchtete, schwang er sich in den Zug nach Philadelphia und wartete auf sie, bis sie von der Arbeit kam. Sie hatte bereits eine Verabredung. Unverfroren trat Ricky auf sie zu und sagte: «Ich habe alles versucht. Ohne jeden Erfolg. Zugegeben, vielleicht mangelt es mir wirklich an Phantasie. Trotzdem lohnt es sich, mich kennenzulernen.»
Auf der Stelle sagte Jane ihre Verabredung ab. Sie und Ricky aßen in einem winzigen italienischen Restaurant, das ihr Lieblingslokal war. Sie machten den Laden dicht. Es hatte Ricky viele Blumen, Pralinen und ein Schulorchester gekostet, mit Jane als Person umgehen zu lernen, aber als er es erst mal gelernt hatte, bereute er es nie. Sie waren seit jener Nacht ein Liebespaar. Ein Jahr später heirateten sie.
Harriet fragte Jane einmal, ob ihr je der Gedanke gekommen sei, sich von Ricky scheiden zu lassen. Die Frage kam nach einer ihrer Auseinandersetzungen. Jane sagte wie aus der Pistole geschossen: «Scheiden nie, umbringen ja.»
«Wie spät ist es?» fragte Jane jetzt.
«Zeit für uns beide, an die Arbeit zu gehen.»
Schicksalsergeben verabschiedete sich Jane von seinen Jockeyshorts und den Schätzen darin. «Verdammt.»
Ricky zog den Reißverschluß seiner Hose zu. «Wenn alle Mädchen ihr Match in 45 Minuten hinter sich bringen, sind wir anschließend vielleicht noch nicht zu müde.»
«Dann würde Siggy im Dreieck springen, nicht?» Jane genoß den Gedanken an Siggy, der wie eine Klette an einem Sponsor hing und ihm fieberhaft erklärte, daß meistens die ersten Runden interessant seien. Die meisten Eröffnungsrunden waren zum Kotzen langweilig, und das Publikum wußte es. Deshalb ließ es sich ja erst beim Halbfinale blicken. So gut das Tennis der Damen auch war, es hatte noch immer nicht die Intensität, die das Spiel der Herren besaß.
«Siggy Wayne hat die Ausstrahlung eines Wasserspeiers.» Ricky band seinen Schlips. Er entschied sich gegen eine Krawattennadel.
«Wenn ich mit regionalen Sponsoren rumsitzen müßte, bekäme ich wohl auch eine Macke.»
«Bist du startklar?»
«Ja, ich bin startklar für eine neue Woche im TomahawkZirkus, einem kleinen Bassin voll menschenfressender Haie.» Jane angelte nach ihrem langen Silberfuchs und segelte an Rickys Arm aus der Tür.
«Hallo, Ekel», rief Jane keß Harriet zu, die sich ihren Weg durch die leeren Sitzreihen zum Trainingsplatz hinunterbahnte.
«Ekelchen. Für ein Ekel bin ich zu klein.» Die beiden umarmten sich. «Wo ist der schönste Mann auf dem Damenturnier?»
«Wen könntest du wohl meinen? Laß mich raten. Seth Quintard ist eben von New York City eingeflogen. Nein? Siggy Wayne muß es sein, die perfekteste Zellanhäufung der Welt. Sonst fällt mir kein Mann ein.»
Harriet hakte sich an Janes Arm. «Was treibt unsere letzte Chance?»
«Hektik. Du weißt ja, wie er am ersten Tag eines Turniers ist. Er muß alles inspizieren. Er ist nie über das US Open damals hing weggekommen, als er zwei Sätze ohne Ton sendete.»
«Ich behaupte noch immer, daß eine Spielerin die Kabel gekappt hat, weil ihre Seite nicht genügend ins Bild kam.»
Die beiden Frauen gingen ans Netz, um Carmen und Schmettie Kittredge beim Training zuzusehen. Carmen winkte Jane von der Grundlinie zu.
Schmetties australischer Akzent schlug durch. «He, Schlachtroß, wie isses?»
Jane antwortete in astreinem mittelatlantischen Tonfall: «Schmettie, ich höre, du hast ein rotumrandetes Schild <Vorfahrt beachten) über dein Bett gehängt.»
Carmen verpatzte einen Ball. «Unfair. Heb dir deine besten Sprüche auf, bis sie ausholt.»
Gehorsam wartete Jane, bis Schmetties Handgelenk sich nach hinten bog, um eine mörderische Vorhand zu schlagen.
«Schmettie, was ist eine Machofrau?» Schmettie hielt ihren Blick auf den Ball gerichtet. «Ich weiß nicht.»
«Eine, die ihren Vibrator mit dem Fuß anwirft.» Wie eine Rakete prallte der Ball von Schmetties Vorhand in Richtung Flutlichter.
«Witz mit Bart!» rief Carmen zurück.
Das Gelächter erstarb, als Happy Straker, Alicia Brinker und Susan Reilly auf ihrem Weg von einem anderen Trainingsplatz vorbeidefilierten. Nur Alicia winkte zum Gruß.
«Aufmarsch der Giftnudeln», flüsterte Harriet Jane zu.
Jane zuckte die Achseln: «Arschlöcher muß es ja schließlich auch geben. Nach Billie Jean King, Virginia Wade und all diesen Spitzenoldies kam Susan daher und rettete das Damentennis. Außer Susan war weit und breit nichts, bis Page Bartlett Campbell, Tracy Austin und Martina Navratilova auftauchten. Also verdient sie den Ritterschlag.»
Auf der Suche nach neuen Tennisbällen düste Susan mit Happy und Alicia im Schlepptau durch den Umkleideraum. Die drei hatten die Absicht, noch einmal rauszugehen und an Lobs zu arbeiten, obwohl sie eben ein schlauchendes Training hinter sich gebracht hatten. Happy Straker und Alicia Brinker ertrugen einander, weil Susan es so wollte.
Alicia grauste bei Happys Anblick. Sie hätte schwören können, daß Happy Anabolika nahm, denn keine Frau konnte so gräßlich aussehen und wirklich Frau sein.
Selbst bei bestem Willen hapert es bei der neuen Geliebten an Nachsicht für die abgelegte Liebhaberin. In der abgelegten Liebhaberin brodelt für gewöhnlich der Haß.
In dieser Situation gab es für Alicia und Happy nichts zu gewinnen, aber Susan profitierte davon, denn sie hatte eine gefügige Geliebte und eine eifrige Partnerin im Doppel.
Happy wechselte ihre durchgeschwitzten Socken gegen ein frisches Paar. «Du solltest Harriet Rawls ignorieren. Susan mag sie nicht, das weißt du.»
«Harriet hat mir doch nichts getan», sagte Alicia ungerührt.
«Susan hat das Gefühl, daß sie auf die Tour einen schlechten Einfluß ausübt.» Happy verschwieg, daß Susan dies von allen glaubte, die Susans Charisma nicht erlegen waren.
«Ich habe ja nicht gesagt, daß ich sie mag. Ich sehe bloß keinen Grund, rüde zu sein, das ist alles.»
Happy schob sich einen Schritt näher an die sitzende Alicia. «Wenn du Susan liebst, sind ihre Feinde auch deine Feinde. Ihre Freunde sind deine Freunde. Warum tust du nicht, was sie sagt? Dann hältst du dich länger.»
«Warum hast du dich nicht länger gehalten?» Dieser Pfeil saß voll. Schließlich steckte doch etwas Leben in Alicia.
Happy senkte ihre Stimme. «Susan war ihr Spielzeug leid.»
«Señor Knipe, wie Sie wissen, kann sich meine Schwester vor Angeboten kaum retten.» Miguel zog seine Señor-Masche ab, wenn er mit Amerikanern redete. Je mehr er sich wie ein Gaucho aufführte, desto mehr gefiel es ihnen. Es war das Jahr, in dem Sportredakteure die Worte «furchterregend» und «relevant» entdeckten. Miguel beschloß, ein furchterregender und relevanter Südamerikaner zu sein.
«Ja, aber es ist für einen guten Zweck.» Mr. Knipe war in Chicago sozial engagiert.
«Zweifellos, doch wenn Carmen allen hilft, die sie darum bitten, was würde dann wohl aus ihrem Spielen?» Er tätschelte beschwichtigend den Arm des Abgeblitzten.
«Wollen Sie nicht einmal mit ihr reden?»
«Natürlich, natürlich.» Miguels Stimme triefte von Verständnis. «Wie ich höre, Mr. Knipe, haben Sie von British Leyland die, hm, wie heißt es doch gleich, Alleinvertretung.»
«Ja. Den Sozialisten abgejagt.» Mr. Knipe liebte Jaguars, MGs und die anderen Autos, aber manchmal trieben ihn die Verhandlungen mit den Engländern schier zur Weißglut.
«Ich bin ganz Ihrer Meinung. Wir haben zu Hause auch unsere Sorgen. Die Inflationsrate ist schrecklich, schrecklich. Haben Sie eine Vorstellung, was eines Ihrer Autos in Buenos Aires kosten würde?»
«Hm, nein. Ich habe noch nie darüber nachgedacht.»
Miguel lächelte sein gewinnendes Lächeln. «Heute würde es 100000 Dollar kosten. Morgen?» Seine Hand schraubte sich in die Luft.
Mr. Knipe lächelte. Er war im Bilde.
Harriet gab einem plötzlichen Bedürfnis nach, die Schnittblumen in ihrem Hotelzimmer neu zu arrangieren. Es war der Abend vor dem Finale.
«Was tust du da?» Carmen hockte auf dem Bett und tüftelte an einem Kreuzworträtsel. Ihr Englisch war besser als das der meisten Amerikaner.
«Ich werfe diese langstieligen roten Rosen weg. Sie sind verwelkt.»
«Was ist ein anderes Wort für Fehlinformation?»
«Versuch's mal mit Quatsch.»
Carmen lächelte. »Nee, So viele Kästchen sind's nicht.» Sie blickte von ihrem Rätsel auf. «Woran denkst du eigentlich, wenn du nicht mit mir zusammen bist?»
«Historisches. Ich liebe Historisches. Katzenbestseller. Baby Jesus arbeitet an einem neuen.»
«Was?»
«Katapult. Dies ist eines über Katzenarchitektur.»
Carmen lachte, aber insgeheim wurmte es sie, daß Harriet auf ihre Frage nicht ernsthaft eingegangen war - wobei ernsthaft bedeutete, daß Harriet nicht an Historisches, sondern an sie denken sollte. Viele romantische Anspielungen kamen bei Harriet nicht an. Sie war zu ehrlich, um romantisch zu sein.
Minutenlang herrschte Stille im Raum. Der Bleistift kratzte übers Papier,
«Bist du sauer?» Harriet war etwas irritiert.
«Nein.»
Harriet rieb Carmens Schulter. Sie wußte, sie hatte etwas Falsches gesagt, wußte aber nicht, was. «Ich habe heute über Kachel und Lawrence Burns nachgedacht.»
«Huch.»
«Was meinst du, wie werden Menschen bloß so?»
«Gewohnheit.» Carmen fühlte sich besser. Die Massage hob ihre Laune.
Rachel und Lawrence Burns waren ein Ehepaar mittleren Alters, das in Cazenovia lebte. Rachel wünschte sich Kinder, brachte aber lediglich eine dermatoide Zyste hervor, ein Knäuel unentwickelter Augen, Zähne und Haare. Diesen Horror verwahrte sie in einem Mayonnaiseglas, setzte eine Baseballkappe obendrauf und nannte ihn Gene. Wenn man sich mit Rachel unterhielt, kam sie unweigerlich auf ihren «Jungen» und seine Liebe zum Baseball zu sprechen. Zweifellos hatte Rachel nicht alle Tassen im Schrank, aber sie war harmlos.
«Merkwürdig jedenfalls.» Harriet massierte mit den Daumen zwischen Carmens Schulterblättern. «Menschen, die ihre Lebenspflichten erfüllen, sind offensichtlich normal, haben aber alle irgendwo eine Macke.»
«Was diese olle Katze angeht, hast du ein Rad ab.»
«Ich habe nie gesagt, daß ich ganz richtig bin, was Baby Jesus betrifft.»
Harriet küßte Carmen auf die Wange. «Was hältst du von Sex in der Nacht vor einem schweren Match?»
«Das hättest du mich fünf Minuten eher fragen sollen. Jetzt ist es zu spät.» Sie umarmten sich, und Harriet biß in Carmens Unterlippe.
Carmen setzte ein Bein zwischen Harriets Beine. Ihre Arme, stark wie die eines Durchschnittsmannes, umschlossen Harriets Taille. Sie leckte Harriets Ohr, ihren Hals und kehrte zu ihrem Mund zurück. Mit einer Hand knöpfte sie Harriets Bluse auf, ein schwieriges Unterfangen. Mit ihrem Bein rollte sie Harriet auf den Rücken. Mit der Hand fuhr sie ihr unter den Rock. Carmen mochte gern, daß Harriet Röcke trug. Es war viel aufregender, unter einem Rock über die Rundung eines Schenkels zu streichen als über ein Hosenbein. Ihr Zeigefinger tastete über den Rand von Harriets Seidenslip, dann glitt ihre Hand überraschend unter den Stoff.
Carmen liebte Überraschungen, vor allem wenn sie deren Urheberin war. Ihre Handfläche glitt über Harriets feuchte Stelle. Carmens Zunge tauchte in Harriets Mund, und sie drang in ihre Geliebte ein. Sie hatte nicht die Zeit für eine lange Liebesnacht. Fester umschloß sie Harriets Bein und bewegte sich im Einklang mit ihr. Zuerst langsam, dann schneller, stieß sie in die Möse der Geliebten.
Als sie kamen, war es, als hätten sich zwei Motten ins Licht verirrt. Sie berührten die Flamme, versengten sich die Flügel und stürzten sogleich auf die Erde.
Zwei Stockwerke unter Harriet und Carmen schlich Alicia Brinker, die Frau mit der kühnen Vagina, heimlich über den Flur. Zwei kurze Klopfer, und eine Tür ging auf.
«Wo zum Teufel bist du gewesen?» fragte Susan.
«Ich bin beim Lesen eingeschlafen.»
«Du hast in deinem Zimmer gesessen und gelesen? Ich sitze hier und kaue mir die Nägel wund. Weißt du, wie spät es ist?»
«Hm, nein», sagte Alicia, «ich habe die Zeit total vergessen.»
«Du kommst zwei Stunden zu spät!»
«Susan, es tut mir leid.»
«Leid? Ich muß morgen gegen Hilda Stambach spielen, und dir tut es leid. Ich brauche dich hier bei mir.»
«Es tut mir leid. Es wird mir nicht wieder passieren.»
«Was hast du denn so Wichtiges gelesen?»
«Wenn wir an Jesus glauben, werden wir von allen Sünden reingewaschen.»
«Das hab ich schon in der ersten Klasse gehört.»
«Ich bin ganz durcheinander. Jesus liebt mich, aber Homosexuelle sind krank.»
«Ich wünschte, du würdest das Wort nicht gebrauchen.»
«Was soll ich denn sagen? Lesbierin?»
Susans Körper erstarrte. «Das ist ja noch schlimmer. Ich will, daß du, verdammt noch mal, überhaupt nichts sagst. Wir sind keine Lesben, und wir sind keine Homosexuelle.»
«Warum muß ich mich dann jede Nacht in dein Zimmer schleichen? Warum muß ich so tun, als wären wir bloß gute Freundinnen? Warum muß ich verduften, sobald Craig und Lisa auftauchen? Und wie kommt's, daß sie immer rechtzeitig für die Fernsehkameras da sind?» Die einst so gefügige Alicia überraschte Susan. Susan war es nicht gewöhnt, daß man ihr etwas entgegensetzte.
«Weil er mein Mann ist, und sie ist meine Tochter. Ich bin eine verheiratete Frau.»
«Und du hast eine Menge Liebhaberinnen gehabt.»
«Das Leben unterwegs ist einsam. Ich bin keine Lesbierin. Außer dir waren die sehr wenigen Frauen, mit denen ich zusammen war, hm, Fehler.»
«Alle Fehler von Susan Reilly sollen bitte aufstehen.»
Susan verpaßte Alicia eine Ohrfeige. Alicia fing an zu weinen, und Susan überkam Reue. «Tut mir leid, tut mir leid. Du hast mich dazu getrieben. Alicia, wein nicht. Du weißt, wie überdreht ich bin. Ich muß morgen gewinnen.»
Alicia wischte sich mit dem Handrücken die Augen. »Ja, ich weiß.»
«Außerdem, es geht nicht nur um Craig und Lisa. Denk doch, was es dem Damentennis antäte. Wir sind beruflich so jung, wenn du mal darüber nachdenkst. Wir können uns keinen Skandal erlauben. Dann wäre es aus mit uns.»
Alicia wußte nicht, ob die öffentliche Reaktion positiv oder negativ wäre, doch hatte sie gewiß nicht den Wunsch, das herauszufinden. Wenn andererseits Liebe ein so gutes Gefühl war, warum sollte sie es verheimlichen? Warum machte Gott sie zur Homosexuellen und verbot es dann? Sie begriff es nicht.
Susan zog ein Taschentuch heraus. Alicia schnaubte sich die Nase.
«Ich muß mich hinlegen. Laß uns nicht streiten. Wenn du Menschen liebst, streitest du nicht mit ihnen herum.»
Susan war nicht ganz klar, was da ablief, aber sie empfand ein Verlustgefühl. Sie verdrängte dieses Gefühl in den abgelegensten Teil ihres Bewußtseins. Sie war Susan Reilly, die größte Tennisspielerin der Welt. Diese anderen Frauen waren Fehler. Sie dachte einzig und allein an Tennis, und die Leute mußten begreifen, daß Tennis ihr Leben war. Diese anderen Frauen verstanden sie nicht. Sie stellten Ansprüche. Sie waren Fehler. Sie war schließlich nicht vollkommen. Man mußte ihr Fehler gestatten.
Das Problem mit Susan war nur, daß sie ständig die gleichen Fehler beging. Sie verliebte sich in eine Frau und konsumierte sie. Susan fand, daß ihre bloße Anwesenheit schon genug war. Was sonst sollte sie geben? Wenn sie die Nase voll hatte, gewöhnlich etwa nach einem Jahr, fand sie eine andere Frau.
Leider erinnerte sich Susan nicht mehr an das, was Jane Fulton mal gesagt hatte: «Wahnsinn ist, wenn man dauernd das gleiche tut, aber immer andere Resultate erwartet.»
Ein Aschenbecher, übervoll mit lippenstiftverschmierten Filtern, konkurrierte mit einer Wodkaflasche um den Platz auf dem kleinen Kaffeetisch. Lavinia war bei ihrem dritten Wodkacocktail angelangt und ergötzte Siggy Wayne mit der Darstellung ihrer Karriere. Er hatte das alles schon gehört.
«Weißt du eigentlich, daß wir mal einen Wasserballkampf in Forest Hills hatten? O ja, das brachte die alten Spießer ganz schön ins Rotieren. Das waren tolle Zeiten.»
«Das waren mickrige Zeiten.» Siggy kippte einen Cutty Sark hinunter. Die Flasche stand neben seinem Stuhl.
Lavinias Augenbrauen, heute abend fast bogenförmig, nahmen die Bemerkung zur Kenntnis.
«Ich denke, ich habe den Chrysler-Abschluß in der Tasche.» Siggy rollte den Scotch auf der Zunge. Er war sehr stolz auf sich.
«Wirklich?» fragte Lavinia.
«Nächstes Jahr machen wir nach dem Tomahawk-Turnier ein Zitrus-Turnier in Florida. Vier Städte in vier Wochen. Das ist auch für Florida gut, weil es sich durch den April zieht. Die Touristensaison klingt nach März ab, und dies kann Leute da runterbringen.»
«Ich nehme an, es gibt Autos neben den Preisgeldern?»
«Wir arbeiten das alles gerade aus, Lundy Grenshaw von Chrysler und ich.»
«Hältst du Chrysler für das richtige Image? Offen gesagt, sie sind doch auf dem absteigenden Ast.»
«Alte Leute sind für Althergebrachtes. Sie werden in Florida amerikanische Autos kaufen. Stimmt, die Spielerinnen werden die Autos nicht mögen, aber das ist nicht der Punkt.»
«Welchen Eindruck, wird es machen, wenn wir aus den Geldern der Steuerzahler finanziert werden?» Lavinia ließ kaum etwas außer acht.
Siggy schwieg einen Augenblick und sagte dann: «Tennis ist eine bessere Investition als die Autos.»
Sie lachten und ließen das Thema fallen. Wenn die Verträge auf dem Tisch lagen, würde Lavinia sich darum Gedanken machen, alles noch einmal neu durchdenken, und dann tun, was in ihren Augen für den Sport am besten war.
Siggy schenkte sich einen weiteren Cutty ein. Er hatte die Hemdsärmel aufgekrempelt und die Schuhe ausgezogen. Im Laufe der Zeit war seine Beziehung mit Lavinia zu einer zwanglosen Freundschaft geworden. Er schätzte, was sie für den Sport und auch, was sie für ihn getan hatte. Neben seinem Gehalt bekam er Prozente von jedem Abschluß. Er zog genug an Land für seine hübsche Frau in Southport, Connecticut, und seine zärtliche Geliebte in New York City. Er lebte über seine Verhältnisse, aber das war schließlich der wunderbare amerikanische Stil.
Lavinia hielt ihre Karten eng an ihrem berühmten Busen. Wendell hatte sie wohlversorgt zurückgelassen, als er starb. Sie bewies ein Geschick für die Börse, und sie machte ihre eigenen Geschäfte mit Sponsoren. Lavinia tankte gehörig, produzierte sich aber nie, war nie laut und hätte nie im Leben etwas von Gucci getragen. Sie war eine Peck & Peck-Frau, nur daß es die alten Marken Peck & Peck oder Abercrombie und Fitch nicht mehr gab. Lavinia Sibley Archer gab es allerdings noch. Die Zukunft der Hemdblusenkleider war gesichert, solange Lavinia Sibley Archer lebte.
«Siggy, fällt dir etwas ein, das uns bei dem Abschluß mit Chrysler in Schwulitäten brächte?»
«Komisch, daß du diesen Ausdruck benutzt.» Sein hintergründiges Lächeln kam zum Vorschein. «Ein homosexueller Skandal könnte es verpfuschen.» Er fuchtelte ein bißchen mit der Hand. «Drogen könnten es verpfuschen. Vor Jahren waren wir mit Abtreibung konfrontiert, angesichts der Neuen Rechten könnte allerdings auch das wieder ein Thema werden.»
Lavinia schwenkte ihr Glas hin und her, um die Eiswürfel klimpern zu hören. «Ja, ja, uns ist eine Menge untergekommen. Aber glaubst du, daß Homosexualität sie ins Schwanken brächte?»
«Nicht bloß Chrysler. Ich glaube, auch Tomahawk würde den Schwanz einziehen.»
«Niemals! Howard Dominick und Tomahawk würden sich nie von mir lösen, vom Damentennis. Ihr Image ist untrennbar mit unserem verbunden.»
«Genau das meine ich. Angenommen, es bräche wirklich ein lesbischer Skandal über uns herein - Tomahawk will doch nicht, daß ihre Kosmetik, ihr Image mit Schwulen in Verbindung gebracht wird. So sehe ich das zumindest.»
«Auch Lesbierinnen verwenden Kosmetik.» Lavinia hob ihr Glas. «Vielleicht hast du recht, Siggy, vielleicht hast du ganz recht. Und doch kann ich nicht glauben, daß Howard Dominick sich abseilen würde.»
«Er leitet Tomahawk jetzt seit zwölf Jahren. Clark & Clark wird genauso gebeutelt wie jeder andere Konzern, und du weißt, wenn ein neuer Mann kommt, wird er alle Abteilungsleiter hinausbugsieren und seine eigenen Leute einsetzen.»
Sie trank ihren Cocktail aus und machte sich einen neuen. «Hörst du irgendwo das Gras wachsen?»
«Gerüchte, aber Gerüchte gibt es dauernd.»
«Jensen Bainbridge wird alt.» Jensen war der Präsident von Tomahawks Muttergesellschaft Clark & Clark. «Wenn er geht, geht auch unser Sponsor.» Lavinia schwieg gedankenverloren. «Siggy, ich bin froh, daß du mich darauf aufmerksam gemacht hast. Ich werde mich mal umsehen, wer ihn ersetzen könnte. Ich habe noch immer überall in den besten Gesellschaftsclubs ein paar gute Freundinnen. Ehefrauen wissen alles. Vielleicht rufe ich nächste Woche einfach mal Betty Bainbridge an, um der alten Zeiten willen.»
Die beiden lächelten.
«Wenn die Sache je auffliegt», sagte Siggy über seinen Drink gekauert, «meinst du, es wird wegen Carmen Semana oder wegen Susan Reilly sein? Das sind zwar nicht unsere einzigen Lesbierinnen, aber sie sind die flatterhaftesten.»
«Wegen Carmen.» Lavinias Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.
«Warum?»
«Carmen ist manchmal wie ein Kind. Sie springt erst und schaut anschließend.»
Siggy rieb sich die Stoppeln an seinem Kinn. Die Nacht wuchs sich aus wie sein Bart. «Ich weiß nicht, Lavinia. Susan hat zwar eine perfekte Tarnung, aber sie hat ein Bataillon von Leuten vor den Kopf gestoßen. Früher oder später wird sie jemand zu fassen kriegen.»
Lavinia sagte nichts. Was sie dachte und was sie von sich gab, waren zwei verschiedene Dinge. Selbst wenn sie betrunken war, konnte Lavinia weiterschwatzen und hatte sich doch in der Hand. Dieser Reserve verdankte sie ihren Wimbledonsieg. Doch auf einer tieferen Ebene kapierte sie viele Dinge. Sie wußte, daß ihre Krampfadern wie Lapislazuli aussahen. Sie wußte, daß die Spieler und Spielerinnen sie als lebendes Fossil betrachteten. Sie wußte, daß sie sie hinter ihrem Rücken auslachten, wie die Jungen es mit den Alten immer tun. Sie spürte, daß ihr, je älter sie wurde, immer mehr alle Ereignisse ihrer Vergangenheit gleichermaßen zugänglich wurden. Sie konnte sie sich so lebendig vor Augen führen, wie in dem Moment, als sie vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren passierten. Die Ereignisse selbst freilich verebbten wie Schiffswracks vom Küstensockel der Kontinente abgleiten und im tiefen Meer zerschellen. Das Ereignis war für immer dahin. Es gab nur die Erinnerung und die Gegenwart, die ewige, chaotische, leidvolle, erfreuliche Gegenwart.
Lavinia mixte sich noch einen Wodkacocktail.
Das Finale war auch das Ende für Hilda Stambach. Sie bekam ihr Spiel nicht in den Griff, und Carmen walzte mit dem Chicagoer Titel von dannen. Es war einer der Siege, die ihr den Kopf verdrehten, denn sie hatte kaum eine Schweißperle vergossen.
Harriet packte im Umkleideraum Carmens Tasche, damit sie einen früheren Flug nach Detroit nehmen konnten. Ihr gefiel es immer, irgendwo anzukommen und sich häuslich einzurichten.
Eine stämmige Jugendliche, die in diesem Jahr erstmals mit auf Turnierreise ging, packte nach ihrem Sieg im Doppel ebenfalls ihre Sachen. Als sie den Umkleideraum verließ, flüsterte Harriet Carmen zu: «Bloß keine häßlichen Lesben mehr. Wir sollten die Heteroleute ersuchen, nicht mehr davon zu zeugen.» Miguel strich sich den Schnurrbart glatt, dann rückte er seine Hundertfünfzig-Dollar-Krawatte zurecht. Er besaß nicht einen Anzug, der weniger als tausend Dollar gekostet hatte. Wenn Carmen sich wenig um ihr Aussehen scherte, so machte es Miguel mehr als wett. Er war ein typischer Pfau.
Siggy beobachtete ihn fasziniert. «Ich bin kein Veranstalter.» «In Amerika nicht, Mr. Wayne. Außerhalb Amerikas können Sie doch tun, was Sie wollen.» Miguels Augen flirrten.
«Ich habe nie daran gedacht.» Siggy hatte wirklich nie daran gedacht. Er bekam eine saftige Provision aus den Abschlüssen, die er tätigte. Auch wenn ihm die Sponsoren einerseits und die Spieler andererseits Magenbeschwerden bereiteten, betrug sein Grundgehalt ohne Provision 50000 Dollar im Jahr, womit er sich glücklich schätzte. Gelegentlich gestattete er es sich, ein Geschenk unterderhand anzunehmen, aber nichts Haarsträubendes - keine Autos oder Mädchen oder Trips nach Hawaii. Das letzte, was Siggy sich für seine Freizeit wünschte, waren Reisen. Mit Bargeld war es allerdings was anderes. Ja, das konnte er annehmen, und Lavinia würde es nicht erfahren. Aber ein Turnier veranstalten?
«Ihr Vertrag mit Lavinias Organisation verbietet Ihnen doch keine freien Betätigungen?«
«Nein.» Siggy fixierte ihn.
«Mein Land erfreut sich keines Weltklasseturniers der Damen. Die einzige große Spielerin, die wir je zu sehen bekommen, ist meine Schwester.» Er gluckste. «Groß, wie sie ist, braucht sie ein bißchen Konkurrenz.»
«Carmen ist die Beste, die Beste.» Siggy fuchtelte mit der Hand. Die Geste wäre eleganter gewesen, hätte er eine Zigarre geraucht.
«Man ist immer nur so gut, wie der Gegner es zuläßt, nicht?» sagte Miguel, indem er Hazel Wightmans berühmtes Zitat bemühte.
«Stimmt.»
«Wir haben zu Hause großes Interesse am Tennis, aber wir haben nicht eure große Organisationserfahrung.» Seine dunklen Augen flatterten. Siggy zwinkerte zurück, und Miguel fuhr fort: «Sie haben so viel Einfluß auf die Mädchen und auf Lavinia.»
Ha, dachte Siggy bei sich. Niemand hat Einfluß auf Lavinia.
Miguel tippte leicht mit dem Zeigefinger auf Siggys Handrücken. «Vier große Stars, die anderen Mädchen werden den Anführerinnen folgen, und wir kriegen eine nette Attraktion zustande. Ich hätte gern 32 Spielerinnen. Wir setzen eine Börse von 150000 Dollar aus. Die Siegerin bekommt 20 Prozent, die übliche Vereinbarung. Sie und ich teilen uns zur Hälfte den Profit. Sie sorgen für die Spielerinnen. Ich sorge für das Stadion und die Sponsoren.»
«Am Preisgeld gibt's keinen Profit. Wer wird das Geld für die laufenden Kosten beschaffen?» Siggy legte seinen Köder aus.
«Ich nahm an, das sei klar. Wir setzen einen bescheidenen Prozentsatz von den laufenden Kosten als Gehalt an, und dann teilen wir den Überschuß aus den Eintrittsgeldern.»
Siggy fand Miguel berückend. Selbst wenn die Eintrittsgelder erbärmlich gering waren, wäre nicht alles verloren. «Was ist mit der politischen Situation?»
Inzwischen war Miguel die amerikanische Ahnungslosigkeit hinsichtlich eines jeden Landes südlich vom Rio Grande sattsam bekannt. «Mr. Wayne, wir zetteln ein Turnier an, keine Revolution.»
«Ja, sicher. Ich habe nur an das Wohl der Mädchen gedacht.» In Cleveland oder Detroit dachte Siggy selten an ihr Wohl.
«Halten Sie den amerikanischen Markt für gesättigt?»
Miguel war geschickt. Siggy schätzte das. Was er Siggy eigentlich fragte, war, auf wie viele neue Abschlüsse er Aussicht hatte.
Siggy beschloß, direkt darauf zu antworten. «Er ist nicht nur gesättigt, sondern der große Boom ist vorbei. Wir werden allmählich an Boden verlieren. Offen gesagt, Miguel, das Spiel der Damen ist mit wenigen Ausnahmen langweilig. Und wenn sich die wirtschaftliche Lage zuspitzt, werden kaum Leute dafür bezahlen, bei einem Ballwechsel zwischen Page Bartlett Campbell und Rainey Rogers alt zu werden. Mit dem Tennis kann's rascher bergab gehen, als sich irgendwer vorstellt.» Er holte tief Luft. «Aber ich bin Optimist. Ich setze auf die Tatsache, daß Männer sich gern Beine anschauen und, na ja ...»
«Würde das Kabelfernsehen helfen?»
«Etwas. Seien wir mal ehrlich, Miguel, dem Tennis fehlt die rein physische Dramatik des Footballs, die Schnelligkeit des Basketballs, die Farbigkeit des Baseballs. Einzelsport ist nicht so spannend wie Mannschaftssport. Wenn dir der ShortstopSpieler nicht gefällt, gefällt dir vielleicht der Werfer. Aber wenn du Susan Reilly nicht magst, dann magst du Susan Reilly eben nicht, und deine Auswahl ist beschränkt. Übrigens, im Fernsehen wirkt Tennis nicht sonderlich gut, es gibt nicht genug Aktion, und der Spielbereich ist begrenzt.»
Miguel hörte ungerührt zu.
«Werden Sie je aus dem Spiel aussteigen?»
Siggys Augenbrauen zuckten unwillkürlich nach oben. «Spiel? Für mich ist das kein Spiel, Miguel, ich bin Geschäftsmann.»
Lächelnd erwiderte Miguel: «Eben deshalb sollten wir beim argentinischen Gastspiel der Damen Partner sein.»
«Ich werd's mir überlegen. Es ist verlockend.» Dann fragte er nonchalant: «Können Sie die Teilnahme Ihrer Schwester garantieren?»
«Aber selbstverständlich.» Miguel breitete die Arme aus wie ein Pastor, der den Segen erteilt.
Während Siggy zu seinem Wagen ging, überdachte er Miguels Plan. Er war vielversprechend. Miguel aber nicht. Siggy traute ihm nicht, obwohl er ihn mochte. Im Innersten reagierte er auf Carmen genauso. Charmeure, aber Luftikusse. Da fehlte etwas. Miguel konnte nicht mal eine Tupperware-Party organisieren. Warum riskieren, sich mit Lavinia zu überwerfen wegen etwas, das - bestenfalls - auf einen Gewinn von 20000 Dollar plus einiger Extras hinauslief? Und was war das umgerechnet in amerikanischem Geld? Redete Miguel von argentinischem Bargeld oder amerikanischem? Siggy gefiel das Handeln, das Taktische an seinem Geschäft. Es war kein edler Beruf, aber er gefiel ihm. Ohne auf seine Instinkte zu vertrauen, hätte er es nicht so weit gebracht.
Als er an der Wand eines Backsteingebäudes hochsah, bemerkte Siggy die aufgemalte Gestalt eines Mannes, der so melancholisch wie gütig wirkte. «Davidson-Bestattungen» stand unter den gefalteten Händen des Mannes. Siggy schüttelte den Kopf und dachte: Wo kommen wir bloß hin, wenn nun schon Bestattungsinstitute Werbung machen?
Der Boom war tatsächlich vorbei, und Siggy wußte es. Noch hielten die Spitzenspieler die Fans bei der Stange, aber das Tennis der Damen brauchte neue Spielerinnen, die die Szene belebten. Neu und hübsch, das war's, worum Siggy betete.
Mitte der siebziger Jahre erlebte der Tenniswahn seinen Höhepunkt. Der Durchschnittsamerikaner brannte darauf, Tennis zu spielen, bis der Durchschnittsamerikaner kapierte, daß das Spiel nicht einfach war. Tennisneulinge jagten plötzlich hinter ins Netz geschlagenen Bällen her oder baten Spieler auf dem Nebenplatz naiv, einen Blindgänger zurückzuschlagen. Als vielen dämmerte, daß Tennis ein Sport war, den man jahrelang lernen mußte, wechselten sie zu Jogging über. Schließlich, was ist schon schwierig am Laufen? Leute, die den Wettkampf ebenso brauchten wie Fitness, entdeckten Squash, ein Spiel, das sofort Freude machte, wie sportlich oder talentiert man auch sein mochte. Die Fitnesszentren lockten solche Leute an, die nicht die Zeit für ein langes Tennismatch hatten; und viele ehemalige Tennisbegeisterte trieben nun Gymnastik zu Discomusik.
Die Stadt New Orleans diente als warnendes Beispiel. Potentiellen Sponsoren gegenüber erwähnte Siggy keine Negativinformationen, doch er selbst war auf der Hut. Die Benutzung öffentlicher Plätze in dieser schönen Stadt war um 70 Prozent zurückgegangen. Einheimische Tennislehrer hatten Mühe, ihre Rechnungen zu begleichen, da sie etwa die Hälfte ihrer Schüler verloren hatten. In den Sportspezialgeschäften sanken die Umsätze um 20 bis 40 Prozent, je nach Lage.
Die Profiturniere der Herren erbrachten nie den Gewinn, den sich New Orleans' Veranstalter erhofften. In Wahrheit waren sie ein Reinfall.
Selbst der älteste Tennisclub der Vereinigten Staaten, der New Orleans Lawn Tennis Club, umbenannt in Stern, bekam den Rückgang zu spüren.
Auf nationaler Ebene blicken Spalding und Wilson, zwei riesige Sportartikelfabrikanten, bei der Tennisausstattung in einen Abgrund von roten Zahlen. Bancroft, früher ein hochgeschätzter Schläger im Tennissport, ist heutzutage kaum noch zu sehen.
Vielleicht war New Orleans ein besonders schlechtes Pflaster. In weniger attraktiven Städten wie Lincoln, Nebraska, hielt sich Tennis weiterhin wacker. New Orleans bietet so viel an Unterhaltung, daß Tennis eine harte Konkurrenz hat.
Dennoch machte sich Siggy Sorgen. Und er fragte sich, ob Lavinia sich die Mühe machte, solche kommunalen Statistiken oder Firmenumsatzstatistiken einzuholen. Sie identifizierte sich so sehr mit dem Sport, daß sie womöglich schlechte Nachrichten ignorierte. Derart blind zu sein konnte er sich nicht leisten. Sobald sein Einkommen unter ein gewisses Niveau fiel, würde er das Schiff verlassen.
Happy Straker, die sich bester Form erfreute, schlug Carmen im Detroiter Finale. Carmen gelang überhaupt nichts; Happy gelang alles. Aufgeplustert wie ein Pfau, stolzierte Happy umher. Carmen schluckte ihren Ärger hinunter und rechnete damit, daß Happy nicht lange einherstolzieren würde, schließlich gab es noch die nächste Woche in Oakland, Kalifornien. Es gab nur eine Möglichkeit, mit einer Niederlage klarzukommen, rief sich Carmen ins Gedächtnis, und die war, daraus zu lernen, soviel du kannst, und den Rest zu vergessen. Sonst machst du dich fertig. Für Happy war der Sieg ein letztes Aufbäumen vor dem feierlichen Marsch in die Vergessenheit, die die Zukunft aller Sportler ist. Happy hatte sich die vergangenen fünf Jahre unter den zehn besten der Computer-Rangliste befunden, wenngleich sie nicht als eine der Großen in die Geschichte eingehen würde. Die Geschichte würde überhaupt keine Notiz von ihr nehmen. Auch Carmen zerbrach sich darüber nicht den Kopf. Dieser Gedanke mußte um jeden Preis verdrängt werden. Tennisspielen war eben das, was sie am besten konnte. Es war ihr Segen und ihr Fluch, daß sie rechtzeitig geboren war, um mit ihrem Talent Kasse zu machen. Sie konnte sich einen phantastischen Lebensunterhalt erwerben, indem sie tat, was sie tun wollte. Der Fluch würde ihr erst das Leben vermiesen, wenn sie dem Profisport den Rücken kehrte. Dann konnte sie dem Sport als einem Tick frönen, Trainerin werden, Tenniscamps gründen, im Abglanz ihres ehemals berühmten Ichs leben. Oder sie konnte sich in ihren frühen Dreißigern hinsetzen und feststellen, daß sie sich jetzt, wäre sie Ärztin geworden, ihrem beruflichen Höhepunkt nähern würde. Als Ärztin hätte sie der Gesellschaft und sich selbst genützt. Als abgetakelte Tennisspielerin würde sie eine kolossale Identitätskrise durchzustehen haben, während alle anderen ihrer Generation endlich zu sich selbst gefunden hatten. Carmen verdrängte diese niederschmetternde Erkenntnis dauernd mit Hilfe von elektronischen Spielen und Kreuzworträtseln.
Sie gestattete sich allerdings, über Liebe nachzugrübeln. Was ist sie? Wie bekommst du sie? Wie behältst du sie? Warum fängt sie immer so toll an und endet so beschissen? Carmen wußte nicht, wo die Verantwortlichkeiten lagen, aber sie glaubte auch nicht, daß es einen großen Unterschied machte, ob jemand homo- oder heterosexuell war. Sie wollte nur geliebt werden, glücklich sein, und sie wollte dafür kein Leid in Kauf nehmen.
Unterwegs ähnelte das Leben dem einer vom Stiel gekappten Wasserlilie. Statt sich im Teich zu wiegen, trieben die Happys und Carmens dieser Welt von Ufer zu Ufer und trudelten ständig weiter. Keine wußte, zu welchem Ziel, bevor sie es erreichte; doch wußte jede Frau, während sie unterwegs älter wurde, daß sie auf raschen Strömen von Leid diesem Ziel zugetrieben wurde.
Während des Turniers in Oakland, Kalifornien, wohnten die Spielerinnen im HotelAcapulco Kakerlaken, oder jedenfalls nannten sie es so. Am einzigen freien Abend, den Carmen hatte, fuhren sie und Harriet mit Miguel und Schmettie nach San Francisco. Harriet liebte das Hayes Street Grille, also aßen sie dort, gingen ins Kino und fuhren dann heim. In Anbetracht von Carmens und Schmetties Terminkalender war dieser kleine Ausflug ein großes Ereignis. Das einzige andere bemerkenswerte Ereignis beim Oakland-Turnier, abgesehen von einer Kette stürmischer Semana-Siege, war ein Zwischenfall mit dem Eisverkäufer. Wenn die Spielerinnen die Seiten wechselten, eilten alle Eisverkäufer durch die Gänge und verhökerten ihre Waren. Ein Eisverkäufer, seine silbrige Box um den Hals gehängt, stolperte, als er die Treppe herunterkam. Im Fallen klappte der Deckel seiner Box auf, und das Eis kollerte in alle Richtungen. Die ringsum sitzenden Fans hoben die Becher mit Cremerippen und Bananeneis auf und klaubten das Vanilleeis am Stil zusammen. Sobald die Zuschauer nach dem bunt eingewickelten Eis griffen, trat der Verkäufer ihnen auf die Hände und legte sich schließlich auf die Stufen, um seine kostbare Ware zu hüten. Natürlich schmolz das Eis überall an ihm herunter. Die Fans reichten ihm, was sie aufgehoben hatten; niemand beabsichtigte, das Zeug zu essen. Sein Mißtrauen kostete ihn eine ganze Box gefrorener Köstlichkeiten.
Miguel beobachtete dies von seinem Sitzplatz aus, und vor Lachen rollten ihm die Tränen über die Wangen. Da das Eis, nachdem es zu Boden gefallen war, nicht verkauft werden durfte, war die Investition des Eisverkäufers ohnehin verloren. Hätte er eine Spur von argentinischem Charme besessen, so hätte er das Eis am Stiel lächelnd umsonst verteilt. Zum Teufel damit, er konnte ebensogut andere Leute damit beglücken. Doch nicht dieser Typ. Wenn er nicht bekam, was er wollte, dann kriegten es die Zuschauer auch nicht. Wie amerikanisch.
Ein Schwanz wedelte über Harriets Wange. Baby Jesus hatte sich neben Harriets Gesicht niedergelassen und fegte jetzt wild mit dem Schwanz. In achtzehn Jahren hatte diese Masche nie ihre Wirkung verfehlt.
«Guten Morgen, Baby.»
Carmen stöhnte und schlief tief weiter. Baby miaute.
Harriets Füße bumsten auf den Boden, und wie immer, wenn sie zu Hause war, ging sie zuerst ans Fenster, das auf den langgestreckten See hinausging. Frost zog sich im Zickzack über die Fensterscheibe. Die Hügel sahen wie Purpurbrüste aus. Baby kam herüber und rieb sich an ihrem Bein. Zeit zum Aufstehen.
Unten knallte eine Tür; Miguel war auf. Harriet fühlte sich wie eine Gefangene im eigenen Haus. Unterwegs hielt ihn das Tennis im Zaum.
Baby tapste die Treppe hinunter. Harriet ging in die Küche, wo Miguel ihr lächelnd guten Morgen wünschte und sich wieder der Zeitung zuwandte.
Baby Jesus verachtete Miguel Semana. Vielleicht war es sein Cologne, das sie abstieß, oder vielleicht mochte sie ihn als Mensch nicht. In achtzehn Jahren hatte Baby Harriet ihre Expertenansicht über viele Leute kundgetan.
Harriet öffnete eine Dose Katzenfutter. Baby rieb sich krampfhafter an ihrem Bein. Sie hatte Hunger.
Baby schmatzte beim Essen. Ihre Zähne wurden schlecht. Sie bewegte sich etwas arthritisch in den Hüften, aber ihre Ohren und Augen waren gut. Ihr Herz war kräftig und ihre Sinne unvermindert scharf.
Wenn ich schon alt werden muß, möchte ich alt werden wie Baby Jesus, dachte Harriet. Die menschlichen Vorbilder taugen alle nichts.
«Der Kaffee ist heiß.» Miguel legte seine Zeitung hin und goß ihr gnädig eine Tasse ein.
«Danke, Miguel.» Während er einschenkte, klaute ihm die Katze ein Würstchen. Sie raste mit ihrer Eroberung in die Speisekammer. Harriet sagte nichts.
«Kennst du Seth Quintard gut?»
«Eigentlich nicht. Er ist Carmens Agent.»
«Wo ist mein zweites Würstchen? Ich bin sicher, daß ich noch ein Würstchen hatte.»
Eine triumphierende Mieze stolzierte durch die Küche. Sie roch förmlich nach Sieg und Würstchen. Miguel musterte sie. «Sie sieht ja auf einmal so fett aus.» Er lachte und wandte sich wieder an Harriet. «Du weißt nicht viel über die Verträge?»
«Miguel, ich halte mich da raus. Es geht mich nichts an. Wenn Carmen mich fragt, sage ich ihr meine Meinung, aber ansonsten sage ich wenig dazu.»
«Ich glaube, daß Athletes Unlimited meine Schwester übers Ohr haut.» Gewichtig legte er seinen Löffel nieder.
«Ach.»
«Wenn sie für einen Werbevertrag bezahlt wird, halten sie die Schecks drei oder vier Monate lang zurück. Natürlich legen sie das Geld inzwischen an und kassieren einen Batzen Zinsen!»
«Daran habe ich nie gedacht.»
Großzügig sagte er: «Du bist viel zu hübsch, um dir über solche Dinge den Kopf zu zerbrechen. Deshalb bin ich ja hier.» «Danke, Miguel.» Baby Jesus rülpste unter dem Tisch.