37816.fb2 Die Tudor-Verschw?rung - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 6

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FRAMLINGHAM 

25

Jeder Mensch sollte wissen, woher er kommt.

Cecils Worte hallten in meinem Bewusstsein wider, als ich durch die Stille ritt. Spätestens zur Dämmerung musste ich eine Stelle finden, wo Cinnabar sich über Nacht ausruhen konnte. Schließlich wählte ich eine Lichtung am Ufer eines seichten Bachs. Sobald ich Cinnabar von Sattel und Zaumzeug befreit hatte, rieb ich ihn mit einem Tuch ab und ließ ihn grasen. »Lass es dir gut gehen, mein Freund. Das hast du dir redlich verdient.«

Ich setzte mich ins Farnkraut und holte das Schmuckstück mit dem Rubin an der Spitze heraus, das Mistress Alice mir gegeben hatte. Zunächst brachte ich es nicht über mich, es anzuschauen, denn nur zu eindringlich war mir seine Bedeutung bewusst. Ich spürte den Impuls, es wegzuwerfen, zu vergessen, dass es je existiert hatte, doch tief in meiner Seele war mir klar, dass ich es mir nicht länger leisten konnte, mich selbst zu täuschen.

Wenn das, was Stokes mir eröffnet hatte, zutraf, konnte es kein Vergessen, kein Leugnen geben. Es war meine Aufgabe, die Wahrheit aufzudecken, mit ihr ins Reine zu kommen. Das schuldete ich mir selbst, nachdem ich in meiner Kindheit immer wieder über meine Herkunft gerätselt hatte; und – wichtiger noch – ich schuldete es der Frau, die mich gerettet hatte: Mistress Alice, die anscheinend gewusst hatte, wer ich war, und mich vor meiner mörderischen Schwester gerettet hatte.

In meiner Handfläche schimmerte das Gold.

Ein Tudor.

Ich war einer von ihnen, geboren von der jüngsten Schwester des letzten Königs, Henrys VIII.; Bruder der bestialischen Herzogin von Suffolk, Onkel von Jane Grey und Cousin von Königin Mary.

Und von Elizabeth! Sie und ich waren Blutsverwandte …

Tränen brannten mir in den Augen. Wie mochte sie ausgesehen haben, diese Mutter, die ich nicht mehr kennengelernt hatte? War sie schön gewesen? Hatte ich ihre Augen, ihre Nase, ihren Mund? Warum hatte sie mich heimlich auf die Welt gebracht? Wovor hatte sie sich gefürchtet, dass sie ihre Schwangerschaft vor allen verborgen hatte?

Und wie wäre mein Leben verlaufen, wenn sie nicht gestorben wäre?

Die Tudor-Rose … das Zeichen der Rose.

Ich hob den Arm. Ich sollte wirklich mit keiner Menschenseele darüber sprechen. Besser ein gewöhnlicher Stallknecht, ein Bastard und Findelkind, als jemand, der in aller Heimlichkeit ausgetragen und dann dem Vergessen anheimgegeben worden war – für immer verdammt zu einem Dasein im Schatten, zu Furcht vor der Enttarnung, zu einem Leben im Verborgenen, geprägt von dem ständigen Bemühen, den anderen die Wahrheit vorzuenthalten.

Doch meine Finger weigerten sich, das Kleinod loszulassen. Dieses Schmuckstück barg seine eigene Wahrheit, und die war unauflöslich mit meiner verbunden. So wahr mir Gott helfe, es war ein Teil meiner selbst, den ich nicht einfach preisgeben konnte, nicht, solange ich nicht die ganze Wahrheit aufgedeckt hatte.

Ich wickelte es wieder in Kates parfümiertes Tuch und verstaute es erneut in der Satteltasche. Dabei streiften meine Finger über das dünne Bändchen mit den Psalmen, das ich aus der Bibliothek der Dudleys mitgenommen hatte. Für einen Moment zauberte es ein Lächeln auf mein Gesicht. Ich trug also noch eine Erinnerung an Mistress Alice bei mir, eine, die sie mir so vor Augen führte, wie sie gewesen war.

Nachdem ich die letzte Krume des alten Brots und den mitgebrachten Käse verzehrt hatte, legte ich mich auf die Erde und schloss die Augen. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Unablässig sah ich eine verschrumpelte Hand nach meiner fassen und ein Geschenk von unermesslicher Bedeutung hineinlegen.

Als schließlich der Morgen über dem Horizont graute, sattelte ich mein Pferd und brach auf zu einem Ritt über Felder voller verblühender goldener Schwertlilien. Ich versuchte, an nichts zu denken.

Dann erreichte ich den Fluss Orr. Dort erhob sich auf der Kuppe eines Hügels über dem anderen Ufer Framlingham Castle. Seine dreizehn Türme und mächtigen Befestigungswälle überschatteten insgesamt drei Burggräben. Dahinter lag ein riesiges Jagdrevier. Als ich den Bach durchquert hatte, erspähte ich im Näherkommen Hunderte von Männern, die damit beschäftigt waren, Kanonen und Gewehre heranzuschaffen, Felsbrocken aufeinanderzuschichten, Bäume zu fällen und die Rinde von den Stämmen zu schälen. Ich lockerte die Zügel und ließ Cinnabar, der schon die Stallungen witterte, munter drauflosgaloppieren.

Wachmänner stellten sich mir in den Weg. Wütende Fragen prasselten auf mich herab, und mir blieb nichts anderes übrig als abzusteigen, mich auszuweisen und unter strenger Bewachung zu warten, bis die Nachricht eintraf, dass Rochester mich in die Burg bat. Ich schulterte meine Satteltasche und führte Cinnabar an den Zügeln neben mir her, dem über mir aufragenden Gebäude entgegen, das den halben Himmel zu verschlucken schien. Kaum jemand nahm mich wahr. Die meisten waren zu sehr in ihre Arbeit vertieft, was die Männer freilich nicht daran hinderte, untereinander derbe Bemerkungen auszutauschen. Darein mischten sich das Bellen von Hunden, das Muhen von Kühen und die Rufe von Frauen und Kindern, die die Tiere versorgten.

Trotz aller Belastungen wurde mir leichter zumute. Um Framlingham herum war praktisch über Nacht eine Zeltstadt aus dem Boden geschossen. Deren Bewohner waren einfache Leuten sowie Soldaten örtlicher Lords, die zusammengeströmt waren, um ihre rechtmäßige Monarchin zu verteidigen. In weniger als zweiundsiebzig Stunden hatte Königin Mary ihre Armee aufgestellt. Zumindest hier war alles so, wie es sein sollte.

Der große Burghof war gedrängt voll mit Menschen und Tieren. Rochester kam sogleich auf mich zugeschritten. Er schwitzte am ganzen Körper, wirkte aber ansonsten entspannt, ja erleichtert. Er packte meine Hand mit festem Griff.

»Master Beecham! Fast hätte ich Euren Namen nicht wiedererkannt. Ihr habt Glück, dass meine Freunde mich daran erinnert haben. Überlasst Euer Pferd den Stallburschen, und folgt mir. Ihre Majestät möchte Euch sehen.«

Als ich an Rochester vorbei zu den Arbeitern blickte, lachte ich befreit. Dort waren auch Barnaby und Peregrine, beide mit nacktem Oberkörper und völlig verdreckt. Sie winkten mir zu, ehe sie sich wieder der kräftezehrenden Aufgabe zuwandten, eine Kanone zur Reparatur in eine Schmiede zu schieben. Ich wandte mich wieder Rochester zu.

»Ich bin froh, Euch alle wohlbehalten anzutreffen!«, rief dieser aufrichtig erleichtert. »Wir schulden Euch so viel. Nachdem wir uns aufgeteilt hatten, haben Robert Dudleys Männer die anderen meilenweit verfolgt, bis er schließlich seinen Fehler bemerkt hat und uns hinterhergeritten ist. Gott sei’s gepriesen, dass er inzwischen gefasst worden ist.«

Ich erstarrte. »Gefasst?«

»Ja. Aber das könnt Ihr natürlich nicht wissen.« Rochester lotste mich zu einem nicht zu seiner Umgebung passenden Ziegelhaus im Schatten der Burg, das von zwei Holzhütten flankiert war. »Als ihm klar wurde, wohin wir unterwegs waren, hat Lord Robert offenbar beschlossen, Verstärkung zu holen. Er muss angenommen haben, dass wir keine Möglichkeit haben würden, die Burg zu verteidigen, wenn er zurückkehrte, um sie zu belagern.« Er lachte. »Wir hatten ehrlich gesagt nicht gedacht, dass der Sohn des alten Norfolk hier mit seinen Soldaten auf uns warten würde. Aber er war tatsächlich schon da, und bis Einbruch der Nacht sind noch einmal fünftausend Männer eingetroffen. Die Nachricht von der Notlage Ihrer Majestät hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet, und es ist überall zu den Waffen gerufen worden. Aus ganz England strömen jetzt Männer herbei. Es ist, als würde Gott über sie wachen.«

»Allerdings«, bestätigte ich leise. »Und was sagtet Ihr über Lord Robert?« Während ich redete, dachte ich an Elizabeth, wie sie in jenem geheimen Zimmer gestanden hatte. Ich will nicht, dass ihm ein Leid geschieht, hatte sie gesagt. Und zu meinem größten Befremden stellte ich auf einmal fest, dass ich genauso empfand. Vielleicht, weil er einem Bruder, den ich nie gehabt hatte, noch am nächsten kam; oder vielleicht hatte sie recht damit, dass Robert, ein Dudley von Schrot und Korn, einfach ein Opfer seiner Erziehung war.

»Er hat es noch bis King’s Lynn geschafft«, erklärte Rochester. »Aber mittlerweile war schon eine Reihe seiner Begleiter von ihm abgefallen. Und dann sind auch noch seine Soldaten desertiert. So blieb ihm nur noch die Flucht. Er hat in Bury Saint Edmunds Unterschlupf gesucht und einen verzweifelten Hilferuf nach London geschickt. Sein Bote konnte entkommen, er nicht. Baron Derby hat ihn kurz danach im Namen der Königin verhaftet. Geschieht ihm recht, könnte man sagen. Er ist jetzt in der Ruine derjenigen Abtei eingesperrt worden, bei deren Zerstörung sein Vater geholfen hat.«

»Und was … wird nun aus ihm?«

Rochester schnaubte. »Über sein Schicksal wird Ihre Majestät entscheiden, sobald sie den Thron bestiegen hat. Beneidenswert wird es nicht gerade sein, denke ich. Im besten Fall eine Zelle im Tower für den Rest seiner Tage; im schlimmsten die Axt – zusammen mit dem Rest seiner verräterischen Sippe. Ich persönlich bin für die Axt. Ah, aber Ihre Majestät wird sich freuen, Euch zu sehen. Sie hat sich schon mehrfach nach Euch erkundigt.«

Mein kurzes Hochgefühl fiel in sich zusammen. Ich hätte wie Rochester über diesen Schlag gegen die Dudleys jubeln sollen, denn ohne Robert wurde es umso schwerer, Mary zu verhaften; doch stattdessen senkte sich bleierne Müdigkeit über mich. Nichts wünschte ich mir mehr als ein heißes Bad, eine Pritsche und völlige Abgeschiedenheit von der Welt – wenigstens für eine Weile.

Was ich mir nicht wünschte, war, mir überlegen zu müssen, wie ich Elizabeth davon in Kenntnis setzen sollte.

Wir traten in das Hauptgebäude und erklommen eine Treppe zu einem schlichten Saal. Dort erwartete uns Mary. Sie trug einen schwarzen Umhang und einen hohen Kopfschmuck, der für ihre schmalen Schultern viel zu schwer wirkte, sie jedoch nicht weiter zu stören schien. Bei unserem Eintreten schritt sie hin und her und diktierte mit strenger Stimme einem gehetzt wirkenden Sekretär, dessen Feder zwar über das Papier flog, der aber mit ihrem Wortschwall unmöglich mithalten konnte.

»Aus diesen Gründen, meine Fürsten, ersuchen und beauftragen Wir Euch als Eure rechtmäßige Herrscherin, um Eurer Ehre und persönlichen Unversehrtheit willen, Uns nach Erhalt dieses Briefs unverzüglich in Unserer Hauptstadt London zur Königin auszurufen. Denn weder sind Wir aus Unserem Reich geflohen, noch beabsichtigen Wir selbiges, sondern Wir sind bereit, für das zu kämpfen und zu sterben, zu dessen Verteidigung Gott Uns aufgerufen hat.«

Rochester räusperte sich. Ich verbeugte mich tief. »Eure Majestät.«

Sie wirbelte herum und starrte mich an. Offenbar war sie stark kurzsichtig, denn sie blinzelte mehrmals und runzelte verwirrt die Stirn, ehe sie schließlich rief: »Ah, mein geheimnisvoller Freund!« und mich mit einer entsprechenden Geste aufforderte: »Erhebt Euch, erhebt Euch. Ihr kommt gerade recht. Wir sind dabei, Northumberland den Krieg zu erklären.«

»Eure Majestät, das ist in der Tat eine gute Nachricht.« Während ich mich aufrichtete, fiel mir auf, dass Mary trotz ihres Elans und aller Euphorie über die vielen spontanen Treuebekundungen um die Augenpartie und die Mundwinkel angespannt und dass ihr Gesicht eingefallen wirkte. Sie erweckte den Eindruck, seit Wochen zu wenig gegessen und geschlafen zu haben.

»Gut? Die Nachricht ist mehr als gut!« Ihr Lachen war abgehackt, höhnisch. »Unser stolzer Herzog ist jetzt gar nicht mehr so stolz. Sagt es ihm, Waldegrave.«

Sie drehte sich zu ihrem Sekretär um, faltete die beringten Hände und lauschte mit einem seligen Lächeln wie eine stolze Lehrerin, während der Mann artig rezitierte: »Sechs Städte, in denen der Herzog Garnisonen unterhält, haben Ihrer Majestät den Treueeid geleistet und bieten ihr Artilleriewaffen, Nahrung und Soldaten an. Ihre Majestät hat den Ratsherren eine Proklamation gesandt, in der sie …«

Mary konnte sich nicht länger zurückhalten und fiel ihm ins Wort. »In der ich Auskunft darüber verlange, warum sie es bisher versäumt haben, mich als ihre rechtmäßige Herrscherin in London anzuerkennen. Ferner habe ich eine Erklärung dazu gefordert, warum sie es gewagt haben, meine Krone meiner Cousine zuzusprechen! Wisst Ihr, was sie mir geantwortet haben?« Sie schnappte sich ein auf dem Tisch liegendes Dokument. »Sie sagen, mein Bruder hätte vor seinem Tod wegen ernster Zweifel an meiner Legitimität eine Änderung in der Erbfolge angeordnet.«

Sie schleuderte das Papier auf den Boden. »Ernste Zweifel!« Diesmal mischte sich in ihr Lachen ein finsterer Ton, bei dem es mich eiskalt überlief. »Bald werden sie merken, wie sehr ich mich über solche Äußerungen freue. Häretiker und Verräter sind sie, und zwar ohne Ausnahme! Und als solche werde ich sie auch behandeln, wenn es so weit ist.«

Schweigen folgte ihrem Ausbruch. Ihre Augen wanderten von Gesicht zu Gesicht, bis sie schließlich auf meinem verharrten. »Und? Ihr seid doch der Kurier des Kronrats, richtig? Habt Ihr keine Meinung dazu?«

Diese Befragung ähnelte derjenigen bei Huddleston, nur war ich mir anders als damals sicher, dass Barnaby hier nicht mit hineingezogen würde. Wie um Marys Autorität zu bestätigen, trat Rochester wohlweislich einen Schritt zurück. Ich hatte das Gefühl, in ein Loch zu fallen. Das war doch nicht zu fassen, dass ich nach allem, was geschehen war, womöglich immer noch gezwungen werden sollte, meine Loyalität zu beweisen! Doch woher konnte sie andererseits wissen, wem meine Treue letztendlich galt? Wie konnte sie zu einem Fremden Vertrauen fassen, nachdem sie selbst so viel durchgemacht hatte?

»Eure Majestät«, begann ich, »dürfte ich mit Eurer Erlaubnis diesen Brief studieren?«

Auf ihre Geste hin hob ich das Dokument vom Boden auf und überflog es bis hinunter zur Unterschrift und den Siegeln. Dann hob ich den Blick zu ihr. »Die hohen Herren, deren Brief ich beim ersten Mal überbrachte, gehören sie hier auch zu den Unterzeichnern?«

»Sie sind nicht dabei, wie Ihr sehen könnt.« Auch wenn ihr Ton kurz angebunden wirkte, entspannte sie sich ein wenig. Sie kam näher und sagte zu den anderen: »Lasst uns. Ich möchte mit unserem Freund unter vier Augen sprechen.«

Ich hatte die Prüfung also bestanden, auch wenn das meine Anspannung keineswegs minderte. Der Kronrat hatte Mary wegen ihres Glaubens verfolgt. Und meine Verbindung mit ihm, so unbedeutend sie auch war, versetzte mich nun in eine gefährliche Zwangslage.

Sie blieb beim Tisch stehen. »Allmählich wirft Euer Verhalten bei mir Fragen auf. Ihr kommt aus dem Nichts und versäumt es, mir einen Namen zu nennen. Dann riskiert Ihr Euer Leben, um uns das Entkommen zu ermöglichen. Ihr werdet für verlässlich genug erachtet, um vertrauliche Briefe durch das Land zu tragen, spielt jedoch bei Angelegenheiten, die umfassende Kenntnisse erfordern, den ahnungslosen Toren. Ich würde gern genau wissen, mit wem ich es zu tun habe.«

Ich schluckte, obwohl meine Kehle ausgetrocknet war. Meine Worte sorgfältig abwägend, erwiderte ich: »Eure Majestät, ich versichere Euch, dass ich ohne jede Bedeutung bin. Ich habe getan, wofür ich bezahlt wurde. Was die Tatsache betrifft, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt habe, müsst Ihr wissen, dass Lord Roberts Männer da schon beschlossen hatten, ihn im Stich zu lassen. Ferner sollte Euch mittlerweile bekannt sein, dass mein Name Daniel Beecham ist.«

»Ich habe ihn in der Tat erfahren, wenn auch nicht von Euch.« Sie griff nach einer Feder. »Warum hat man Euch dafür ausgewählt, das Schreiben des Kronrats zu überbringen? Es gibt doch sicher andere, die man hätte losschicken können, Männer, die ich wahrscheinlich erkennen würde.«

Wieder kamen mir Elizabeths Worte in den Sinn: Ich liebe meine Schwester, aber sie ist keine vertrauensvolle Frau. Das Leben hat sie so werden lassen.

Ich brachte ein Lächeln zustande. »Eure Majestät müssen wissen, wie solche Dinge zustande kommen. Ich hatte bereits einige Gänge erledigt. Und dann widerstrebte es den hohen Herren, selbst eine Reise anzutreten, sodass man mir Geld für die Erledigung dieses Auftrags bot. Abgesehen davon – wäre mir unterwegs irgendetwas zugestoßen … nun ja, mich kann niemand so ohne Weiteres mit bestimmten Personen in Verbindung bringen.«

Sie schnaubte. »Mit anderen Worten: Ihr seid verzichtbar – ein Mietling.«

»Sind das denn nicht die meisten Männer, Eure Majestät?«, erwiderte ich, woraufhin sie mir unverwandt in die Augen starrte.

»Ich habe wenig Erfahrung mit Männern, Master Beecham. Und das Wenige, was ich über sie weiß, sagt mir, dass mehr an Euch ist, als Ihr verraten wollt. Das Leben hat mich das eine oder andere über verborgene Motive gelehrt.« Mit erhobener Hand gab sie mir zu verstehen, dass sie noch nicht fertig war. »Aber es ist nicht nötig, mehr dazu zu sagen. Ich werde nicht weiter in Euch dringen. Barnaby Fitzpatrick bekundet hohe Achtung vor Euch, und Ihr habt Eure Treue bewiesen. Ihr werdet selbstverständlich an meinem Hof willkommen sein, sobald ich zur Königin ausgerufen bin. Denn – und täuscht Euch da nicht – Königin werde ich sein. Nicht einmal der Herzog kann sich gegen diejenigen durchsetzen, die von Gott bestimmt worden sind.«

»Ich bete dafür, dass es so sein wird«, antwortete ich. Ich glaubte ihr tatsächlich. Was sie auch sonst alles sein mochte, feige war Mary Tudor nicht. Dudley hatte allem Anschein nach nicht nur eine Prinzessin unterschätzt.

Mit einem kühlen Lächeln zog sie sich zu einem Stuhl zurück, womit sie mehr als nur räumliche Distanz zwischen uns schuf. Ihre nächsten Worte verrieten die Unnahbarkeit einer Frau, die sich mit dringenderen Angelegenheiten zu beschäftigen hat. »Wie Ihr sicher verstehen werdet, bin ich gegenwärtig nicht in der Lage, Euch zu belohnen, doch Ihr habt mein feierliches Versprechen, dass Ihr die Euch gebührende Entschädigung erhaltet, sobald ich den Thron unangefochten bestiegen habe. Wenn Ihr bis dahin irgendetwas benötigt, lasst es bitte Rochester wissen.«

Ich verneigte mich, widerstand jedoch dem plötzlichen Drang, mich zurückzuziehen. Womöglich bekam ich nie wieder eine zweite Gelegenheit.

»Ich erwarte keine Belohnung dafür, dass ich meiner Königin gedient habe«, hörte ich mich sagen und wunderte mich über meinen ruhigen Ton, denn mein Herz pochte laut und schnell. »Aber etwas gibt es, worum ich Eure Majestät bitten möchte, wenn ich es wagen darf?«

»Ja?« Sie legte die Hände in den Schoß und neigte den Kopf neugierig zur Seite.

»Nur ein paar Fragen, das ist alles; zur Befriedigung meiner Neugier.« Ich zögerte. Auch wenn es nicht zu sehen war, spürte ich, dass ich begonnen hatte zu zittern. »Euer Vater, König Henry der Achte, hatte doch zwei Schwestern. Und Herzogin Mary von Suffolk – war sie die Jüngste?«

»Ja. Margaret Douglas, die verwitwete Königin von Schottland, war die Älteste.«

»Ich verstehe. Eure Majestät, ich möchte nicht unverschämt erscheinen, aber war Eure verstorbene Tante, Mary von Suffolk, nicht auch als die Tudor-Rose bekannt?«

Sie musterte mich mit jenem eindringlichen Blick, der, wie ich jetzt wusste, anders als bei Elizabeth weniger von angeborenem Scharfsinn herrührte, sondern vielmehr von Misstrauen, das nach langen Jahren in einem Klima des Verrats ihre Gutmütigkeit verdrängt hatte. Nach reiflichem Überlegen nickte sie. »Es ist nicht allgemein bekannt, aber ja, sie wurde im Kreis unserer Familie tatsächlich so genannt. Wie habt Ihr davon erfahren?«

Plötzlich hatte ich einen Kloß im Hals. Nervös benetzte ich mir die Lippen. Sie fühlten sich an wie Pergament. »Ich habe es einmal am Hof gehört. Müßiges Gerede.«

»Gerede, sagt Ihr? Nun ja, meine Tante Mary plauderte in der Tat gern und viel.« Sie verstummte, und ihr Blick richtete sich in die Ferne. »Ich wurde nach ihr getauft. Sie war wie ein Engel, sowohl dem Aussehen nach als auch im Herzen. Ich betete sie an. Mein Vater ebenso. Er war es, der sie die Rose nannte.«

Plötzliche Trauer schnürte mir die Brust zu. Ein wunderschöner Engel, innerlich wie äußerlich

»Dieses Interesse an unserer Geschichte«, fuhr Mary fort, »ist es für jemanden von Eurem Stand nicht ungewöhnlich?«

Obwohl ich mich immer noch am Rande eines Abgrunds sah, ging mir die Lüge flott über die Lippen, als hätte ich mich schon Tausende von Malen darin geübt. »Die Begeisterung eines Liebhabers, Eure Majestät. Der Stammbaum von Königshäusern ist ein Steckenpferd von mir.«

Sie schenkte mir ein warmes Lächeln. »Das kann ich nur begrüßen. Bitte fahrt fort.«

»Ich weiß natürlich von der überlebenden Tochter der verstorbenen Herzogin.« Auf einmal kam ich mir vor, als stünde ich neben mir und lauschte einem Fremden. »Bekam sie jemals auch einen Sohn?«

»Allerdings. Sie bekam sogar zwei. Beide erhielten den Namen Henry. Einer starb 1522, der andere 1534, ein Jahr nach ihr. Es war eine Tragödie für seinen Vater. Nur wenige Jahre später verlor Suffolk die Söhne aus seiner zweiten Ehe, ehe er selbst 1545 starb.«

»Woran sind diese anderen Söhne gestorben?«, fragte ich, während mir ein eisiger Schauer über den Rücken kroch.

Sie überlegte. »Am Schweißfieber, glaube ich. Aber Kinder sind ja für so vieles anfällig.« Sie seufzte. »Wenn ich mich richtig erinnere, hat meine Cousine ihr dabei geholfen, sie zu pflegen, als sie krank wurden. Sie selbst hatte das Schweißfieber gehabt und überstanden, konnte sich also nicht mehr anstecken. Der Tod der beiden muss sie schwer getroffen haben. Die eigenen Brüder zu verlieren ist eine schreckliche Bürde.«

Ich unterdrückte ein bitteres Auflachen. Sämtliche männlichen Erben der Suffolks waren im Kindesalter gestorben. Auf diese Weise also hatte die Herzogin Titel und Vermögen geerbt! Und alle glaubten, dass das Zufall war?

»Und Mary Suffolk?«, fragte ich. Ich musste einfach über ihr Schicksal Bescheid wissen, brauchte Gewissheit, gleichgültig, wie schmerzhaft diese für mich sein würde. »Wie ist sie gestorben?«

»An irgendeinem Fieber. Mir wurde gesagt, dass sie schon einige Zeit krank gewesen war … Schwellungen und noch andere Leiden. Sie wurde nicht alt. Bei ihrem Tod war sie etwa so alt wie ich heute. Wir hatten uns lange nicht mehr gesehen. Ihr gefielen die Umstände nicht, unter denen mein Vater am Ende hatte leben wollen, und sie zog sich vom Hof auf ihr Gut in East Anglia zurück.« Ihre Züge strafften sich. »Nur wenige haben sich die Zeit genommen, um sie zu trauern. Es war im Juni. Alle warteten darauf, was bei der Schwangerschaft dieser Boleyn herauskommen würde.«

Sie verstummte. Auch wenn sie nicht darüber sprach, war ihr anzumerken, dass sie mit sich kämpfte. Hier also lag die Wurzel der Zwietracht zwischen ihr und ihrer jüngeren Schwester.

Nach einer Weile fuhr sie fort: »Ich erinnere mich deswegen noch an die Einzelheiten, weil ein paar Wochen nach Charles von Suffolks Beerdigung sein Haushofmeister zu mir kam. Ein strammer Mann – sehr anständig. Er hatte eine schreckliche Narbe von der Schläfe bis hinunter zur Wange. Ich fragte ihn, was es damit auf sich hatte. Er sagte, er hätte in den schottischen Kriegen gedient. Armer Mann. Der Tod seines Herrn schien ihn schwer getroffen zu haben. Aber was ich am lebhaftesten in Erinnerung behalten habe, ist ein Schmuckstück, das er mir brachte. Mary hatte es mir offenbar in ihrem letzten Willen hinterlassen, aber es war mir nicht zugesandt worden. Ich habe es immer noch. Ein goldenes Artischockenblatt, das ihr dieser korrupte französische König François der Erste geschenkt hatte. Nach dem Tod ihres ersten Gemahls, Louis von Frankreich, hatte er Ränke geschmiedet, um sie mit Charles Brandon zu verheiraten.«

Meine Knie drohten, unter mir nachzugeben.

Mary indes lächelte versonnen. »Dieses Schmuckstück bedeutete ihr sehr viel; es war fast alles, was ihr noch geblieben war, als ihr endlich die Rückkehr nach England gestattet wurde. Am Ende ging alles gut aus, aber eine Zeit lang drohte mein Vater ihr, sie und Brandon wegen Eigenmächtigkeit im Tower einzukerkern. Er verhängte jedenfalls eine hohe Geldstrafe, die sie nie ganz abzahlen konnten, obwohl Mary ihren ganzen Schmuck verpfändete. Nur dieses eine Stück behielt sie. Einmal vertraute sie mir an, dass diese Artischocke das Gute und das Schlechte in ihrem Leben repräsentierte, das Leid und die Freude. Von ihm wollte sie sich unter keinen Umständen trennen.« Unvermittelt beugte sich Mary vor. »Master Beecham, ist Euch nicht wohl? Ihr seid so blass geworden.«

»Ich … bin müde, das ist alles«, brachte ich hervor. »Danke, dass Ihr mir Eure Zeit gewidmet habt. Ich kann Eurer Majestät gar nicht sagen, wie viel mir das bedeutet hat.«

»Ach, das habe ich mit Freuden getan. Es ist viel zu lange her, seit ich zuletzt an meine verstorbene Tante gedacht habe. Vielleicht zieht Ihr eines Tages in Erwägung, eine Familienchronik für mich zu erstellen. Ich würde Euch sehr gerne damit betrauen.« Sie drohte mir schelmisch mit dem Finger. »Ich wage zu behaupten, dass Euch das von weniger ehrenwerten Einkommensquellen fernhalten würde.«

»Es wäre mir eine Ehre.« Froh über das matte Licht, zwang ich mich zu einem Lächeln. »Aber jetzt würde ich mich mit der gnädigen Erlaubnis Eurer Majestät gerne zurückziehen.«

»Selbstverständlich.« Sie streckte mir die Hand entgegen. Als ich mich tief darüberbeugte, murmelte sie: »Ich glaube, ich schulde Euren gegenwärtigen Dienstherren eine Antwort. Kommt morgen wieder, dann werden wir sehen, ob ich eine bewerkstelligen kann.«

»Eure Majestät.« Ich küsste ihre trockenen, mit Juwelen geschmückten Finger.

Rochester führte mich zu einem Nebengebäude. In dem viereckigen Innenhof befand sich ein Trog, in dem ich mich waschen konnte, und im oberen Stockwerk wurde mir eine Kammer zugewiesen, wo ich alles Nötige vorfand. Ich zog mich bis auf die Kniehose aus und wusch mich in dem Wasser, wobei ich sorgsam darauf achtete, dass mir das Beinkleid nicht herunterrutschte. Dann ging ich nach oben und schloss die Tür hinter mir.

Auf dem Tisch wartete eine kalte Mahlzeit auf mich. Eigentlich hatte ich keinen Appetit und fragte mich, ob ich jemals wieder etwas essen würde. Doch dann band ich mein nasses Haar zu einem Pferdeschwanz und aß den Teller leer. Die Bedürfnisse des Körpers nehmen selten auf die Verzweiflung des Herzens Rücksicht.

Nachdem ich gegessen hatte, setzte ich mich auf die Kante der mit Stroh gefüllten Pritsche und zog erneut das Schmuckstück aus der Tasche. Es glänzte wie ein Stern. Ich strich mit den Fingerspitzen über eine der von Meisterhand geformten Adern, als gehörte sie zu einem lebenden Wesen. Inzwischen wusste ich, dass es weit gereist war, von Frankreich über den Ärmelkanal bis hierher. Es blickte auf ein ganzes Leben zurück, in dem es geliebt worden war. Ich blickte auf meine Lendengegend, wo unter den Kleidern das Geburtsmal meiner Mutter prangte.

Die Einzigen, die davon gewusst haben dürften, sind diejenigen, die mit der verstorbenen Herzogin eng vertraut waren …

Charles von Suffolks Haushofmeister … ein strammer Mann …

Ich schloss die Augen. Ich musste mich ausruhen. Behutsam schob ich das Kleinod in die Umhängetasche und schlüpfte unter die grobe Bettdecke.

Während ich einschlief, dachte ich noch, dass Kate genauso überrascht sein würde wie ich, wenn sie erfuhr, dass es sich bei dem Schmuckstück nicht um eine Blüte handelte, sondern um ein Blatt.

26

Ich träumte von Engeln. Zum Echo eines brausenden Chors schlug ich die Augen auf und fand den Raum in Licht getaucht. Durch das offene Fenster flackerte ein Feuerschein. Ich setzte mich auf. Der Gesang erklang von draußen. Dann bemerkte ich eine Gestalt bei mir im Zimmer.

»Barnaby? Bist du das?«

»Ja. Hoffentlich störe ich dich nicht. Ich bin vorhin reingekommen.« Er stand, die Arme vor der Brust verschränkt, vor dem Fenster und starrte hinaus. »Hat das Treffen, zu dem du wolltest, stattgefunden?«, erkundigte er sich, ohne sich zu mir umzusehen.

»Ja. Ich habe deinen Bogen zurückgebracht.« Ich zögerte. »Wo ist Peregrine?«

»Schläft tief und fest. Hat gegessen wie ein halb Verhungerter und ist dann umgefallen wie ein Stein. Aber komm, sieh dir das an.«

Ich zog meine Kniehose hoch und tapste barfuß zum Fenster. Ein indigofarbener Himmel wölbte sich über der Burg. Über Nacht hatte man im Hof einen Altar improvisiert, drapiert mit ausgebleichten karmesinroten Stoffen, die mit fadenscheinigen goldenen Kreuzen bestickt waren. Davor stand eine in einen weißen Umhang gehüllte Gestalt, die einen Hostienkelch in die Höhe hielt. Um den Altar herum waren Wachskerzen aufgestellt, deren flackernde Flammen die gen Himmel erhobenen Gesichter der Männer und Frauen zum Leuchten brachten. Aus Weihrauchgefäßen strömte ein betörender Geruch. Der Refrain eines Kirchenlieds stieg aus den Kehlen eines Kinderchors empor, der sich auf einem Bretterverschlag postiert hatte.

Mary saß auf einem Stuhl, einen Granatrosenkranz um die Hände geschlungen. Die roten Perlen fingen das Kerzenlicht auf und versprengten es Blutstropfen gleich über ihr Kleid.

»Bei Gott, sie ist sich ihres Sieges wirklich gewiss«, murmelte Barnaby. »Uns bleibt nur die Hoffnung, dass das alles ist, was sie uns mit ihren papistischen Riten erleiden lässt.«

Verzaubert von der gespenstischen Fremdartigkeit dieser Szene, antwortete ich: »Das ist das erste Mal, dass ich die alten Traditionen sehe. Ich finde sie ehrlich gesagt sehr schön.«

»Du vielleicht. Für diejenigen, die in Frankreich und Spanien die Häretiker auf den Scheiterhaufen haben brennen sehen, ist das kein so erhebender Anblick.«

Barnaby kehrte ins Innere des Zimmers zurück. Da ich das Gespräch unbedingt fortsetzen wollte, hatte ich keine andere Wahl, als mich umzudrehen und ihm dabei zuzusehen, wie er hin und her marschierte.

»Das gefällt mir nicht«, brummte er. »Ich will ihr als meiner Königin Ehre erweisen, aber schon jetzt macht sie ihre Drohung wahr und schleppt Altäre an und verbrennt Weihrauch. In der Nacht ist die Meldung eingetroffen, dass der Herzog eine Armee gegen sie aufstellt. Wenn er scheitert, ist ihr Weg zum Thron frei.«

»So sollte es doch auch sein«, entgegnete ich. »Schließlich ist es ihr Thron.«

»Das weiß ich ja. Aber was, wenn …?« Er schielte zur Tür hinüber und senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Was, wenn wir uns getäuscht haben? Was, wenn ihre Hinwendung zu Rom stärker ist als ihre Verpflichtung England gegenüber? Gerade vor dieser Möglichkeit hat Edward am meisten gegraut. Er wollte die Erbfolge deswegen ändern, weil er glaubte, dass sie uns wieder Aberglauben und Bilderverehrung bescheren und all das über den Haufen werfen würde, was sein Vater und er versucht haben aufzubauen.«

Ich runzelte verwirrt die Stirn. »In der Nacht, als wir beim König in seinen Gemächern waren, hat Philip Sidney sich ebenfalls dazu geäußert. Aber er hat gemeint, Edward wäre dazu gezwungen worden, etwas zu unterschreiben. Und heute früh hat mir Ihre Majestät erzählt, der Kronrat hätte sie wegen Zweifeln an ihrer Legitimität für enterbt erklärt.« Ich blickte ihn eindringlich an. »Was weißt du, das du mir bisher verschwiegen hast?«

Er zögerte nicht eine Sekunde. »Die Zweifel an ihrer Legitimität waren eine Ausrede. In Wahrheit hielt Edward Mary keineswegs für unehelich. In seinen Augen waren alle sechs Ehen seines Vaters vollkommen gültig. Aber er glaubte trotzdem nicht, dass sie Königin werden sollte. Als er den Zusatz zu seinem Testament schrieb, der ihr den Thron vorenthielt, wusste er genau, was er tat. Ich dachte, du wärst längst im Bilde.«

»Nein.« Was für eine unerwartete Wendung! Meine Gedanken überschlugen sich. »Ich habe geglaubt, der Herzog hätte Edward zur Unterschrift gezwungen, damit er dann Jane Grey als Erbin benennen kann. Willst du sagen, Edward hätte seine eigenen Pläne gehabt, bevor er krank wurde?«

»Allerdings. Es war sein Wunsch, dass Elizabeth das Land regierte. Das wollte er ihr persönlich sagen. Das ist der wahre Grund, warum Northumberland solche Anstrengungen unternahm, ihr den Besuch zu verwehren. Er wollte verhindern, dass Edward und sie einen Plan gegen ihn ausheckten.«

Mit einem Schlag ergab alles einen Sinn. Es steckte mehr hinter diesem Wirrwarr aus Halbwahrheiten und Lügen, als ich vermutet hatte.

»Und woher weißt du so gut Bescheid?«, fragte ich leise.

»Woher schon? Master Cecil hat es mir gesagt. Er hat mich kurz nach Edwards erstem Zusammenbruch angesprochen. Er meinte, der König und ich wären wie Brüder, und darum würde ich seine Sorge verstehen.«

Schon wieder schnürte sich mir der Magen zusammen. »Sorge in Bezug worauf?«

»Dass der Herzog das Ziel verfolgt, seine eigene Macht zu sichern, ohne Rücksicht auf Edwards Wünsche.« Er setzte sich auf den Hocker in der Mitte des Zimmers. Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, betrachtete er mich nachdenklich.

»Edward war schon seit drei Jahren krank. Er wurde immer magerer, litt unter Fieberanfällen … Ihm war klar, dass er nicht lange genug leben würde, um zu heiraten und einen Erben zu zeugen. Aufgrund des Erbfolgerechts war Mary die nächste Thronanwärterin. Aber weil Edward gegen jede Annäherung an Rom war, lud er Mary an den Hof ein, um ihr erst einmal auf den Zahn zu fühlen. Als sie sich weigerte, den reformierten Glauben anzuerkennen, war er davon überzeugt, dass sie die Krone nicht verdiente. Laut Cecil beschloss er daraufhin, Mary zugunsten von Elizabeth zu enterben. Also bat er ihn, die nötigen Dokumente aufzusetzen, damit er seine Entscheidung dem Kronrat vorlegen konnte. Doch dann bekam er einen schrecklichen Hautausschlag und wurde bald darauf schwerkrank. Von da an kümmerte sich der Herzog allein um seine Pflege, und kein Mitglied des Kronrats bekam ihn mehr lebend zu sehen.«

»Moment mal.« Ich hatte das Gefühl, dass sich zu viele, nicht passende Teile eines Bildes zu einem totalen Chaos zusammenfügten. »Edward wollte seine Entscheidung dem Kronrat vorstellen, ohne den Herzog vorher einzuweihen? Warum? Northumberland hatte doch sicher dieselben Bedenken bezüglich Mary. Warum dann die Heimlichtuerei?«

Barnaby zuckte mit den Schultern. »Edward konnte verschwiegen sein, wenn es die Situation erforderte. Und wenn er sich einmal gegen jemanden entschieden hatte, überlegte er es sich nur selten anders. Ich glaube, er verlor alles Wohlwollen für den Herzog, als ihm bewusst wurde, in welchem Ausmaß Northumberland ihn unter seiner Kontrolle hatte. Nach seinem Zusammenbruch durfte jedenfalls niemand mehr ohne Erlaubnis des Herzogs zu ihm, auch Cecil nicht.«

»Und genau zu diesem Zeitpunkt suchte Cecil dich auf, richtig?« Wäre ich nicht so empört gewesen, hätte ich diese Unverfrorenheit sogar bewundert. Unser Master Secretary war noch viel emsiger gewesen, als wir uns das vorgestellt hatten.

»Ja, richtig.« Barnaby wirkte plötzlich verwirrt. »Er sagte, er hätte die Befürchtung, der Herzog könnte den Tod des Königs beschleunigen und jeden bedrohen, der Anstalten machte, ihn zu entlarven.«

»Und du hast ihm geglaubt.« Während ich das sagte, erstand vor meinem inneren Auge wieder die schmucke Gestalt mit der gepflegten Stimme, die große Aufrichtigkeit ausstrahlte.

»Ich hatte keinen Grund, daran zu zweifeln.« Barnaby breitete seine Hände aus. »Cecil wollte, dass ich über den König wachte und ihm auffällige Ereignisse meldete. Er wusste nicht, dass der Herzog mich entlassen würde. Ich hielt trotzdem Wache, vor allem, nachdem ich entdeckt hatte, dass Northumberland auch Edwards Ärzte hinausgeworfen hatte.«

Auf einmal konnte ich kaum noch atmen.

Barnaby war noch nicht fertig. Nun klang seine Stimme belegt. »So, wie du dich verhältst, könnte man meinen, dass du in dieser Sache völlig ahnungslos bist. Andererseits arbeitest du für Cecil. Als du Ihrer Hoheit geholfen hast, warst du in seinem Auftrag tätig. So hat es mir Peregrine erzählt. Das ist auch der Grund, warum ich mich bereit erklärt habe, dir zu helfen.«

Ich entfernte mich vom Fenster. Ich fühlte mich kalt, benommen. »Halbwahrheiten und Auslassungen«, krächzte ich, »das ist seine Methode.« Ich blickte zu ihm auf. »Er wusste von Anfang an über alles Bescheid.«

Barnaby starrte mich verständnislos an. »Wer?«

»Cecil. Er wusste genau, was mit Edward gemacht wurde.«

»Er wusste, was die Dudleys ihm antaten?«

»Ich glaube, ja.« Unversöhnlicher Hass stieg in mir auf. »Ohne Edward als seinen Beschützer steht Cecil allein da. Und wenn der Herzog mit seinen Intrigen Erfolg hätte, würde er das nicht überleben. Er weiß zu viel, und Northumberland ist zu mächtig geworden. Selbst wenn ein einzelner Mörder den Mann aus dem Weg räumt, hat Cecil immer noch die Söhne und die Frau des Herzogs gegen sich. Deshalb muss er mehr erreichen, als nur Northumberland zur Strecke zu bringen. Er muss den ganzen Dudley-Clan zerstören.« Ich holte zitternd Luft. »Nur habe ich das lange nicht durchschaut. Und ich würde immer noch im Dunkeln tappen, hätten wir in der Nacht nicht miteinander gesprochen; dabei lag es eigentlich von dem Moment an auf der Hand, als Cecil mich bat, für ihn zu spionieren.«

Barnaby blieb abrupt stehen. »Aber warum hat Cecil dann nicht Ihre Hoheit gewarnt, wenn er darauf aus ist, die Dudleys zu vernichten? Er hätte ihr doch bloß zu sagen brauchen, dass Edward im Sterben lag. Warum hat er ihr Leben aufs Spiel gesetzt?«

»Das weiß ich auch nicht.« Ich hob mein Hemd vom Boden auf. »Aber ich beabsichtige, es herauszufinden.«

»Ich wünschte, er wäre jetzt hier.« Barnaby boxte sich wütend in die Handfläche. »Ich würde diese Schlange schon zum Reden bringen.«

Ich schüttelte den Kopf, die Augen auf sein Gesicht gerichtet. »Wir sind auf grausame Weise benutzt worden, mein Freund. Und du am allermeisten. Deine Hingabe für den König hat in Cecils Spiel regelrecht als Kanonenfutter gedient.« Ich zögerte kurz. »Eine Frage habe ich noch: Hast du Cecil von der Kräuterkundigen erzählt?«

Er wandte die Augen ab. »Ja. Die Sache kam mir eigenartig vor. Warum sollte Northumberland die Leibärzte des Königs hinauswerfen, nur um irgendeine Kräuterhexe aus dem Hut zu zaubern? Als Sidney dann eines Abends Lady Dudley in Edwards Gemächern antraf und mitbekam, wie sie der Kräuterfrau Anweisungen erteilte, fiel mir wieder Cecils Befürchtung ein, der Herzog könnte Edwards Tod beschleunigen. Und was ist wirksamer als Gift? Da hielt ich es für angebracht, ihn darüber zu informieren.«

Mein Herz fühlte sich an, als hätte sich die Hand eines Riesen darum geschlossen. Ich zwang mich zur Ruhe, atmete tief durch, dann zog ich mein Wams und die Stiefel an und setzte die Kappe auf.

»Wohin willst du?«, fragte Barnaby, als ich mir die Satteltasche über die Schulter warf.

»Zur Königin, sie um Erlaubnis zum Aufbruch bitten. Wenn sie mir dies gewährt, habe ich etwas in London zu erledigen.« Ich blickte ihm fest in die Augen. »Versprich mir, dass du gut auf Peregrine aufpasst. Er soll nicht glauben, dass ich ihn verlassen habe, aber ich kann ihn nicht mitnehmen. Ich kann es einfach nicht riskieren, dass sie noch herausfinden, wie viel er mir bedeutet.«

»Mit ›sie‹ meinst du Cecil?«

»Unter anderem.«

»Lass mich mitkommen. Auch ich habe eine Rechnung mit ihm offen.«

Ich ergriff seine Pranke. »Nichts wäre mir lieber. Aber du hilfst mir mehr, wenn du auf Peregrine aufpasst und der Königin zur Seite stehst. Sie mag zwar nicht deinen Glauben teilen, aber wenn sie Männer wie dich zur Seite hat, lernt sie vielleicht, sich beim Regieren zu mäßigen.«

Wir umarmten uns als Freunde. Dann löste ich mich von ihm und schlüpfte aus dem Zimmer.

Ich hatte Cinnabar schon vor dem Eintreffen ihrer Vorladung satteln lassen. Als Rochester in meinem Gemach erschien, um mich zu ihr zu bringen, achtete ich sorgfältig darauf, dass meine Miene nichts als Pflichtbewusstsein und Besorgnis ausdrückte. Mein plötzlicher Wunsch abzureisen, musste zwangsläufig ihr Misstrauen wecken.

Sie wartete im Saal. Ihr schütteres Haar wurde im Nacken von einem Netz zusammengehalten. Ohne ihren Kopfschmuck wirkte sie schmächtig. Der Rosenkranz hing ihr von der Hüfte herab; im Vergleich zum Glitzern der Ringe an ihren Fingern schimmerten seine dunkelroten Perlen nur matt. In jeder anderen Hinsicht schien sie gegen Eitelkeit immun zu sein, sodass mich ihre Vorliebe für Juwelen bestürzte, ohne dass ich mir das erklären konnte.

»Rochester sagt mir, dass Ihr uns verlassen möchtet!«, begann sie, bevor ich mich wieder von den Knien erhoben hatte. »Warum? Entspricht die Unterkunft bei uns nicht Eurem Geschmack?«

»Eure Majestät können versichert sein, dass ich keinerlei Wunsch hege, so bald auf die Straße zurückzukehren, doch meines Wissens beabsichtigt der Herzog, gegen Euch aufzumarschieren. Darum würde ich es für das Klügste halten, Eure Antwort den hohen Herren eher früher als später zu überbringen – vorausgesetzt, Eure Majestät möchten ihnen noch eine zukommen lassen.«

Mit angehaltenem Atem verfolgte ich, wie Marys Blick zu Rochester wanderte und dieser fast unmerklich nickte.

»Das will ich«, sagte sie. »Ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann, selbst von den verräterischen Lords.«

Im beißenden Ton ihrer Erklärung schwang eine Warnung mit. Sie war keine Frau, die man so leicht durchschauen noch – wie es schien – zufriedenstellen konnte. Was sie in ihrer Jugend erlitten hatte, hatte sie fürs Leben geprägt. Offenbar kannte Elizabeth sie nur zu gut.

»Eure Majestät«, fuhr ich fort, »wenn der Herzog gegen Euch zu Felde zieht, werden die Fürsten Eure Sache mit größerem Wohlwollen betrachten.«

»Ich gebe nichts auf ihr Wohlwollen. Sie wären gut beraten, sich meinen Wünschen zu fügen, sofern sie ihre Köpfe behalten wollen.« Sie schritt zu ihrem Pult, ergriff ein gefaltetes und ein versiegeltes Pergamentdokument und streckte mir beide entgegen. »Das versiegelte ist chiffriert. Wer ein bisschen Erfahrung damit hat, wird den Code kennen. Sagt den Fürsten, dass sie den Anweisungen ohne jede Abweichung zu folgen haben. Das andere Schreiben ist ein Brief an meine Cousine Jane Grey. Prägt ihn Euch ein. Es handelt sich um eine persönliche Mitteilung, die ausschließlich für ihre Ohren bestimmt ist. Wenn Ihr keine absolut verlässliche Form der Übermittlung findet, zerstört Ihr den Brief. Er darf nicht in falsche Hände fallen.«

»Sehr wohl, Eure Majestät.« Damit trug sie mir sehr viel mehr auf, als ich erhofft hatte. Ein einziger Brief würde schon gefährlich genug sein. Nicht auszudenken, was mir bei zweien drohen konnte.

»Ich erwarte in beiden Fällen keine Antwort«, ließ sie mich wissen. »Ich dürfte ohnehin bald genug in London eintreffen. Aber wenn Ihr eine Kunde erhaltet, die mein Vorgehen beeinflussen könnte, ob günstig oder nicht, erwarte ich, umgehend in Kenntnis gesetzt zu werden. Eure Treue jenen gegenüber, die Euch angeworben haben, darf nicht diejenige zu Eurer Königin ersetzen. Habt Ihr verstanden?«

»Selbstverständlich.« Ich wollte mich über ihre Hand beugen, doch sie entzog sie mir. Als ich nach oben schielte, betrachtete sie mich mit einem Ausdruck, als würde sie mich nicht mehr kennen. »Überbringt Master Cecil meine Grüße«, sagte sie kalt. »Auch wenn es nicht in meinen Anweisungen steht, richtet ihm von mir aus, dass er weiß, was er tun muss.«

Ich steckte die Schreiben wortlos ein und entfernte mich in gebeugter Haltung rückwärtsgehend aus dem Saal.