37820.fb2 Die Zypressen von Cordoba - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 2

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TEIL I.Ya'kub und Da'ud

 1

Abd ar-Rahman ließ die Hände unter das flauschige weiße Handtuch gleiten, auf dem er ausgestreckt lag, und strich mit beinahe sinnlichem Vergnügen mit den Fingern über die glatte rote Marmorunterlage. Während Mustapha duftendes Mandelöl in die von vielen Kämpfen verhärteten Gliedmaßen des Kalifen massierte, um dann mit geübten Griffen alle Spannung aus ihm herauszukneten, seufzte und murmelte der Herrscher vor Wohlbehagen. Im Spektrum seiner Lebenswonnen nahm das Hochgefühl eines Sieges in der Schlacht das eine Extrem ein, dieses weiche Dahinschmelzen aller Gliedmaßen und Muskeln das andere. Nur eine Freude übertraf noch beide Wonnen, lag sie doch weit jenseits jeglicher Maßstäbe und Vergleiche. Und auch diese würde er später am Abend noch genießen, nach dem Empfang für die Würdenträger von Córdoba, mit dem er in Kürze die Einweihung seines neuen Palastes Medina Azahara zu feiern gedachte, der ein wenig abseits der umtriebigen, geschäftigen Stadt lag. Heute nacht würde er gewiß die höchste menschliche Verzückung erleben. Von allen Frauen seines Harems hatte er nur Zahra hierher in die großartige neue Palaststadt mitgenommen, die nach ihr benannt war. Ihre raffinierte, einfallsreiche Sinnlichkeit würde ihn heute nacht zu ungeahnten Höhen der Leidenschaft treiben. So würde sie ihrer Dankbarkeit über die Ehre, die er ihr hatte zuteil werden lassen, Ausdruck verleihen. Viele Stunden hätte er noch so liegen mögen und den Marmor streicheln können, dessen Glätte ihn an Zahras Haut erinnerte, während Mustaphas warme, geschmeidige Hände die mächtigen Muskeln seiner Schultern massierten, bis sie völlig entspannt waren, seinen Rücken bearbeiteten, bis er warm durchglüht war. Doch inzwischen versammelten sich gewiß bereits seine Gäste.

Auf ein unmerkliches Zeichen seines Herren hin ließ der getreue schwarze Eunuch in einer letzten Bewegung noch einmal die Handflächen zu beiden Seiten des Rückgrats herabgleiten. Dann erhob sich Kalif Abd ar-Rahman III. al-Nasir, Herrscher der Gläubigen, und begab sich in sein rundes Marmorbad, räkelte sich dort genüßlich, während Mustapha ihm das kurze helle Haar mit einer parfümierten Seife wusch, deren Zusammensetzung er eifersüchtig wie ein Staatsgeheimnis hütete. Er hatte gut daran getan, überlegte Abd ar-Rahman, dem Rat seines Sohnes zu folgen und Basil aus Byzanz zum Entwurf seiner Badehalle heranzuziehen. Nur die Griechen wußten, wie man Marmor so brach, polierte und verlegte, daß sich die Muster der Maserung in all ihrer geheimnisvollen und verschlungenen Schönheit offenbarten. Mit Basil waren Handwerksmeister gekommen, die die Kunst beherrschten, wie man Marmor in feinste, zarte steinerne Spitze verwandelte. Gemeinsam mit den geschickten Handwerkern aus Córdoba hatten sie die herrlichen Verzierungen der Eingangshalle geschaffen, die bald schon ganz Córdoba bewundern würde, später die ganze Welt. Endlich besaß das Kalifat der Omaijaden, dem er die Herrschaft über beinahe die gesamte iberische Halbinsel verschafft hatte, einen Palast, der seiner Macht, seinem Reichtum und seiner Größe gerecht wurde.

Wenn Abd ar-Rahman auf die dreißig Jahre seiner Regierungszeit zurückblickte, dann sah er einen Reigen von Triumphen: nach dem Tod von Omar ibn Hafsun, dem Erzfeind seines Vaters, dem Sproß einer spanischen Familie, die sich zum Islam bekehrt, aber gegen das Haus der Omaijaden revoltiert hatte, hatte er geschickt die Rivalität zwischen den beiden Söhnen des Rebellen angefacht. In der Folge hatte sich schließlich Bobastro, die letzte Hochburg der Rebellen in der gefährlichen Schlucht von Guadalhoce unweit von Málaga, ergeben, nachdem ihre Stärke von innen ausgehöhlt war. Eine Reihe wagemutiger Expeditionen in die nördlichen Regionen des Landes hatten die Christen in Schach gehalten und ihre Überfälle auf muslimisches Gebiet unterbunden. Kurz darauf hatten sich ihm auch die spanisch-muslimischen Herrscher des südwestlich gelegenen Badajoz unterworfen. Offensichtlich hatte die Familie der Ibn al-Jilliqi begriffen, daß der kraftstrotzende junge Kalif von Córdoba entschlossen war, jegliche Bedrohung der Einheit seines Königreiches zu unterdrücken, notfalls mit Gewalt. Nachdem er die niederen Regionen unter seine Herrschaft gebracht hatte, folgten die mittleren Gebiete, als auch Toledo seine Oberherrschaft anerkannte. Und sogar die Tujibiden in Saragossa, Rivalen arabischer Herkunft, die kurze Zeit mit dem christlichen Herrscher von Leon geliebäugelt hatten, hatte er sich mit der unerbittlichen Belagerung ihrer Stadt im Jahre 947 gefügig gemacht. Also hatten sich ihm auch die oberen Landstriche gebeugt. Nur die völlige Unterwerfung der christlichen Prinzen war noch nicht erzwungen …

Nachdem Mustapha seine Handreichungen beendet hatte, ließ sich Abd ar-Rahman in das heiße, duftende Wasser gleiten und bedachte noch einmal mit Freude die Nachricht, die man ihm am Morgen zugetragen hatte. Sein mächtiger christlicher Feind im Norden, Ramiro II. von Leon, hatte es mit einer Rebellion der Kastilianer zu tun bekommen, die ihm ihre Unabhängigkeit abringen wollten. Nichts hätte sich besser zu seinen eigenen ehrgeizigen Plänen fügen können. Jetzt brauchte er nur noch abzuwarten, bis die Christen durch ihre internen Streitereien so sehr geschwächt waren, daß ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb, als ihm Tribut zu zollen. Dann wäre ihm ganz Spanien untertan. Wie süß würde die Rache schmecken an jenem Tag, da Ramiro vor ihm auf die Knie sank! Erst dann wäre die Schmach vergolten, die ihm der christliche Prinz vor einem Jahr in der Schlacht von Simancas angetan hatte.

Abd ar-Rahman stieg die Schamröte ins Antlitz, als die immer noch frische Erinnerung an diese Begebenheit erneut seinen Stolz zutiefst verletzte. Wie war es möglich, daß er, der unbesiegbare Befehlshaber der Militärmacht von al-Andalus, er, der entschlossene Heerführer, dem es gelungen war, so verschiedene, ja sogar rivalisierende Kräfte zu einer starken, geeinten Armee zusammenzuschließen, die jegliche äußere Bedrohung abschreckte oder unterdrückte, er, der aufgeklärte Staatsmann, der die unterschiedlichsten Völker in seinem Herrschaftsbereich ermutigt hatte, zum Wohlstand und zur kulturellen Blüte seines Reichs beizutragen, er, Abd ar-Rahman III. al-Nasir, für seine Männlichkeit und seine Eroberung von Männern und Frauen gleichermaßen berühmt, wie war es möglich, daß er ohnmächtig war, wenn es darum ging, seine uralte Kinderangst vor Vergiftung durch einen Schlangenbiß zu besiegen? Seit er als Dreijähriger den qualvollen Tod seines jüngeren Bruders miterlebt hatte, den eine giftige Natter im Palastgarten gebissen hatte, als ein maulender Gärtner für kurze Zeit die Aufmerksamkeit des Eunuchen abgelenkt hatte, der die Kinder eigentlich hätte beaufsichtigen sollen, seither hatte er sich von dieser lähmenden Furcht nicht frei machen können. Beinahe fünfzig Jahre waren inzwischen vergangen, aber die Erinnerung an das winzige Lebewesen, das schutzlos dem tosenden Fieber ausgesetzt war, das ihn verzehrt hatte, war nie verblaßt. Das Grauen hatte sich für immer in seine Seele gegraben, spukte ihm nachts durch die Träume, beunruhigte ihn, wenn bei Tag der Gedanke daran wieder in ihm aufstieg. Aber niemals waren die Konsequenzen so katastrophal gewesen wie in der Schlacht von Simancas.

Er war von Córdoba ausgezogen, um Ramiro mit einer Streitmacht herauszufordern, die wesentlich mächtiger als üblich war. Am Vorabend der Entscheidungsschlacht war er von einem Lagerfeuer zum anderen geschritten, in einem letzten, verzweifelten Versuch, die schwindende Moral seiner Truppe zu stärken. Die Männer, die um die tanzenden Flammen geduckt saßen, hatten nur einen einzigen Gedanken: wie sie sich vor dem schneidenden Wind schützen könnten, der über die Meseta gefegt kam und in Böen über die Anhöhe bei der Festung von Simancas wehte, auf der sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Sie schlugen sich frierend die Arme um den Körper, summten dabei traurige, an- und abschwellende Melodien, die vom Verlangen nach den weichen, warmen Nächten Andalusiens durchzogen waren, das Welten von diesem unwirtlichen nördlichen Landstrich entfernt zu liegen schien.

Die Nacht war schon weit fortgeschritten gewesen, als er zu seinem Zelt zurückkehrte und sich auf die weichen Teppiche bettete. Doch trotz der körperlichen Erschöpfung des Tages und der nächtlichen Anstrengungen zur Hebung der Moral seiner Truppen schlief er sehr unruhig. Und dann stellte sich sein ständig wiederkehrender Alptraum erneut ein. Überdeutlich, lebendig, furchterregend lebensnah, so kam die grünlich schwarze Schlange auf ihn zu, glitt, schlängelte sich, zischte, schnellte ihren Giftzahn zu seinem Hals, während er schlafend in seinem Zelt auf einem seidenen Teppich lag … Seine Schreie waren so furchterregend gewesen, daß Mustapha, der wie ein Wachhund zu seinen Füßen schlummerte, ihm zur Seite gesprungen war und ihn wachrüttelte. Doch ohne Erfolg. Wie von Sinnen vor Angst, war er nicht in der Lage gewesen, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Seine Leibärzte waren ihm zur Seite geeilt, hatten ihm den Puls gefühlt, ins Antlitz gestarrt, von Aderlaß geredet. Aber in seiner Panik hatte er nur wild um sich geschlagen, sie verscheucht, als seien auch sie Schlangen, die zischend ihre Häupter erheben und ihn vergiften würden. Mit Mustaphas Hilfe gelang es den Ärzten schließlich, ihm ein Beruhigungsmittel aus Mohnsamen zu verabreichen, und als seine Furcht abgeklungen war, verfiel er in einen tiefen, betäubten Schlaf. So war es gekommen, daß seine Sinne, die ansonsten so scharf und wach waren, daß sie ihn beim geringsten Anzeichen einer Gefahr warnten, ebenfalls geschlummert hatten und daß sein Ohr die Geräusche verstohlener Bewegungen in der Ebene unterhalb des Lagers überhört hatte. Als er am nächsten Morgen seine Soldaten in die Schlacht führte, gerieten ihre Pferde ins Taumeln und fielen in einen perfekt getarnten Graben, den man frisch quer über die Felder gezogen hatte, die sein Heer überqueren mußte, um die Festung von Simancas zu belagern. Dann hatten sich Ramiros Soldaten von ihrem erhöhten Standpunkt aus auf sie gestürzt und ein grausames Gemetzel unter ihnen angerichtet.

Als er sich wieder an dieses blutige Massaker erinnerte, verwandelte sich Abd ar-Rahmans Scham abrupt in eiskalten Zorn. Warum hatten es all seine Ärzte nach all den Jahren trotz seiner wiederholten flehentlichen Bitten und Forderungen und trotz der ungeheuren Geldsummen, die er ihnen zur Verfügung gestellt hatte, nicht geschafft, das Geheimnis des Großen Theriak zu enthüllen? Es war höchste Zeit, daß er einen oder zwei von ihnen hinrichten ließ, vorzugsweise diejenigen, die bei Simancas Zeugen seiner schändlichen Schwäche gewesen waren, die bis dahin ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis gewesen war, das er nur mit Abu Ilyas, seinem Leibarzt, und seinem getreuen Mustapha teilte. Ja, er würde ihre blutigen Häupter auf Stangen durch die Straßen von Córdoba tragen lassen, um die Überlebenden zu größerem Eifer anzuspornen. Es war unvorstellbar, daß so viele berühmte Gelehrte es nicht geschafft hatten, alle Pflanzenarten festzustellen, die für die Zubereitung dieses Gegengiftes benötigt wurden, das die alten Griechen für ein unfehlbares Heilmittel gegen Schlangengift gehalten hatten.

Voller Tatendrang sprang Abd ar-Rahman mit Schwung aus dem Bad. Er stampfte ungeduldig mit dem Fuß auf, während ihn Mustapha mit einem rauhen Handtuch abrieb, ihm das Haar kämmte und ein, zwei silberne Fäden aus dem säuberlich viereckig gestutzten Bart schnitt, ehe er ihn mit Moschus parfümierte. Rasch schlüpfte der Kalif in das schneeweiße Gewand, das ihm der Eunuch hinstreckte, zog dann aus der Ebenholzschatulle, die dieser ihm hinhielt, einen einzigen Ring hervor, dessen riesiger Smaragd das erste Glied seine Zeigefingers, an den er ihn steckte, völlig verdeckte.

Während Mustapha Parfüm auf die Hände seines Herren träufelte, erkundigte er sich vorsichtig: »Den türkisblauen Umhang oder den scharlachroten?«, obwohl er die Vorliebe seines Herren bereits kannte. Der wählte unweigerlich stets einen Farbton, der den bläulichen Schimmer seiner dunkelgrauen Augen herausstrich, das Erbe der gefangengenommenen fränkischen Prinzessinnen, die seine arabischen Vorfahren verzaubert hatten.

»Den türkisen«, erwiderte Abd ar-Rahman knapp. Seine Finger zuckten ruhelos, während Mustapha den Umhang so befestigte, daß die Pfauen, die mit goldenen und silbernen Fäden prächtig gestickt den Umhang säumten, einander auf der mächtigen Gestalt seines Herren von Angesicht zu Angesicht gegenüberstanden.

»So«, sagte der Eunuch schließlich und beugte sich tief herunter, um noch den Saum zu richten, ehe er wieder in die Rolle der Leibwache seines Oberherrn schlüpfte.

Kalif Abd ar-Rahman III. al-Nasir, der Herrscher der Gläubigen, richtete sich zu seiner ganzen imposanten Größe auf und schritt mit königlicher Würde den Marmorkorridor entlang auf den großen Empfangssaal zu, wo sein Hofstaat ihn erwartete.

Stille senkte sich über die versammelte Gesellschaft, als sich die schweren Türen aus Zedernholz vor ihm öffneten. Prinzen, Höflinge und Würdenträger seines Reiches in ihren schimmernden Festgewändern warfen sich ehrfürchtig nieder, als ihr Herrscher erschien. Die ihm am nächsten standen, küßten den glänzenden Saum seines Umhangs. Mit liebenswürdiger Herablassung richtete er sie wieder auf, nahm ihre Huldigungen und Beifallsbekundungen gnädig entgegen, während er sich durch die Reihen bewegte. Manche ließen ihre glühende Bewunderung der luftig sich emporschwingenden Hufeisenbögen hören, andere staunten über die schleierzarten Verzierungen, die die Kapitelle der Säulen schmückten, die diese Bögen stützten. Aber die größte Begeisterung empfanden alle für die Ornamente, die vom Boden bis zur Decke in den Marmor gemeißelt waren, eine endlose und doch vollkommen geordnete ständig wiederkehrende Reihung von Stämmen und Ästen, Stengeln und Blättern, Knospen und Ranken, die sich wie Liebende umeinander schlangen, eine überschäumende Feier des unendlichen Lebens.

Nun bewegte sich Abd ar-Rahman zu den Tischen, die mit köstlich gewürztem Fleisch und Pasteten und allerlei Naschwerk, mit saftigen Früchten und duftenden Weinen beladen waren, und zupfte eine einzelne Traube aus einem goldenen Füllhorn. Dies war das Zeichen, daß nun das Festmahl beginnen konnte. Mit ungeheurem Stolz angesichts seiner Errungenschaften ließ der Kalif den Blick über die angesehenen Persönlichkeiten seines Reiches schweifen, einen glänzenden Hofstaat, zu dem viele herausragende Philosophen, Dichter, Sprachkundige und Musiker, Heilkundige, Mathematiker, Astronomen und Wissenschaftler gehörten, die im ganzen Mittelmeerraum, wenn nicht sogar weit darüber hinaus ihresgleichen suchten. Mit einer einzigartigen Mischung aus brutaler Gewalt und aufgeklärter Toleranz – ein Erbe seiner gemischten Herkunft? fragte er sich manchmal – hatte er erfolgreich Spanier, Berber und Araber, Christen, Moslems und Juden zu einer Einheit verschmolzen, all ihre Energien und Talente zum größeren Ruhm seines Kalifats zusammengeführt. Niemandem war deutlicher bewußt als ihm, daß nur durch den Erhalt dieser so geschaffenen Einheit die herrschende Minderheit der Omaijaden ihre Gewalt über das ungeheuer große und vielgestaltige Reich bewahren konnte. Für einen flüchtigen Augenblick beflügelte ihn ungetrübtes Hochgefühl. Er genoß diese so seltene Erfahrung in vollen Zügen, bis sein durchdringender Blick, bei Hof so wach wie auf dem Schlachtfeld, auf die Gestalt des Arztes Abu 'Amr fiel, der ihn nach Simancas begleitet hatte. Halb verdeckt war er hinter einer Säule am anderen Ende des Saales ins Gespräch mit dem knollennasigen Abu Bakr vertieft, einem spanischen Christen, der sich zum Islam bekehrt hatte und durch seine Ehe mit dem herrschenden Haus von Leon verbunden war. Zu seinem großen Glück war Abu Bakr auch der tüchtigste Steuereintreiber des Kalifats, eine Stellung, die ihn praktisch unverwundbar machte.

Mit seinem untrüglichen Gespür für Verschwörungen fühlte Abd ar-Rahman, daß die beiden kein unschuldiges Gespräch über den Gesundheitszustand Abu Bakrs führten. Es konnte für die Intensität ihrer Unterhaltung nur eine einzige Erklärung geben. Zwanghaft kehrten seine Gedanken nach Simancas zurück, immer wieder nach Simancas. Es bestand kein Zweifel. Das war die Konsequenz, die Katastrophe, die er stets gefürchtet hatte: von denen verraten zu werden, die ihm am nächsten standen, indem sie seinen Feinden seine Schwäche offen darlegten. Hatte nicht Simancas bewiesen, was für eine mächtige Waffe solches Wissen sein konnte? Nun, da er darüber nachdachte, war dies wohl auch der Grund für die ›Unfähigkeit‹ seiner Gelehrten, alle Zutaten des Großen Theriak festzustellen. Das ganze vergangene Jahr über hatten Ramiros Leute sie unzweifelhaft bestochen, ihn mit lahmen Entschuldigungen hinzuhalten, so daß niemals ein Heilmittel gegen seine Phobie gefunden würde. Die morgige Hinrichtung zweier Ärzte, die in Simancas anwesend waren – und es war immer noch Zeit genug, auch Abu 'Amr auf diese Liste zu setzen, – war schön und gut als Strafmaßnahme und als unheilvolle Warnung an alle anderen, aber sie löste sein Problem nicht. Er mußte Gelehrte und Ärzte finden, deren Treue über alle Zweifel erhaben war. Ruhelos schweifte sein Blick über die lächelnde, schmeichelnde, unterwürfige Menschenmenge, die ihn umschwärmte, auf der Suche nach Männern, deren Sicherheit und Wohlstand nur von seiner herrscherlichen Gnade abhingen, nach vertrauenswürdigen Untertanen, die weder ehrgeizige Absichten auf die Herrscherwürde hegten, noch mit seinen Rivalen gemeinsame Sache machten, seien dies die Araber, Spanier oder Berber, die er in seinem Reich in Schach hielt, oder die Christen, die ihn von außen bedrohten. Die Wahl war eindeutig. Er winkte Mustapha zu sich und murmelte: »Suche Abu Da'ud und bringe ihn zu mir.«

Abu Da'ud Ya'kub ibn Yatom näherte sich dem Kalifen mit einer Miene bescheidenen Respekts, die bei aller Vorsicht doch der Würde nicht entbehrte. Obwohl er als begüterter Mann bekannt war, trug er ein Gewand von zurückhaltender Eleganz, war sein Festkleid schlicht, aber aus hervorragend geschnittener feinster Seide aus Córdoba. Das einzige Schmuckstück, das er zur Schau stellte, war ein dunkler, in Silber gefaßter Hämatitring. Der Stein war in Form einer Olive geschnitten und quer gestellt, er schien der Form seiner dunklen, stillen Augen nachgebildet zu sein.

»Möge der Herr tausend Segnungen auf Euch herabregnen, o Anführer der Gläubigen!« begann er und fiel vor seinem Herrscher auf den Boden, »und möge Euch ein langes Leben beschert sein, auf daß Ihr dieses Gebäude, das die Augen der Betrachter mit seiner Herrlichkeit blendet und alle auf Erden je von Anbeginn der Zeiten bis in unsere Zeit von Menschenhand geschaffene Schönheit übertrifft, lange genießen könnt.«

Der Kalif nahm dieses Kompliment mit einem leisen Lächeln der Zufriedenheit entgegen. »Es steht der Herrlichkeit unseres Kalifates wohl an und wird uns Ehre und Respekt unter den Nationen verschaffen.«

»Eure Weisheit ist grenzenlos«, erwiderte Abu Da'ud, während Abd ar-Rahman von einem vorübergehenden Diener einen goldenen Kelch mit perlendem Wein entgegennahm und ihm diesen reichte. »Wie geht es Eurer Frau und Eurem Sohn?«

»Gott sei gelobt, es geht ihnen gut.«

»Und Euer Handel?«

»Blüht.«

Nachdem sie derart die höfliche Konversation hinter sich gebracht hatten, wählte sich Abd ar-Rahman mit äußerster Sorgfalt von einer Platte, auf der Früchte und Nüsse hoch aufgetürmt lagen, einen Mandelsplitter aus, untersuchte ihn peinlich genau, ehe er ein winziges Eckchen abbiß. Er kaute lange daran, während Ya'kub geduldig abwartete, was sein Herrscher zu tun geruhte. Schließlich nahm er den Mann beim Ellbogen, nickte den Prinzen und Höflingen im Vorübergehen huldvoll lächelnd zu, und führte ihn in den Garten, der eine elegante Fortsetzung des Saales bildete.

Es war einer jener Abende, deren Schönheit die Dichter von al-Andalus zu preisen nicht müde wurden – lau und sanft, zärtlich, vom Duft des Jasmins und der Orangenblüten durchweht, ein Abend, der alle Menschen lockt, die ach so vergänglichen Freuden des Lebens zu genießen. Das Mondlicht glitzerte auf den Fontänen, die sich überall in den Teichen aus den Mäulern der großen bronzenen Hirsche und Greife in zarten Bögen ergossen, und das Murmeln der Wasserströme begleitete die Stille der Nacht. Wortlos schritt Abd ar-Rahman auf eine abgeschiedene Laube zu, welche vom dichten Laub prächtig gedeihender Zypressen gebildet wurde, die in geometrischer Präzision um einen kleinen achteckigen Teich angepflanzt waren, dessen stille Wasser das Mondlicht in silbernen Glanz tauchte.

»Abu Da'ud«, hob Abd ar-Rahman schließlich an, während sie miteinander spazierten, seine mächtige Gestalt neben Ya'kubs zarter Silhouette. »Euch, als Anführer der Juden von Córdoba sind sicher alle Gelehrten und Ärzte Eures Volkes bekannt?«

»Ich kann mit Stolz behaupten, daß ich ausgezeichnete Beziehungen zu ihnen pflege.«

»Ihr seid Euch gewiß auch bewußt, daß wir während unserer gesamten Herrschaft ein besonderes Interesse an der Zusammensetzung des Großen Theriak bekundet haben?«

»Ich habe es sagen hören.«

»In meinen ersten Jahren als Kalif machten wir große Fortschritte bei der Entdeckung der zweiundvierzig Zutaten, die uns zunächst nur mit ihren griechischen oder lateinischen Namen bekannt waren. Doch in den letzten Jahren hat keiner der Gelehrten und Ärzte, die ich mit der Suche nach den beiden noch verbleibenden Ingredienzen betraut habe, die für die Formel noch fehlen, diese zu finden vermocht. Das Geheimnis des Großen Theriak zu lüften würde bedeuten, daß Tausende von Leben gerettet und unermeßliches menschliches Leid vermieden werden könnte.«

Abd ar-Rahman hielt einen Augenblick inne und packte Ya'kub fest beim Arm, als bedürfe er seiner Stütze. Seine innere Triebkraft schien plötzlich aus ihm gewichen zu sein, er wirkte schwach und verletzlich. Seine Stimme senkte sich zu einem drängenden Flüstern, und er fuhr fort: »Ohne Übertreibung kann ich sagen, daß es mir größere Wonne bereiten würde, als der Mann Unsterblichkeit zu erlangen, der das Geheimnis des Großen Theriak wiederentdeckt hat, denn als der Kalif, der die Medina Azahara errichten ließ. Dies sind nur leblose Steine, deren Sinn es ist, die Mächtigen zu beeindrucken und die Schwachen in ihre Schranken zu verweisen. Eines Tages wird ein anderer Kalif sie zerstören, oder sie zerfallen von selbst zu Staub. Aber der Große Theriak gäbe uns die Kraft, das Geschenk zu erhalten, das nur Allah in seiner Macht verleihen kann, jenen zarten Atemhauch, dessen Geheimnis alle Philosophen der Welt bisher nicht zu entschlüsseln vermochten. Was könnte eine größere Leistung sein, als die Menschen von der Gefahr des tödlichen Schlangengiftes zu befreien?«

»Wie unerforschlich sind die Wege des Herren, o Herrscher der Gläubigen!« stimmte ihm Ya'kub feierlich zu. »Ihr bringt mit unendlicher Weisheit und unerreichter Eleganz einen Gedanken zum Ausdruck, den mir mein Sohn erst unlängst mit schlichteren Worten mitteilte.«

»Interessiert sich Da'ud für die Wissenschaften?«

»Ganz gewiß. Seine religiösen und weltlichen Studien hat er bereits abgeschlossen, und zu denen gehört auch das Studium der Sprachen und der Naturwissenschaften sowie die beste Ausbildung in der Kunst der Medizin, die man in Córdoba genießen kann«, erklärte Ya'kub mit väterlichem Stolz. »Ich hatte die Hoffnung gehegt, er würde seine Studien des Hebräischen und der jüdischen Religion und Tradition fortsetzen und einmal die Rolle des spirituellen Oberhauptes und Mentors unserer Gemeinschaft übernehmen, aber er scheint eher geneigt, die Geheimnisse der Natur zu erforschen, um die Leiden der Menschen zu lindern. Obwohl ich sein Vater bin und eine gewisse Autorität über ihn besitze, sehe ich mich doch machtlos angesichts dessen, was ich als eine echte Berufung erkenne. Und außerdem würde ich es als unrecht ansehen, seinen Ehrgeiz zu untergraben, da er doch nach dem Höchsten strebt.«

»Aus Euch spricht die Weisheit, Abu Da'ud.« Abd ar-Rahman ließ Ya'kubs Arm los und erlangte sein erhabenes Gleichgewicht wieder. Mit militärischer Knappheit befahl er nun: »Dein Sohn soll morgen hier erscheinen. Ich möchte allein mit ihm reden. Und ich befehle dir, den Inhalt unserer Unterhaltung niemandem außer deinem Sohn zu enthüllen.«

»Ihr habt mein feierliches Wort, daß nichts von dem, was zwischen Eurem erhabenen Hause und meiner bescheidenen Hütte geschieht, nach außen dringen wird«, erwiderte Ya'kub, dessen stille Augen keinerlei Gefühlsregung verrieten.

»So sei es«, bestätigte der Kalif, während er sich schon abwandte und zu seinen anderen Gästen zurückkehrte. Er mischte sich noch eine Weile unter die Menge, beobachtete Freunde und Rivalen mit gleichermaßen scharfem Blick, bis ihn die Sehnsucht nach der weichen und tröstlichen Umarmung Zahras übermannte. Er gab einer der Palastwachen noch einen knappen Befehl und zog sich dann still zurück, überließ die anderen ihrem Gelage.

2

Abd ar-Rahman wirkte erheblich jünger als seine fünfzig Lenze, als er am nächsten Morgen ohne Begleitung in das abgeschiedene Gemach schritt, in das er Da'ud ben Ya‘kub ibn Yatom zu führen befohlen hatte. Er schritt kraftvoll und energiegeladen aus, seine Bewegungen waren rasch, sogar ein wenig abrupt, und es umgab ihn eine Aura der Macht und Autorität, die bedingungslosen Gehorsam erzwang. Sein Hochgefühl des vergangenen Abends war noch durch die raffinierte Sinnlichkeit der wunderschönen Zahra jenseits aller Erwartungen gekrönt worden. Sie hatte seiner Männlichkeit eine jugendliche Kraft geschenkt, die er wiederzuerlangen sich nicht einmal in seinen kühnsten Träumen erhofft hatte. So war er nun ein Herrscher auf dem Gipfel seiner Herrlichkeit, als er den schlanken jungen Mann musterte, der sich vor ihm zu Boden geworfen hatte.

Die Ähnlichkeit mit dem Vater war erstaunlich: die gleichen stillen, olivenförmigen Augen und fein geschwungenen Brauen, die gleichen schmalen Wangen, das gleiche feste Kinn, die leicht vorragende Unterlippe, wie man sie bei den meisten entschlossenen Menschen findet. Wie sein Vater war auch Da'ud mit schlichter Eleganz gekleidet, und seine Haltung spiegelte die gleiche würdevolle Demut wider. Doch schon nach dem ersten Austausch höflicher Floskeln spürte Abd ar-Rahman hinter Da'uds bescheidener Haltung auch ein durchaus gefestigtes Selbstvertrauen, das sich aus seinen großen intellektuellen Fähigkeiten nährte, und einen brennenden Ehrgeiz, der längst nicht gestillt war. Warum auch nicht? Er war der Sohn eines der reichsten Seidenhändler von Córdoba, hatte die beste Erziehung genossen, die im ganzen Westen zu haben war, ein Schlüssel, der ihm viele Türen öffnen würde – wenn er erst die Fertigkeit erworben hatte, ihn im Schloß umzudrehen. Mit der Zeit würde er das sicherlich lernen, doch diese Zeit war jetzt noch nicht gekommen. Im Augenblick paßten Da'uds jugendlicher Ehrgeiz, sein ungeheures Wissen und sein Mangel an Erfahrung mit dem Leben bei Hof hervorragend in die Pläne des Kalifen.

»Nun, junger Mann«, begann Abd ar-Rahman liebenswert, als Da'ud wieder aufrecht vor ihm stand. »Euer Vater teilte mir mit, daß Ihr gründliches Wissen in der griechischen und lateinischen Sprache erworben habt?«

»So gründlich, wie es mir meine Lehrer vermitteln konnten und wie es meine geringen Fähigkeiten zuließen«, erwiderte Da'ud mit falscher Bescheidenheit, die Abd ar-Rahman sofort durchschaute.

»Persisch?«

»Angemessene Kenntnisse.«

»Und Hebräisch und Aramäisch natürlich.«

Da'ud nickte zustimmend.

»Und Ihr müßt auch gründlich vertraut sein mit den Schriften unserer großen arabischen Heilkundigen Hunayn ibn Ishaq, Ali ibn Rabban al-Tabari und Muhammad ibn Zakariyya al-Razi?«

»Ich kenne sie.«

»Hervorragend.« In herzlichem, vertraulichem Ton fuhr der Kalif fort: »Ich suche schon lange einen Gelehrten Eurer Art, der in der Lage wäre, einen Vergleich zwischen den alten griechischen Schriften des Hippokrates und des Galen, den Vätern der antiken Medizin, und den verschiedenen arabischen Übersetzungen anzustellen, die im Laufe der Jahre angefertigt wurden.«

»Das ist ein außerordentlich glücklicher Zufall, denn ich habe oft in Erwägung gezogen, mich einer solchen Studie zu widmen. Viele Geheimnisse sind uns im Laufe der Jahrhunderte verlorengegangen, und es ist mein Ehrgeiz, sie wiederzuentdecken, auf daß die Menschheit Nutzen ziehe aus diesem großen Schatz des Wissens.«

»Soviel hat mir Euer Vater mitgeteilt, und ich denke, daß dieses Euer Ziel höchstes Lob und äußerste Unterstützung verdient, um so mehr, als es sich so sehr mit dem meinem deckt. Ich interessiere mich besonders für die beiden Zutaten des Großen Theriak, die uns heute noch ein Geheimnis sind. Deswegen bin ich geneigt, Euch eine großzügige Summe zur Verfügung zu stellen, unter der Bedingung, daß Ihr Euch ausschließlich der Suche nach diesen Ingredienzen verschreibt. Wenn Ihr diese Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erfüllt, liegt eine glänzende Zukunft vor Euch.«

Da'ud errötete vor Stolz und Vergnügen darüber, eine so unerwartete Ehre zu erfahren. Während seiner langen Studienjahre hatte er oft darüber nachgedacht, wie er das Vertrauen des Kalifen gewinnen könnte, aber nicht einmal in seinen kühnsten Träumen hätte er zu hoffen gewagt, daß er sich die Gunst des Hofes erwerben würde, ehe er sich einen soliden Ruf als Gelehrter und Heilkundiger geschaffen hatte. Niemals hätte er sich vorzustellen gewagt, daß ihm diese Ehre so bald schon und scheinbar mühelos zuteil würde. Sein Hochgefühl wurde durch die Herausforderung an seine Gelehrsamkeit in schwindelerregende Höhen gesteigert, und er war sich seiner Fähigkeit, die Anforderungen des Kalifen zu erfüllen, sicher – so sicher, daß er keinen Gedanken auf die Möglichkeit – oder die Konsequenzen – eines Versagens verschwendete. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, nahm er Abd ar-Rahmans Angebot an.

»Ich bin zutiefst und aufrichtig dankbar für die ungeheure Ehre, die Ihr mir zuteil werden laßt, o Herrscher der Gläubigen. Ich werde mein Möglichstes tun, um mich des mir erwiesenen großen Vertrauens würdig zu erweisen.«

»Daran habe ich keinen Zweifel«, erwiderte Abd ar-Rahman, in dessen Stimme sich jetzt eine stählerne Härte geschlichen hatte. »Alle Menschen Eures Volkes, die wir bisher in unsere Dienste nahmen, haben sich als fähige, ehrliche und vor allem treue Diener des Glanzvollen Hauses der Omaijaden erwiesen. In Eurem Falle ist das besonders wichtig, da ich von Euch verlangen muß, daß Eure Arbeit ein eifersüchtig gehütetes Geheimnis bleibt, das nur Euch und Eurem Vater bekannt ist. Ihr habt jederzeit freien Zugang zu unserer Bibliothek, aber niemand darf den Gegenstand Eurer Forschung wissen. Ich habe Euch für diese Aufgabe nicht nur wegen Eurer erwiesenen Gelehrsamkeit und wegen Eures besonderen Interesses an diesem Thema ausgewählt, sondern auch, weil Ihr, der Sohn des erhabensten Anführers der Juden von Córdoba, sicherlich gelernt habt, die Toleranz zu schätzen, die ich Eurem Volke erweise, dessen Sicherheit und Wohlbefinden einzig und allein von meinem Wohlwollen abhängt. Ich weiß also, daß ich mich darauf verlassen kann, daß Ihr Eure Arbeit vor neugierigen Augen verborgen haltet und mir die erwünschten Ergebnisse binnen kürzester Zeit bringen werdet.«

Da'ud war keineswegs verstört von der Andeutung des Kalifen, daß alle Juden von Córdoba leiden müßten, falls er sein Vertrauen mißbrauchte. Daran waren sie im muslimischen Spanien gewöhnt, und die Mitglieder seiner Familie – und alle Juden – hatten damit zu leben gelernt, denn nirgendwo, weder in den christlichen Königreichen noch im Rest der muslimischen Welt, lebte man als Jude in größerer Sicherheit als hier in al-Andalus unter der relativ aufgeklärten Herrschaft der Omaijaden.

Abd ar-Rahman begab sich nun mit lässigem Schritt zum Fenster und winkte Da'ud zu sich, forderte ihn mit einer Handbewegung auf, durch das unterste Sechseck des netzfeinen Marmorfensters zu blicken. Unten lief eine Abordnung der Palastwache vorüber. Auf deren Speeren aufgespießt steckten Menschenköpfe, und das frische Blut, das noch heraustroff, hinterließ im ockerfarbenen Staub rostrote Spuren. »So verfährt Kalif Abd ar-Rahman al-Nasir, Herrscher der Gläubigen, Verteidiger der Religion Gottes, mit Verrätern seines Reiches!« schrien die Wachmänner, während sie sich daran machten, den Bürgern von Córdoba diesen schrecklichen Anblick ringsum zu bieten. Da'ud merkte, daß die Augen des Kalifen auf ihn geheftet waren, aber er zuckte nicht. »Erkennt Ihr die Gesichter?« fragte ihn Abd ar-Rahman mit leiser Stimme. Aber er wartete die Antwort nicht ab. »Dies sind die Köpfe dreier meiner Leibärzte bei Hof, dreier Narren, die …« Er unterbrach sich abrupt. Er wußte zu wenig über diesen jungen Mann, als daß er es wagen könnte, ihm den Zwischenfall von Simancas zu enthüllen. »… die meine Befehle mißachteten.«

Da'ud spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, wie seine Hände eiskalt und vor Angstschweiß klamm wurden. Wie naiv und gutgläubig er doch gewesen war, so geblendet von der Ehre, die ihm zuteil wurde, und von den Zukunftsaussichten, die sich ihm eröffneten, daß er gar nicht überlegt hatte, was noch hinter dem verlockenden Angebot des Kalifen steckte. Das hatte er nun von seinem übersteigerten Selbstbewußtsein und seinem überzogenen Ehrgeiz, machte er sich bittere Vorwürfe, ganz zu schweigen von seinem Mangel an Erfahrung mit der krassen Wirklichkeit der nackten Macht. Dieser brutale Absturz in eine grausame und fremde Welt hatte ihn völlig unvorbereitet getroffen. Er hatte immer nur das beschauliche Leben des Lernens gekannt, war von Menschen umgeben und geschützt gewesen, die nach nichts anderem trachteten, als ihm bei seinen Unternehmungen zu helfen und Ermutigung zu schenken. Ihm war Abd ar-Rahmans Vorschlag nur als eine reibungslose und ganz natürliche Fortsetzung dieses Weges erschienen, als das Angebot eines geschützten, privilegierten Bereichs fern von allen Machtspielen, vom schmutzigen Wechselspiel der Interessen, von Verdacht, Intrigen und niedrigem Verrat. Eine gefährliche Illusion, das wurde ihm nun klar. Bei Hof hatte alles seinen Preis. Wie leicht hatte er sich täuschen lassen! Und doch, versuchte er sich zu rechtfertigen, hätte auch ein Mann mit weit feinerem Gespür wohl das Ausmaß der Gefahr nicht erkannt, die hinter der Gunst des Kalifen lauerte. Welche Art des Ungehorsams hatte den Heilkundigen eine solch grausame Strafe beschert? Und was lag hinter Abd ar-Rahmans übertriebenem Interesse am Großen Theriak? Die Diskretion, die sowohl er als auch sein Vater hatten geloben müssen, ließ darauf schließen, daß ihm ein weit mächtigeres Motiv als nur wissenschaftliche Neugier oder Ehrgeiz zugrunde lag. Es mußte sich um ein lebenswichtiges Interesse handeln. Warum war dann die Wahl auf einen unerprobten und unbekannten Gelehrten wie ihn gefallen? Doch all diese Überlegungen verblaßten vor der einen, fatalen Frage: Was hieß ›binnen kürzester Zeit‹?

Alle Sinne Da'uds waren nun wach und höchst konzentriert. Ganz streng trennte er seine Gedanken von seinen Gefühlen. Unter keinen Umständen durfte er zulassen, daß die Furcht sein klares Denken trübte. Hatte er einen Monat, sechs Monate, ein Jahr Zeit? Das Risiko war so beängstigend, daß er es für weise hielt, besser nicht danach zu fragen und so die Festlegung eines unverrückbaren Termins herauszufordern. In der Zwischenzeit würde vielleicht der Zorn des Kalifen auf seine Leibärzte schwinden, wichtigere Dinge würden seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wenn er, Da'ud, bei der Erfüllung seiner Aufgaben auf Schwierigkeiten stieß, würde er all seine Gewitztheit aufbringen und Zeit schinden … Er hatte keine Wahl. Ein treuer Untertan schlägt seinem Herrscher keine Bitte aus. Er konnte sein Wort nicht zurücknehmen, ohne die glänzende Zukunft zu gefährden, die zum Greifen nah vor ihm lag. Er mußte das Risiko eingehen, wie unangemessen hoch es auch immer schien …

»Morgen werdet Ihr beim Verwalter des alten Palastes von Córdoba vorstellig, der die Zahlung Eurer Vergütung in die Wege leiten wird. Er wird Euch auch freien Zugang zur Palastbibliothek verschaffen, die zum Nutzen unserer erhabenen Gelehrten in der Stadt verbleiben soll.«

Eine beinahe unmerkliche Bewegung des mit Juwelen geschmückten Zeigefingers des Kalifen gab Da'ud zu verstehen, daß er nun entlassen war. Mit bemühter Ruhe verließ er den Raum und ging mit festen Schritten unter den wachsamen Augen der schwarzen Eunuchen, die ihn begleiteten, durch die vielen riesigen Innenhöfe und eleganten Torbögen, die aus dem Palastbezirk hinausführten. Erst als er wieder innerhalb der schützenden Stadtmauern Cordobas war, wagte er, die selbstbewußte Miene, die er aufgesetzt hatte, ein wenig zu lockern und die widerstreitenden Gefühle an die Oberfläche zu lassen, die in ihm tobten. Der Kopf schwirrte ihm beim Gedanken an die Zukunft, die vor ihm lag, wenn er Erfolg hatte, der Magen drehte sich ihm um vor Furcht, wenn er an die Folgen eines Scheiterns dachte. Doch allmählich drang auch der vertraute Anblick der lebendigen Stadt zu seinem Bewußtsein vor, ihre Geräusche und Gerüche, die so sehr zu ihm gehörten wie die zarte Oberfläche antiker Manuskripte. Diese Eindrücke ließen seine innere Unruhe abklingen und brachten ihn in die tröstliche Wirklichkeit seines früheren Lebens zurück. Doch gerade als er sich seinem Zuhause näherte, trug die Morgenbrise wieder die kehligen Schreie der Palastwachen an sein Ohr, die ihre grausigen Schreckensobjekte ringsum auf dem Marktplatz zur Schau stellten, und noch einmal überliefen ihn die Schauder der Furcht.

Als er in die Sackgasse einbog, die zum Haus der Ibn Yatoms führte, sah er auf der Schwelle die schmale Gestalt seines Vaters, der ängstlich auf seine Rückkehr harrte. Die beiden umarmten einander in schweigendem Mitgefühl und sprachlosem Verständnis.

»Kein Wort von alledem zu deiner Mutter«, warnte Ya'kub seinen Sohn, wobei aller Stolz, den er über die unerwartete Gunst des Hofes empfunden hatte, vor dem Wissen über die Bedrohung, die über seinem Sohn schwebte, geschwunden war. »Ich habe ihr nicht gesagt, wer die Opfer des Kalifen diesmal waren, um ihr unnötige Sorgen zu ersparen. Warum sollten wir sie beunruhigen, da doch dein Erfolg nicht in Zweifel steht? Spiele ihr nur eitel Stolz und Freude vor. Das soll zugleich deine erste Lektion in der Kunst der Täuschung sein, einer Kunst, die du dir aneignen mußt, wenn du in den Korridoren der Macht überleben und gedeihen willst.«

3

Da'ud ging in die Hocke, reckte den Rücken gerade und streckte müde die Arme von sich. Seit dem frühen Morgen kniete er hier in der Bibliothek des Sultans in einer abgeschiedenen Ecke auf einem Stapel Kissen, war über die in Leder gebundenen Folianten gebeugt, die sich vor ihm auf einem niedrigen Tisch auftürmten. Eine Sondergenehmigung erlaubte ihm, die Bibliothek auch an einem Freitag zu betreten. Nun war er dort allein mit dem alten wachhabenden Christen in dem großen mit Zedernholz getäfelten Raum. Eher um der Vollständigkeit willen als in der Hoffnung, irgend etwas Wichtiges für seine Studien zu erfahren, hatte er begonnen, die berühmten arabischen Fassungen der Schriften des Hippokrates und des Galen zu studieren, Übersetzungen, die Hunayn ibn Ishaq und Ali ibn Rabban al-Tabari vor beinahe einem Jahrhundert in Bagdad angefertigt hatten. Seit Jahren hatte er sich schon gewünscht, einmal auch nur einen flüchtigen Blick auf die reich illustrierten Abschriften in der Palastbibliothek werfen zu dürfen, aber nun hatte er nicht viel Zeit, die winzigen, an Teppichmuster gemahnenden Verzierungen zu bewundern, die zart wie ein Frauenschleier den Anfang jedes Abschnittes schmückten.

Ohne große Mühe fand er die Passagen, die sich mit Gegengiften beschäftigten, aber als er auf die Liste der Zutaten für den Großen Theriak stieß, stand er vor der gleichen undurchdringlichen Mauer wie all die anderen Gelehrten, die ihm vorangegangen waren. Die abgegriffenen Spalten dieser Abschnitte legten ein beredtes Zeugnis darüber ab, wie viele Finger sie auf der Suche nach dem gleichen unergründlichen Geheimnis schon betastet hatten. Ein Vergleich mit den griechischen Originalen erwies sich als praktisch unmöglich, so alt, abgegriffen und verblaßt waren die Abschriften in der Bibliothek. Doch selbst wenn sie sich in einem besseren Zustand befunden hätten, sie hätten ihm nur wenig genutzt, das wußte Da'ud. Was konnte er wohl zu entziffern hoffen, das Hunayn und al-Tabari nicht bereits erfaßt hatten? Beide gaben eine sehr ähnliche Liste von Zutaten: Opium, nach strengen Vorschriften gekochtes Schlangenfleisch, sowie achtunddreißig Gewürze und Kräuter, darunter frisches Salz und feuchter Dill. Beide berichteten, daß zwei Zutaten noch nicht identifiziert werden konnten, wobei Hunayn schrieb, er wisse nicht, auf welche Pflanze sich die griechischen Worte bezögen. Andererseits hatte al-Tabari einige Jahre in Persien gelebt und merkte an, das griechische Wort Vatermörder sei im Sanskrit motscha. Sonst nichts. Auch bei der zweiten Pflanze war Hunayn wenig hilfreich, aber al-Tabari machte die Angabe handakuka, ebenfalls ohne jegliche weitere Erklärung. Methodisch durchforstete Da'ud alle anderen Abschnitte der Übersetzung und suchte dabei nach weiteren Bezügen auf die beiden Zutaten oder auf deren Eigenschaften, aus denen sich vielleicht auf deren Art und Gattung schließen ließe. Aber vergebens.

Er rieb sich die müden, roten Augen, stand auf und ging zum anderen Ende des dunklen Gemachs, um den Wächter der kostbaren Manuskripte der Bibliothek zu finden. Der spindeldürre, weißhaarige alte Mann saß im Schneidersitz auf einem Seidenkissen in der Nähe der großen Holztür, sein Kopf baumelte im Schlummer der Alten hin und her. Plötzlich aus dem Schlaf aufgeschreckt, erhob sich der Wächter langsam und entschuldigte sich wortreich für seine Unaufmerksamkeit.

»Ich würde mir gerne al-Kindis Pharmakologie ansehen, falls sie vorhanden ist.«

Das, hatte Da'ud beschlossen, sollte die letzte gelehrte Schrift sein, die er befragen wollte. Wenn auch sie, wie er erwartete, keine neuen Erkenntnisse brächte, müßte er seine akademischen Recherchen beenden und sich unkonventionelleren Forschungsmethoden zuwenden.

»Kommt mit, junger Mann. Das Manuskript liegt in einem der unteren Kästen, und meine alten Knochen sind zu steif, als daß ich mich so weit hinunterbeugen könnte.«

Die Scharniere des fein geschnitzten Deckels quietschten, als Da'ud ihn anhob und sich hinabbeugte, um den Band herauszunehmen, auf den der alte Mann deutete. Aber als er das machte, fiel sein Blick auf ein dünnes Pamphlet, das kaum erkennbar unter einer dicken Staubschicht am Boden des Kastens lag.

»Was ist das?« fragte er, hob es auf und pustete den Staub herunter, ehe er die Titelseite vor die kurzsichtigen, wäßrigen Augen des Wärters hielt. Der blinzelte auf die säuberliche, aber schmucklose Kalligraphie und antwortete: »Das ist ein altes Werk von Qusta ibn Luqa, einem minderen Gelehrten, um dessen Meinung sich heute niemand mehr schert.«

»Darf ich es einmal ansehen?«

»Wenn Ihr es wünscht«, antwortete der Alte und schlurfte zu seinem Kissen zurück.

Da'uds Müdigkeit war auf einmal wie weggeblasen. Er eilte zu seinem Platz zurück und schlug das längst vergessene Werk auf dem Tisch auf. Wie in den antiken Arbeiten, die er studiert hatte, war auch hier ein Abschnitt den Gegengiften gegen Schlangenbiß gewidmet, und auch hier wurde eine Liste mit den Zutaten für den Großen Theriak aufgeführt. Obwohl die Schrift kaum leserlich war, schien sie doch beinahe genau den Listen des Hunayn und des al-Tabari zu entsprechen. Allerdings stand bei der letzten Gruppe von Pflanzenarten ein Name, neben dem zwei Zeilen in kleinerer Schrift eingefügt waren, nicht von der gleichen Hand geschrieben und mit einem rechteckigen Rahmen umgeben. Den Namen entzifferte er recht schnell: Vatermörder! Da'uds Finger bebten vor Erregung, als er das Büchlein näher zum Fenster schob, so daß das Licht unmittelbar auf die beiden hinzugefügten Zeilen fiel. Sie waren mit einer schlechteren Tinte zu dem restlichen Manuskript hinzugefügt worden, und die Buchstaben waren nur noch sehr schwach zu sehen, waren beinahe unsichtbar. Er zwang sich zur Ruhe und begann mit unendlicher Geduld mit dem Zeigefinger die Längen und Kurven der Buchstaben nachzufahren, die er schwach ausmachen konnte, fuhr sie mit einer natürlichen Bewegung nach, als schriebe er selbst. So hoffte er die fehlenden Zeichen zu erraten, die, wenn er sie einmal entziffert hatte, eine Beschreibung der Pflanze ergeben mußten.

Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte, wie sich der Wächter genähert hatte. »Es ist Zeit zu gehen. Bald bricht die Abenddämmerung herein, und Ihr werdet nicht mehr genug Licht haben. Außerdem fängt bald Euer Sabbat an«, fügte er noch hinzu.

»Nur noch ein kleines bißchen«, murmelte Da'ud, ohne den Kopf zu erheben, »bis das Licht ganz erloschen ist.«

»Nun gut«, stimmte der Alte widerwillig zu, »aber keinen Augenblick länger. Kerzen sind hier verboten. Aber sagt mir, was ist für Euch von solchem Interesse, daß Ihr sogar bereit seid, Euren heiligen Sabbat dafür zu schänden?«

»Persisch«, murmelte Da'ud, den Kopf immer noch über den Text gebeugt. »Ein Freund meines Vaters aus Kindertagen, ein Kaufmann aus Esfahan, braucht dringend die Namen bestimmter Heilmittel, die ihm mein Mentor gegen seinen trockenen Husten verschrieben hat, der ihn manchmal sogar Blut spucken läßt. Er will sich unmittelbar nach dem Sabbat auf den Heimweg machen, und ich habe versprochen, ihm nach bestem Können zu helfen.«

»Und dafür hat man Euch eine Sondergenehmigung zum Betreten der Palastbibliothek sogar am Freitag gewährt?«

»Mein Vater, das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von Córdoba, hat hervorragende Beziehungen zum Verwalter.«

Mit dieser Erklärung gab sich der alte Mann zufrieden. Er schlurfte davon, setzte sich stillschweigend noch eine Weile auf sein Kissen und kam dann, als sei ihm plötzlich etwas eingefallen, zurückgeschlurft.

»Da Ihr danach trachtet, das Leiden eines Kranken zu lindern, könnte ich vielleicht die Regeln ein wenig beugen und Euch eine Kerze bringen, aber nur für sehr kurze Zeit.« Er trat eine Weile unschlüssig von einem Fuß auf den anderen, ehe er fortfuhr: »Wenn Ihr später wieder einmal in die Bibliothek zurückkehren solltet, könntet Ihr vielleicht Euren Mentor nach einem Heilmittel für meine schmerzenden Gelenke fragen.«

»Ich kenne selbst ein einfaches Heilmittel für Eure Schmerzen«, erwiderte Da'ud rasch, gleichermaßen aus dem echten Bedürfnis heraus, zu helfen, wie auch, um die freundliche Geste des Mannes zu erwidern. »Nehmt Taubenkot, zermahlt ihn zu Staub und filtert ihn, und dann legt ihn als Umschlag auf, wo immer ihr Schmerzen empfindet. In manchen Fällen erweist sich dies als außerordentlich wirksam, aber zusätzlich dürft Ihr nur leichte Speisen essen und müßt Eure Gliedmaßen bewegen, jeden Tag ein wenig mehr.«

»Gott segne Euch, junger Meister«, murmelte der alte Mann, dem Tränen der Dankbarkeit in den längst blaß und wäßrig gewordenen Augen standen. Doch seine Schritte schienen plötzlich leichter, und er eilte davon, um Da'ud eine brennende Kerze zu bringen.

Als er wiederkehrte, tanzten die winzigen Arabesken bereits vor Da'uds Augen, aber es war nur noch eine halbe Zeile zu entziffern. Er richtete sich noch einmal auf, ehe er sich wieder über den Text beugte und die Kerze darüber hielt, in einem letzten verzweifelten Versuch, dem Manuskript sein Geheimnis abzuringen. Schließlich zog er einen Fetzen Papier aus der Tasche und schrieb das Ergebnis seiner Suche auf:

Früchte … [– – –] vor … Sprossen

Es war nicht viel, aber der Anfang war gemacht.

Er stand auf, reckte sich noch einmal, blies die Kerze aus und ging mit raschen Schritten auf die Tür der Bibliothek zu. Dort dehnte der Wächter vorsichtig seinen rechten Arm von sich weg. »Wenn ich das nächste Mal komme, könnt Ihr diesen Ellbogen ausstrecken«, sagte Da'ud lächelnd zu dem alten Mann, während er ihm aufmunternd auf die Schulter klopfte, ihm die Kerze reichte und ihm eine gute Nacht wünschte, ehe er in die laue Abendluft trat. Auf dem Nachhauseweg holte Da'ud seinen Vater ein, der vom Vorabendgebet des Sabbat zurückkam. Obwohl er kein tief religiöser Mann war, hatte Ya'kub ibn Yatom doch immer darauf bestanden, daß sein Sohn ihn in die Synagoge begleitete, die er selbst der jüdischen Gemeinde von Córdoba zum Geschenk gemacht hatte. An diesem Abend jedoch enthielt er sich in dem gleichen wortlosen Einverständnis, das er seinem Sohn bereits gezeigt hatte, jeden Kommentars über dessen Abwesenheit beim Gottesdienst.

Während des Essens im Kreis der Familie war Da'ud ungewöhnlich schweigsam. Seine sorglos plappernden Schwestern schenkten ihm nur wenig Aufmerksamkeit, aber die Augen seiner Mutter umwölkten sich mit Sorge, wenn ihr Blick auf ihn fiel. Gerade wollte sie ihren Sohn nach dem Grund für seine Grübelei befragen, die ihr angesichts der Gunst des Kalifen unerklärlich schien, als Ya'kub, der ihre Gedanken erraten hatte, ihr Einhalt gebietend die Hand auf den Arm legte. Sola war eine Frau von unendlicher Güte, die jedoch wenig Erfahrung mit der Welt jenseits ihres Hauses hatte. Eine Herzensangelegenheit, dachte sie liebevoll, nichts, das die Zeit und ein anderes junges Fräulein nicht heilen könnten. Jetzt, da ihr Sohn eine derart ruhmvolle Zukunft vor sich hatte, wäre jede angesehene jüdische Familie in Córdoba nur zu gern bereit, ihm die Hand ihrer Tochter anzutragen. Wie stolz sie das machte!

Sobald das Mahl zu Ende war, zog sich Da'ud unter dem Vorwand von Kopfschmerzen auf sein Zimmer zurück. Dort warf er sich auf seinen Diwan und vergrub das Gesicht in den weichen Seidenkissen, die darauf gebreitet lagen. Er ließ die Wörter, die er entziffert hatte, in Gedanken hin und her kreisen und wirbeln, überlegte sich alle möglichen Deutungen. Schließlich ging er von der Annahme aus, daß das Bruchstück  -vor wohl das Ende des Wortes bevor sein müsse. Was das fehlende Wort vor Sprossen betraf, so konnten die wenigen Striche, die er hatte entziffern können, möglicherweise Teil des Wortes neuen sein. Also hatte er jetzt Früchte … bevor … neuen Sprossen … Früchte, so überlegte er, fielen doch im allgemeinen, bevor neue Sprossen wuchsen. Wieso brauchte man dann diese gesonderte Erklärung? Es mußte etwas Ungewöhnliches am Verhalten des Vatermörders geben, das diese Erläuterung notwendig machte. Vatermörder … Könnte es möglich sein, daß hier die neuen Sprossen wuchsen, ehe die Früchte gefallen waren, als wollten sie diese umbringen? Wenn ja, dann würde der Text lauten: Die Früchte fallen nicht, bevor nicht neue Sprossen wachsen. Gab es eine derart seltsame Pflanze, oder war seine Hypothese nur ein verzweifelter Versuch, die eigenen nebulösen Annahmen zu stützen?

Er konnte seine Neugier nicht länger bezähmen, stand leise auf, zündete eine Kerze an und suchte unter den Büchern, die ordentlich auf seinem Tisch gestapelt lagen, das illustrierte Pflanzenbuch des Abu Hanifah al-Dinawari, das sein Vater für ihn hatte kopieren lassen, als er seine religiöse Volljährigkeit erlangt hatte. Obwohl er den Text beinahe auswendig wußte, da er ihn in seiner Jugend gelesen und gründlich studiert hatte, und obwohl seine Finger schon viele Male über die sorgfältigen Zeichnungen gefahren waren, um sie dem Gedächtnis anzuvertrauen, wollte er das Buch noch einmal durchgehen, um einen Hinweis zu finden, eine Einzelheit, die ihm entfallen war, irgend etwas, das ihn zur Identität des Vatermörders hinführen könnte. Aber bis zum Morgengrauen hatte er noch nichts entdeckt. Erschöpft sackte er schlafend über dem aufgeschlagenen Manuskript zusammen. Als sein Vater am nächsten Morgen ins Zimmer trat, um ihn zu wecken, damit er rechtzeitig zum Morgengottesdienst kam, warf er nur einen Blick auf die reglose Gestalt, die auf dem Tisch zusammengesunken lag, und zog sich, Furcht im Herzen, leise wieder zurück.

Es war schon einige Zeit nach Mittag, als Da'ud aufwachte, gerade eben noch rechtzeitig zum Mittagsmahl des Sabbats. Unter den mitleidigen Blicken seiner Mutter nahm er schweigend seinen Platz an dem niedrigen, mit Leder überzogenen Tisch ein. Gedankenverloren zupfte er eine Traube von der saftigen Rebe, auf der noch die Frische des Morgens lag, aß ein, zwei Happen Fisch und knabberte lustlos an einem Hühnerflügel, den seine Mutter eigens selbst für ihn gewürzt hatte, um sicher zu sein, daß er nach seinem Geschmack wäre. Seine Leibspeise, die Schmalzkringel, die in Öl ausgebacken waren und von wildem Honig trieften, rührte er nicht einmal an, der Anblick des schimmernden Öls auf der goldbraunen Kruste ließ Übelkeit in ihm hochsteigen, die er kaum zu verbergen wußte. Seine Zerstreutheit brachte ein so ungutes Gefühl in die sonst so fröhliche Familienrunde, daß Ya'kub die Tafel schnell aufhob. Er stand von seinem Kissen auf und schlug vor, entgegen einer langen Tradition und seiner eigenen geheiligten Gewohnheit, sich zur Siesta zurückzuziehen, sollten er und Da'ud einen Spaziergang am Fluß entlang machen. Sola versuchte schwach Einspruch dagegen zu erheben, aber Ya'kub tat ihre besorgten Gegenargumente verächtlich ab.

»Er braucht nichts als ein bißchen frische Luft und Bewegung.«

»Vater hat recht«, bestätigte ihr Da'ud, und die Autorität, die er dank seines medizinischen Wissens besaß, beruhigte sie. Er sehnte sich wirklich nach ein wenig körperlicher Anstrengung, um Spannung abzubauen.

Die beiden Männer wanderten schweigend durch die verlassenen Gassen des schlummernden Judenviertels, dessen niedrige Wohnhäuser von dem hoch aufragenden Minarett mit seinen silbernen und goldenen Spitzen überschattet wurden, das Abd ar-Rahman neben der größten Moschee der Stadt hatte errichten lassen. Aber als sie sich der Straße näherten, die zwischen dem alten Palast und der Moschee hindurch zum Fluß führte, wählten sie instinktiv einen Umweg, bogen hinter den geheiligten Bezirken der Moslems links ab und schritten über eine parallele, aber weniger belebte Gasse zum Ufer hinunter. Erst jetzt, als sie fern von allen neugierigen Augen und Ohren waren, sprach Ya'kub seinen Sohn an.

»Hast du Fortschritte gemacht?«

»Ein wenig.«

»Das ist ein gutes Zeichen.«

»Nicht unbedingt, denn ich bin in einer Sackgasse gelandet.«

»Noch ein paar Nachforschungen mehr, und du findest sicher einen Ausweg«, erwiderte Ya'kub mit gespielter Überzeugung.

»Nein. Nur ein Botaniker oder vielleicht ein Kräuterkundiger könnte mir jetzt noch helfen.«

»Mahmud?«

»Auf keinen Fall. Er zieht nur die Kräuter, die er sicher verkaufen kann. Ich brauche jemanden, der mit den Pflanzen lebt und sie hegt und pflegt, der die Natur um ihrer selbst willen liebt.«

Ya'kub fuhr sich mit der Hand über die schmalen, glatten Wangen, als die beiden sich unter dem spärlichen Schatten eines knorrigen Olivenbaums auf einem Grasflecken niedergelassen hatten. »Früher einmal gab es so jemanden, eine Art Einsiedler, der oben in den Bergen inmitten eines wilden Dickichts von Pflanzen lebte, durch die nur er sich hindurchfinden konnte. Von Zeit zu Zeit kam er herabgestiegen und tauschte Kräuter gegen einige wenige Lebensmittel ein, dann verschwand er wieder für Monate. Ich erinnere mich, daß wir uns als Kinder immer über ihn lustig machten, wenn er hier erschien. Sein langer, ungepflegter Bart stand ihm in alle Richtungen, seine Augen hatten etwas Wildes, seine hagere Gestalt war nach vorne gebeugt, wenn er durch die Straßen schritt und seine Umgebung kaum wahrnahm. Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Er wurde lange Jahre nicht mehr gesehen. Wenn er überhaupt noch lebt, muß er ein sehr alter Mann sein.«

Da'ud sprang sofort auf die Beine. »Ich will mich gleich auf den Weg machen und ihn suchen.«

»Vorsicht, mein Sohn, Vorsicht. Es reicht, daß nur ein Augenpaar auf dich fällt, und schon werden unangenehme Fragen gestellt – der Sohn von Ya'kub ibn Yatom, dem Vorsteher der Juden von Córdoba, der in der Hitze des Nachmittags am Sabbat über die Hügel zieht …«

»Vater«, beharrte Da'ud fest, »du vergißt, daß ich bereits Arzt bin. Würde ich nicht zu jeder Tages- und Nachtzeit aus dem Haus gehen, am Sabbat und an allen Feiertagen, sogar an Jörn Kippur, wenn ein Menschenleben auf dem Spiel steht?«

Ya'kub akzeptierte schweigend das unumstößliche Argument seines Sohnes und staunte über die Selbstsicherheit, die dieser sich während seiner langen Studienzeit erworben hatte. Seine Rolle als väterlicher Ratgeber war nun eindeutig zu Ende. Jetzt mußte er zuhören lernen, seinen Rat nur noch dann geben, wenn man ihn darum gebeten hatte … Er stand ebenfalls auf und begleitete Da'ud zum nördlichen Stadttor, wo er ein Maultier mietete und einem Händler, der im Schatten des Hufeisenbogens schlummerte, eine Kürbisflasche mit Wasser abkaufte. Ya'kub umarmte seinen Sohn herzlich und sprach in einem Anfall von Frömmigkeit den Reisesegen, während er ihm zusah, wie er auf das Maultier stieg und sich auf den steinigen Pfad machte, der zu den Ausläufern der Sierra Morena hinaufführte.

Jetzt mußte Gott mit ihm sein …

4

Den Staub und die drückende Hitze nicht achtend, spornte Da'ud sein Reittier mit beinahe brutaler Gewalt an. Jede Sekunde im Leben eines so alten und einsamen Mannes war kostbar – wenn er überhaupt noch am Leben war. Während das Maultier rasch über den schmalen Pfad trottete, der sich durch Olivenhaine und in Terrassen angelegte Weinberge schlängelte, suchte Da'ud unruhig die weiter oben liegenden Hänge nach der Klause des Einsiedlers ab. Schließlich konnte er einen dunklen Flecken dichter Büsche ausmachen, der sich scharf vom spärlichen Bewuchs der Umgebung abhob. Er stieß dem Maultier die Hacken in die zotteligen Flanken, verließ den Pfad und trieb das Tier geradewegs den Hang hinauf auf das Gebüsch zu. Beim Näherkommen erkannte er eine baufällige Hütte, die zum Teil hinter einem Schutzwall aus seltsamen, bedrohlich wirkenden Pflanzen verborgen lag, die eng miteinander verflochten waren und die fleischigen, speerförmigen, stacheligen Blätter wie drohende Krummschwerter aufgerichtet hatten. Er bewegte sich vorsichtig um sie herum, stieg ab und schritt auf die Tür der kläglichen Hütte zu. Sie stand offen und schwang an den Scharnieren wie das zerfetzte Segel eines Schiffes nach einem Sturm.

Einen Augenblick lang stand Da'ud reglos auf der Schwelle der Hütte, ließ die Augen über den trostlosen Anblick schweifen, der sich ihm bot – grobe Tongerätschaften standen beschmutzt überall auf dem Boden, umgeben von Fetzen alter Kleider. Heruntergebrannte Kerzenstummel lagen neben erdverkrusteten Sandalen, deren Sohlen schief- und durchgelaufen waren. Dichte Spinnweben spannten sich ungestört zwischen den wurmstichigen Holzbrettern der Hütte, und über allem lag eine Schicht ockerfarbenen Staubs. Nur eines schien sorgfältig gepflegt: eine Reihe von Töpfen, die ordentlich nebeneinander auf einem Brett unter dem Loch standen, das als Fenster diente. Zarte junge Sprossen wuchsen darin. Leben!

Mit klopfendem Herzen ging Da'ud rasch hinein. Als sich seine Augen an das Dunkel im Inneren gewöhnt hatten, erblickte er ein schmuddeliges Laken, das über eine Gestalt gebreitet lag, die so winzig war, daß man sie kaum noch ausmachen konnte. Er schlug das Laken zurück und sah den alten Einsiedler reglos auf einer dünnen Binsenmatte am Boden liegen. Ausgemergelt, starr, das Gesicht über dem wilden weißen Bart grau und eingefallen, schien er Da'uds Anwesenheit gar nicht zu bemerken. Nur die leise Bewegung seiner Brust bei den schwachen Atemzügen verriet, daß noch nicht alles Leben aus ihm gewichen war.

Mit geschickten, geübten Bewegungen sammelte Da'ud draußen ein paar dürre Zweige, entfachte ein Feuer, zog im Brunnen hinter der Hütte Wasser hoch und brachte es in einem Topf zum Kochen, den er in dem Durcheinander am Boden gefunden hatte. Nachdem das Wasser ein paar Minuten gesprudelt hatte, nahm er den Topf vom Feuer und deckte ihn zu. Während er wartete, daß das Wasser wieder abkühlte, ging er neben dem sterbenden Mann in die Hocke. Sanft tastete er nach dem schwachen Puls, wusch dem Alten das Gesicht und rollte einige alte Kleidungsstücke zu einem Kopfkissen zusammen. Dann goß er ein wenig Wasser in einen Becher, stützte den Kopf des Einsiedlers mit dem Unterarm und führte ihm den Becher an die ausgetrockneten, blau angelaufenen Lippen. Zunächst nippte der Alte nur, dann trank er die lauwarme Flüssigkeit in gierigen Schlucken, bis der Becher leer war. Da'ud legte seinen Kopf wieder auf dem improvisierten Kissen ab, kniete sich neben den alten Mann, ließ die Augen nicht von ihm, versuchte ihm seinen Willen aufzuzwingen, betete, flehte ihn an, er möge das Bewußtsein wiedererlangen … Er versuchte ihm seinen Willen aufzuzwingen, weil es sein höchster Ehrgeiz als Arzt war, den Tod zu besiegen. Er flehte ihn an, weil dieser Mann, wenn das Leben aus ihm wich, kostbares Wissen mit ins Grab nehmen würde und weil damit auch sein Leben auf dem Spiel stand. Er betete, weil er sonst nichts tun konnte. Die Minuten verrannen, angespannt und qualvoll, bis schließlich der Einsiedler die Augen aufschlug.

»Wer bist du? Was machst du hier?« murmelte er.

»Ich bin Da'ud, ein Arzt aus Córdoba«, beruhigte ihn Da'ud, während er ihm den Becher wieder an die Lippen hielt. »Ich bin gekommen, mich um Euch zu kümmern«, fügte er hinzu, und seine Stimme war in seiner unaussprechlichen Erleichterung ganz hell und leicht geworden.

Aber ehe er noch zu Ende gesprochen hatte, war der Einsiedler schon wieder in eine halbe Ohnmacht zurückgesunken. Da'ud wandte kaum die Augen von ihm, stand auf und suchte in der Hütte nach Lebensmitteln. Essig fand er beinahe sofort, eine große Flasche, sauber und ordentlich verkorkt, sorgsam auf einem hoch angebrachten Regal verwahrt. Es war klar, daß der alte Mann sie hier für Zeiten der Krankheit aufbewahrt hatte. Wenn er nur Honig finden könnte, gäbe es vielleicht eine Chance … Er fühlte noch einmal den Puls des alten Mannes. Der schlug inzwischen ein wenig stärker. Beruhigt ging er wieder nach draußen und machte sich auf die Suche nach einem Bienenkorb, den er auch wie erwartet unweit des Brunnens fand. Er schützte sich mit dem Unterarm gegen die ausschwärmenden Bienen und hebelte mit einem langen, spitzen Stock ein Stück Wabe ab, trug sie in die Hütte und entnahm ihr so viel Honig, daß er ihn mit dem Essig zu einer Sauerhoniglösung aufkochen konnte. Dann kehrte er zu seinem Patienten zurück, betete und flehte, flehte und betete …

Die Dämmerung war bereits nah, als der Einsiedler erneut aufwachte, sichtbar erfrischt. Wieder ließ ihn Da'ud trinken, und gab ihm dann, als er neu belebt war, ein wenig von dem Sauerhonig.

»Wer bist du?« fragte die schwache Stimme.

»Ich bin Da'ud, ein Arzt aus Córdoba. Ich bin gekommen, mich um Euch zu kümmern«, wiederholte Da'ud geduldig.

»Ich brauche keinen Arzt, der sich um mich kümmert, viel weniger noch einen jungen Quacksalber, dem nichts anderes einfällt, als mich zur Ader zu lassen und mir das bißchen Leben, das noch in mir ist, zu rauben.«

»Ich werde Euch nicht zur Ader lassen«, beruhigte ihn Da'ud. »Ich lasse niemals Patienten zur Ader, die für diese Behandlung zu schwach sind. Hier, trinkt noch ein wenig Oxymel und ruht Euch aus bis zum Morgen.«

Die ganze Nacht wachte Da'ud bei dem gebrechlichen alten Mann, hielt ihm jedesmal, wenn er sich rührte, den Becher mit Wasser an die Lippen, fiel selbst in unruhigen Schlummer, wenn der Alte schlief, und betete mit aller Kraft, daß der Mann bis zum Morgen überleben würde. Beim ersten Dämmern des Tages stand er auf, zündete ein Feuer an und kochte aus einer Handvoll Gerstenkörner, die er in einer Ecke der Hütte unter einer umgedrehten Schüssel gefunden hatte, eine Grütze. Sobald sich der Einsiedler regte, flößte er ihm eine weitere Dosis Oxymel ein und fütterte ihn dann löffelweise mit der dünnen Grütze. Das Gesicht des Alten war nun nicht mehr grau. Es war zwar immer noch blaß, hatte aber eine viel gesündere Farbe.

»Warum machst du dir die Mühe? Was nützt es, einen alten Mann wieder zum Leben zu erwecken, für den die Zeit zum Sterben gekommen ist?«

»Leben verlängern, näher kann ein Mensch nicht an den göttlichen Schöpfungsakt gelangen.«

»Anmaßung! Die Natur nimmt ihren Lauf nach Gottes Willen. Du hast kein Recht, ihr ins Handwerk zu pfuschen. Aber du wußtest nicht, daß ich krank war, als du kamst. Was hat dich hierhergebracht?«

»Ich bin auf der Suche nach Eurem ungeheuren Wissen über das Leben der Pflanzen hierhergekommen.«

Diese Worte schienen den alten Mann wunderbar zu beleben. »Sieh sie dir an, bitte«, sagte er und zeigte auf die Reihe junger Sprossen auf dem Brett unter dem Fenster. »Es ist eine Pflanzenart aus dem Orient, die ich hier anzusiedeln versuche. Haben Sie Wurzeln geschlagen? Brauchen sie Wasser? Ich habe sie vernachlässigt, seit mich das Fieber ereilt hat.«

»Sie leben und gedeihen gut«, versicherte Da'ud ihm. »Schon bald werdet Ihr wieder auf den Beinen sein und könnt sie selbst pflegen.«

»Dafür bin ich dir dankbar«, seufzte der alte Mann. »Was willst du also wissen?«

»Ich suche eine Pflanze, die von den Griechen Vatermörder genannt wird. Das wenige, das ich aus den alten Manuskripten zu erfahren vermochte, scheint darauf hinzudeuten, daß die Früchte nicht fallen, ehe nicht neue Sprossen gewachsen sind. Aber vielleicht habe ich auch die Abschnitte falsch gedeutet.«

Ein Leuchten der Bewunderung flackerte im leblosen Blick des Alten auf. »Nein, junger Meister, das hast du nicht. Die Art, die du beschrieben hast, ist ein Baum mit einer glatten roten Rinde, dunkelgrünen, glänzenden Blättern und Blüten, die weiß oder rosa sind. Sie blühen im Herbst und mischen sich mit den scharlachroten Beeren des Baumes, die erst im zweiten Jahr nach der Blüte heranreifen. Daher sind sie noch am Baum, wenn die alten Blüten welken und neue knospen.« Der alte Mann schloß die Augen und verstummte einen Augenblick, nahm seine geringe Kraft zusammen, ehe er fortfuhr. »Der Baum gedeiht in Griechenland und Italien, daher wußten die Alten von ihm. Sein lateinischer Name ist arbustus unedo, und im Romanischen nennen wir ihn madrona.«

»Der Erdbeerbaum!« rief Da'ud aus. »Aber natürlich! Und er gedeiht hier ganz üppig. Ihr habt keine Vorstellung, wie lebenswichtig dieses Wissen für mich ist.«

»So lebenswichtig wie deine Anwesenheit hier für mich, ein Trost in meiner Sterbestunde«, flüsterte der alte Mann. »Aber ist das alles, was du zu wissen trachtest?«

»Da ist noch eine andere Art, die unter dem seltsamen Namen handakuka bekannt ist und die ich auch zu bestimmen begierig bin.«

»Die kenne ich nicht, aber wenn du mir ihre Eigenschaften beschreibst, dann kann ich sie vielleicht benennen.«

»Leider weiß ich außer dem Namen nichts über sie«, antwortete Da'ud und flößte seinem Patienten noch ein wenig Grütze ein. »Aber ich werde meine Suche fortsetzen, und wenn ich einen Hinweis gefunden habe, komme ich wieder und frage Euch. Doch aus reiner naturwissenschaftlicher Neugier wüßte ich gern den Namen der stacheligen Pflanzen, die ich vor Eurer Hütte gesehen habe?«

»Es ist eine Variante der Aloe, deren Auszug in Afrika als Wundermittel gilt.«

»Hat sie einen besonderen Namen?«

»Ich habe ihn nie herausgefunden.«

»Welche Eigenschaften hat diese Art?« fragte Da'ud wißbegierig, auf jedes Fetzchen Information versessen, das er bekommen konnte.

»Mehr als ich im Augenblick die Kraft habe, dir zu erklären.«

»Dann ruht ein wenig. Ich reite nach Córdoba und hole Milch und Schrot, das ich für euch in Essig kochen will. Es wird Euch gut tun. Inzwischen trinkt noch von dem Wasser, das ich für Euch abgekocht habe – hier, der Topf steht neben Euch –, und achtet darauf, daß Ihr ihn stets bedeckt haltet. Wenn Ihr Hunger verspürt, es ist noch ein wenig Grütze da, genug für Euch, bis ich wiederkomme.«

»Du schwörst, daß du mich bei deiner Rückkehr nicht zur Ader lassen willst?«

»Ich schwöre.«

»Dann darfst du kommen. Es ist an der Zeit, daß ich das Wissen, das ich mir in meinem Leben mit den grünen Dingen erworben habe, mit jemandem teile.«

Da'ud war trunken vor Freude, als er den Hang hinunter ritt. Er hatte nicht nur den Einsiedler dem Rachen des Todes entrissen, er hatte sich auch selbst ein gutes Stück vom Abgrund entfernt, war auf halbem Weg zur Erfüllung des Auftrags, den ihm der Kalif gegeben hatte. Mehr noch, er würde unschätzbare Reichtümer an Wissen erfahren, die er damit auch der ewigen Vergessenheit entriß. In wilder Hast kaufte er die Lebensmittel, die er brauchte, tauschte sein Maultier gegen ein feuriges Roß ein und galoppierte in halsbrecherischem Tempo zur Hütte zurück.

Aber als er dort ankam, war der Einsiedler tot. Da'ud fand ihn am Boden liegend, unter dem Brett, auf dem die Reihe neuer Sprossen wuchs, neben ihm zerschmettert ein Wasserkrug. Was für eine Niederlage! Er hob den beinahe gewichtslosen Körper auf, trug ihn nach draußen und begrub ihn inmitten der Pflanzen, die der Einsiedler sein Leben lang gehegt und gepflegt hatte. Anmaßung! Dieser Ruf des Alten hallte ihm noch in den Ohren wider, als er das Grab mit Erde bedeckte. Anmaßung, daß er versucht hatte, Gottes Willen zuwiderzuhandeln! Verdutzt stand er dem Rätsel des Lebens gegenüber, niedergeschlagen, weil er es nicht geschafft hatte, den Tod des Einsiedlers zu verhindern, bitter enttäuscht, weil der Alte all sein Wissen nun mit ins Grab genommen hatte. Da'ud ging in die Hütte zurück, nahm die zarten Sprossen – das einzige Erbe des Einsiedlers – vom Brett unter dem Fenster und trug sie mit sich zurück nach Córdoba.

5

Körperlich erschöpft und im Herzen ermattet vom Sturm der Gefühle, den er in den letzten Stunden des Einsiedlers durchlebt hatte, schlief Da'ud den ganzen restlichen Tag und die folgende Nacht hindurch. Als er am nächsten Morgen erfrischt und in vertrauter Umgebung erwachte, hatte er sein Gleichgewicht beinahe wiedererlangt, vertrieb ihm das angeborene Selbstvertrauen die Zweifel, die der Einsiedler in seinem Denken geweckt hatte, ob es etwa anmaßend sei, gegen den Willen Gottes anzukämpfen. Jetzt war nicht die Zeit für philosophische Betrachtungen. Er mußte all seine Energie auf die Suche nach dem handakuka bündeln, alles andere hatte zu warten. Nachdem er die griechischen und arabischen Texte erschöpfend befragt hatte, mußten nun andere Wissensquellen gefunden werden, andere Einsiedler, hier oder anderswo …

Da'ud verließ das Haus, ehe sich sonst jemand gerührt hatte, und machte sich auf den Weg zum Marktplatz. Dort trafen Menschen aus Ost und West, aus Nord und Süd zusammen, um zu kaufen und zu verkaufen, um Waren, Güter, Sklaven – und Informationen – zu tauschen und zu handeln. Zu dieser frühen Morgenstunde waren die Straßen noch menschenleer. Die kahlen Wände, die sie säumten, schlossen die Wohnhäuser gegen die Außenwelt ab und schützten diejenigen, die drinnen wohnten, vor neugierigen Blicken. Es war wie in einer Geisterstadt. Aber als sich Da'ud dem Marktplatz näherte, wurde er in die stille Geschäftigkeit hineingezogen, in die Vorbereitung auf das emsige Leben des Marktes, in jene ungesehenen Stunden, in denen eine Stadt zu erwachen beginnt. Hoch aufgeschossene berberische Fellachen, deren Schritt so würdevoll war wie der ihrer Kamele, trugen auf dem Kopf Körbe voller glänzender schwarzer Oliven und dunkelblauer Trauben, Orangen, Aprikosen und runder gelber Melonen. Bäcker klopften Teig flach für die Pitas des Tages, formten ihn rund für Brötchen. Konditoren buken aus Blätterteig und stark duftendem Ziegenkäse goldene Wunder, die schon bald von den Straßenverkäufern in der ganzen Stadt wohlfeil gehalten würden. Nach und nach wurden die hölzernen Läden vor den schattigen Nischen entfernt, wo die Kunsthandwerker ihre Ware ausstellten und ihren Berufen nachgingen: die Töpfer und Kupferschläger, die Lederarbeiter und Seidenweber wünschten einander einen einträglichen Tag.

Starker Moschusduft stieg Da'ud in die Nase, als er auf den offenen Platz trat, und aus der gleichen Richtung drangen wütende Flüche an sein Ohr. Ein Parfümverkäufer hatte, während er seinen Stand aufbaute, einen Flakon der kostbaren Flüssigkeit verschüttet. Da'ud näherte sich ihm mit leisen Schritten und kaufte ihm für einen großzügigen Betrag das wenige ab, das noch auf dem Boden der kleinen Flasche übrig war. Entzückt und begierig darauf, einem so großzügigen Kunden alles recht zu machen, goß der Händler das Parfüm sorgfältig in ein kleines Bronzefläschchen um und träufelte dann ein wenig über Da'uds bewegliche, schmale Finger, ehe er das Behältnis verkorkte. Während er das machte, fragte Da'ud ihn wie beiläufig: »Wann erwartet Ihr wieder einmal radanitische Kaufleute bei uns?«

»Radaniten? Ihr meint gewiß die jüdischen Kaufleute, die vieler Sprachen mächtig sind und von Frankreich durch Spanien nach Ägypten reisen, um von dort nach Arabien und in den Orient zu segeln?«

»Genau die.«

»Es ziehen heutzutage nicht mehr viele von ihnen auf den Handelsstraßen nach Osten. Die Venezianer haben sie beinahe ganz verdrängt. Ich erinnere mich noch, daß mein Vater von ihnen Moschus und Kampfer kaufte, wenn sie aus Indien und China zurückkehrten. Und bei uns erwarben sie Seide und Leder, um es den orientalischen Fürsten anzudienen. Die wenigen, die noch übrig sind, erscheinen ab und zu, meistens mit Sklaven aus Prag. Die Slawen sind sehr gefragt, die Männer als Soldaten und Arbeiter im Dienste des Kalifen, die Frauen für die Harems der Reichen – besonders die Rothaarigen«, fügte er mit einem anzüglichen Zwinkern hinzu. »Die Omaijaden sind ganz versessen auf sie. Sucht Ihr ein hübsches junges Ding für Euch selbst?«

»Nein, keineswegs. Ich interessiere mich für die Kaufleute, nicht für ihre Ware.«

»Dann fragt den Unterhändler da drüben, wann der nächste Sklavenverkauf angesetzt ist. Vielleicht findet Ihr bei den Händlern einen Radaniten.«

Da'ud dankte dem Mann und überquerte den Marktplatz. Der Unterhändler saß auf einem niedrigen Lederhocker und schaute eine Liste von Pferde- und Sklavenauktionen durch, die er in Kürze ankündigen würde. Ja, erwiderte er auf Da'uds Anfrage, in Kürze solle ein Sklavenverkauf beginnen. Um sich die Wartezeit zu vertreiben, schlenderte Da'ud zu einem Obststand und wählte sich dort eine Aprikose aus, die flaumig und weich, gerade reif zum Essen war. Mit sinnlichem Vergnügen ließ er den Finger über die weichen Rundungen gleiten, öffnete die Frucht an der Mulde, die ihn an die reifen Brüste einer Frau erinnerte … Sorgfältig entfernte er den Stein, nachdem er die Aprikose genau untersucht hatte, ob sich auch kein Insekt in ihr verbarg, hieb dann die Zähne in das weiche Fleisch mit dem zarten Aroma. Er wollte sich gerade eine weitere Frucht nehmen, als ihm eine bärtige Gestalt auffiel, ein sonnenverbrannter Mann mit scharfem Blickt, der sich ihm vom Gasthaus näherte, das gleich am Marktplatz lag. Neben dem Mann schritt ein schmales Mädchen, die schlanke Hand lose in die seine gelegt, die Augen fest zu Boden gerichtet, so daß man nur ihren üppigen rostroten Haarschopf sehen konnte. Hinter den beiden ging, von einem stämmigen Wachmann angeführt, ein halbes Dutzend junger Männer mit gebräunten Gesichtern, die wilden Augen trotzig und aufmüpfig. Kaum hatten sie den Ort des Sklavenmarktes erreicht, da erschien neben ihnen schon ein Beauftragter des Kalifen in Begleitung eines Imams mit Turban, der ihnen den üblichen Handel vorschlug: ihre Freiheit im Tausch gegen den Übertritt zum Islam, gefolgt von der Rekrutierung in die Armee des Kalifen.

»Mit der Beute, die ihr aus der Schlacht mit nach Hause tragt, könnt ihr eines Tages ein Stück Land kaufen, und wenn ihr hart arbeitet, werdet ihr damit reich wie andere eures Schlages schon vorher«, versprach ihnen der Agent des Kalifen. »Und die Jungfrau …«

»Nein!« unterbrach sie der Händler mit barscher Stimme. »Sie ist noch ein Kind. Sie steht nicht zum Verkauf.«

»Wie Ihr wünscht«, meinte der Beauftragte des Kalifen und zuckte gleichgültig die Achseln, während er die jungen Männer von Kopf bis Fuß musterte.

»Mein Herr zahlt Euch jeden geforderten Preis für so eine«, fuhr eine hohe Stimme dazwischen.

»Du schon wieder«, gab der Händler mit einiger Verachtung zurück. Er kannte den Eunuchen gut. Er war auch Slawe, man hatte ihn als Kind verkauft und kastriert. Inzwischen war er der getreue Diener eines Prinzen aus dem Haus der Omaijaden und war ständig auf der Suche nach neuen Leckerbissen, mit denen er den abgestumpften sexuellen Appetit seines Herren noch reizen konnte.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Sie steht nicht zum Verkauf, weder für den Kalifen, noch für seinen Neffen, noch für sonst jemanden.«

Nach dem rituellen Feilschen kaufte der Beauftragte des Kalifen die männlichen Sklaven, und der Imam führte sie fort, damit sie zum Islam übertreten konnten. Auch der Eunuch tänzelte davon, um anderswo seine Beute zu suchen. Erst dann trat Da'ud auf den Händler zu und grüßte ihn in hebräischer Sprache. Beim Klang der vertrauten Worte flog ein Lächeln des Erkennens über das Gesicht des Mannes, auch das Mädchen hob die Augen – ein kurzer Blick in ein tiefblaues Meer.

»Heute sind keine jüdischen Sklaven auszulösen«, teilte ihm der Radaniter mit.

»Deswegen bin ich nicht hier. Ich bin Arzt und möchte etwas über eine Pflanze herausfinden, die unter dem Namen handakuka bekannt ist. Zu Zeiten der Antike war sie als ein wirksames Gegengift gegen den Schlangenbiß bekannt, aber heute weiß kaum noch jemand von ihr.«

»Ich bin der letzte auf der Welt, den Ihr dazu befragen solltet. Ich kenne mich mit Pflanzen nicht aus.«

»Das hatte ich auch nicht anders erwartet. Ich hatte gehofft«, erklärte Da'ud, während er eine Handvoll Goldmünzen in die ledrige Hand des Kaufmanns gleiten ließ, »ich hatte gehofft, Ihr würdet Euch bereit erklären, die Reisenden, die Ihr auf Euren Wegen trefft, besonders jene aus östlichen Ländern, zu befragen, ob sie von einer solchen Pflanze je gehört haben. Wenn das so ist, dann könntet Ihr Euch auch noch erkundigen, ob sie noch einen anderen Namen für dieses Gewächs kennen, noch besser, ob sie Euch einen Ableger für mich mitgeben könnten.«

»Dagegen habe ich nichts einzuwenden«, erwiderte der Mann und warf einen anerkennenden Blick auf die erkleckliche Summe auf seinem Handteller. »Aber es werden viele Monate vergehen, ehe ich wieder nach Córdoba zurückkehre. Wenn Ihr jedoch einen wirksamen Theriak sucht, dann kann ich Euch etwas anbieten, das wir Radaniten schon vor vielen Jahren entdeckt haben, als wir in Afrika Handel trieben. Dies hier tragen wir immer bei uns.«

Mit skeptischer Miene beäugte Da'ud den Mann, während der einen Beutel aus seinen Gewändern hervorzog und ihm einen grünen Stein entnahm, der die Form einer Eichel hatte. »Bezoar«, sagte der Händler und hielt Da'ud den Stein auf dem Handteller hin, damit er ihn genau betrachten konnte.

»Das ist das persische Wort für ›Schutzschild gegen Gift‹«, rief David aus, dessen Erregung deutlich wurde, »aber die alten Quellen erwähnen ihn nicht.«

»Ihr habt vielleicht die Klassiker studiert, junger Meister, aber ich habe reiche Erfahrung in der wirklichen, lebendigen Welt gesammelt. Diesen Stein findet man in der Gallenblase des Elefanten. Wir zermahlen ihn zu Staub, vermischen ihn mit Öl und flößen ihn dem Opfer der Schlange ein. Wir machen auch eine Paste daraus, die wir auf die Bißstelle auftragen. Ich habe mehr als einen Unglückseligen gesehen, der so gerettet wurde.«

»Wo habt Ihr diesen Stein her?« drängte Da'ud den Mann und ließ alle Goldmünzen, die er noch bei sich hatte, in dessen ausgestreckte Hand fallen. In jenem Augenblick hätte er dem Mann ohne Zögern seinen gesamten Besitz gegeben, denn dieser unerwartete Fund war genau das, was er jetzt brauchte, um den Kalifen so lange hinzuhalten, bis es ihm gelungen war, auch das handakuka zu finden.

»Wenn nötig, so reise ich über die See nach Ägypten, wo ein Elfenbeinhändler, den ich kenne, damit handelt.«

»Es ist nötig, jetzt und für mich.«

»Es tut mir leid, junger Herr, aber ich plane im Augenblick keine solche Reise. Ich muß mich um dieses arme junge Geschöpf kümmern.«

»Wer ist sie?«

»Ich weiß es nicht. Eine alte Frau hielt mich an, als ich gerade Prag verlassen wollte, und bot sie mir für einen sehr günstigen Preis an. ›Die ist auf dem Markt von Córdoba eine Menge Geld wert, eine blasse junge Rothaarige wie sie‹, kicherte die Alte. ›Und sie ist Jüdin, wie Ihr selbst, und hat keine Menschenseele auf der Welt‹, fügte sie hinzu. Als ich ihr die Münzen in die schmutzige Hand zählte, versuchte ich ein wenig mehr über das Mädchen herauszufinden, doch die Alte verweigerte mir jegliche Auskunft, ballte nur die Faust über dem Geld und verschwand. Sie ist ein seltsames kleines Ding, die kleine Sari. Gewiß, sie ist sehr folgsam, aber viel zu still und zurückhaltend für ein so junges Mädchen. Sie trägt sicher ein überaus schmerzliches Geheimnis mit sich herum, wenn ich mich nicht täusche. Aber inzwischen habe ich mich so sehr an ihre Gesellschaft gewöhnt, daß ich nicht die Absicht habe, mich von ihr zu trennen.«

Da'ud beugte sich herab, legte einen Finger unter Saris Kinn und hob sanft ein wenig ihren Kopf. »Wie schön sie ist!« rief er beim Anblick der leicht schrägen tiefblauen Augen, der hohen Wangenknochen, des lebendigen Mundes und des rostroten, weich gelockten Haares, das ihre beinahe durchsichtige Haut unterstrich. »Ich könnte mich während Eurer Abwesenheit um sie kümmern«, schlug er vor, ohne die Augen von dem Mädchen abzuwenden.

»Wie kann ich sicher sein, daß Ihr sie nicht mißhandeln werdet? Ihr seid jung und kräftig, sie dagegen ist kaum mehr als ein schutzloses, verschrecktes Kind.«

»Ich bin der Sohn von Ya'kub ibn Yatom, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Córdoba.«

»Oh!« rief der Händler aus, sichtlich verlegen. »Das wirft ein anderes Licht auf die Sache. Ich kenne Euren Vater sehr gut. Er hat in der Vergangenheit so manchen jüdischen Sklaven von uns freigekauft. Ein Mann von Ehre. Als sein Sohn besitzt Ihr gewiß die gleichen Tugenden.«

»Dann würdet Ihr mir vielleicht erlauben, Sie von Euch freizukaufen?«

»Ich weiß nicht. Ich habe sie sehr liebgewonnen, müßt Ihr wissen.«

»Dann müßt Ihr an ihr Wohlergehen und ihre Zukunft denken. Was für ein Leben erwartet sie denn, wenn sie Euch weiterhin auf den Straßen Europas begleitet? Wenn sie in unseren Haushalt aufgenommen wird, hat sie ein gutes Zuhause und die Möglichkeit, unter der Schirmherrschaft meines Vaters eine vorteilhafte Ehe zu schließen.«

Der Händler antwortete nicht, hielt den Blick unverwandt zu Boden gesenkt, während er nervös von einem Bein auf das andere trat.

»Wir wollen einen Handel machen«, schlug Da'ud vor, der entschlossen war, den Mann zu der gewünschten Reise zu überreden und das Mädchen unter seine Fittiche zu nehmen. »Ihr vertraut sie bis zu Eurer Rückkehr aus Ägypten meiner Obhut an. Dann soll sie selbst frei entscheiden, ob sie bei uns bleiben oder ihr Vagabundenleben mit Euch wieder aufnehmen will.«

»Das würde mich sehr benachteiligen.«

»Nicht unbedingt. Es könnte sein, daß ihr das geruhsame, seßhafte Leben in einem fremden islamischen Land nicht zusagt.«

»Aber Ihr könntet ihr sehr wohl zusagen – jung, reich, gebildet und elegant in Aussehen und Benehmen.«

Da'ud ignorierte sowohl das Kompliment als auch den unterschwelligen Vorwurf und beharrte: »Ich werde Euch für die Reise reichlich entlohnen.«

»In diesem Falle geht es nicht um Geld. Kommt heute Abend wieder hierher, und dann gebe ich Euch meine Antwort.«

Alle Blüten, die auf den Seiten der botanischen Abhandlungen abgebildet waren, über die Da'ud den Rest des Tages gebeugt saß, schienen in einem tiefblauen Meer zu versinken, in einem Meer von der Farbe von Saris Augen, schienen dann aufzusteigen und vor seinen Augen zu schweben. Mit der gleichen unerbittlichen Selbstdisziplin, mit der er während der Audienz beim Kalifen seine Gefühle bezähmt hatte, versuchte er nun, seine Gedanken von der Verwirrung zu befreien, die das Mädchen in ihm ausgelöst hatte. Wieder und wieder versuchte er die Vorstellung zu zügeln, die seine Phantasie in ihm heraufbeschwor: Sari, wie sie in nur wenigen Jahren aussehen würde, die Brüste gerundet, die Hüften sanft geschwungen, die Lippen leicht geöffnet wie die Blütenblätter einer Blume, begierig, die Wärme des Lebens in sich aufzusaugen. Plötzlich erschien ihm sein der Gelehrsamkeit geweihtes Leben kalt und öde. Wäre nicht die Drohung gewesen, die über ihm schwebte, er hätte seine Bücher augenblicklich im Stich gelassen, Sari gesucht und zu einem Spaziergang am Flußufer eingeladen …

Am Ende eines erfolglosen Tages beim Studium der Bücher kehrte er zum verabredeten Treffpunkt zurück, wo der Händler und das Mädchen, einander locker bei der Hand haltend, bereits auf ihn warteten. Als sie ihn erblickte, ließ Sari die Hand des Händlers los und kam auf Da'ud zu, voller Zurückhaltung, aber nicht widerstrebend. Er erinnerte sich nicht, je eine solche Freude verspürt zu haben.

»Wir sprechen bei meiner Rückkehr wieder miteinander«, sagte der Kaufmann. Zerstreut nickte Da'ud zustimmend, nahm Saris Hand leicht in die seine und führte sie nach Hause.

Während der folgenden Wochen sah Da'ud nur wenig von seiner Schutzbefohlenen. Sie war beinahe ausschließlich der Sorge seiner Mutter anvertraut, lebte im Frauenflügel des Hauses und aß genau wie die anderen Frauen nur am Sabbat mit Ya'kub und ihm. Von Woche zu Woche beobachtete er ihre Fortschritte in der arabischen Sprache, die Sola ihr unendlich geduldig mit Gesten und ermunterndem Lächeln beibrachte. Obwohl sie sich mit Leichtigkeit in den Haushalt der Ibn Yatoms einfügte, blieb Sari weiterhin still und zurückgezogen, hielt stets den Blick zu Boden gesenkt, die Schultern gebeugt, ließ die langen, schmalen Hände locker zwischen den Knien hängen, wenn sie nicht gerade mit einer Hausarbeit beschäftigt war. Die einzige Reaktion, die Da'ud manchmal erkennen konnte, war das Aufflackern staunender Überraschung über die Wärme und Zärtlichkeit, mit der seine Mutter sie behandelte.

Er selbst forschte unverdrossen weiter nach dem geheimnisvollen handakuka. Morgens stand er schon in der Dämmerung auf, streifte durch die Lande und befragte spanische Bauern, arabische Kräuterheiler, berberische Hirten und slawische Ackerbauern, kehrte jedoch jeden Abend unverrichteter Dinge heim. Erst wenn sein Vater ihm versicherte, daß wieder kein Bote gekommen war, der ihn vor den Kalifen zitierte, atmete er ein wenig auf. Jeder Tag, der verstrich, brachte den Bezoar-Stein ein wenig näher, und mit ihm die einzige Hoffnung, ein wenig Zeit zu gewinnen … Die Nächte waren für Da'ud genauso unruhig wie die Tage, denn da spukten ihm Saris blaue Augen durch die Träume, Augen, die so still waren wie seine eigenen, Augen, die ihm nichts von der Kindheit erzählten, die sie erlebt hatte – wenn sie überhaupt so etwas wie eine Kindheit gekannt hatte. Wenn der Kaufmann wieder Ansprüche auf sie erhöbe, dann würde sie ihr Schweigen mit sich nehmen und ihn mit nichts als seiner quälenden Phantasie zurücklassen, mit der Vorstellung, wie sie als heiratsfähige junge Frau aussehen würde, einer Vorstellung, die ihn seit dem Augenblick, als er sie zum erstenmal erblickte, nicht losgelassen hatte. Aber wenn sie sich zum Bleiben entschied, dann würde er sie mit Geduld und Zärtlichkeit aus der Reserve locken, würde ihr Vertrauen einflößen, bis sie bereit war, sich ihm zu öffnen.

Am Vorabend eines Sabbats verfolgte er gerade schweigend die grazilen Bewegungen ihrer langen, schlanken Glieder, während sie sich herabbeugte, um das fein gearbeitete Ledertuch über den Tisch zu breiten, als ihn der Vater aus seiner Träumerei riß.

»Da'ud, mein Sohn, trotz deiner großen Müdigkeit, die sich in deiner Abwesenheit beim heutigen Abendgebet gezeigt hat, muß ich dich doch bitten, der Gemeinde morgen einen Dienst zu erweisen. Rabbi Zacharia ist unwohl, und niemand sonst ist gelehrt genug, um am Nachmittag die Talmudstunde zu übernehmen. Du als einer unserer glänzendsten Gelehrten und als mein Sohn wirst ihn morgen vertreten müssen.«

»Wie du wünschst, Vater.«

»Ich habe dir ein Exemplar der Traktate aus der Bibliothek der Synagoge mitgebracht.«

»Welcher Text wird morgen behandelt?«

»Ketubot, 77 b.«

»Ist das nicht der Abschnitt über die Hautkrankheit, die zu Zitteranfällen führt?«

»Das könnte schon sein«, erwiderte Ya'kub, der vor den Frauen nur sehr ungern seinen Mangel an Wissen offenbarte.

»Es ist schon lange her, daß ich diesen Text studiert habe, aber ich bereite ihn morgen früh vor. Mutter, sag Yusuf, er soll mich morgen in der ersten Tagesdämmerung wecken, wenn ich da nicht bereits auf den Beinen bin.«

Diese Vorsichtsmaßnahme erwies sich als überflüssig. Lange vor Tagesanbruch kämpfte sich Da'ud aus einem fürchterlichen Alptraum ins Wachen, starrte mit vor Schreck geweiteten, verstörten Augen auf die Bücher auf dem Tisch, auf die Pflanzen des Einsiedlers auf der Fensterbank, in dem verzweifelten Versuch, seine Gedanken in der festen Wirklichkeit zu verankern, während der Schrecken des Traums ihn noch in den Klauen hielt.

»Handakuka!« hatte der todgeweihte Einsiedler ihm mit einem abschätzigen Lachen aus seinem zahnlosen, weit aufgerissenen Maul zugerufen. »Ich sag dir, was das ist. Gib mir nur Sari, daß sie mir die alten Knochen wärmt wie seinerzeit die Abischag dem David. Sie ist eine zarte Pflanze, die mit liebenden Händen gepflegt werden muß«, grinste er lüstern und streckte die eisigen, knochigen Finger nach ihr aus.

»Nein!« schrie Da'ud und stellte sich schützend vor das Mädchen.

»Ja!« vernahm er hinter sich eine donnernde Stimme. Als er sich umdrehte, sah er den Kalifen, der ein blinkendes Schwert aus der juwelenbesetzten Scheide zog und es über seinem und Saris Kopf schwenkte. »Ich kann nicht mehr länger warten. Gib sie ihm, oder ihr habt beide euer Leben verwirkt«, drohte er und legte Da'ud die kalte Klinge an den Nacken.

»Gnade, o Herrscher der Gläubigen! Nur noch einen einzigen Tag!« hatte er gerufen und war von seinem eigenen unterdrückten Traumschrei aufgewacht. Immer noch schweißgebadet, wollte er sich gerade auf den Weg in die Badekammer machen, als Yusuf leise ins Zimmer trat, um ihn zu wecken. Er spürte, wie verstört sein junger Herr war, und massierte ihn kurz, während das Badewasser erwärmt wurde. Dann half er ihm beim Baden und Ankleiden und brachte ihm, als er sich zum Lesen hinsetzte, einen Teller Obst, Milch und ein Stück frisch gebackenes Sabbatbrot.

Erfrischt schlug Da'ud das Talmudtraktat auf und blätterte die viel gelesenen Seiten durch, bis er den Abschnitt gefunden hatte, den er studieren sollte. Rasch las er den hebräisch-aramäischen Text, dessen Worte, die er in seiner frühen Jugend genau betrachtet hatte, ihm nun wieder in Erinnerung kamen: »Was ist die Heilung für die Zitterkrankheit? Pila, ladanum, die Rinde eines Nußbaums und abgeschabte Späne von einer gegerbten Haut, akalil malka und der Blütenkelch eines roten Dattelbaums.« Als er die Seite umblätterte, fiel ihm ein Stück Papier, das vom Alter schon ganz durchscheinend und vergilbt war, auf das Knie. Zerstreut hob er es auf und warf nur einen flüchtigen Blick auf die ordentlichen, kantigen hebräischen Buchstaben, die darauf gerade eben noch sichtbar waren. Doch dann bemerkte er etwas Seltsames. Er schaute noch einmal genau hin, wollte den Augen kaum trauen. Einen Augenblick lang standen all seine Gedanken still, waren unfähig, das aufzunehmen, was vor ihm lag, aber schon bald konnte er wieder klar denken. Er konzentrierte all seine Kräfte auf die schattenhaften Wörter und las langsam: »Akalil malka, das heißt Hadnakuka.« Da stand es, starrte ihm von einem brüchigen Stück Papier ins Gesicht, das so alt war, daß es schon bald zu Staub zerfallen würde. Durch einfaches Vertauschen von zwei Buchstaben wurde aus hadnakuka das Wort handakuka – akalil malka! Das kannte er. Auf Arabisch hieß es ilklil al-malik, die Königskrone. Die Römer nannten es beim gleichen Namen, corona realis, was sich im Laufe der Jahrhunderte zum Romanischen coronilla verschliffen hatte. Und das war nichts anderes als der gemeine Steinklee, melilot, dessen skorpionartige Wurzeln als ein wirksames Mittel gegen giftige Bisse bekannt waren. Da'ud warf den Kopf zurück und brach in schallendes Gelächter aus, hysterisch vor Erleichterung. Ein Papierfetzen, den ein unbekannter Gelehrter verlegt hatte, hatte dieses Geheimnis unzählige Jahre gewahrt – und das hätte ihn um ein Haar das Leben kosten können! An was für einem feinen Faden sein Schicksal doch durch den Willen Gottes gehangen hatte! In einer Aufwallung frommer Dankbarkeit beugte er sich nieder, um den uralten hebräischen Text zu lesen, flüsterte dann den althergebrachten Segen, den man nach der Errettung aus Todesgefahr und aus Dankbarkeit für das Geschenk eines neuen Tages spricht.

6

Ein stummer schwarzer Eunuch geleitete Da'ud in die gleiche abgeschiedene Laube in den Gärten der Medina Azahara, in der sein Vater am Abend der Einweihung des Palastes seine Unterredung mit Abd ar-Rahman gehabt hatte. Der Morgen war noch frisch, die schmalen Zypressen spiegelten sich im glatten Wasser des achteckigen Marmorbeckens. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, beobachtete Da'ud im Wasser sein eigenes dunkles, schlankes Spiegelbild, bis er Schritte näher kommen hörte. Er wandte sich um und sah den Kalifen rasch auf sich zuschreiten, vor ihm den getreuen Mustapha, der eine Fliegenklatsche schwenkte. Als der Kalif die Laube erreicht hatte, zogen sich die beiden Entmannten in diskretem Abstand zurück. Mit ausgestreckten Armen hieß Abd ar-Rahman seinen jungen, schlicht gekleideten Schützling willkommen.

»Ich hatte Euch nicht so früh zurückerwartet«, lächelte er. Da'ud war sich inzwischen seiner Meisterschaft in der Kunst der Verstellung bewußt.

»Das Lächeln des Allmächtigen hat mich gewärmt«, erwiderte er bescheiden, während er dem Kalifen seine Reverenz erwies. »Wie Ihr mir befohlen habt, o Herrscher der Gläubigen, habe ich die beiden Pflanzen gefunden, die zur Vervollkommnung des Großen Theriak noch fehlten.«

»Und niemand weiß um Eure Entdeckung?«

»Keine Menschenseele.«

»Wie kann ich sicher sein?«

»Ihr habt mein feierliches Ehrenwort. Der Einsiedler, der eine der Pflanzen kannte, ist inzwischen gestorben. Ich habe ihn mit eigenen Händen beerdigt und kann Euch sein Grab zeigen, wenn Ihr Euch dieser Tatsache versichern wollt. Die zweite Zutat habe ich durch Zufall entdeckt, allein in meinem Zimmer, als ich gerade einen Abschnitt des Talmuds studierte. Sie wurde vor vielen Jahren von einem Gelehrten auf ein Fetzchen Papier geschrieben und lag zwischen den Blättern eines Traktates in der Bibliothek der Synagoge verborgen.«

»Eure Worte klingen wahrhaftig.«

»Ich fühle mich tief geehrt durch Euer Vertrauen. Ich möchte Euch weiterhin zu wissen geben, daß ich auf meiner Suche nach den beiden Zutaten ein Gegenmittel entdeckt habe, das den Menschen der Antike nicht bekannt war. Obwohl es nicht leicht zu finden ist, kann man es doch von einem gewissen ägyptischen Elfenbeinhändler erwerben, und es ist einfacher zuzubereiten als der Große Theriak. Ich möchte Euch daher untertänigst den Vorschlag unterbreiten, dieses Mittel als Reserve aufzubewahren. Einige von den zweiundvierzig Zutaten des Großen Theriak sind selten, teuer und schwer zu beschaffen. Wenn durch einen unglücklichen Zufall einmal eine fehlen sollte, könnte man statt dessen den Bezoar benutzen.«

»Ihr habt bei Eurer Suche alle meine Erwartungen übertroffen«, lächelte der Kalif, diesmal mit offensichtlicher Aufrichtigkeit. »Das Haus der Omaijaden ist dafür bekannt, daß es sich denen gegenüber außerordentlich erkenntlich zeigt, die ihm Treue erweisen, wie Ihr dies so glänzend getan habt. Ihr werdet Euch daher offiziell meiner Hofhaltung anschließen, als Gelehrter und Arzt. Eure erste Aufgabe soll sein, sicherzustellen, daß mir jederzeit ein Vorrat des Großen Theriak zur Verfügung steht. Eure zweite Aufgabe ist, diese Entdeckung keiner Menschenseele mitzuteilen, obwohl Ihr sicher den brennenden Ehrgeiz verspürt, für Eure Errungenschaft Ruhm und Ehre zu gewinnen und der gesamten Menschheit ihre Segnungen zukommen zu lassen. Ich verstehe Eure Enttäuschung«, fuhr er fort, nachdem er den flüchtigen Ausdruck der Überraschung und Ernüchterung bemerkt hatte, der Da'uds Stirn umwölkte. »Mit der Zeit werdet Ihr die Gründe für dieses Gebot der Verschwiegenheit erfahren. Inzwischen, denke ich, ist eine Stellung am Hofe eine gerechte Belohnung.«

»Meine Dankbarkeit kennt keine Grenzen, o Herrscher der Gläubigen, und ich beuge mich ohne Fragen der überlegenen Weisheit Eurer Entscheidung«, erwiderte Da'ud mit einer Bescheidenheit, die nicht von Herzen kam. »Darf ich die Bitte äußern, den Großen Theriak in der Vertrautheit meines eigenen Heimes zubereiten zu dürfen, um neugierige Fragen und spionierende Augen zu meiden?«

»Dagegen habe ich keine Einwände. Aber sobald Ihr Eure Aufgabe zu meiner Zufriedenheit erledigt habt, ist Eure Gegenwart bei Hofe erforderlich. Eure Sprachkenntnisse und Eure angeborene Diskretion sind seltene Eigenschaften, die ich sehr zu schätzen weiß. Geht in Frieden, junger Meister, und möge Euch der Allmächtige segnen.«

Da'ud eilte nach Córdoba zurück, trotz der Geheimhaltung, zu der man ihn verpflichtet hatte, sprühte er vor Freude. Hätte zu Hause Sari, wie er es sich in seinen Träumen vorstellte, auf ihn gewartet, er hätte sich wie im Paradies gefühlt, doch das Paradies ist nun einmal nicht von dieser Welt … Das letzte, was er bei seiner Heimkunft erwartet hätte, war sein Vater, der zusammen mit Isaac bar Simha seiner harrte. Kaum hatte er den stattlichen Kaufmann erblickt, dessen runde, vorgewölbte Stirn wie immer vor Schweiß glänzte, da wußte Da'ud um den Grund des Besuches. Der reiche Edelsteinhändler, der großzügig für den Unterhalt der jüdischen Gemeinde, für ihre Gelehrten und Einrichtungen spendete, war mit drei Töchtern gesegnet, denen er allen, wie er immer wieder verlauten ließ, eine beträchtliche Mitgift zukommen lassen würde. Aber es war nicht einfach, drei junge Männer von passendem Stand zu finden. Ya'kub hatte dies ab und zu mehr oder weniger deutlich vor Da'ud zur Sprache gebracht, doch da sein Sohn auf diese Anspielungen nicht reagierte, hatte der Vater es nicht für angebracht gehalten, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. Jetzt aber, da Da'uds Zukunft gesichert war, hatte sich Ya'kub anscheinend entschlossen, eine Entscheidung zu erzwingen. Da'ud wußte sehr wohl, daß sein Vater nicht eben glücklich über die geflüsterten Klatschgeschichten war, zu denen die Ehelosigkeit seines Sohnes Anlaß zu geben schien. Obwohl er das Heiratsalter bereits weit überschritten hatte, war es bisher noch möglich gewesen, anzudeuten, daß ihn vor allem seine Studien vereinnahmten und alles andere dahinter zurücktreten mußte. Aber schon bald würde die glänzende Laufbahn, die vor ihm lag, der Gesprächsstoff – und der Stolz – der gesamten Gemeinde sein, und man würde es nur für recht und billig halten, daß er nun auch seine Rolle als verantwortliche, wohl etablierte Persönlichkeit annehmen und einen eigenen Hausstand gründen würde.

Obwohl Da'ud es nie ausgesprochen hatte, hatte keine der drei Töchter des Isaac bar Simha in ihm auch nur den geringsten Wunsch nach einer Heirat erweckt. Sein Vater hatte gelegentlich die ganze Familie eingeladen, das Sabbatmahl mit ihnen einzunehmen. Während Da'uds Augen von Sitbora zur Dona und von Dona zu Palomba wanderten, schien es ihm, als wären alle drei Frauen aus dem gleichen Guß: Alle drei waren sie dunkle Schönheiten mit Rehaugen, dazu erzogen, ihren vom Schicksal erwählten wohlhabenden Ehegatten gefügige Ehefrauen zu werden und ihnen mit einer Art animalischer Passivität Kinder zu gebären. Gerade diese Gefügigkeit erschien Da'ud öde, fade und langweilig. Sari dagegen war eine Herausforderung für ihn. Hier galt es ein Geheimnis zu ergründen, einen Menschen zu hegen und zu pflegen, eine Seele zu erobern. Nichts war vorhersehbar, alles war möglich. Und nachdem er einmal ihre mondbleiche Haut erblickt hatte, den kupfernen Schimmer ihres Haares, ihre grazile Gestalt an der Schwelle vom Mädchen zur Frau, erschien ihm die alltägliche Schönheit der Mädchen des Isaac Ben Simha schwer, grobschlächtig, ja, sogar widerwärtig. Je mehr Sari mit jedem Tage zur Frau heranreifte, desto weniger verspürte er das Bedürfnis, sich auf eine Verlobung einzulassen. Jetzt reichte Sari gerade den Männern Obst, Wein und Leckereien. Sie hatte die blauen Augen wie immer gesenkt und schien sich seiner Gegenwart völlig unbewußt zu sein, von der Anziehung, die sie für ihn besaß, die ihn aber in keiner Weise beunruhigte, ganz zu schweigen. Wenn die Zeit reif wäre, dann würde er Wege finden, auch in ihr Gefühle zu wecken, die so stark und drängend waren wie seine eigenen.

Nachdem sie die üblichen Höflichkeitsfloskeln hinter sich gebracht hatten, unterbreitete Ya'kub selbst seinem Sohn das Angebot des Isaac bar Simha und unterstrich damit deutlich seinen Wunsch, dieser möge es annehmen. Da'uds stille Augen folgten Sari bei jeder Bewegung, während sie mit vollendeter Grazie die Weinkelche nachfüllte. Er erwog seine Antwort sorgfältig. Schließlich wandte er sich an Isaac bar Simha und sagte: »Ich fühle mich außerordentlich geehrt durch das großzügige Angebot, das ihr mir gemacht habt. Eure Töchter sind zauberhaft und voller Grazie, eine so schön wie die andere, und jeder Mann wäre glücklich zu preisen, der eine von ihnen als Zierde seines Hauses und Mutter seiner Kinder sein eigen nennen kann. Ich fühle mich jedoch noch nicht bereit, die Verpflichtungen einer Ehe auf mich zu nehmen. Das mag Euch seltsam erscheinen. Viele Männer, die jünger und weniger gutsituiert sind als ich, sind bereits verheiratet und mit zahlreichen Nachkommen gesegnet. Doch mein Vater stimmt mir sicherlich zu, wenn ich sage, daß ich kein gewöhnlicher junger Mann bin. Und genau aus diesem Grunde bin ich wahrscheinlich nicht der ideale Gatte, den Eure Töchter so sehr verdienen.«

»Inwiefern seid Ihr kein gewöhnlicher junger Mann?« fragte Isaac bar Simha zögerlich und zog zweifelnd eine Augenbraue in die Höhe.

Ya'kub mischte sich eilends ins Gespräch. »Da'ud meint, daß seine Studien ihn so vollständig vereinnahmen, daß in seinem Leben kein Platz für die alltäglichen Sorgen des häuslichen Lebens ist.«

»Aber ein Mann hat doch seine Bedürfnisse«, warf Isaac bar Simha spitz ein. In die Enge getrieben, hatte Da'ud nun keine Wahl mehr. Er mußte die älteren Männer kraft seiner medizinischen Autorität niederringen.

»Als Arzt kann ich Euch versichern, daß sich darin keine zwei Männer gleichen, ebensowenig wie in anderen Bereichen des Lebens«, konstatierte er. »Jeder Mensch ist eine Welt für sich – mit seinen – oder ihren – persönlichen Entwicklungen, Reaktionen, Wünschen und Antrieben. Niemand hat das Recht, in diesen Angelegenheiten für einen anderen ein Urteil zu fällen.«

Zum Schweigen gebracht und kleinlaut, erhob sich Isaac bar Simha. »Später einmal vielleicht«, murmelte er und konnte kaum verhehlen, wie sehr der junge Meister seinen Stolz verletzt hatte. Er wischte sich den Schweiß ab, der ihm nun aus purer Verlegenheit über das Gesicht rann, und während Ya'kub ihn aus dem Haus geleitete, bemühte er sich tapfer, den jovialen Ton beizubehalten, der seine Verbindung mit der Familie stets gekennzeichnet hatte. Stolz hin oder her, man konnte es sich einfach nicht leisten, es sich mit den Männern aus dem Hause Ibn Yatom zu verderben …

Tief im Innersten war Ya'kub zerrissen, was die Verheiratung seines Sohnes anging, die er von Herzen herbeisehnte, die er aber nicht gegen dessen Willen erzwingen wollte oder gar konnte. Er erachtete es als das beste, auf die Sache nicht weiter einzugehen. Als er sich wieder zu seinem Sohn gesellte, sagte er, als sei nichts Außergewöhnliches geschehen: »Der radanitische Kaufmann ist aus Ägypten zurückgekehrt. Er ist heute morgen hier gewesen, während ich auf Isaac wartete, und hat darum gebeten, mit Sari sprechen zu dürfen.«

»Was hat sie gesagt?« fragte Da'ud und versuchte das Beben in seiner Stimme unter Kontrolle zu halten.

»Ich weiß es nicht. Isaac kam gerade, also habe ich den Händler an deine Mutter verwiesen.«

»Ich habe ihn gebeten, in Ägypten eine bestimmte Substanz für mich zu kaufen«, meinte Da'ud kühl. »Wenn du mich entschuldigst, Vater, so will ich Mutter fragen, ob er mir eine Nachricht hinterlassen hat.«

In einem Aufruhr der Gefühle überquerte Da'ud den Hof zu den Frauengemächern. Die Sonne stand inzwischen hoch am Himmel und blendete ihn. Ihre Strahlen blitzten auf den leuchtend bunten Keramikfliesen, mit denen der Innenhof ausgelegt war, ließen aus dem Wasser des Beckens, das seine Mitte zierte, Lichtfunken stieben. Da'uds Mutter saß Sari gegenüber. Zwischen den beiden war ein riesiger seidener Bettüberwurf ausgebreitet, und jede Frau stickte auf ihrer Seite an der verschlungenen, vielfarbigen Umrandung. Sola hob den Kopf, als er sich näherte, und legte mit einem leisen, freudigen Lächeln die Arbeit aus der Hand. Sari jedoch stickte eifrig weiter. Die Krümmung ihres Nackens und die sanfte Biegung ihres Rückens, während sie sich zur Arbeit herabneigte, glichen den Zweigen einer jungen Weide, die sich grazil über die Wasser eines langsam fließenden Stroms beugen.

»Sari hat sich entschieden, fürs erste bei uns zu bleiben«, sagte seine Mutter mit warmer Stimme.

»Nur fürs erste?« erkundigte sich Da'ud beunruhigt.

»Der Kaufmann, der sehr um ihr Wohl besorgt ist, hat uns gebeten, daß sie sich ihm jederzeit wieder anschließen darf, wenn sie das möchte. Er kommt einmal im Jahr durch Córdoba, meinte er, und würde uns dann jedesmal besuchen und sich nach ihr erkundigen. Er hat das hier für dich dagelassen«, fügte sie hinzu und deutete auf einen großen Lederbeutel, der auf dem Boden neben ihr lag. »Er meinte, es würde bis zu seiner Rückkehr im nächsten Jahr reichen.«

»Hat er gesagt, was ich ihm schuldig bin?«

»Nein. Er wollte nicht bis zu deiner Rückkehr in Córdoba verweilen, und weil er unsere Familie kennt und ihr vertraut, hat er gesagt, er wolle sich das geschuldete Geld im nächsten Sommer abholen.« Sola stand auf, nahm ihren Sohn beim Arm und ging langsam mit ihm über den Innenhof, so daß Sari sie nicht mehr hören konnte. »Ich hatte das Gefühl, daß Saris Wunsch, hier bei uns zu bleiben, ihn außerordentlich betrübt hat. Ich verstehe ihn vollkommen. Eine zartere, gelehrigere Seele habe ich nie gekannt. Es ist, als könnte sie alle meine Wünsche vorausahnen, sie erfüllen, ehe ich sie ausgesprochen habe. Ob sie aus Dankbarkeit oder aus Furcht so handelt, habe ich noch nicht herausgefunden, denn manchmal, wenn ich ihr ganz sanft einen Fehler erkläre, sehe ich die nackte Angst in ihren Augen. Und wenn ich sie dann zu beruhigen versuche, scheint sie überrascht, als hätte sie erwartet, für ihren Fehler bestraft und nicht getröstet zu werden. Sie scheint auch kein Verlangen nach den Dingen zu haben, die deinen Schwestern so große Freude bereitet haben. Neulich wollte ich ihr einen wunderschön bestickten Gürtel schenken, aber sie hat ihn nicht angenommen, beinahe als stünde ihr derlei nicht zu. Sie scheint am glücklichsten, wenn sie wie jetzt einfach nur ruhig und still dasitzt – sie ist so bescheiden«, seufzte Sola und schüttelte traurig den Kopf. »Wir, die Glücklichen, halten dies für selbstverständlich. Wer weiß, was ihre Seele so verletzt hat, welche Tragödie ihr das genommen hat, was ihr als Mensch zusteht?«

»Das werden wir mit der Zeit sicher herausfinden«, meinte Da'ud nachdenklich, als sie zu Sari zurückgingen. Er mußte die Hände fest auf dem Rücken verschränken, um nicht einem Impuls nachzugeben und dem Mädchen die prächtigen rostbraunen Locken zurückzustreichen, die ihr in die Stirn gefallen waren, als sie sich über ihre Arbeit beugte. Geduld, gebot er sich. Nach und nach, Schritt für Schritt würde er auch dieser Herausforderung entgegentreten und sie bezwingen wie all die anderen. Eines Tages würden diese meerblauen Augen sich voller Liebe auf ihn richten, würde ihre Leidenschaft so stark werden wie die seine.

7

Herrlich in seiner schlichten Eleganz saß der Kalif aufrecht auf dem niedrigen goldenen Thron, das linke Bein untergeschlagen, das rechte Knie angehoben. Zu jeder Seite stand ein schwarzer Eunuch. Der getreue Mustapha wedelte mit der Fliegenklatsche, sein stummer Geselle schwenkte einen Fächer aus Elfenbein. Gereizt, wie Abd ar-Rahman war, hätte er gut und gerne auf die unaufhörlichen Handreichungen der beiden verzichten können, aber sie waren Teil des Hofzeremoniells, das ihm so am Herzen lag, und so hatte er keine andere Wahl, als die ständige Geschäftigkeit zu ertragen, die ihn dauernd umgab. Sein Zorn hätte beinahe den obersten Techniker den Kopf gekostet, aber da er niemanden sonst hatte, der über genug Wissen verfügte, um mit der gestrigen Katastrophe in der Medina Azahara fertig zu werden, hatte er Milde walten lassen müssen. Am Tag zuvor war, kurz bevor er eine Gesandtschaft aus Byzanz empfangen sollte, eines der Hauptwasserrohre in der neuen Palaststadt geborsten. Die Überschwemmung hatte den gesamten Palast in helle Aufruhr versetzt, hatte nicht nur die Werkstätten für Gold- und Elfenbeinarbeiten beschädigt, sondern auch, was am schlimmsten war, den Platz überflutet, wo binnen kurzem die neue Münze eingerichtet werden sollte. Unter Androhung schrecklichster Strafen hatte man sämtliche Würdenträger, Wachleute, Sklaven und Eunuchen zusammengepeitscht und zur Arbeit angetrieben. Sie hatten den ganzen vergangenen Tag und die Nacht hindurch geschuftet, um einen Empfang im alten Stadtpalast vorzubereiten, der dem Ruhm ihres Monarchen zur Ehre gereichen würde. Jetzt war alles an Ort und Stelle – schimmernde Seidenbehänge in Rot, Gold und Violett, üppige Sträuße zartvioletter und scharlachroter Blüten in goldenen Amphoren, Höflinge in reichen, vielfarbigen Gewändern und mit verschwenderischem Juwelenschmuck, die Ehrengarde säuberlich ausgerichtet. Und vor diesem strahlend bunten Hintergrund die weiß gekleidete Gestalt des Kalifen, unbeweglich und majestätisch auf dem Löwenthron.

Die Mitglieder der byzantinischen Gesandtschaft schritten nun auf ihn zu, eine gemessene Prozession in Silber und Blau, ein verblüffender Kontrast zum opulenten Glanz des Omaijaden-Hofs. Während ein Kammerherr zum Zeichen des Willkommens die Hände der Gäste mit Parfüm beträufelte, verrauchte Abd ar-Rahmans Zorn, und ein leises Lächeln der Zufriedenheit spielte ihm auf den schmalen Lippen. Er hatte allen Grund zur Zufriedenheit. Nicht er, sondern Kaiser Konstantin höchstpersönlich hatte die Unterzeichnung dieses Freundschaftsvertrags zwischen dem byzantinischen und seinem Reich angeregt. Offensichtlich hatten die beiden Herrscher eine gemeinsame Gefahr zu bekämpfen. Die aufstrebende Dynastie der Fatimiden in Nordafrika bedrohte nicht nur die riesigen Gebiete des Kalifen dort, Ländereien, die sich von Algier im Norden bis Sijilmasa im Süden erstreckten. Sie begann auch die Besitztümer des byzantinischen Herrschers zu gefährden und war zu einer ständigen Bedrohung für dessen Mittelmeerflotte geworden. Was den Kalifen mit besonderer Genugtuung erfüllte, war, daß Byzanz ihn nun für ebenbürtig erachtete, für eine Macht, mit der man in dieser Region rechnen und um die man sich bemühen mußte. Stephanos, der Kammerherr des Kaisers, der Anführer der Delegation, trat jetzt vor und überreichte Abd ar-Rahman mit allen gebührenden Bekundungen der Hochachtung eine große silberne Truhe. Aus dieser zog der Kalif eine Schriftrolle aus blauem Pergament, die mit goldenen Buchstaben beschrieben und mit einem schweren goldenen Siegel versehen war. Wie er auf den ersten flüchtigen Blick bemerkte, prangte auf der einen Seite des Siegels ein Bild Jesu und auf der anderen ein Bildnis des Kaisers und seines Sohnes. Er nickte zustimmend, während er den Vertragstext überflog, den seine Abgesandten so geduldig ausgehandelt hatten und der in arabischer und griechischer Sprache verfaßt war. Dann reichte er die Goldbulle an einen seiner Wesire weiter und bedachte das Geschenk des Kaisers mit einem gnädigen Lächeln der Anerkennung, als man nun einen Satz goldener und silberner Gefäße mit eingelegten Edelsteinen von außerordentlicher Größe hereintrug und vor ihm ausbreitete. Wieder trat Stephanos vor, trug diesmal einen schweren Kasten aus Zedernholz. Er näherte sich dem Thron und sprach den Kalifen an.

»Möge der Herr unzählige Segnungen auf Euch und Euer großes und ruhmreiches Herrscherhaus herabregnen lassen, o Herrscher der Gläubigen! Mein hoher Herr, Seine Kaiserliche Majestät Konstantin VII. Porphyrgenetos, der selbst als Gelehrter und Autor einigen Ruhm erreicht hat, wünscht Euch, eingedenk der vielen eminenten Gelehrten, die dank Eurer großzügigen Unterstützung diesen Hof zieren, die beiden in dieser Schatulle befindlichen seltenen und kostbaren Bücher zum Geschenk zu machen. Das eine ist ein vor 400 Jahren in lateinischer Sprache verfaßtes Geschichtswerk des spanischen Gelehrten Orosius. Das andere ist ein Manuskript der De Materia Medica des Dioskurides in der ursprünglichen griechischen Sprache. Obwohl der große Hunayn dieses Werk bereits vor einem Jahrhundert in Bagdad ins Arabische übersetzt hat, ist uns bekannt geworden, daß es ihm nicht gelungen ist, alle Pflanzen in diesem Buch der einfachen Heilmittel zu bestimmen. Seine Kaiserliche Majestät hat sich daher großmütig bereit erklärt, wohlwollend auf Euren Vorschlag einzugehen und die Besiegelung dieses Freundschaftsvertrages zwischen dem byzantinischen Reich und dem Kalifat von Córdoba dadurch zu unterstreichen, daß er einer gemeinsamen Schirmherrschaft über die Anfertigung einer neuen Übersetzung dieses großartigen Werkes zustimmt. Zu diesem Behufe hat er den hier anwesenden gelehrten Mönch Nicolas dazu bestimmt, Eure Gelehrten bei der Durchführung dieses Unterfangens zu unterstützen.«

»Euer Herrscher zeigt große Urteilskraft und immenses Verständnis sowie auch eine tiefe Kenntnis unseres Hofes«, erwiderte Abd ar-Rahman gnädig. »Unsererseits setzen wir Abu Suleiman Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom ein, einen glänzenden jungen Gelehrten, der bereits großes Interesse an der Übersetzung griechischer Werke in die arabische Sprache bewiesen hat.«

In schlichten Gewändern und diskret im Schatten einer Marmorsäule verborgen, lauschten Da'ud ibn Yatom und sein Vater Ya'kub mit großer Spannung den Worten des Kalifen, und das seltene Aufblitzen in ihren ansonsten stillen Augen verriet den Stolz, den sie bei den so öffentlich ausgesprochenen Lobesworten für Da'uds Gelehrsamkeit empfanden. Aber vieles hatte der Kalif unerwähnt gelassen. Er allein wußte, welch großen Anteil Da'ud an der Formulierung des Freundschaftsvertrages hatte. Als Experte, der für die Übersetzung der Klauseln in die entsprechenden Nuancen der überaus reichen griechischen Sprache zuständig war, hatte Da'ud mehr als einmal die Bedeutung und Konsequenzen bestimmter Konzepte in Frage gestellt und, wenn er dies für nötig erachtete, auch seinen Rat angeboten. Mehr noch, er war einer der wenigen, der sich darüber im klaren war, daß der Vertrag nur eine Fassade für die geheime Zusammenarbeit der beiden Mächte in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Ausbreitung der Fatimiden und ihrer Helfershelfer unter den Berbern darstellte. Ein großer Teil von Abd ar-Rahmans Geheimkorrespondenz mit seinen Spionen in Nordafrika und mit seinen byzantinischen Bundesgenossen ging durch Da'uds Hände – ein undurchdringliches Dickicht aus Verschwörungen und Gegenverschwörungen, Unterwanderung und Verrat, Seitenwechseln und zweifelhaften Treueschwüren, in das eine Vielzahl von Stämmen und Familien verstrickt war. Als stummer Zeuge der schmutzigen Wirklichkeit, die hinter der Wahrung schlagkräftiger Macht steckte, erkannte Da'ud schnell, daß er seine Position am Hof nur halten konnte, wenn er sich unauffällig verhielt, seinem Herrscher unerschütterliche Treue bewies und allen Versuchungen der Intrige, wie verlockend sie auch immer sein mochten, widerstand. Indem er Abd ar-Rahman diskret zu verstehen gab, daß der Ruf seines Hofes in den Augen des gelehrten Konstantin außerordentlich wachsen würde, wenn er die Schirmherrschaft für eine Übersetzung der De Materia Medica durch Gelehrte beider Reiche übernähme, hatte er sich eine ruhmreiche Betätigung gesichert, die ihn vor all diesen Anfechtungen schützen würde. Mehr hätte er sich kaum wünschen können.

Nun begannen die Hofdichter Lobgesänge anzustimmen, die sie zu Ehren der erlauchten Gäste des Kalifen verfaßt hatten. Noch ehe sie zu Ende gesprochen hatten, hatten sich Ya'kub und Da'ud mit der ihrer Familie eigenen Diskretion schon wieder unbemerkt entfernt. Es reichte ihnen, daß Da'ud öffentlich geehrt worden war. Wenn sie geblieben wären und an dem Festmahl teilgenommen hätten, wären sie nur Gefahr gelaufen, daß öffentliche Ruhmesworte Eifersucht entfachten. Im Gegensatz dazu vermochte die Abwesenheit der Ibn Yatoms, der Abstand, den sie vom Getümmel des Hoflebens zu halten schienen, den Respekt, mit dem man sie betrachtete, nur noch zu vergrößern, erweckte ihre Reserviertheit eine gewisse Faszination.

Langsam gingen Vater und Sohn nach Hause, vereint in ihrem glühenden Stolz und dem Hochgefühl einer großen Errungenschaft. Als sie nach Hause kamen, saßen Sola und Sari auf dem Innenhof in der kühlen Abendluft, und es war eine Atmosphäre weiblicher Vertrautheit um die beiden.

»Ihr kommt früher zurück, als ich erwartet hätte«, begrüßte Sola sie lächelnd.

»Wir sind aufgebrochen, ehe das Festmahl begonnen hat, aber nicht bevor der Kalif Da'ud vor der versammelten Gesellschaft geehrt hat.«

»Und das hat er auch verdient«, konstatierte Sola schlicht. »Schon bei seiner Geburt wußte ich, daß eine glänzende Zukunft vor ihm liegt. Aber ihr müßt Hunger haben. Sari, meine Liebe, sei so gut und bitte Yusuf, den Männern ihr Abendessen zu bereiten.«

Sola folgte dem Mädchen liebevoll mit den Blicken, als es im Haus verschwand, und kehrte dann zu ihren eigenen Sorgen zurück. »Also, lieber Ya'kub, die Zeit ist gekommen, unsere kleine Sari zu verheiraten. Sie ist jetzt eine Frau, gut unterrichtet in der Führung eines jüdischen Haushalts und vertraut mit unserer Lebensweise.«

»Ist es dir gelungen, etwas über ihre Vergangenheit herauszufinden?«

»Nichts. Ich habe sie auch nicht gedrängt. Wir müssen es ihr überlassen, davon zu erzählen, wem und wann immer sie es für gut befindet.«

»Wie gewöhnlich sprichst du weise. Da ist ein junger Mann, den ich schon seit einer Weile für sie in Erwägung ziehe, ein Lehrling bei Isaac ibn Simha. Isaac sagt, er sei ehrlich und fähig und werde wohl mit der Zeit ein hervorragender Juwelenhändler werden. Ich will morgen mit ihm reden.«

»Nein, Vater«, fuhr Da'ud heftig dazwischen. »Bitte, nein. Ich habe andere Pläne für Saris Zukunft.«

»Und welche sind das?«

»Ich möchte sie selbst heiraten.«

»Du? Hast du den Verstand verloren? Du willst ein Findelkind heiraten, ein Mädchen unbekannter Herkunft, das du auf dem Sklavenmarkt aufgelesen hast?«

»Nein, Vater. Nie im Leben habe ich klarer gedacht. Seit ich dieses Mädchen zum erstenmal erblickt habe, fühle ich mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen. Doch ich hielt es für angemessen, so lange zu warten, bis sie erwachsen geworden war, ehe ich ihr meine Gefühle entdeckte.«

»Ich weigere mich, das gutzuheißen«, murmelte Ya'kub mit leiser Stimme, aber bebend vor Zorn. »Deine Gelehrsamkeit gereicht dir zur Ehre, aber ich erlaube nicht, daß sie dich für die Wirklichkeit des Lebens blind macht. Du kannst nicht erwarten, daß die Welt sich allen deinen Launen beugt, nur weil du ein berühmter Gelehrter geworden bist. Nein, mein Sohn, deine Stellung in der Gesellschaft verlangt von dir, daß du dich an die üblichen Gepflogenheiten hältst.«

»Zum Teufel mit den Konventionen! Meine Stellung, wie du das nennst, ist heute nicht mehr zu erschüttern, und nichts an dieser Heirat hindert mich an der Erfüllung meiner Pflichten, sei es als zukünftiger Leiter der jüdischen Gemeinde oder als Höfling im Dienste des Kalifen. Die ›Stellung‹, auf die du dich berufst, zu wahren ist meine Aufgabe, nicht Saris.«

»Und was ist mit den Kindern, den Söhnen und Töchtern einer … einer …«

»Einer was? Einer Zigeunerin? Oder einer verstoßenen Prinzessin? Wer weiß das schon?«

»Aber das ist ja gerade das Problem. Mit der Zeit stellt sich vielleicht heraus, daß sie geistig unzurechnungsfähig, körperlich versehrt, moralisch verwerflich …«

»Und doch könnte sie sich auch als eine warmherzige und liebevolle Frau und vollkommene Mutter herausstellen. Dieses Risiko will ich auf mich nehmen. Wenn ich mein Leben für meine Laufbahn aufs Spiel setzen kann, dann kann ich auch für die Frau, die ich begehre, mein Glück aufs Spiel setzen. Wenn sie geistig unzurechnungsfähig ist, dann sorge ich für sie. Wenn sie körperlich versehrt ist, so will ich sie heilen. Wenn sie moralisch verwerflich ist, so bringe ich sie auf den rechten Weg zurück.«

»Du machst dir keine Vorstellung davon, welche Last du dir aufbürdest, ein Leben der Aufopferung, das dich schließlich zu Tode erschöpfen wird.«

»Das glaube ich nicht, Vater.«

»Nun gut. Wenn du willst, dann liebe sie, aber warum sie heiraten? Deine Leidenschaft für sie ist vergänglich, die erste, die du je verspürt hast. Nichts hindert dich daran, sie in deinem Haushalt zu behalten, aber heiraten mußt du eine Frau von gesellschaftlicher Stellung und mit ihr einen ehrbaren Hausstand gründen.«

»Niemals würde ich ihr eine solche Demütigung antun.«

»Als ihr Vormund weigere ich mich, meine Zustimmung zu dieser Heirat zu geben.«

»Du vergißt, daß ich es war, der das Mädchen gefunden hat. Mein Anspruch, als ihr Vormund zu gelten, ist genauso gültig wie der deine, obwohl sie tatsächlich keinem von uns unterstellt ist. Der Kaufmann hat die Summe, die ich ihm angeboten habe, um sie auszulösen, niemals angenommen. Wenn sie also keine Einwände hat, dann werden sie und ich in Kürze Mann und Frau – eine ruhige, diskrete Eheschließung, wie es dem Ansehen unserer Familie gebührt.«

Angespanntes Schweigen lag zwischen Vater und Sohn, als Ya'kub ibn Yatom das volle Gewicht seiner Jahre auf sich lasten fühlte. Er hatte nicht mehr die Energie, der aufstrebenden Jugend etwas entgegenzusetzen. Deren Kraft und Vitalität hatte ihn besiegt. Sola, die seine Verzweiflung spürte, legte ihm tröstend eine Hand auf den Arm. Zusammen gingen sie ins Haus, ließen Da'ud allein, damit er sein Leben jenseits ihres Lebenskreises weiterführte.

8

Allein auf dem Innenhof zurückgeblieben, setzte sich Da'ud gedankenverloren an den Rand des Wasserbeckens. Zerstreut ließ er die Finger durch das dunkler werdende Wasser gleiten, bedachte die Situation, die er heraufbeschworen hatte, die er so lange und so glühend herbeigesehnt hatte. Obwohl er es seinem Vater niemals eingestanden hätte, hatte er keinerlei Vorstellung, wie er zu diesem Mädchen, von dem er nichts wußte, am besten einen mit Sinn erfüllten Kontakt aufbauen sollte. Davon hatten ihm seine Bücher wahrhaft nichts gesagt … Doch ehe er noch Zeit hatte, sich eine angemessene Vorgehensweise zu überlegen, trat Sari schon aus dem Haus und ging auf dem Weg zu den Frauengemächern über den Innenhof.

»Komm her zu mir«, sagte er spontan. »Komm und setz dich ein Weilchen zu mir an das Wasserbecken.«

Wie an dem Tag, an dem er ihr zum erstenmal begegnet war, erhob sie die Augen einen flüchtigen Augenblick zu ihm – dieses Blitzen des tiefsten Meerblaus – und senkte sie dann rasch wieder, ehe sie sich steif ein wenig abseits von ihm hinsetzte, den Kopf gesenkt, die Hände lose zwischen den Knien gefaltet.

»Sag mir, Sari, bist du glücklich hier bei uns in Córdoba?«

»Glücklich?« fragte sie mit kaum hörbarer Stimme, den Blick starr auf ihre Knie gerichtet.

»Ja.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich weiß, was Glück ist.«

»Zufrieden dann wenigstens, oder zumindest nicht unglücklich?«

»Weniger unglücklich als ich je war, außer …« Sie verstummte.

»Außer?«

»Außer an dem Tag, als mich der Händler mit sich fortnahm.«

»Wo?«

»Da.«

»In Prag?«

Sie nickte.

»Fort von wem?«

»Von niemand. Da war niemand.«

»Der Händler hat mir erzählt …«

Aber ehe er seinen Satz noch zu Ende sprechen konnte, erhob sich Sari unvermittelt und machte sich auf den Weg zu ihrem Zimmer. »Gute Nacht, Herr.«

»Warte!« rief er ihr hinterher. »Warte! Ich möchte dich um einen kleinen Gefallen bitten. In meinem Zimmer steht auf dem Fensterbrett eine kleine Sammlung von Pflanzen, die der ständigen Pflege bedürfen. Meine neuen Pflichten bei Hofe werden mich sehr in Anspruch nehmen, und ich fürchte, ich könnte die Pflanzen vernachlässigen. Ist es zu viel verlangt, wenn ich dich bitte, dich um sie zu kümmern?«

»Wie Ihr wünscht, Herr.«

»Wenn ich am Sabbatmorgen aus der Synagoge zurückkomme, wollen wir die Pflanzen zusammen ansehen.«

»Wie Ihr wünscht«, wiederholte sie. »Gute Nacht, Herr.«

»Es geziemt sich nicht, daß du mich Herr nennst«, sagte er und stand auf, um ihr zu folgen. »Du bist frei, Sari, niemandem Untertan.«

»Frei?«

»Ja, frei.«

»Niemand ist frei. Niemand kann allein existieren, und da jeder Mensch jemanden braucht, kann niemand frei sein.«

»Frei in dem Sinne, daß du das Leben wählen kannst, das du zu leben wünschst.«

»Um auswählen zu können, muß man Alternativen haben. Ohne Alternative kann es keine Wahl geben. Ich muß gehen, Meister. Gute Nacht.«

Da'ud war wie vor den Kopf gestoßen. So viel Hoffnungslosigkeit in einem so jungen Geschöpf, solch klares Denken, solch kalte Verzweiflung! Nur tiefstes menschliches Leid konnte sie so verbittert haben. Was war schlimmer? fragte er sich. Ein Körper, den die Schmerzen peinigten, oder eine Seele, die eine menschliche Tragödie zerstört hatte? Einer Sache war er sich sicher: es war weniger anmaßend, den Verlauf eines menschlichen Schicksals ändern zu wollen, als um das Leben eines Sterbenden zu ringen. Kein Mensch, der nach Gottes Ebenbild geschaffen war, verdiente es, sein Leben ohne die Aussicht auf Glück zu fristen. Das zumindest mußte er Sari geben, ihr so anbieten, daß sie es willentlich annahm … Die ganze Nacht hindurch wälzte sich Da'ud im Bett, ständig von einem Alptraum heimgesucht: Ihm träumte von einem kleinen, blau gefrorenen Kind, das man in einer jungfräulich weißen Schneewehe ausgesetzt hatte. Jedesmal kam er, nachdem er sich mühsam durch den knietiefen Schnee gekämpft hatte, auf Armeslänge an das Kind heran, doch da schien es in die Weiße fortzuschmelzen, tauchte weiter oben an einem endlosen Hang wieder auf, ständig außerhalb seiner Reichweite. Erst gegen Morgen fiel er in ruhigen Schlaf, wachte viel später als gewöhnlich auf. Der Morgen war schon beinahe halb verstrichen, als er das Gemach neben der alten Palastbibliothek erreichte, in dem er zusammen mit dem Mönch Nicolas jeden Tag einige Stunden arbeitete.

»Ihr seid doch nicht krank, hoffe ich?« erkundigte sich der griechische Gelehrte höflich, das Gesicht mit dem spitzen silbergrauen Bart fragend zu ihm erhoben.

»Nein, nein, danke der Nachfrage. Dringende Familienangelegenheiten haben mich aufgehalten.«

»Der Kalif hat nach Euch gefragt. Er ist in seinen Gemächern hier im alten Palast.«

»Ich gehe unverzüglich zu ihm.«

In dem Augenblick, als er vor den Kalifen trat, reichte Abd ar-Rahman ein kurzer Blick auf das bleiche Gesicht und die dunkel umschatteten Augen, und er kannte den Grund für die Verwirrung seines Schützlings: »Gewiß eine Herzensangelegenheit, mein jammervoller Gelehrter?«

Da'ud errötete, zum erstenmal sah sein Herrscher ihn verwirrt und aus der Ruhe gebracht. »Schön?«

»In meinen Augen, ja.«

»Hartherzig wie alle? Läßt Euch um ihre Gunst flehen? Lockt Euch, nur um Euch noch mehr zurückzuweisen?«

»In gewisser Weise.«

»Seltsam, ich wollte Euch in einer ähnlichen Angelegenheit sprechen.«

»Ich bin auf diesem Gebiet ein Mann von geringer Erfahrung«, antwortete Da'ud traurig, aber wahrheitsgemäß.

»Eure Erfahrung brauche ich nicht. Davon habe ich selbst mehr als genug. Wenn ich mich entscheide, mit Euch über ein so heikles Thema zu sprechen, dann deswegen, weil ich reichliche Beweise dafür habe, daß mein Vertrauen in Euch gerechtfertigt ist. Keine noch so geringe Einzelheit der Geheimkorrespondenz, die ich Euch anvertraut habe, ist je verraten worden. Und Ihr seid von einer solchen Bescheidenheit und Diskretion, daß keiner meiner Wesire auch nur vermutet, daß Ihr über derlei vertrauliches Wissen verfügt. Wärt Ihr ein Moslem, so hätte ich Euch für die unerschütterliche Treue, die Ihr mir erwiesen habt, mit dem Titel eines Wesirs belohnt, doch das würde meine Absichten zunichte machen. Die Imame würden Eure Beförderung in einen Rang, der Euch Macht über Moslems geben würde, als einen Vorwand nehmen, um den Neid meiner anderen Wesire zu entfachen und sie so zu Intrigen gegen Euch anzustiften. Aber seid versichert, daß ich Euch in anderer Form entschädigen werde.

Nun zu der heutigen Angelegenheit. Da Ihr ausgebildeter Arzt seid, kann ich offen zu Euch sprechen. Um es ohne Umschweife zu sagen, meine wunderschöne Zahra, die jüngste meiner Konkubinen und diejenige, die ich am meisten liebe, scheint meiner müde zu werden. Da ich ihr an Jahren zweifach überlegen bin, ist dies nicht verwunderlich, aber mir ist es unerträglich. Es muß etwas geschehen, um diese Situation zu ändern. Ihr, der Ihr alle Geheimnisse der Vorväter kennt, was könnt Ihr mir vorschlagen, um meine Manneskraft zu steigern?«

»Mit allem nötigen Respekt vor Eurer Religion …«

Abd ar-Rahman winkte diese Bedenken mit einer lässigen Handbewegung zur Seite.

»… ist Wein das wirksamste Mittel zur Anregung, das wir kennen. Aber ich vermute, daß Ihr darauf in der Abgeschiedenheit Eures Schlafgemachs bereits zurückgegriffen habt.«

»Natürlich.«

»Eidechsenfleisch?«

»Nein.«

»Dann schlage ich vor, Ihr versucht das, insbesondere den Magen und die Eingeweide. Eine weitere als sehr wirksam geltende Methode ist es, getrockneten Ochsenpenis zu einem Pulver zu zerreiben und auf ein weichgekochtes Ei zu streuen.«

»Alles schön und gut«, murmelte der Kalif gereizt, »aber diese Dinge sind nicht leicht zu bekommen und könnten in der Küche zu ungebührlichen Kommentaren führen. Könntet Ihr nicht etwas Einfacheres, Gewöhnlicheres vorschlagen?«

»Das Hirn aller Tiere oder Vögel gilt als Aphrodisiakum, und wenn man es mit Pfeffer, Ingwer, Zimt, Anis und Muskat würzt, gewinnt es noch an Kraft. Auch Eier aller Art sind zuträglich, seien sie von Tauben, Fasanen, Hühnern oder anderen Vögeln, und natürlich auch noch die Hoden von Hähnen. Eine Kombination dieser Zutaten mit Röstzwiebeln sollte sich als äußerst wirksam erweisen. Andererseits wäre es ratsam, wenn Ihr auf Lebensmittel verzichten könntet, die das Blut kühlen, so etwa Salat, Gurke, Melone und vor allem Essig. Auch von Seerosenknospen solltet Ihr absehen sowie von allem, was Blähungen verursacht, wie etwa Erbsen und Linsen.«

»Ich liebe Seerosenknospen.«

»Wie Ihr wünscht. Versucht die Mittel, zu denen ich Euch geraten habe. Es sind die bekanntesten. Wenn sie die gewünschte Wirkung zeigen, fahrt fort damit. Wenn nicht, dann suche ich weitere Methoden.«

»Danke, mein gelehrter Freund. Und nun zu den Tagesgeschäften. Die christlichen Fürsten im Norden stehen wieder einmal auf Kriegsfuß miteinander. Nichts könnte unseren Zwecken dienlicher sein. Was Ramiro von Leon schwächt, stärkt uns. Wir müssen daher alle Mittel einsetzen, die zu unserer Verfügung stehen, um die Rebellion anzufachen, die man gegen ihn in Kastilien begonnen hat, und alle anderen Fürsten gegen ihn aufstacheln. Hört also gut zu und schreibt das, was ich jetzt sage, in angemessenen lateinischen Worten nieder …«

Während des abendlichen Sabbatmahls dieser Woche erwähnte Ya'kub Saris Heirat nicht. Da'ud nahm sein Schweigen als klares Zeichen dafür, daß sein Vater beschlossen hatte, ihn allein über sein Schicksal entscheiden zu lassen – zumindest im Augenblick. Die Sache hatte schließlich keinerlei Dringlichkeit. Jetzt, da alle ihre Töchter verheiratet waren, genoß Sola die Gesellschaft des Mädchens, verspürte große Befriedigung über das Band der Vertrautheit, das sie voller Geduld mit diesem seltsamen, fremden Geschöpf geknüpft hatte, indem sie Sari mit ihrer mütterlichen Wärme einhüllte. Obwohl sie sorgsam vermied, dies zuzugeben, um ihren Gatten nicht zu betrüben, verstand sie sehr gut den Reiz, den Saris ungewöhnliche slawische Schönheit auf ihren Sohn ausübte, ebenso die Herausforderung, die Saris Persönlichkeit für ihn als Mann und als Heiler menschlicher Gebrechen darstellte. Deswegen hatte sie am Sabbatmorgen, als die Männer von der Synagoge zurückgekehrt waren, Ya'kub mit einem Gespräch über die Reparatur des Daches abgelenkt, die noch vor dem Winterregen erfolgen mußte, während Da'ud Sari in sein Zimmer führte, um ihr zu erklären, wie sie sich um seine Pflanzen kümmern sollte.

»Diese hier muß häufig gegossen werden, aber diese kleinen stacheligen Gesellen scheinen mit sehr wenig Wasser auszukommen. Hier, fühle die Erde«, sagte er. Gehorsam legte sie ihren Zeigefinger leicht auf die ziemlich trockene Blumenerde. »Nein, du mußt den Finger fester in die Erde drücken, bis du die Feuchtigkeit im Topf spüren kannst«, erläuterte er und drückte sanft mit seinem Finger auf den ihren. Bei der ersten Berührung zog sie abrupt die Hand weg, als hätte sie sich verbrüht.

»Hab ich dir weh getan?« fragte er, als er ihr plötzlich kreideweiß gewordenes Gesicht erblickte.

Sie antwortete nicht, also fuhr er fort: »Diese hier liebt den Schatten, diese wendet sich der Morgensonne zu. Beide müssen regelmäßig alle drei oder vier Tage gegossen werden, so daß die Erde immer gleichmäßig feucht ist, so wie hier«, erklärte er und nahm diesmal ihre Hand in die seine und ließ sie die feuchte Erde unter der Handfläche spüren. Erneut zuckte sie zurück, diesmal noch heftiger als zuvor. »Ist etwas mit deiner Hand? Laß mich einmal sehen.«

Sari schüttelte den Kopf.

»Warum ziehst du sie dann zurück, wenn ich sie berühre, als hättest du Schmerzen?«

Wieder störrisches Schweigen.

»Hast du Angst vor mir?«

Ein Aufblitzen von Meeresblau, als das Mädchen für den Bruchteil einer Sekunde voller Schrecken die Augen zu ihm hob, dann wieder nichts.

»Sari«, begann er noch einmal, entschlossen, aufrichtig, aber auch sanft. »Meine Mutter hat mir und meinem Vater unterbreitet, die Zeit sei gekommen, einen angemessenen Ehemann für dich zu suchen. Hat sie dir von den intimen Beziehungen gesprochen, die zwischen einem Ehemann und seiner Gattin bestehen?«

»Ihr meint, zwischen Mann und Frau?«

»Das ist eine gröbere Art, es auszudrücken.«

»Ich habe Eure Mutter nicht gebraucht, um das zu lernen.«

»Wer hat dich darüber belehrt? Der Kaufmann?«

»O nein, nicht er, der liebe Mann. Er war der einzige, der …«

»Der?«

»Und was ist mit den Pflanzen hier drüben?«

»Vergiß die Pflanzen. Sari, hier ist es Brauch, daß heiratsfähige Mädchen mit jungen Männern verheiratet werden, deren Stand dem ihren entspricht – und der Mitgift, die sie mitbringen. Mein Vater hat bereits einen angemessenen Partner für dich in Aussicht, aber ich habe mich seinem Vorschlag widersetzt.«

»Danke.«

»Warum dankst du mir?«

»Weil ich nicht heiraten möchte, niemals.«

»Aber die Ehe gehört doch zum natürlichen Verlauf eines menschlichen Lebens.«

»Es gibt keinen natürlichen Verlauf eines menschlichen Lebens. Jeder Mensch ist dazu verdammt, in der Falle seines eigenen Schicksals gefangen zu sein.«

»Niemand ist dazu verdammt. Das Schicksal läßt sich wenden. Jeder Mensch hat die Freiheit, die Bedingungen seiner Existenz zu verändern.«

»Dann sind wir uns einig. Ich habe die Freiheit, niemals zu heiraten.«

»Nicht einmal mich?«

»Bitte macht Euch nicht über mich lustig. Wenn es der Wunsch Eures Vaters ist, dann verlasse ich sofort Euer Haus und hole den Kaufmann auf seiner Handelsreise noch ein.«

»Niemand wünscht, daß du dieses Haus verläßt, und ich mache mich nicht über dich lustig. In dem Augenblick, als du auf dem Sklavenmarkt das erstemal dein Gesicht zu mir erhoben hast, war ich von Liebe zu dir erfüllt. Seither hat mich dein Bild nicht verlassen, Tag und Nacht, aber ich habe gewartet, bis du zur Frau herangewachsen bist, ehe ich dir davon spreche. Mehr noch, ich habe mich meinem Vater widersetzt und eine Heirat ausgeschlagen, die er seit langem für mich plant.«

»Das hättet Ihr nicht tun sollen. Ihr müßt heiraten, Meister, heiraten, da dies der ›natürliche Verlauf eines menschlichen Lebens‹ ist.«

»Ich weigere mich, eine Frau zu heiraten, die ich nicht liebe.«

»Ich glaube, ich weiß nicht genau, was Liebe ist. Aber wenn es bedeutet, daß Ihr Euch in irgendeiner Weise um mich sorgt, dann bitte heiratet mich nicht.«

»Aber ich würde dich zu einer überaus glücklichen, geehrten und reichen Frau machen.«

»Zu dem Preis, daß Ihr mich als Eigentum habt, von meinem Körper Besitz ergreift und damit macht, was Ihr wollt.«

Die eiskalte Bitterkeit ihrer Entgegnung zwang Da'ud, noch heftiger zu reagieren.

»Unsinn! Du sprichst von primitiver Lust. Was ich dir anbiete, ist ehrliche, aufrichtige und andauernde Liebe. Die körperliche Vereinigung von zwei Menschen, die einander lieben, eine Vereinigung, die von Gott und der Natur so bestimmt ist, ist die größte Wonne, die der Herr seinen Geschöpfen geschenkt hat, eine Erfahrung, die sich mit keiner anderen vergleichen läßt. Das Leben eines Mannes oder einer Frau ist ohne sie nicht vollkommen.«

»Ihr sprecht mit der gewandten Zunge eines Gelehrten, aber Eure süßen Worte können die Wirklichkeit nicht verwandeln. Und jetzt, können wir bitte mit den Pflanzen weitermachen? Es ist schon bald Zeit, den Tisch für das Mittagessen zu decken.«

Da'ud war nicht willens, sie weiter zu drängen, und ließ die Sache auf sich beruhen.

Von Woche zu Woche gediehen die Pflanzen auf dem Fensterbrett besser, wurden üppig grün, wuchsen gerade und glänzten, als pflegte sie eine liebende Hand. Gegen Ende des Sommers stellte Da'ud eines Tages beim Erwachen fest, daß eine herrliche tiefrosa Blüte aufgegangen war, beinahe über Nacht an der Spitze einer der stacheligen Pflanzen erschienen war. Die Blütenblätter entfalteten sich um einen strahlend gelben Mittelpunkt. Als er Sari über den Innenhof laufen sah, rief Da'ud ihr aufgeregt zu: »Sari, komm schnell, sieh nur!«

Beim Anblick der herrlich leuchtenden Blüte, die aus einer so feindseligen Pflanze gewachsen war, sah er sie zum erstenmal lächeln. Ihre schmalen, mädchenhaften Finger liebkosten zart die zerbrechlichen Blütenblätter, und während sie ihm einen raschen Blick zuwarf, verriet das blitzende Meerblau ihrer Augen zumindest einen zaghaften Anschein von Freude.

»Siehst du, Sari, das ist der natürliche Verlauf des Lebens. Sogar die ausgedorrtesten, unscheinbarsten Lebewesen finden, wenn man sie richtig pflegt, ihre Blütezeit, ihren Augenblick der Freude und zeugen neues Leben. Wenn du zuließest, daß ich dich hege und pflege, so wie du diese zarten Pflanzen gehegt und gepflegt hast, dann würdest auch du erblühen und über alle deine Vorstellungen hinaus glücklich werden. Du sagst, du weißt nicht, was Liebe ist, aber ohne etwas, das der Liebe zumindest ähnelt, ohne die sorgsame Pflege, die du diesen zarten Pflanzen hast angedeihen lassen, hätten sie nicht überlebt und wären nicht so erblüht.«

»Aber es sind keine Menschen. Sie bitten um nichts, sie verlangen keine Opfer.«

»Ich glaube nicht, daß die Liebe zwischen Mann und Frau Opfer verlangt. Vielmehr bedeutet sie, daß man alle Erfahrungen des Lebens miteinander teilt, seine Freuden ebenso wie seine Schmerzen und Sorgen.«

»Eure Worte sind schöner als alle, die ich je gehört habe, aber sie können die Wirklichkeit im Leben der Frauen nicht verschleiern, die ihre Körper dem blinden tierischen Instinkt der Männer unterwerfen müssen, gegen deren Kraft sie machtlos sind.«

»Sie werden nur unterworfen, wenn keine Liebe im Spiel ist, sind nur gegen brutale Tiere wehrlos. Sari, was du auch immer erlebt oder in deiner Kindheit mitgemacht hast, du darfst deswegen nicht auf alle herrlichen Geschenke des Lebens verzichten, die zum Greifen nah vor dir liegen. Für jede Unze Böses, das in der Welt ist, gibt es ein gleiches Maß an Gutem, für jede Last der Traurigkeit eine gleich große Freude. Gott hat uns die Kraft geschenkt, das eine zu ertragen, und die Sehnsucht, das andere zu genießen, jeder nach seinen Neigungen. Was muß ich noch tun, um dir dies zu beweisen?«

»Zeigt mir, was Liebe ist. Liebt mich, ohne mich zu besitzen.«

Eine Pflanze ohne Blüte, seufzte Da'ud in seinem Herzen. Aber bei allem, was ihm heilig war, schwor er, diese Pflanze zum Blühen zu bringen.

Die Eheschließung wurde im engsten Familienkreis begangen. Nur die Rabbis und die Richter der jüdischen Gemeinde, ihre führenden Mitglieder und besten Gelehrten sowie einige enge Freunde waren zugegen. Nicolas kam, und Abd ar-Rahman schickte einen Abgesandten mit prächtigen Geschenken: für den jungen Haushalt ein Dutzend goldener Teller, die herrlich ziseliert waren, für Da'ud einen seidenen Mantel, dessen Ärmel und Kragen mit Goldbrokat gesäumt waren, in den man den Namen des Kalifen eingewebt hatte, und für die Braut einen silbernen Gürtel, der über und über mit Saphiren besetzt war – um das Blau ihrer meerblauen Augen zu verstärken, schrieb er in einem Gedicht, das er für sie verfaßt hatte. Das auserlesene Geschenk lag in einem eigens dafür angefertigten Elfenbeinkästchen, in das dem Anlaß entsprechend Paare von Vögeln und Menschen inmitten des üppigen Laubes des Lebensbaumes geschnitzt waren.

In ihrem unvergleichlichen Stil gelang es den Ibn Yatoms wieder einmal, durch die gewählte zurückhaltende Form dieser Feier ihren Ruhm noch zu mehren. Die Ehre, die man den Eingeladenen zuteil werden ließ, erschien nur um so größer, weil sie zum kleinen Kreis der Privilegierten gehörten – und um so größer war auch die Begierde, zu dieser erlauchten Gesellschaft zu gehören … Aus Respekt vor dem Rang der Familie wurde keine einzige Frage zur Herkunft der wunderschönen Braut gestellt, kein Wort des Klatsches geäußert, keine Augenbraue hochgezogen. Im Gegenteil, dank des Beispiels, das Ya'kub gegeben hatte, als er großmütig eine Situation akzeptierte, gegen die er machtlos war, wurde Sari mit äußerster Höflichkeit behandelt, als habe man im Zweifel zu ihren Gunsten entschieden. Trotz ihrer Beklommenheit war sie tief bewegt von der Würde und Eleganz der Feier, von der Wärme, mit der man sie umgab, und von der Ehre, die man Ya'kub und Da'ud, ihrem Mann, erwies. Ihr Mann! Wie seltsam das klang, wie unwirklich es schien! Und doch hatte er seinen Anspruch erfüllt und ihr Schicksal gewendet – zumindest äußerlich. Und in ihrem Innersten? Das stand noch aus …

Ya'kub hatte dem Paar ein bescheidenes Haus überschrieben, das unweit seines eigenen Heims stand. Als persönliche Geste der Zuneigung zu ihrem Schützling hatte Sola das Haus renoviert und eingerichtet. In ihrer scheuen und bescheidenen Art hatte Sari ihre Dankbarkeit zum Ausdruck gebracht, aber nichts an ihrem Benehmen ließ vermuten, daß für sie das Haus, das Symbol ihres neuen und ehrenwerten Standes, den Höhepunkt aller Lebenswünsche darstellte. Im Gegenteil, sie schien seltsam peinlich berührt, als verdiene sie es nicht.

Nachdem die ruhige Feier vorüber war, ging das junge Paar den kurzen Weg zum eigenen Heim in freundschaftlichem Schweigen. Im Innenhof blieben sie einen Augenblick stehen und zögerten, bis Da'ud seine Frau bei der Hand nahm und zu dem Teil des Hauses geleitete, der für sie reserviert war. Sie ließ sich führen, äußerte weder Widerspruch noch Zustimmung. Sie zog sich rasch aus, schlüpfte in das wunderschöne Nachthemd, das ihr Sola mit liebevoller Hand auf das Ehebett gebreitet hatte, und legte sich neben ihren Gatten. Langsam wandte sich Da'ud zu ihr und hob mit unendlich zarter Geste das Hemd, um die Schönheit ihres nackten Körpers zu betrachten. Sie zuckte unter seinem Blick unwillkürlich zusammen, bebte vor Furcht. Mit der gleichen Zartheit zog er das seidene Hemd wieder über sie, legte sich zurück und nahm ihre Hand locker in die seine.

»Du hast nichts zu befürchten, mein Liebling«, flüsterte er ihr tröstend zu. »Ich werde nichts tun, was dir Schaden zufügen könnte. Ich will dir nur zeigen, daß die Liebe die größte Wonne ist, die uns das Leben zu bieten hat, und ich will sie mit dir zusammen genießen. Mit dir und niemandem sonst. Du mußt mir glauben, wenn ich dir sage, daß ich selbst nichts als tierische Begierden befriedigen würde, wenn ich eine Vereinigung erzwänge, deren Freuden du nicht teilst.«

»Ich würde dir gerne glauben, aber ich kann es nicht. Mir sind deine süßen und liebevollen Worte nichts als ein Köder, der mich sanft zurücklocken soll in … in …«

»In was?«

»In eine Vergangenheit, die ich vergessen möchte.«

»Was immer die Vergangenheit für dich birgt, du mußt es hinter dir lassen. Stelle dir vor, daß dein wirkliches Leben hier und heute beginnt. Denke dir, daß alles, was du in deiner Kindheit erlebt hast oder erleiden mußtest, nur eine Verirrung war. Von jetzt an sollst du allein das Vergnügen kennen, das sich aus dem natürlichen Lauf der Dinge ergibt und das aus der Liebe zwischen Mann und Frau entspringt. Ich liebe und verehre dich, ich will mit dir eins sein, wie Gott und die Natur es gefügt haben.«

»Ich verstehe nicht, was Liebe dieser Art sein soll – viel weniger noch, was Gott ist.«

»Mit der Zeit wirst du es verstehen. Laß mich dich jetzt küssen, und danach wollen wir in Frieden schlafen.«

Zart küßte er sie auf die Stirn, die Augen, die Wangen und streifte dann sanft ihre Lippen. Sie lag reglos da, mit weit aufgerissenen Augen, angespannt unter seiner leisen Berührung. Schließlich schlief er ein, und sie, erschöpft von den Anstrengungen des Tages, tat es ihm nach.

9

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht vom Tod des Ramiro von Leon in den Korridoren des alten Palastes in Córdoba. Sobald der Kalif aus der Medina Azahara in die Stadt zurückgekehrt war, wurde Da'ud zu ihm gerufen. Unbeweglich ruhte Abd ar-Rahman auf seiner vergoldeten Ottomane, schien sich Da'uds Anwesenheit gar nicht bewußt zu sein, so tief war er in Gedanken versunken, Gedanken über das Hinscheiden seines größten christlichen Widersachers, des Mannes, der ihn in der Schlacht von Simancas so sehr gedemütigt hatte – an dem er sich nun aber seinerseits nicht mehr rächen konnte. Als der Kalif die Augen hob und sich an seinen jüdischen Vertrauten wandte, war seine Sprache jedoch so entschlossen wie immer, legte er seine weiteren Pläne kristallklar dar. Die Beleidigung mußte gerächt werden, wenn nicht am Täter, dann an dessen Sohn, noch ehe Ordoño III. sich auf dem Thron seines Vaters einrichten konnte. Er selbst würde seine Truppen in die Schlacht führen.

»Ich brauche bis zur Morgendämmerung eine große Flasche des Großen Theriak«, bestimmte er. »Ihr werdet ihn mir persönlich bringen, allein. Mustapha wird Euch in Eurem Gemach bei der Bibliothek abholen und zu mir geleiten. Ich erinnere Euch noch einmal daran, daß Geheimhaltung das höchste Gebot ist.«

Da'ud verbeugte sich zur Zustimmung tief und schickte sich zum Gehen an, doch der Kalif erhob sich, richtete sich zu seiner ganzen Herrschergröße auf und gebot ihm mit einer Bewegung seiner juwelengeschmückten Hand Einhalt. »Vor dieser Tür warten meine militärischen Oberbefehlshaber und Wesire auf den Marschbefehl nach Leon. Ihr werdet also den Palast durch einen anderen Ausgang verlassen.« Ein leichtes Aufstampfen des Fußes, und schon erschien Mustapha in einer kleinen, niedrigen Tür, die kunstvoll in den Wandpaneelen verborgen war. »Führe Abu Suleiman nach draußen.«

Da'ud achtete sorgfältig auf das Labyrinth aus Durchgängen und Korridoren, durch das ihn der Eunuch geleitete, aber als er schließlich unter den unzähligen Säulen der Großen Moschee auftauchte, die sich Reihe um Reihe ringsum ihn her bis in die Unendlichkeit fortzusetzen schienen, bemerkte er, wie völlig – und wirkungsvoll – man ihn in die Irre geführt hatte. Mustapha verschwand und überließ es ihm, selbst den Weg aus dem schattigen Gebetshaus heraus zu finden. Er ging eilends nach Hause, wich voll beladenen Lasteseln aus, schritt über die Bettler hinweg, stieß um ein Haar mit den fliegenden Händlern zusammen, die auf der schmalen Gasse zum jüdischen Viertel ihrem Gewerbe nachgingen.

Als er in sein Arbeitszimmer trat, fand er dort Sari, die seine Pflanzen goß, ehe die Hitze des Tages so stark wurde, daß sie austrockneten. Er packte sie sanft von hinten bei der Schulter und küßte sie zart auf den Nacken, auf die Wange, Liebesbezeugungen, die sie hinzunehmen gelernt hatte. Sie schrak nicht mehr zusammen bei der leisesten Berührung, wie in den ersten Tagen ihrer Ehe. Sie hatte sich inzwischen an seine Anwesenheit in ihrer Nähe gewöhnt, reagierte manchmal sogar auf seine liebevolle Umarmung. Aber immer noch weigerte sie sich, ihm ihren Körper zu schenken. Mit einer Mischung aus Abscheu und Verachtung hatte sie viele Male mit angesehen, wie er neben ihr seinen süßlich riechenden Samen verströmte, war anscheinend völlig ungerührt von der Pein, die sie ihm bereitete. Er seinerseits hatte es sorgsam vermieden, sie zu drängen, obwohl er manchmal, wenn sie abends vor ihrem Heim im Innenhof beieinander saßen, auf Kinder zu sprechen kam.

»Kinder?« antwortete sie dann immer. »Warum? Warum sollte ich leiden, um sie zur Welt zu bringen, und dann mit ihnen leiden, wenn sie in einer Welt voller Leiden leben?«

»Sie sind nicht von vorne herein zum Leiden verurteilt.«

»Noch ist ihnen das Glück sicher. Aber bitte, Da'ud, wenn du dich so glühend nach einem Erben sehnst, dann nimm eine andere Frau, die dich körperlich befriedigt und deine Kinder zur Welt bringt. Ich will deinem Glück nicht im Weg stehen. Das hast du nicht verdient.«

»Niemand außer dir wird meine Kinder zur Welt bringen«, versicherte er ihr jedesmal, »wenn nicht jetzt, dann eben später, wann immer du es wünschst.«

Wenn er sie so betrachtete, wie sie den schlanken weißen Nacken über die glänzenden grünen Blätter der Pflänzchen beugte, die sie so wunderbar pflegte, dann fragte er sich, wann diese Zeit wohl kommen würde …

»Du überraschst mich«, sagte sie. »Ich bin es nicht gewohnt, dich am hellen Morgen zu Hause zu sehen.«

»Ich möchte hier heute allein arbeiten.«

»Dann überlasse ich dich deinen Studien«, erwiderte sie und zog sich leise zurück.

Mit raschen, konzentrierten Bewegungen wog und maß Da'ud, zerstieß und mischte die zweiundvierzig Zutaten des Großen Theriak, erschöpfte beinahe seinen gesamten Vorrat der seltenen Ingredienzen, um die übergroße Menge des Mittels herzustellen, die der Kalif verlangt hatte. Gegen Abend goß er die Mischung in eine mit Stroh umhüllte Flasche, verkorkte diese fest und stellte sie sorgfältig auf ein hohes Regal. Dann füllte er zur Sicherheit noch einen Topf mit zermahlenem Bezoar und steckte ihn in die Tasche des Gewandes, das er am nächsten Tag tragen wollte. Erst jetzt atmete er auf. Als er sich daran machte, die Arbeitsfläche aufzuräumen, beschwor der Anblick der leeren Gefäße eine tiefe Unruhe in ihm herauf. Was würde geschehen, wenn der Kalif in einer Herrscherlaune mehr von dem kostbaren Gegenmittel verlangen sollte, ehe seine Vorräte wieder aufgefüllt waren?

Hätte er gewußt, was seiner noch harrte, er hätte sich gewünscht, daß dies seine einzige Sorge wäre …

Die Nebel der Morgendämmerung hingen noch über dem Fluß, als er am nächsten Morgen durch die schlummernden Straßen Córdobas schlüpfte. Er wollte gerade wie jeden Tag in die Bibliothek eintreten, als eine rauhe Stimme ihn von hinten anrief. Er wandte sich abrupt um und fand sich dem knollennasigen Steuereintreiber Abu Bakr gegenüber, jenem ehemaligen Christen, dessen Familienbande mit dem Königshaus von Leon kein Geheimnis waren. Anmaßend hatte der sich in seinem üppigen scharlachroten Gewand vor ihm aufgebaut, die hellen, nahe beieinander stehenden Augen mit bohrendem Blick auf Da'ud gerichtet, dessen Augen wie immer dunkel und still waren.

»Was bringt Euch zu so ungewöhnlich früher Stunde in den Palast?« fragte er mißtrauisch.

»Ich könnte Euch die gleiche Frage stellen«, erwiderte Da'ud.

»Geld ist die beste Waffe eines militärischen Anführers. Es steht in meiner Verantwortung, dieses Geld aufzutreiben, je früher, desto besser. Ihr hingegen habt keine solch dringende Aufgabe zu erfüllen«, bemerkte er spitz, und seine Augen verengten sich ein wenig, als er die weiten Falten des Umhangs genau studierte, der um Da'uds schlanke Gestalt gehüllt war. »Das ist nicht ganz richtig«, antwortete Da'ud mit Gleichmut. »Als einer der Hofärzte bin ich dafür verantwortlich, bestimmte Medikamente zur Behandlung der Verwundeten bereitzustellen.«

»Die werden im allgemeinen in der Palastapotheke unter der entsprechenden Oberaufsicht angefertigt, und nicht in der Bibliothek – oder anderswo.«

»Ich möchte nachsehen, welche Art von Harz Galen für die Behandlung von Nervenverletzungen an jungen, gesunden Körpern empfiehlt.«

»Und das da?« fragte der Wesir mit eisiger Stimme und schlug mit einer raschen Bewegung einen Zipfel von Da'uds Mantel zurück, unter dem die Korbflasche zum Vorschein kam, die er dort verborgen hielt.

»Das ist ein neuer Trank aus wärmenden Zutaten, den ich selbst aus Kamille, Melisse, Lavendel, Koriander und Cannabis bereitet habe. Er soll den Soldaten zur Hilfe gereichen, die auf dem Schlachtfeld verwundet wurden.«

»Und deshalb kommt Ihr in der Morgendämmerung in den Palast geschlichen, diesen sogenannten Wärmtrank unter Euren Gewändern verborgen? In Kriegszeiten nutzt Euch Eure viel gepriesene Gelehrsamkeit nichts mehr.« Damit drehte sich Abu Bakr um und machte sich auf den Weg zum Haupteingang des Palastes.

Da'uds Gedanken rasten, als er die Bibliothek betrat. Es blieben ihm nur Sekunden, eine Methode zu finden, wie er sich aus dem Netz der Intrigen befreien konnte, das sich um ihn gelegt hatte, als er es am wenigsten erwartete. Welch besseres Alibi hätten sich die heimlichen Helfer Leons, die am Hofe des Kalifen lebten, denn wünschen können? Wenn am Vorabend der entscheidenden Schlacht ein Attentat auf Abd ar-Rahman ausgeführt würde, brauchten sie nur ihn zu beschuldigen, er habe heimlich ›nicht überwachte Heilmittel‹ in den Palast geschmuggelt, und schon stünde er im Verdacht des Königsmordes. Sollte er den Kalifen von dem Vorfall unterrichten, schon vorab seine Unschuld demonstrieren? Das war genauso riskant, wenn man überlegte, wie peinlich Abd ar-Rahman darum bemüht war, das Gegenmittel und alles, was damit zusammenhing, geheimzuhalten. Als Mustapha ihn wiederum durch das Labyrinth der Türen und Korridore führte, wurde Da'ud klar, daß er in der Falle saß, daß tödliche Gefahr lauerte, wohin er sich auch wandte. Mit geschmeidigen Schritten bewegte sich der Eunuch vorwärts. Er öffnete eine kleine Tür und wies Da'ud ins Gemach des Kalifen. Als er über die Schwelle trat, erhaschte Da'ud noch einen kurzen Blick auf Scharlachrot, auf den Saum von Abu Bakrs Gewand, das gerade durch die Haupttür auf der Gegenseite verschwand. Das bewog ihn, sofort zu handeln.

Er reichte Abd ar-Rahman die Korbflasche, stand aufrecht vor ihm und begann: »Ich bitte um die Erlaubnis zu sprechen, o Herrscher der Gläubigen. Euer ehrenwerter Steuereintreiber Abu Bakr hat mir aufgelauert, als ich soeben die Bibliothek betreten wollte, und hat die Flasche gesehen, die ich unter meinem Mantel verborgen hatte. Auf seine dringende Befragung antwortete ich, sie enthielte ein von mir bereitetes schmerzlinderndes Mittel für die auf dem Schlachtfeld verwundeten Soldaten. Er schien meine Erklärung mit äußerstem Mißtrauen zu hören, drohte mir wohl sogar. Allerdings ist es mir nicht gelungen, zu unterscheiden, ob Mißtrauen und Drohung echt oder vorgetäuscht waren. Ich fürchte …«

»Ihr tut gut daran, zu fürchten«, unterbrach ihn der Kalif grob. »Ihr setzt Euer Leben aufs Spiel, da Ihr mir die himmelschreiende Verletzung der Geheimhaltungspflicht gesteht, auf die ich Euch eingeschworen habe.«

»Darüber bin ich mir im klaren, aber ich setze nicht weniger aufs Spiel, wenn die Höflinge, die sich mit den Aristokraten von Leon gegen Euch verschwören, mit anklagenden Fingern auf mich deuten, um den Verdacht von ihren eigenen verräterischen Taten abzulenken.«

Mit undurchdringlicher Miene lauschte Abd ar-Rahman. Abu Bakrs Machenschaften waren ihm bekannt, doch die Hinrichtung des Steuereintreibers würde dem Schatzamt größeren Schaden zufügen als seinen Feinden. Es würde sich immer irgendein anderer bekehrter Christ finden, der ihn verraten würde, wenn nur der Preis hoch genug war, denn ein Mann, der einmal Verrat begangen hatte – an seinen Freunden, seinem Herrscher oder seiner Religion –, zögert selten, wiederum Verrat zu üben. Was der besorgte junge Gelehrte, der da vor ihm stand, nicht wußte: Abu Bakr war sich nicht zu schade, dem Kalifen wertvolle Informationen über seine Feinde zuzutragen, um ihm seine Treue zu beweisen. Noch waren sich Da'ud oder Abu Bakr selber im klaren darüber, daß Abd ar-Rahman den Steuerberater häufig dazu benutzte, seinen Feinden falsche Informationen in die Hände zu spielen oder die Kastilianer gegen ihre Herrscher in Leon aufzuwiegeln. Er war auf der Hut vor dem Ränkespiel des konvertierten Christen und hatte sich schon längst Methoden erdacht, wie er sie bekämpfen könnte. Eine einzige Schwäche hatte es in seinen Verteidigungswällen noch gegeben, seine panische Angst vor Schlangenbissen, die sich in der Schlacht von Simancas offen gezeigt hatte. Aber auch das war nun dank der kostbaren Korbflasche vorbei, die er in den Händen hielt. Trotzdem machte Abd ar-Rahman keinerlei Anstalten, die Ängste Da'uds zu beschwichtigen. Im Gegenteil.

»Die Zeit wird die Wahrheit ans Licht bringen«, bemerkte er geheimnisvoll. Niemand, der in seinen Diensten stand, sollte sich je völlig in Sicherheit wähnen …

Da'ud, dessen Gedanken die drohende Gefahr messerscharf geschliffen hatte, hatte plötzlich eine Eingebung, eine gewagte neue Idee, die sehr wohl das Leben des Kalifen retten könnte – vielleicht auch sein eigenes. Ohne einen Augenblick zu zögern, äußerte er diesen Gedanken.

»Erlaubt mir, o Herrscher der Gläubigen, Euch in meiner Eigenschaft als Hofarzt folgenden Rat zu geben: Wenn Ihr Euch im Verlaufe des Feldzugs der Gefahr eines Schlangenbisses besonders ausgesetzt wähnt, so nehmt vorbeugend das Viertel eines Schekels vom Großen Theriak ein.« Im gleichen ruhigen Ton fuhr er nun fort, dem Kalifen das übliche Verfahren nach der Vergiftung durch einen Schlangenbiß zu erläutern. »Wenn Euch, der Himmel möge es verhüten, eine Schlange gebissen hat, so zieht eine Abbindeschnur oberhalb des Einbisses so fest wie möglich zu, um zu verhindern, daß das Schlangengift sich im gesamten Körper ausbreitet. Dann nehmt ein Schekel des Großen Theriak ein und streicht noch diese Paste aus Bezoar auf die Wunde. Wenn Ihr so vorgeht, wird Euch kein Leids geschehen. Was andere Gifte betrifft, die Euch Eure Widersacher vielleicht zu verabreichen suchen, so achtet stets darauf, daß Ihr nur Gerichte zu Euch nehmt, die in Wasser gekocht oder einfach gesotten sind, ohne Zugabe von Farbstoffen oder Gewürzen oder Zucker, die den Geschmack, Geruch oder Anblick von Gift verschleiern. Weiterhin, wenn Ihr den Verdacht hegt, daß jemand plant, Euch zu vergiften, so laßt ihn oder jemand anderen eine reichliche Portion des Essens genießen, das auch Euch gereicht wird, nicht nur einen Mundvoll, wie es oft gehandhabt wird. Wie Ihr wißt, ist der Große Theriak ein Gegenmittel gegen Gifte aller Arten, nicht nur das der Schlange.«

»Euer Rat kommt zur rechten Zeit, mein gelehrter Freund. Mustapha«, rief er seinen Eunuchen, »verbirg diese Korbflasche unter meinem persönlichen Gepäck und bewache sie mit deinem Leben.«

»Ich würde respektvoll vorschlagen«, drängte Da'ud, »daß Ihr einen Teil der Flüssigkeit in einige kleine, unzerbrechliche Phiolen abfüllt, am besten solche aus Gold, die jeweils ein Schekel des Mittels enthalten. Eine solltet Ihr stets mit Euch führen, die anderen verteilt unter Eurer persönlichen Habe. So könnt Ihr stets sicher sein, daß Ihr im Laufe des Feldzuges einen Vorrat zur Hand habt.«

»Es soll geschehen, wie Ihr es uns ratet. Aber kehrt nun zu Euren Studien zurück, ehe neugierige Augen Euch erspähen.«

10

In der Abgeschiedenheit der vertrauten Bibliothek fiel die mutige Haltung, die er in der Gegenwart des Kalifen gewahrt hatte, von Da'ud ab. Zutiefst besorgt, schritt er im Raum auf und ab. Seine Befürchtungen wuchsen noch, als ihm die volle Bedeutung seines zufälligen Zusammentreffens mit Abu Bakr klarer wurde. Wieder einmal schwebte er in Lebensgefahr, doch diesmal stand es nicht in seiner Macht, sich selbst zu verteidigen. Sein Schicksal lag nun in den Händen anderer, entzog sich seiner Kontrolle. Welches Übel dem Kalifen im Verlauf des bevorstehenden Feldzugs auch widerfuhr – die Möglichkeiten waren endlos –, ihm würde man die Schuld dafür geben. Nur für den unwahrscheinlichen Fall, daß die Kräfte des Großen Theriak sich wirklich zeigen würden, wäre er von jeglichem Verdacht befreit. Einer plötzlichen Eingebung folgend, hatte er zusätzlich zur vorbeugenden Einnahme des Gegenmittels geraten, doch diese Methode war nicht erprobt, nicht überprüft, und daher war der Erfolg nicht gewährleistet. Wieder einmal blickte er in die häßliche Fratze, die Kehrseite der höfischen Ehrungen. Wenn das der Preis war, dann war er nur zu gern bereit, darauf zu verzichten.

Oh, wie er sich danach sehnte, jetzt den Kopf zwischen Saris sanft gerundete Brüste zu betten, dort in ihrer Liebe Trost und Sicherheit zu suchen, wie ein erschrecktes Kind Sicherheit in der warmen Umarmung seiner Mutter sucht. Wie lange mußte er ihre passive Ablehnung noch erdulden, ihre Weigerung, seine Kinder zu gebären? Es war, als unterzöge sie ihn einer langen, mühsamen Prüfung seiner Beharrlichkeit. Doch wo er früher einmal überzeugt gewesen war, daß die Kraft seiner Liebe in ihr eine Antwort erwecken würde, schwand inzwischen sein Zutrauen zu dieser Kraft. Wie lange noch mußte er seine Leidenschaft zügeln, um die Aufrichtigkeit seiner Zuneigung unter Beweis zu stellen? Während bei Hof die Spannung wuchs und auch seine Nerven stets aufs äußerste gereizt waren, schwand allmählich auch seine Geduld mit ihrer Widerspenstigkeit und mit ihr die Fähigkeit, die Enttäuschung länger zu ertragen, die sie ihm bereitete. Vielleicht sollte er seine Einstellung ändern, weniger Verständnis zeigen, auf seinem ehelichen Recht bestehen, es von ihr verlangen, sie vielleicht sogar mit Gewalt nehmen …

Nicolas Ankunft zwang ihn, seine übliche gefaßte Haltung wieder einzunehmen. Im Laufe des Morgens veranlaßte sein deutlich bemerkbarer Mangel an Konzentration den Mönch jedoch, sich besorgt nach seiner Gesundheit zu erkundigen.

»Ich danke Euch für Eure Umsicht. Mir selbst geht es gut. Der Zustand meiner Frau ist mir Anlaß zur Sorge.«

»Die Leiden der frühen Schwangerschaft?« erkundigte sich Nicolas, dessen strahlende Augen vor Anteilnahme einen warmen Schimmer bekamen.

»Das könnte wohl sein«, erwiderte Da'ud und erstickte beinahe an diesen Worten. Kurz verspürte er das überwältigende Verlangen, aus seiner begrenzten, bedrückenden Welt auszubrechen, allem zu entfliehen, genau wie der arme tote Einsiedler an einem einsamen Ort Zuflucht zu suchen, wo Lügen, Intrigen, Enttäuschung und Gewalt ihn nicht erreichten.

Nicolas, der Da'uds Verwirrung bemerkte, legte ihm freundlich die Hand auf den Arm. »So geht doch und kümmert Euch um sie. Dioskurides hat so lange in der Vergessenheit geschlummert, er mag noch ein wenig länger warten.«

Da'ud nutzte diesen Vorwand. Mit kräftigen Schritten eilte er nach Hause, wild entschlossen, Sari mit sich zu reißen, mit ihr zur Hütte des Einsiedlers zu reiten und dort mit all der Kraft seiner aufgestauten Leidenschaft die Lebenskraft zu wecken, die in ihr schlummern mußte. Doch kaum hatte er das Haus betreten, da vertrieb ihm die ungewohnte, unnatürliche Stille diese Gedanken aus dem Kopf. Es war etwas geschehen. Es mußte etwas mit Sari sein.

Er fand sie ausgestreckt auf dem Diwan liegend, geschüttelt von einem heftigen Fieber. An ihrer Seite saß hilflos weinend die Dienerin Malka.

»Warum hast du nicht unverzüglich nach mir geschickt?« fragte er zornig.

»Es kam ganz plötzlich über sie, Herr, erst vor kurzer Zeit. Ich hatte Angst, sie allein zu lassen. Alle paar Minuten verspürt sie den Drang, Wasser zu lassen, und ich muß ihr zum Abtritt helfen. Jedesmal, wenn sie Wasser abschlägt, wimmert sie vor Schmerzen.«

»Gut«, murmelte er, um das von panischer Angst erfaßte Mädchen zu trösten. »Jetzt hör auf zu heulen und gehe in meinem Arbeitszimmer die Utensilien für den Aderlaß holen«, gebot er ihr, während er sanft Saris heiße, schlaffe Hand anhob, um ihr den Puls zu fühlen. Bei dieser Berührung schlug sie wie wild um sich.

»Nimm deine schmutzigen, lüsternen Hände von mir«, rief sie fiebertrunken. »Du und all deine greisen, geifernden Kumpane. Au!« schrie sie auf, als erlitte sie unerträgliche Schmerzen, und dann keuchte sie und drückte die Hände nach oben, als müßte sie ein Gewicht von sich abwälzen, das sie zu zermalmen schien. Da'ud beugte sich erneut über sie, diesmal legte er ihr die kühle Handfläche an Nacken und Wange, um ihre Körpertemperatur zu fühlen. Nun jaulte sie auf, als würgte sie jemand, und heulte dann: »Nimm dein gräßliches, schlaffes Ding aus meinem Mund! Macht daß ihr rauskommt, ihr geifernden Tiere, macht, daß ihr zwischen meinen Beinen rauskommt! Au!« stöhnte sie wieder, hielt sich die Scham mit beiden Händen. »Raus aus mir! Raus!«

»Barmherziger Gott!« flüsterte Da'ud und sank auf dem Diwan neben ihr zusammen. Das war es also! Und die ganze Zeit hatte sie Stillschweigen bewahrt, hatte zugelassen, daß diese Erinnerung ihr Leben aushöhlte. Das arme, wehrlose Kind, von einem Haufen lüsterner Greise brutal mißhandelt, die irgendeine perverse Macht verspüren wollten, die sie mit anderen Mitteln längst nicht mehr erreichen konnten. Kein Wunder, daß sie sich ihm verweigerte. Allmächtiger, gütiger Gott, wie sollte er das je an ihr wiedergutmachen? Wie sollte er ihre verwundete Seele heilen, wie die schreckliche Verletzung an Körper und Geist lindern? Er beobachtete sie einige Sekunden ganz genau, wie sie sich hin und her warf, wie sie etwas murmelte, das wie slawische Flüche klang, dazwischen immer wieder Bruchstücke von Schreien, inständigen Bitten, Flehen, Aufbegehren. »Hör auf zu beißen … Blut … Blut … Au! Meine Brüste! Nein, von unten … faß meinen Hintern nicht an, du Hund! … Raus aus mir! Raus!«

In Malkas zitternden Händen klirrten die Schale und das Skalpell aneinander, als sie diese ihrem Herrn reichte. Der beschloß, seine Frau sofort zur Ader zu lassen, um sie von dem Überschuß übler Körpersäfte zu befreien, der ihr die Infektion und das heftige Fieber verursacht hatte. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß sie stark genug war, um diese Behandlung auszuhalten, band er ihr das Bein über dem Knie ab, ehe er mit dem Messer einen Einschnitt in der Kniekehle machte. Er führte das scharfe Instrument so geschickt, daß sie kaum den Schmerz des Schnittes spürte. Die Farbe des Blutes schien gesund. Er stillte den Blutfluß, ehe er ihren Körper zu sehr schwächte. Seine Handbewegungen waren so geschickt und sanft, daß sie nicht einmal bemerkte, wie er die Wunde versorgte.

»Du bist sehr tapfer«, lächelte er zu ihr herab.

Endlich zeichnete sich in ihren meerblauen Augen ein Schimmer des Erkennens ab. Dann flüsterte sie ganz schwach: »Malka, Malka, hilf mir auf den Abort.«

»Ich helfe dir«, antwortete Da'ud. »Als dein Arzt muß ich deinen Urin sehen.«

Zu schwach, um sich dagegen aufzulehnen, ließ Sari zu, daß er sie aufrichtete und stützte, während sie langsam den Flur zum Abort entlangging. Dabei preßte sie die Beine fest zusammen, um dem Schmerz Einhalt zu gebieten, den sie verspürte. Wimmernd quetschte sie einige wenige Tropfen heraus, die Da'ud in einem Fläschchen auffing. Zu seiner großen Erleichterung war darin kein Blut zu sehen. Ein kühlendes Astringenz aus Sauerhonig mit viel Essig auf wenig Honig, ein wenig Zimt, um die schlechten Körpersäfte aufzulösen, und es sollte ihr am nächsten Morgen schon besser gehen.

Den Rest des Tages wich er nicht von ihrer Seite, beobachtete aufmerksam, ob sich ihr Zustand verschlechterte, streichelte ihr die Hand, kühlte ihr die fieberheiße Stirn, führte ihr Wasser an die Lippen. Gegen Abend, als ihre Temperatur wieder anstieg, gab er ihr zusammen mit dem Sauerhonig ein mildes Beruhigungsmittel aus Mohnsamen. Er ließ eine Matratze hereinbringen und legte sich neben ihr auf den Boden, nickte ein wenig ein. Bei der geringsten Regung fuhr er auf, versicherte sich, daß das Fieber nicht noch mehr gestiegen war, überprüfte, ob sie noch bequem lag, und verfiel dann wieder in unruhigen Schlaf.

Sie erwachten beide beim ersten Schimmer des Morgens.

»Besser?« erkundigte er sich leise, während er ihr Hals und Stirn befühlte, die nun viel kühler waren.

»Viel besser, danke. Ich dachte, ich müßte sterben.«

»Nicht als meine Patientin.«

»Die ganz Nacht hindurch habe ich gespürt, daß du bei mir warst.«

»So sorge ich für die Menschen, die ich liebe.«

»Liebe«, murmelte sie, »da sein, aufpassen, Sicherheit schenken. Ist es das, was du Liebe nennst?«

»Das und mehr.«

»Vielleicht begreife ich es allmählich.«

»Und ich verstehe nun, wie es kommt, daß du dergleichen nicht kennst.«

Sie warf ihm einen fragenden, beinahe furchtsamen Blick zu.

»In deinem Fieberwahn hast du ein wenig von den Greueln verraten, die du in deinen Kinderjahren zu erleiden hattest.«

»O Gott!« stöhnte sie, und Tränen rannen ihr über die bleichen Wangen.

»Warum hast du mir nie davon erzählt?«

»Weil ich mich geschämt habe und weil ich all das unbedingt vergessen wollte.«

»Wer waren diese Männer?«

»Freunde des alten Witwers, der mich als Säugling gefunden hat, ausgesetzt beim Grab seiner Frau auf dem Prager Friedhof. Er hat mich bei sich aufgenommen und aufgezogen, und später hat er dann seine Schuld von mir eingetrieben, indem er …«

»Ruhig, Liebes. Der Rest ist mir klar. Du brauchst nie mehr daran zu denken oder davon zu sprechen. Ich schäme mich, daß ich dich belästigt habe, sei es auch noch so wenig. Ich schwöre, ich werde dich nie wieder auch nur mit einem Finger berühren. Es sei denn, du suchst meine Nähe aus freien Stücken, dann komme ich gern zu dir.«

Sari schloß die Augen, und ein Ausdruck tiefster Zufriedenheit, wie sie dergleichen noch nie im Leben verspürt hatte, durchglühte ihr zartes, schimmerndes Gesicht. Wie ungeheuer erleichtert mußte sie sich fühlen, nachdem sie sich ihm anvertraut hatte! Und nun, da die unsichtbare Schranke gefallen war, die zwischen ihnen gestanden hatte, würde sie vielleicht mit der Zeit aus eigenem Antrieb zu ihm kommen, und sie würden zusammen das Lebens glück erreichen, das er immer so ersehnt hatte.

Die neue innig vertraute Bindung, die jetzt zwischen Da'ud und seiner Frau wuchs, hielt ihn während der folgenden Tage und Wochen aufrecht. Allerdings enthüllte er Sari nicht die Gefahr, in der er schwebte. Er vertraute ihr nicht an, welche Furcht ihn packte, wenn ein Bote von der Kriegsfront in den Palastbezirk galoppiert kam. Er beschrieb ihr nicht, wie hinterhältig Abu Bakr jedesmal lächelte, wenn er ihn traf. Doch sie spürte die Spannung, die ihn ergriffen hatte – seine Ungeduld mit der Dienerschaft, seine zerstreute Miene, sein brütendes Schweigen.

»Du hast große Sorgen«, sagte sie schließlich zu ihm, als sie an einem Sabbatabend Hand in Hand nach dem Abendessen mit der Familie von Ya'kubs Haus heimgingen. »Ich habe noch nie erlebt, daß du so wenig Geduld mit deinem Vater hattest.«

»Ja, ich muß zugeben, ich bin im Augenblick nicht ich selbst. In den Zeiten eines Krieges zwischen zwei Gebieten ein und desselben Landes, zwischen gegnerischen Lagern, in denen viele Personen durch Blutsbande, durch ihre Herkunft oder ihre Religion mit dem Feind verbunden sind, muß eine heimtückische Atmosphäre des Mißtrauens entstehen, die jeden Winkel des Lebens am Hof durchdringt.«

»Erhebt dich deine Arbeit als Gelehrter nicht über all das?«

»Das hatte ich gehofft, aber sogar das uralte Wissen, das ich entschlüssele, gerät in diesen schwierigen Zeiten in Verdacht. Wer soll garantieren, daß ich es nicht benutze?«

»Aber zu welchem Zweck? Du hast doch keinerlei Interesse daran, dich mit den Feinden des Kalifen zu verbünden.«

»Nein, aber diejenigen, die ein solches Interesse hegen, möchten es vielleicht so aussehen lassen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Sari und umklammerte seine Hand fester, um ihn zu beruhigen. Nach kurzer Überlegung fuhr sie fort: »Aber das, was du fürchtest, muß nicht eintreten. Du besitzt das Vertrauen des Kalifen.«

»Bis jemand sich mit Entschlossenheit daran macht, es zu untergraben. Der Kalif vertraut selten nur einem Menschen auf unbestimmte Zeit.«

»Selten vielleicht, aber nicht nie. So wie du ihn beschrieben hast, ist er ein guter Menschenkenner, klug genug, um Wahrheit von Lüge, Treue von Verrat zu unterscheiden. Da du dir nichts vorzuwerfen hast, hast du auch nichts zu befürchten.«

Sie hatte natürlich recht. Ihre ruhige Klarheit milderte seine besessene Furcht ein wenig, half ihm, das Gleichgewicht wiederzugewinnen, das er verloren hatte, als er meinte, sein Schicksal entgleite ihm und liege nun in den skrupellosen Händen anderer.

»Du sprichst weise«, erwiderte er, wie er seinen Vater unzählige Male zu seiner Mutter hatte sagen hören. Hoffentlich gab die Zukunft ihren klugen Worten recht … Als sie ins Haus traten, küßte er sie zärtlich auf die Wange, ehe sie sich trennten und jeder sich in seine eigenen Räume begab.

Von nun an spürte Da'ud, wenn er von der Bibliothek nach Haus zurückkehrte, die tröstende Nähe seiner Frau, ihre Sorge um ihn, die sich in der kleinsten Aufmerksamkeit zeigte – in den Kissen, die sie ihm in den Rücken stopfte, wenn er sich auf dem Diwan zurücklehnte, in dem Glas Wein, das sie ihm einschenkte und das sie leicht zwischen den Händen anwärmte, ehe sie es ihm reichte, in den frischen Blumen, die sie ihm täglich auf den Tisch stellte. So gelang es ihr jeden Abend, die Spannung der unendlich scheinenden Tage zu lösen, ihm das Warten auf eine Nachricht vom Ausgang der Schlacht ein wenig leichter zu machen.

Selbst als die Kunde vom triumphalen Sieg des Kalifen über Leon und Kastilien in Córdoba verkündet wurde, linderte das Da'uds Ängste nur unwesentlich. Als er jedoch mit eigenen Augen sah, wie Abd ar-Rahman im Triumph in den Palastbezirk einritt – unter schallendem Jubel, zum Klang schmetternder Trompeten und mit stolz wehenden scharlachroten und goldenen Bannern –, atmete er auf. Das Getümmel im Palast war so groß, seine Erleichterung über die wohlbehaltene Rückkehr des Kalifen so ungeheuerlich, daß Da'ud Nicolas vorschlug, die Arbeit für einen Tag ruhen zu lassen und sich den allgemeinen Freudenfeiern anzuschließen. In Wirklichkeit wollte er nur nach Hause eilen und mit Sari sein köstliches Gefühl der Befreiung teilen, nun, da die panische Angst von ihm gewichen war, die ihn seit Beginn des Feldzugs Tag und Nacht heimgesucht hatte. Er wollte gerade die Bibliothek verlassen, als Mustapha ins Zimmer gestürzt kam.

»Der Erhabene Kalif, der ruhmreiche Sieger und triumphale Eroberer, verlangt unverzüglich die Gegenwart von Abu Suleiman.«

Verblüfft über diese rasche Vorladung, unsicher, ob sie Böses oder Gutes verhieß, eilte Da'ud hinter Mustapha her. Geschwind schritt der Eunuch voran, diesmal nicht über verschlungene Umwege, sondern offen über den Innenhof des Palastes, der vor Menschen nur so wimmelte, durch den Vorhof und geradewegs in den Audienzsaal. Kaum war Da'ud eingetreten, da entließ Abd ar-Rahman die Würdenträger, die um ihn herumscharwenzelten, mit einer ungeduldigen Handbewegung. Als auch der letzte voller Bestürzung über diese zeitige Beendigung der Audienz verschwunden war, eilte der Kalif strahlend vor Freude über seinen Sieg auf Da'ud zu, um ihn zu begrüßen.

»Ich habe Euch sofort rufen lassen, weil Euer Anteil an diesem Sieg weit größer ist, als Euch bewußt ist«, erklärte er. »Erst jetzt kann ich Euch die Wahrheit enthüllen. Ich habe keine Sekunde gezweifelt, daß meine Feinde versuchen würden, mich in die Knie zu zwingen, indem sie die einzige schwache Stelle in meiner Verteidigung nutzten, nämlich meine tiefsitzende Angst vor dem Biß einer Natter, von der Ihr nichts wußtet. In der schändlichen Schlacht von Simancas waren meine Ärzte Zeugen dieser meiner Schwäche, die ihnen bis dahin verborgen geblieben war. Sie haben das Geheimnis verraten und mußten dieses Verbrechen mit dem Leben bezahlen.«

»Ihr meint die drei Köpfe, die Ihr mir an jenem Tage in der Medina Azahara gezeigt habt?«

Der Kalif nickte, ehe er fortfuhr. »Wie zu erwarten war, haben sie dieses Wissen an Abu Bakr weitergereicht, auf daß er es zu gegebener Stunde nutze. Aber dank Eurer Hilfe, mein junger und gelehrter Freund, scheiterte ihr abscheulicher Plan schmählich. Am Vorabend der Entscheidungsschlacht nahm ich als Schutzmaßnahme ein halbes Fläschchen des Großen Theriak zu mir, genau wie Ihr mir geraten hattet, und fiel in einen tiefen und ruhigen Schlaf. Um Mitternacht schüttelte mich Mustapha wach, bebend vor Angst. ›Eine Natter, eine Natter!‹ kreischte er, jedoch eine Sekunde zu spät. Sie hatte mich bereits gebissen. Doch verspürte ich keine Panik, keine Angst. In aller Ruhe und Gelassenheit nahm ich eine volle Dosis des Gegenmittels zu mir, ließ mir dann von Mustapha den Arm oberhalb des Bisses abbinden, das Gift aussaugen und die Salbe aus Bezoar auftragen. Dann wartete ich. Wartete auf das Fieber, auf die Schmerzen. Aber es geschah nichts. Absolut gar nichts. Eine Stunde, dann noch eine, und immer noch spürte ich keinerlei üble Wirkung. Also dankte ich Allah, rief seinen Segen auch auf Euch herab und schlief wieder ein. Im Morgengrauen erschien ich heil und gesund auf dem Schlachtfeld, zur äußersten Verwunderung Ordoños und seiner Hauptleute. In diesem entscheidenden Augenblick verloren sie alle den Kopf. Die Truppen, denen ihre Verwirrung nicht entging, scherten in Panik aus den Reihen aus, als unser Heer sich auf sie stürzte. Und sie bezogen die Prügel, die ihnen nach dem Massaker zustand, das sie in Simanca unter meinen Soldaten angerichtet hatten. Ich stehe also zweifach in Eurer Schuld, um meines Lebens und um meines Sieges willen.«

»Ihr erweist mir große Ehre, o Herrscher der Gläubigen, aber es ist eine Ehre, die ich wohl kaum verdiene. Es waren die Altvordern, die einst den Großen Theriak entdeckten, ich entriß ihn nur der Vergessenheit. Das einzige, das ich mir vielleicht als Verdienst anrechnen kann, ist mein Vorschlag, das Mittel auch vorbeugend einzusetzen. Die Tatsache, daß das Schlangengift bei Euch keinerlei Schäden hervorrief, könnte wohl darauf hindeuten, daß eine vorbeugende Wirkung besteht, denn obwohl der Große Theriak ein gutes Gegenmittel ist, ist es doch ungewöhnlich, daß das Opfer eines Natternbisses keinerlei Beschwerden verspürt. Ein Fall reicht jedoch nicht aus für eine allgemeine Schlußfolgerung. Was der einen Person nutzt, muß nicht unbedingt bei einer anderen die gleiche Wirkung zeigen.«

»Wenn es mich gerettet hat, so ist mir das Beweis genug. Aber auch jetzt darf kein Sterbenswörtchen über die Wiederentdeckung des Großen Theriak an die Öffentlichkeit dringen. Ich weiß«, fuhr der Kalif fort und hob, Einhalt gebietend, die Hand, »ich weiß, daß es Euer liebster und ehrgeizigster Wunsch ist, die gesamte Menschheit in den Genuß dieses Mittels zu bringen. Auch ich hege den gleichen Wunsch, aber seine Erfüllung muß warten bis nach meinem Tod. Niemals dürfen meine Feinde erfahren, wie ihr teuflischer Plan vereitelt wurde, damit sie nicht andere Wege ersinnen, mich zu beseitigen. Wenn die Welt so lange auf die Enthüllung dieses uralten Geheimnisses gewartet hat, so wird sie eben noch ein wenig länger warten müssen. Ihr seid noch jung und habt viele Jahre vor Euch, in denen Ihr den Ruhm genießen könnt, den Euch Eure Entdeckung bringen wird. Ich jedoch spüre die Last meiner Jahre schwer auf den Schultern und sehne mich danach, die Zeit, die mir noch verblieben ist, frei von der Furcht zu verleben, die mich seit meiner Kindheit verfolgt. Mir genügt es, nach meinem Tode als der Herrscher geehrt zu werden, unter dessen Herrschaft die uralte Formel wiederentdeckt wurde. Ihr müßt in meiner Nähe bleiben, Abu Suleiman. Ihr habt mein Leben in Händen gehalten und mich nicht enttäuscht. Ich brauche Euch jetzt und werde Euch mit der Zeit immer mehr brauchen.

Doch nun zu praktischen Angelegenheiten. Da dieser Sieg auch der Eure ist, möchte ich mit Euch die Bedingungen für die Kapitulation Ordoños besprechen. Binnen kürzester Zeit wird er um Frieden bitten, und wir müssen darauf vorbereitet sein, damit wir ihm unsere Bedingungen aufzwingen können, ehe er zuviel Zeit hat, sich von seiner Niederlage zu erholen. Wir müssen entscheiden, wie viele Festungen er uns übergeben muß und welche das sein sollen, müssen die Höhe des jährlichen Tributes festlegen, den er uns zu entrichten hat, und die Höhe des Lösegeldes für die Gefangenen, die wir gemacht haben …«

»Ich denke, Ihr wäret gut beraten, wenn Ihr Eure spanischen Feinde mit Großmut behandelt, um sie nicht zu Racheakten anzustacheln. Frieden an den Grenzen im Norden ist unerläßlich, damit Ihr die Angriffe der Fatimiden auf Eure Ländereien im Norden Afrikas zurückschlagen könnt.«

»Diese finsteren barbarischen Festungen sind mir nicht so wichtig wie das Geld der Christen. Ich brauche vor allem Geld, um einen großen Feldzug gegen al-Mu'izz und seine berberischen Verbündeten in Algerien zu führen. Wir reden morgen noch einmal darüber. Nun muß ich mich in die Medina Azahara begeben, wo meine kleine Zahra schon auf mich wartet – le repos du guerrier, mein Freund. Oh, ich glaube, ich habe Euch noch nicht berichtet, daß sie über meine erneuerte Manneskraft entzückt war, die zu großen Teilen auf Eure Anweisungen zurückgeht.«

Da'ud wäre auch gerne zu Sari geeilt und hätte mit ihr den repos du guerrier genossen, doch trotz der neuen Vertrautheit zwischen ihnen, trotz des feinen Gespürs, das sie zeigte, indem sie all seinen Wünschen zuvorkam und auf seine wechselnden Stimmungen einging, hatte er nur wenig Hoffnung, daß sie ihm diese Freude je gewähren würde …

11

Laßt bloß das hämische Grinsen von euren unverschämten Gesichtern verschwinden!« brüllte Königin Toda von Navarra die Gruppe von Adeligen, Stallmeistern und Dienern an, die lustlos im Innenhof ihrer Festung in Pamplona warteten, um sie auf einem der wilden Galoppritte zu begleiten, die sie sich gewöhnlich gönnte, wenn sie von rasender Wut ergriffen war. »Ich dulde derlei unverschämten Mangel an Respekt nicht, den ihr gegenüber meinem geliebten Enkelsohn Sancho zeigt, dem rechtmäßigen Herrscher von Leon und Kastilien. Augenblicklich mag er abgesetzt sein, doch ich schwöre bei der Erinnerung an seinen armen toten Vater Ramiro II. und an seinen armen verstorbenen Halbbruder Ordoño III. und bei den Häuptern meiner noch am Leben verbliebenen Kinder, König Garcia von Navarra und seiner Schwester Teresa, Sanchos Mutter, daß ich ihn wieder auf den Thron von Leon setzen werde, wie viel es mich und das Königreich meines Sohnes, Navarra, auch kosten mag.«

Während sie so sprach, hielten die Stallmeister Sancho bereits zum vierten Male den Steigbügel. Erneut versuchte er sich in den Sattel zu hieven. Sein Gesicht war vor Anstrengung scharlachrot angelaufen, doch es fehlte ihm die Kraft in den schlaffen Muskeln, um das ungeheure Gewicht seines Körpers in den Sattel zu heben. Geschlagen glitt er zu Boden zurück und stand hilflos neben seinem lammfrommen und geduldigen Pferd, die Beine vom Knie abwärts absurd nach außen gedreht, die plumpen Arme kraftlos am Körper herabhängend, einen Ausdruck der Verblüffung auf dem teigigen Gesicht. Eine Jammergestalt.

»Setzt Euren Arsch in Bewegung!« brüllte Toda die Stallmeister an. »Wenn er sich nicht selbst in den Sattel heben kann, dann habt, verdammt noch mal, ihr dafür zu sorgen, ihr unfähigen Trottel! Und ihr Kerle da oben«, schrie sie den Wachen zu, die von den Zinnen des Burgfrieds auf ihren Enkel heruntergrinsten, »wenn ich euch noch einmal erwische, wie ihr euch über Seine Majestät lustig macht, dann lasse ich euch auf den nächsten Lanzenschaft spießen.«

Kaum saß Sancho endlich mehr oder weniger sicher im Sattel, da winkte er auch schon mit fettem Zeigefinger den Verpflegungsmeister zu sich heran. »Die Wildpastete«, befahl er. Der Diener eilte herbei, um den Wunsch seines königlichen Herren zu erfüllen, und wühlte in dem guten Dutzend Satteltaschen, die man den Eseln aufgelegt hatte, die zur Begleitung der Reitpartie bereitgestellt waren. Schließlich fand er, was er suchte, eine saftige Pastete mit goldener Kruste, gut eine Handspanne im Durchmesser. Mit einer respektvollen Verbeugung reichte er sie dem jämmerlich ungekrönten König. Geduldig wartete die ganze Reitgesellschaft im Sattel, während die Pferde ungeduldig auf den glitschigen Pflastersteinen tänzelten, bis Seine Majestät die Pastete bis auf den letzten Krümel verzehrt hatte. Erst dann wagten sie es, aufzubrechen.

Toda galoppierte in wütendem Tempo vor ihrem Gefolge davon. Der graue Umhang aus grober Wolle flatterte wild hinter ihr. Stundenlang ritt sie am Flußlauf des Arga aufwärts, der sich durch die struppigen grünen Weiden des niederen Tales schlängelte, dann schmaler wurde, sich allmählich durch die raschelnden Buchenwälder in die Vorgebirge der Pyrenäen erhob bis zur Quelle des Flusses im Gebirge hin. Wie eine Besessene galoppierte sie durch den Wald, bis aus einiger Entfernung ein Schrei an ihre Ohren drang. Sie verlangsamte das Tempo und suchte den Wald mit ihrem scharfen Auge ab, bis sie eine Lichtung erspähte, wo die Reitgesellschaft verweilen konnte. Einer nach dem anderen gesellten sich die Höflinge zu ihr, Sancho kam als letzter. Er war sichtlich erschöpft, und es entrang sich ihm ein erstickter Schrei. Halb rollte, halb fiel er vom Pferd und lag dann unbeweglich am Boden, stierte nur in den Himmel.

Toda eilte zu ihm, war unter den erstaunten Augen der Höflinge plötzlich wie verwandelt. Die angriffslustige, herrische und starrköpfige Anführerin, unter deren unnachgiebigem Blick sie alle zitterten, war nun keinen Deut anders als alle anderen Großmütter, die sie je gesehen hatten, unglaublich warmherzig, liebevoll und sanft. »Sancho, Sancho, mein Herz«, flüsterte sie, während sie dem jungen Mann über die Stirn streichelte. »Sprich zu mir, sag etwas. Ich bin es, deine Großmutter.«

Aber der Herrscher, der seinen Thron verloren hatte, nahm ihre Anwesenheit nicht wahr. Die Adeligen von Navarra blickten beunruhigt auf Sanchos umfangreiche Gestalt, die reglos am Boden lag, die Augen glasig, als hätten seine Sinne ihn verlassen, und sie zogen sich in sichere Entfernung zurück. Sie hatten Andeutungen über die ›Anfälle‹ des jungen Mannes vernommen oder über seine ›Absencen‹, wie man sie auf Todas Geheiß nannte, aber weil man sich diese Attacken nicht erklären konnte, fürchteten die Männer sie instinktiv. Nur Toda hatte den Mut, neben ihrem Enkelsohn zu verweilen. »Sancho, mein Herz, meine Seele, ich bin es, Toda, deine Großmutter«, wiederholte sie immer wieder. »Kannst du mich hören? Siehst du mich? Erkennst du mich?«

Aber Sancho gab kein Zeichen des Verstehens. Still lag er da, ein Berg aus Menschenfleisch, und starrte ins Nichts. Obwohl Toda sich alle Mühe gab, ihre Gefühle zu verbergen, war doch jede Sekunde, in der ihre Höflinge sie so sahen, für sie eine unerträgliche Schande. Aber sie machte sich keine übermäßigen Sorgen. Aus Erfahrung wußte sie, daß Sanchos regelmäßig wiederkehrende Anfälle des petit mal, wie es ihre französischen Feinde nannten, kaum je länger als einige wenige Minuten andauerten.

In ihrem unermüdlichen Bestreben, Heilung für ihn zu finden, hatte sie jeden berühmten Arzt diesseits und jenseits der Pyrenäen konsultiert – wenn man diese Haufen unfähiger Quacksalber überhaupt so nennen konnte. Alle hatten sie ihr versichert, der Zustand ihres Enkels müsse sich nicht notwendigerweise verschlimmern – wenn das natürlich auch geschehen könne, fügten sie dann noch zaghaft hinzu, weil sie um ihren zu unrecht erworbenen guten Ruf bangten. So Gott wolle, salbaderten sie fromm weiter, könne die Krankheit sogar eines Tages auf ebenso geheimnisvolle Weise verschwinden, wie sie gekommen war. Wäre Sancho, der zweite Sohn von Todas Tochter Teresa, nicht wegen des frühen Todes seines Halbbruders, dessen Herrschaft nur kurz gewesen war, Thronerbe von Leon geworden, seine Krankheit wäre keine Angelegenheit von politischer Bedeutung gewesen. Nun aber diente sie dem Thronräuber Ordoño IV. als tödliche Waffe. Der Usurpator war Mitglied des königlichen Hauses von Leon und Verbündeter des Fernan Gonzales, des rebellischen Prinzen von Kastilien. Welches Argument konnte überzeugender begründen, daß Sancho nicht geeignet war, die Regierungsgeschäfte zu führen, als der Anblick dieses massiven Fleischbrockens, wie er da am Boden lag und nichts von dem wahrnahm, was rings um ihn herum geschah?

»Steht nicht so herum und haltet Maulaffen feil, ihr hirnlosen Idioten!« brüllte Toda ihr Gefolge an. »Geht und vertretet euch in den Wäldern die Beine, und Ihr, Verpflegungsmeister, bereitet eine Mahlzeit vor. Sobald Sancho das Bewußtsein wiedererlangt, wollen wir uns alle daran laben.«

Lustlos spazierten die Männer in die Wälder, redeten von allem möglichen, nur nicht von Sanchos Krankheit, für den Fall, daß Toda sie hören könnte. Als die Höflinge zurückkehrten, war Sancho schon wieder er selbst, offenbar völlig unbeeinträchtigt von seiner Ohnmacht. Mit der üblichen Gier stopfte er gesottene Tauben und Räucheraal, Entenbrust, Rinderpasteten und geräucherten Schinken in so ungeheuren Mengen in sich herein, daß sogar diejenigen ihn voller Erstaunen betrachteten, die selbst mit einem herzhaften Appetit gesegnet waren. Nachdem er alles mit mehreren Humpen Bier heruntergespült hatte, machte sich Sancho mit unverminderter Gier über eine Reihe von Süßspeisen her, die im christlichen Norden völlig unbekannt waren. Einer der Konditoren des Kalifen, den man in der Schlacht von Simancas gefangengenommen und in die Dienste von Sanchos Vater gepreßt hatte, hatte sie eigens für ihn zubereitet. Sancho trauerte tief, weil man ihn hatte zurücklassen müssen, bis seine liebende Großmutter den Mauren auslöste und zum Gefolge Sanchos gesellte. Endlich gesättigt, ließ sich der thronlose König nach hinten sacken, schloß die Augen und verfiel in einen tiefen Schlaf. Einen Ausdruck überirdischer Seligkeit auf dem aufgedunsenen Gesicht, wölbte er seinen faßförmigen Bauch so weit vor, daß die Höflinge sich eines Kicherns kaum erwehren konnten.

»Ihr Barbaren, die ihr euch Adelige schimpft«, schnappte Toda. »Was ich brauche, um die Ehre meiner Familie wiederherzustellen, sind eure Schwerter, nicht euer Gelächter. Da steht ihr nun, ein Haufen saft- und kraftloser Memmen, ein albernes Grinsen auf dem Gesicht, während der schurkische Kastilianer Fernan Gonzalez sich mit dem Thronräuber verbündet, um meinem Sohn sein ererbtes Recht auf den Thron von Leon zu rauben. Ich weigere mich, diese Situation noch länger zu ertragen.«

Nachdem sie die Ehre seiner Männer dergestalt besudelt hatte, konnte Rodrigo de Estella, Anführer der kläglichen Streitkräfte des winzigen Fürstentums Navarra, nicht mehr länger an sich halten.

»Bei allem Respekt, Eure Majestät, nicht ohne Grund hat man Eurem Enkelsohn den Thron genommen. Seine überstürzte, um nicht zu sagen willkürliche Entscheidung, die Zahlung des jährlichen Tributs zurückzuhalten, die dem Kalifen nach den Bestimmungen des Vertrags zusteht, den einst dessen Unterhändler Da'ud ibn Yatom ausgehandelt hat, hat das ehemalige Königreich Eures Enkels der Gefahr erneuter Angriffe durch die maurischen Horden ausgesetzt. Doch Leon ist nicht in der Lage, derlei Angriffen standzuhalten, weil seine Kräfte aufgezehrt werden durch die ständigen Streitereien mit seinem ungebärdigen Vasallen, dem Fürstentum Kastilien.«

»Alles Geschwätz!« rief sie und wischte das Argument des Befehlshabers mit einer wütenden Armbewegung beiseite. »Abd ar-Rahman ist viel zu sehr mit den Fatimiden in Algerien beschäftigt, als daß er sich um uns kümmern könnte.«

»Die Männer des Thronräubers wären da nicht Eurer Meinung. Sie behaupten, der Kalif hielte stets eine Garnison Soldaten in Reserve, die jederzeit bereit sind, Leon anzugreifen. Einige stellen sogar in Frage, ob Sancho bei klarem Verstand war, als er den Kalifen so offen provozierte. Und auch die Gemäßigteren zögern, das Schicksal von Leon einem jungen Herrscher anzuvertrauen, dessen körperliche und geistige Gesundheit …« Der Krieger mit dem wettergegerbten Gesicht hielt einen Augenblick inne, ehe er unverblümt die für alle offensichtliche Wahrheit aussprach: »… ihn außerstande setzt, die Geschicke des Landes zu lenken.«

»Ja, nun«, murmelte Toda mißmutig, zog sich mit einer herrischen Bewegung den schweren Silbergürtel zurecht, der ihren Umhang zusammenhielt. »Kommt«, sagte sie und führte Don Rodrigo ein Stück von den anderen Adeligen weg. »Machen wir einen kleinen Spaziergang und besprechen wir die Sache unter vier Augen.« Während sie unter den luftigen Buchen einherschritten, packte Toda die Angelegenheit mit eiskalter Klarheit an. »Also, Don Rodrigo, wir stehen vor zwei Problemen. Erstens: Sancho muß wieder gesund werden, um das Vertrauen und die Treue seiner Untertanen für sich zu gewinnen. Zweitens: wir müssen eine militärische Streitmacht aufbieten, die stark genug ist, den Thronräuber und die kastilischen Rebellen in die Knie zu zwingen und Sancho bei seiner rechtmäßigen Thronbesteigung verteidigen zu können. Welche Vorschläge habt Ihr zur Lösung dieser Fragen vorzubringen?«

»Nicht die Lösungen, die Ihr Euch wünschen würdet, Madam.«

»Erklärt Euch, Don Rodrigo. Ich bin es nicht gewohnt, Euch in Rätseln sprechen zu hören. Als Militär seid Ihr gewöhnlich offener.«

»Nun gut, Eure Majestät. Wie Ihr wißt, gibt es in der ganzen Christenheit keinen einzigen Arzt, der Sancho heilen könnte.«

»Weiter«, fuhr Toda ungeduldig dazwischen, ärgerlich über die müßige Wiederholung einer derart offensichtlichen Tatsache.

»Die Toleranz und Großzügigkeit der Omaijaden-Herrscher hat die größten medici unserer Zeit an den reichen Hof von Córdoba gelockt. Dort ist die beste medizinische Versorgung zu finden.«

»Schlagt Ihr mir etwa vor, ich solle mich bei meinem Erzfeind, dem moslemischen Kalifen, einschmeicheln?«

»Offen gestanden, Majestät, ja, genau das schlage ich vor. Vor nicht zu langer Zeit habt Ihr erklärt, daß Ihr entschlossen seid, Sancho wieder auf den Thron zu verhelfen, der ihm rechtmäßig zusteht, koste es, was es wolle. Ein Teil des Preises, den Ihr zahlen müßt, ist die Bitte, die Ärzte des Kalifen mögen den jungen Sancho heilen.«

»Und ich soll ihn meinen Feinden ausliefern? Don Rodrigo, habt Ihr völlig den Verstand verloren?«

»Nein, Madam, im Gegenteil. Ich habe die Situation von allen möglichen Blickwinkeln aus betrachtet, seit man Sancho abgesetzt hat. Meiner Meinung nach gibt es keine andere Lösung, wie wenig sie Euch auch behagen mag.«

»Sie kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde mich niemals mit der Bitte um Hilfe an Abd ar-Rahman wenden!«

»Bei allem Respekt, Madam, Sanchos eigene Untertanen, sowohl in Leon als auch in Kastilien, sind kaum eine geringere Gefahr für ihn als der Kalif. Zumindest verlangt der Maure nur Tribut, während die Rebellen den Thron wollen.«

Angesichts dieser unbestechlichen Logik konnte Toda nur noch schweigen. Nachdenklich geworden, machte sie auf dem Absatz kehrt und begab sich zur Lichtung zurück. Dort weckte sie Sancho aus dem Schlaf, sprang dann trotz ihres massiven Körperbaus mit großer Leichtigkeit in den Sattel und brüllte ihre Befehle: »Nach Pamplona, und helft Seiner Majestät in den Sattel.« Zu Rodrigo, der neben ihr ritt, sagte sie: »Ich denke darüber nach.« Dann trieb sie ihr Pferd mit den Sporen zu einem wilden Galopp an und ritt zurück in die Sicherheit ihrer finsteren grauen Festung.

»Was haltet Ihr von diesem Schreiben?« fragte Abd ar-Rahman Da'ud und reichte ihm den Brief, den er von Toda, der verwitweten Königin von Navarra, der wirklichen Macht hinter dem Thron ihres Sohnes, erhalten hatte.

»Eine äußerst ungewöhnlich Bitte«, erwiderte Da'ud vorsichtig.

»Wahrlich, vor allem von diesem furchteinflößenden alten Schlachtroß. Doch ist es auch eine unverhoffte Möglichkeit, meinen Einfluß im Norden zu stärken. Das petit mal«, murmelte er, als er sich mit gekreuzten Beinen auf den goldenen Kissen niederließ, faltete die Hände zufrieden im Schoß und richtete einen durchdringenden Blick auf seinen gelehrten jüdischen Arzt.

»Wie bei jeder anderen Krankheit hängt viel von der Schwere des Falles und vom allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten ab. Es gibt gewisse Heilmittel, aber ihre Wirkung ist von einem Menschen zum anderen unterschiedlich. Ehe ich Sancho nicht persönlich gesehen habe, kann ich mir keine Meinung bilden.«

»Seine Fettleibigkeit ist allgemein bekannt. Wie ich höre, ist er der Spott des gesamten nordspanischen Adels.«

»Das kann eine zusätzliche Komplikation seiner Krankheit bedeuten und die Behandlung in die Länge ziehen.«

»Mir gefällt der Gedanke nicht, daß Ihr auf unbestimmte Zeit vom Hof von Córdoba abwesend seid. Eure Treue und Eure guten Ratschläge sind für meinen Seelenfrieden unverzichtbar geworden.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, daß Toda damit einverstanden wäre, Sancho längere Zeit in ›Feindeshand‹ zu lassen, wenn sie es überhaupt erlaubt.«

»Ihr müßt sie von unserer Vertrauenswürdigkeit überzeugen.«

»Ich bin nicht sicher, daß Worte allein ausreichen werden. Wir wollen einen Augenblick über diese nie vorher dagewesene Situation nachdenken. Allein für sich genommen, reicht das petit mal nicht aus, um eine Frau vom Schlage Königin Todas zu bewegen, ihren Erzfeind um Hilfe zu bitten. Letztendlich steckt hinter ihrem Wunsch nach Sanchos Heilung der ehrgeizige Plan, er möge dann wieder in der Lage sein, Leon zu regieren. Doch um ihn zurück auf den Thron zu setzen, braucht sie eine Streitmacht, die ihr in Navarra völlig fehlt. Solltet Ihr Euch bereit erklären, Ihr in gewisser Weise militärisch beizustehen, könntet Ihr sicher sein, daß Leon völlig von Euch abhängig ist, sobald Sancho den Thron wieder besteigt. Wenn ich Eure Erlaubnis hätte, anklingen zu lassen, daß derartige Hilfe geleistet werden könnte, dann könnte ich sie vielleicht davon überzeugen, daß Sancho mit mir nach Córdoba kommen darf.«

»Ihr argumentiert gut, wie immer, aber Ihr rückt die Sache in ein völlig anderes Licht. Wenn es zusätzlich um militärische Hilfeleistung geht, so muß ich meine ›Verbündete‹ persönlich treffen und die Bedingungen einer solchen Zusammenarbeit in allen Einzelheiten mit ihr besprechen. Wichtiger noch: als die wahre Macht hinter dem jungen Sancho, dem zukünftigen König von Leon, muß mir Toda deutlich zeigen, daß sie sich mir unterwirft.«

»Sie ist eine sehr stolze und schwierige Frau.«

»Ich verlasse mich auf Eure Überredungskünste. Überzeugt sie davon, ihren kranken Enkel an unseren Hof zu begleiten.«

12

Obwohl das Wetter in den ersten Frühlingsmonaten des Jahres 958 recht mild war, erhob sich Da'ud steif und fröstelnd von dem harten Lager, auf dem er die Nacht verbracht hatte. Die Feuchtigkeit, die der rauhe graue Stein der Burg von Pamplona aufgesogen hatte, war ihm bis in die Knochen gedrungen, eine Feuchtigkeit, die im sanften Klima Córdobas völlig unbekannt war. Da man ihm nichts als einen Krug kalten Wassers gebracht hatte, wusch er sich nur flüchtig, legte dann sein schlichtes Gewand und das schwere, mit Juwelen besetzte Goldmedaillon an, das er auf Abd ar-Rahmans ausdrücklichen Wunsch bei solchen Gelegenheiten trug – »um meine christlichen Feinde mit dem Reichtum und der Macht des Kalifen zu beeindrucken, dessen Gesandter Ihr seid.«

Immer noch fröstelnd, betrat Da'ud den unwirtlichen großen Saal der Festung, dessen einzige Zierde ein einfaches Holzkreuz war, das über dem leeren Kamin an der Wand hing. Jemand schob ihm ein mageres Frühstück, bestehend aus dunklem Brot und Ziegenmilch, hin, und man bedeutete ihm grob, er solle noch warten. Während die Zeit verflog, verspürte Da'ud, wie sein Zorn wuchs. Er war es gewohnt, mit größerer Höflichkeit behandelt zu werden. Gerade überlegte er, ob er nicht in der kühlen Morgensonne einen Spaziergang um die Wälle machen sollte, als er auf der Wendeltreppe, die zum Saal führte, schwere Schritte vernahm. Einen Augenblick später kam Toda auf ihn zugeeilt.

»Endlich lernen wir uns kennen, Meister Da'ud«, meinte sie und musterte ihn unverhohlen, während sie ihren Umhang in dem massiven Silbergürtel zurechtzog. »Ihr seid das also, der damals von Sanchos Halbbruder, dem verstorbenen und viel beweinten Ordoño III. einen solch hohen Tribut erpreßt habt.«

»Sehr wohl, Madam, aber ich habe ihm seine Festungen gelassen.«

»Jämmerliche Entschädigung«, knurrte Toda. Nachdem sie einen Krug Bier heruntergestürzt hatte, den ihr ein übellauniger Diener gereicht hatte, kam sie zum Thema, ohne die höflichen Eingangsfloskeln zu beachten, die im arabischen Handel üblich waren. »Wenn Ihr ein ebenso geschickter Arzt wie Verhandlungsführer seid, dann sollte mein Enkelsohn Sancho in kürzester Zeit geheilt sein. Aber ich warne Euch, ich habe bereits jeden Arzt konsultiert, der in der gesamten Christenheit diesen Namen verdient. Wenn Ihr also keine Behandlung zu bieten habt, die diese Herren nicht kennen, dann sagt dies besser gleich und geht zu Euren Mauren nach Córdoba zurück.«

Obwohl Da'ud dergleichen von der furchteinflößenden Toda erwartete hatte, war er doch schockiert über ihr unverhohlen rüdes Verhalten. Wie immer hatte er sich jedoch meisterlich in der Gewalt und antwortete mit ruhigen und gemessenen Worten. »Ehe ich Seine Majestät nicht gesehen habe, bin ich nicht in der Lage, zu beurteilen, welche Behandlung hier nötig wäre.«

»Ich habe Euren Herrscher bereits in Kenntnis gesetzt, daß Sancho am petit mal leidet.«

»Das ist nicht ausreichend, Madam. Ein Patient ist eine komplexe Person, nicht nur das Opfer einer einzelnen Krankheit.«

»Soll ich die Schüsseln für einen Aderlaß vorbereiten lassen?«

»Das wird nicht nötig sein.«

»Ihr wollt ihn nicht zur Ader lassen? All die anderen haben das getan.«

»Aber es ist keinem von ihnen gelungen, ihn zu heilen«, konterte Da'ud trocken. Allmählich verlor er die Geduld mit der überheblichen Königin.

»Sancho wird in Kürze hier eintreffen. Er hat die Angewohnheit, lange zu schlafen.«

»Ist seine Mutter auch hier in der Burg?«

»Teresa? Nein, sie ist in den Bergen, wo sie hingehört, überwacht die Viehherden der Familie. Zu mehr taugt sie nicht, dieses hirnlose, rückgratlose Kind. Keine Courage für das Schlachtfeld, kein Händchen für Intrigen.«

»Aber gesund?«

»Wie ein Schlachtroß, wie ihre Mutter.«

»Und Euer Sohn, König Garcia von Navarra?«

»Die gleiche zähe Rasse. Er ist auf der Jagd und kommt erst in einigen Tagen zurück.«

»Also müßt Ihr hier sozusagen die Festung halten?«

»Daran ist nichts Ungewöhnliches. Das mache ich schon von Jugend an, und mit großem Erfolg. Juan!« brüllte sie plötzlich los. »Geh und wecke Seine Majestät König Sancho und sage ihm, er soll sich unverzüglich zu uns gesellen. Und dann bestelle dem Verpflegungsmeister, daß er ihm hier auftragen soll.«

Als Sancho in den Saal geschlurft kam, rieb er sich noch den Schlaf aus den Augen, kleinen, tief eingesunkenen Schlitzen in den dicken, unnatürlich geröteten Wangen. Er beachtete Da'ud gar nicht und steuerte geradewegs auf den Tisch zu, auf dem man ungeheure Mengen Essen aufgetürmt hatte. Er begann mit seiner Leibspeise, einer riesigen, goldbraunen Wildpastete, ging dann über zu Hühnerschlegeln, Eiern und Leberpastetchen, gefolgt von viel Brot und Käse und einem halben Dutzend süßer Leckereien, die vor Öl und Honig nur so trieften. Mit einem Krug Bier in der stämmigen Faust kam er langsam zu dem Arzt herübergeschlendert, ein dümmliches sattes Grinsen auf dem Mondgesicht. Da'ud verbeugte sich kurz vor seiner Majestät König Sancho, dem abgesetzten Herrscher von Leon, doch seine Ehrbezeugung wurde nur mit mürrischer Feindseligkeit beantwortet. Ungeduldig, jedoch keineswegs verstört, wurde sich Da'ud darüber klar, daß er die Situation in die Hand nehmen mußte.

»Sire«, begann er mit strenger Förmlichkeit, »ich bin auf die Bitte Eurer Großmutter ins Königreich von Navarra gereist. Es ist ihr Wunsch, daß ich Euch in jeder möglichen Weise dabei unterstütze, Eure Gesundheit wiederzuerlangen. Ich möchte Euch respektvoll ersuchen, meine gegenwärtige Rolle von der Funktion zu trennen, die ich während der Verhandlungen zwischen meinem Herrscher und Eurem Halbbruder, dem verstorbenen Ordoño III. im Auftrage meines Kalifen erfüllte. Heute stelle ich mich Euch untertänig in meiner Eigenschaft als Hofarzt von Abd ar-Rahman III. vor, und meine einzige Sorge ist, Euch von dem Gebrechen zu heilen, an dem Ihr leidet.«

»Und was werdet Ihr oder der Kalif oder beide von mir im Gegenzug erpressen?«

»Wir wollen einen Schritt nach dem anderen machen, Sire. Ehe ich nicht eine Heilung bewirkt habe, kann von Entlohnung keine Rede sein. Falls ich Erfolg habe, werden wir die Situation von neuem bedenken, im Lichte der dann herrschenden Umstände.«

Von Da'uds höfischen, geschliffenen Manieren ein wenig eingeschüchtert, nickte Toda stumm.

Da'ud wandte sich direkt an sie und sagte: »Madam, ich muß Euch nun bitten, mich mit Seiner Majestät allein zu lassen.«

»Allein?«

»Ja, Madam. Ich ziehe es vor, mit all meinen Patienten in strengster Vertraulichkeit zu reden.«

»Was für eine unglaubliche Unverschämtheit! Ich kenne den Jungen besser als er sich selbst.«

»Vielleicht, aber ich muß trotzdem darauf bestehen.«

»Eure Arroganz ist unerträglich, junger Mann! Ich weigere mich, meinen Enkel allein und ungeschützt hier bei Euch zu lassen. Was ist, wenn ihm etwas zustößt?«

Bei diesen Worten richtete sich Da'ud steif auf und starrte ihr mit eisiger Würde ins Gesicht. »Madam, entweder Ihr setzt Euer Vertrauen in mich oder nicht. Da das letztere der Fall zu sein scheint, laßt Ihr mir keine andere Wahl, als unverzüglich nach Córdoba zurückzukehren. Würdet Ihr gütigst Eure Stallmeister anweisen, mein Pferd zu satteln.«

»Das wird nicht nötig sein«, blaffte Toda. Sie fuhr abrupt herum und verließ den Saal ohne ein weiteres Wort.

»Nun denn, Eure Majestät«, sagte Da'ud und wandte sich freundlich seinem königlichen Patienten zu. »Wollen wir miteinander in der herrlichen Frühlingssonne einen Spaziergang über die Befestigungswälle machen?«

»Ich laufe nicht gern.«

»Was macht Ihr denn gern?«

»Essen, schlafen und das Geld in meinen Truhen zählen.«

»Wie alt seid Ihr?«

»Siebzehn.«

»Abgesehen vom petit mal, leidet Ihr noch an anderen Gebrechen?«

»Nein.«

»Magenschmerzen, ab und zu ein wenig Wind?«

»Ab und zu.«

»Verstopfung vielleicht?«

»Gelegentlich.«

»Wie oft befällt Euch das petit mal?«

»Ich habe nicht besonders darauf geachtet.«

»Dauern die Anfälle lange?«

»Fragt meine Großmutter.«

»Habt Ihr schon bei einer Frau gelegen?«

»Nein.«

»Verspürt Ihr das Verlangen danach?«

»Nicht besonders.«

»Ich verstehe. Zweifellos haben Euch die anderen Ärzte, die Ihr konsultiert habt, erklärt, daß viele Krankheiten, unter anderem die Eure, auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte zurückzuführen sind und daß es die Aufgabe des Arztes ist, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Das petit mal tritt auf, wenn die Körpersäfte kalt, dickflüssig und feucht sind. Also kann ein warmes Klima, zusammen mit leicht gewürzten und verdünnenden Speisen und mit Medikamenten, die eine wärmende und trocknende Wirkung haben, sich günstig auf Kranke auswirken, die an diesem Gebrechen leiden.«

»Und welche Speisen sind trocken und warm?«

»Nüsse und Feigen und Mandeln und Ingwer sowie eine große Vielzahl von Kräutern und Gemüsen.«

»Ich verabscheue Gemüse.«

»Ihr werdet es nicht mehr verabscheuen, wenn der Leibkoch des Kalifen es für Euch zubereitet hat.«

»Soll denn der Leibkoch des Kalifen nach Pamplona gerufen werden?«

»Nein, Sire, vielmehr werdet Ihr mich nach Córdoba begleiten.«

»Bei Jesus und allen zwölf Aposteln, meine Großmutter hat recht gehabt! Ihr seid wirklich der unverfrorenste und schamloseste Arzt, den wir je zu befragen das Mißgeschick hatten. Wie könnt Ihr die Stirn besitzen, auch nur den Vorschlag zu machen, daß ich mich in Abd ar-Rahmans Hände ausliefere?«

»Sire, erlaubt, daß ich mich erkläre. Ihr seid noch ein junger Mann, und Ihr habt hervorragende Aussichten, völlig kuriert zu werden, wenn Euch jetzt die richtige Behandlung zuteil wird. Die Kur, die ich Euch vorschlagen möchte, sieht zunächst und als Wichtigstes einen völligen Klimawechsel vor, und zweitens einen festgelegten Tagesplan, den ich persönlich ausarbeiten werde. Wenn diese beiden Bedingungen erfüllt sind, wird sich Euer Gesundheitszustand allmählich normalisieren. Córdoba erfreut sich eines idealen Klimas für Euer Leiden, und dort, in der hervorragenden Apotheke des Kalifen, sind die Mittel, die ich für Eure Behandlung benötige, jederzeit verfügbar.«

»Aber Ihr habt unerwähnt gelassen, daß Eure Behandlung mich zu einer königlichen Geisel am Hof meines Todfeindes machen würde.«

»Ganz im Gegenteil, Sire. Heute sind Eure Todfeinde Ordoño IV. und sein kastilianischer Verbündeter, der Rebell Fernan Gonzales. Sie, nicht Abd ar-Rahman, haben Euren Thron unrechtmäßig an sich gerissen. Als König werdet Ihr schon bald lernen, daß die Feinde von gestern die Freunde von morgen sein können, wenn man mit ihnen gemeinsame Interessen hat, wie vorläufig diese auch sein mögen. Der Kalif ist außerordentlich daran interessiert, Euch wieder auf den Thron zu bringen. Als weiser Regent müßt Ihr diese Situation zu Eurem eigenen Vorteil ausnutzen.«

»Und eine Marionette in den Händen meines muselmanischen Beschützers werden?«

»Ihr überseht eine grundlegende Tatsache, Sire. Obwohl der Kalif von Eurem Königreich Tribut fordert, hat er doch nie die direkte Herrschaft über Eure Gebiete verlangt. Noch hat er versucht, Eure Untertanen zum muselmanischen Glauben zu bekehren oder Eure Ländereien mit arabischen Siedlern oder Berbern zu kolonisieren. Nach der gegenwärtigen Sachlage ist er wohl der einzige Herrscher, der Eurer Sache militärischen Beistand leisten könnte. Beugt Euch dem Wind, Sire. Werdet gesund und nehmt die Hilfe des Kalifen heute an. Morgen, wenn Ihr König seid, steht es Euch frei, zu handeln, wie Ihr es für angemessen haltet. Die Umstände ändern sich, Fürsten leben und Kalifen sterben. Ergreift Eure Chance und wartet die Ereignisse ab.

Jetzt geht und beratet Euch mit Eurer Großmutter und laßt sie wissen, daß sie Euch gerne nach Córdoba begleiten kann. Mehr noch: ihre Gegenwart dort würde uns in die Lage versetzen, den Feldzug gegen den Usurpator mit größerer Leichtigkeit zu planen. Habt die Freundlichkeit, mir Eure Entscheidung bis heute abend mitzuteilen. Wenn mein Vorschlag Eure Zustimmung findet, brechen wir nach Córdoba auf, sobald Ihr bereit seid. Wenn nicht, dann mache ich mich morgen früh im Morgengrauen wieder auf den Weg nach al-Andalus. Inzwischen wäre ich Euch äußerst verbunden, wenn Ihr einen Eurer Stallmeister anweisen könntet, mein Pferd zu satteln. Ich möchte durch Eure herrlichen Buchenwälder reiten und in dem wunderbar getupften Sonnenlicht Spazierengehen, das durch die zarten, flüsternden Blätter dringt.«

»Ihr laßt einen derart alltäglichen Ritt recht poetisch erscheinen.«

»Die Poesie ist eine der großen Gnaden des zivilisierten Lebens.«

»Und warum wünscht Ihr zu gehen, da Ihr doch reiten könntet?«

»Tägliche Bewegung ist für mein Wohlbefinden unerläßlich.«

»Ich fürchte, Ihr werdet ein wenig warten müssen, bis der Verpflegungsmeister eine Wegzehrung für Euch bereitet hat.«

»Das wird nicht nötig sein. Eine Mahlzeit am Tag reicht mir aus.«

»Kein Wunder, daß Ihr so mager seid«, spottete Sancho.

»Mager, aber gesund, dem Herrn sei Dank.«

Während er den Flußlauf des Agra entlangritt, der inzwischen durch das Schmelzwasser, das von den hoch aufragenden Pyrenäen zu Tal schoß, zu einem tosenden Strudel geworden war, stellte sich Da'ud die Unterredung zwischen Sancho und dessen ehrfurchtgebietender Großmutter vor: Toda, wie sie tobte und schrie, wie sie ihre Wut in die Welt hinausbrüllte, daß sie von ihrem Erzfeind abhängig war, wie sie sich mit ihren schwächlichen Höflingen beriet, nur um deren Rat zu verwerfen, und wie sie dann in stumme Resignation verfiel beim Anblick von Sancho, der sich ein gigantisches Mittagsmahl einverleibte und danach in Schlummer sank. So wie er die Dinge sah, würden die schmerzlichen Erwägungen des Tages eines von zwei möglichen Ergebnissen zeitigen: entweder würde Toda, die hinter all ihrer aufbrausenden Art doch eine Pragmatikerin war, sich mit seinem Vorschlag einverstanden erklären; oder Sancho, vom glühenden Ehrgeiz getrieben, das Unrecht zu sühnen, das man seiner jämmerlichen Person angetan hatte, würde seinen königlichen Willen durchsetzen und den Vorschlag aus eigenen Stücken annehmen. Wie auch immer, der erfolgreiche Ausgang seiner Mission stand außer Frage.

Seltsam, überlegte er, als er vom Pferd stieg und mit raschen Schritten durch den Wald ging, der in zartem Frühlingsgrün prangte, seltsam, wie sein jugendlicher Ehrgeiz, sich ganz dem Studium der Medizin hinzugeben, in völlig andere Bahnen gelenkt worden war, wo er sein Wissen und seine Person zu politischen Zwecken einsetzte. Wie weit er sich doch von dem Einsiedler entfernt hatte, der damals auf dem Totenbett gelegen hatte, von dem alten Wächter in der Bibliothek mit den schmerzenden Gelenken und von den anderen unbekannten Patienten, die er in einer inzwischen weit zurückliegenden Vergangenheit behandelt hatte. Und doch war er nicht unzufrieden mit dem Lauf seines Lebens. Man hatte ihn mit Ehrungen und Wohlstand überhäuft, und wenn er das Vertrauen des Kalifen nicht mißbrauchte, war seine Stellung bei Hofe gesichert, ungeachtet des Mißtrauens, mit dem die Imams diese enge Verbindung zwischen ihm, dem Juden und dhimmi, und seinem muselmanischen Herrn beäugten.

Nur ein Bereich seines Lebens war noch immer dunkel umwölkt, der einzige Bereich, in dem die Eigenschaften, die ihm Größe gebracht hatten – sein Scharfblick und seine Gelehrsamkeit, seine Weisheit, sein Verständnis und seine bemerkenswerte Überredungsgabe – völlig versagt hatten. Acht Jahre waren seit seiner Hochzeit mit Sari vergangen, und doch entzog sie sich ihm noch immer. Zunächst hatte ihre Weigerung, ihn in ihr Bett zu lassen, sein Verlangen nach ihr noch verstärkt, seine Entschlossenheit, das Unerreichbare zu erreichen, noch gesteigert, hatte ihn angestachelt, alle möglichen Wege zu beschreiten, um ihre körperliche Abneigung gegen ihn zu überwinden. Aber all seine Bemühungen waren ohne Erfolg geblieben, und mit wachsender Verzweiflung über sein Versagen nahm auch seine Hoffnung ab, daß er je die leidenschaftliche Beziehung zu ihr würde aufbauen können, nach der er sich so sehnte. Und was war mit einem Erben für die edle Familientradition, die er begründete? Sollte der Reichtum an Wissen, an Erfahrung, an Ehre und Auszeichnungen, den er sich nach und nach zusammentrug, mit ihm begraben werden? Die Zeit war gekommen, an die Wahrung dieser Errungenschaften zu denken. Sobald er mit seinem königlichen Schutzbefohlenen nach Córdoba zurückgekehrt war, würde er Sari klar und deutlich an ihre Pflichten erinnern …

»Wir müssen sie beeindrucken und demütigen.«

»Vielmehr beeindrucken und ehren.«

»Dieses alte Schlachtroß und ihren lächerlichen Möchtegern-König ehren?«

»Ja, und Ihr müßt Euch großmütig zeigen, o Herrscher der Gläubigen. Toda ist eine mächtige und zu allem entschlossene Frau, in der Zukunft de facto die wahre Herrscherin von Leon und Kastilien, zusätzlich zu ihrem Einfluß auf Navarra. Aber sie besitzt auch einen klaren und ungeheuer praktischen Verstand. Ihr gewinnt nichts, wenn Ihr Euch ihren Zorn zuzieht und sie zu Rachegelüsten anspornt. Es ist beschämend genug für sie, daß sie gezwungen ist, Euch um Hilfe zu bitten, es nutzt nichts, sie noch Staub fressen zu lassen. Ein königlicher Empfang in der Medina Azahara im herrlichsten Stil der Omaijaden, glänzender und zivilisierter als alles, was sie je erlebt hat, das beweist Eure Macht eindrucksvoller als alle Beleidigungen, die es darauf anlegen, sie zu demütigen. Eine Ehrengarde mit seidenen Bannern soll den Zug ihres Gefolges durch die luftigen Innenhöfe und zierlichen Portale des Alkazars bis zum großen Empfangsaal säumen, wo Ihr sie im Kreis all Eurer Wesire erwartet. Ihr werdet Euch mit Toda und ihrem Enkelsohn in den Gärten und zwischen den Brunnen ergehen, ihnen Wein und herrliche Köstlichkeiten anbieten. Und Geschenke sollen gemacht werden, wie es Tradition ist, Ehrengewänder und edle Vollblutpferde mit juwelenbesetztem Zaumzeug. Indem Ihr Toda mit fürstlicher Gnade und königlicher Großzügigkeit behandelt, werdet Ihr sie sowohl mit Dankbarkeit als auch mit Bewunderung erfüllen, und folglich wird sie eher bereit sein, in Eure Forderungen einzuwilligen.«

Abd ar-Rahman spielte mit seinem riesigen Smaragdring, drehte ihn hin und her, bis das Licht sich in allen Facetten widerspiegelte, während er Da'uds Worte überdachte.

»Aber Ihr zäumt das Pferd vom Schwanz auf, mein gelehrter Freund. Was mir Sorgen bereitet, ist die Kur. Alles hängt vom Heilerfolg ab. Ist er wirklich möglich?«

»Weitaus leichter, als Ihr oder sie denken. Bei jungen Leuten verschwindet das petit mal gewöhnlich in der Pubertät, wenn die Körpersäfte trockener werden. Sancho ist spät herangereift und hat noch nie bei einer Frau gelegen.«

»Wie ungewöhnlich!« murmelte Abd ar-Rahman, der sich keinen Prinzen vorstellen konnte, der mit siebzehn Jahren noch ›Jungfrau‹ war.

»Dies ist eine Situation, die ich zu ändern gedenke. Zusätzlich werde ich meinen königlichen Patienten allmählich an einen Tagesplan mit körperlicher Bewegung und einer geregelten Ernährung gewöhnen, der sowohl seine Epilepsie kurieren wie auch sein Gewicht verringern soll. Sobald sich eine sichtbare Verbesserung seines Zustandes zeigt, können die Verhandlungen über die Bedingungen Eurer Teilnahme an dem Feldzug zu seiner Wiedereinsetzung als König beginnen.«

»Ihr wollt diese Festungen, die Ihr damals auf mein Geheiß dem Ordoño überlassen mußtet, nicht wahr?«

»Ich halte sie immer noch für unverzichtbar, um die Ruhe an Eurer nördlichen Grenze zu wahren.«

»Was sonst könnten wir gewinnen, zusätzlich zu dem üblichen hohen Tribut?«

»Die Unterstützung von Navarra.«

»Aber Todas Streitmacht ist so gut wie ausgelöscht.«

»Sie ist groß genug, um in Kastilien ein Ablenkungsmanöver zu veranstalten und die Truppen von Fernan Gonzales zu beschäftigen, während der Hauptangriff auf Leon fortschreitet. Mit dieser Strategie ist der Erfolg des Feldzugs gesichert.«

»Aber wird sich Toda damit einverstanden erklären?«

»Ich glaube, dafür kann ich mich verbürgen, vorausgesetzt, sie und ihr Gefolge werden während ihres Aufenthaltes hier mit der ihnen gebührenden Ehre und mit Respekt behandelt.«

»Das sagtet Ihr bereits«, bemerkte der Kalif spitz. »Aber bedenkt, wie absurd Euer Rat ist. Angenommen, ich erkläre mich bereit, diesen Empfang zu Ehren der christlichen Fürsten zu geben. Wie soll ich meine hochnäsigen muslimischen Höflinge hindern, sich über den fetten, impotenten und epileptischen Prinzen lustig zu machen, dem sie wieder auf seinen Thron verhelfen sollen? Angenommen, er purzelt auf dem Weg durch den Alkazar vom Pferd?«

»Wir sorgen dafür, daß er in einer mit Vorhängen verhüllten Sänfte getragen wird.«

»Und was ist, wenn er sich während des Festes ohnmächtig frißt?«

Ein kleines Leuchten blitzte in Da'uds stillen Augen auf, ehe er mit vollem Ernst fortfuhr: »Eine der möglichen Ehrungen, die der mächtige Herrscher der Gläubigen dem jungen Sancho zukommen lassen könnte, wäre vielleicht ein Besuch in Eurem Harem? Wenn wir ihm zuvor ein mildes Aphrodisiakum verabreichen, können wir wohl mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, daß wir ihn während der Festlichkeiten nicht allzu lange zu Gesicht bekommen.«

»Ihr seid unschlagbar, Abu Suleiman«, lächelte der Kalif, und die Belustigung über diesen Gedanken spielte ihm um die Mundwinkel. »Es ist höchste Zeit, daß all die wunderschönen Frauen, die sich in meinem Harem verzehren, eine Möglichkeit bekommen, ihre Talente unter Beweis zu stellen. Was für ein Vergnügen wird es ihnen bereiten, ihn mit ihren Künsten und Kunststücken zu reizen, ihn hierhin zu rollen und dorthin zu wälzen. Er wird nicht einmal merken, wie sie sich über ihn lustig machen! Und übrigens, da wir beim Thema sind, was ist mit diesen kraftvollen Liebestränken, von denen Ihr mir vor Jahren gesprochen habt? Obwohl ich inzwischen ein alter Mann bin, steht mir doch noch der Sinn nach den Freuden des Fleisches, aber ich möchte vor meiner liebreizenden Zahra nicht geschwächt erscheinen.«

»Es gibt ein Mittel, das nur einer Handvoll von Ärzten bekannt ist und dessen Wirkung an Wunder grenzen soll, aber ich selbst kann mich nicht dafür verbürgen. Ich lasse Euch gerne seine Zusammensetzung wissen, Ihr wendet es jedoch auf eigene Verantwortung an. Körperliche Vereinigung ist zwar in jedem Lebensalter zu empfehlen, doch ein allzu starkes anregendes Mittel birgt auch seine Gefahren.«

»Welche Gefahren können das schon sein? Daß ich mein sterbendes Haupt auf die herrlichen Brüste meiner Zahra bette? Ich kann mir keinen süßeren Tod vorstellen.«

»Wie Ihr wünscht. Die Formel verlangt je einen Liter Karottenöl und Rettichöl und einen Viertelliter Senföl. In diese Mischung gebt einen halben Liter lebendiger saffranfarbener Ameisen. Alles wird nun etwa fünf Tage der Sonne ausgesetzt, und das Öl wird zwei oder drei Stunden vor dem Geschlechtsakt in den Penis einmassiert. Darauf wird das Glied gewaschen, und es wird dann selbst nach dem Samenerguß noch erigiert bleiben.«

»Ich danke Euch, mein treuer Freund, ich danke Euch. Ich lasse Mustapha dieses Mittel für mich zubereiten. In all den Jahren habt Ihr mich nie enttäuscht.«

»Ich habe versucht, Euch nach Kräften zu dienen.«

»Möge Gott seinen Segen auf Euch und Euer Haus herabregnen lassen. Noch kein Erbe, was?«

Da'ud schüttelte den Kopf.

»Es ist Zeit, mein gelehrter Freund, höchste Zeit. Denkt darüber nach.«

»Es ist meine vornehmste Sorge.«

»Gut, gut. Dann geht zu ihr, und möge Eure Vereinigung mit Fruchtbarkeit gesegnet sein.«

»Danke, o Herrscher der Gläubigen«, murmelte Da'ud. Es zerriß ihm beinahe das Herz, während er sich ehrfürchtig verneigte und sich dann entfernte.

13

Ya'kub ibn Yatom begleitete seinen Sohn nicht zu dem Empfang, den man in der Medina Azahara zu Ehren von Sancho dem Fetten und seiner Großmutter, der verwitweten Königin Toda von Navarra, gab. Obwohl er wußte, daß dies ein persönlicher Triumph Da'uds war, ein glänzender Beweis seines außerordentlichen Geschicks als Diplomat und Arzt, fühlte er sich doch solchen Festlichkeiten nicht mehr gewachsen. Er sei in letzter Zeit ein wenig müde, erklärte er. Er würde sich in der Menschenmenge eingeengt fühlen, vom Lärm belästigt und von der ständigen Bewegung ringsum verwirrt.

»Hast du vor, lange dort zu bleiben?« fragte er seinen Sohn mit leicht unsicherer Stimme wie nebenbei.

Da'ud rückte sorgfältig die zarte Silberborte zurecht, mit der die Ärmel seines schlichten Gewandes eingefaßt waren, während er antwortete. »Nicht länger, als wir je bei solchen Anlässen geblieben sind.«

Ya'kub schien erleichtert.

Seine eiserne Regel der würdigen Diskretion und des bescheidenen Auftretens in den Korridoren der Macht hatte sich also auch in das Bewußtsein seines Sohnes und Erben unauslöschlich eingegraben. Es war vielleicht das kostbarste Erbe, das er ihm mitgeben konnte.

Aber dies war nicht der einzige Grund, warum Da'uds Erscheinen im Palast von kurzer Dauer sein würde. Da Sanchos Vertrauen lebenswichtig für ihn war, mußte er sich um jeden Preis hüten, in die zweifelhafte Rolle eines Vermittlers gedrängt zu werden, falls es jemand wagen sollte, es dem jungen Mann gegenüber an Respekt mangeln zu lassen. In einem solchen Fall würde unweigerlich er, der Bote, der Verlierer sein, da beide Parteien nun ihn bezichtigen würden, der anderen zu sehr verpflichtet zu sein. Außerdem, so überlegte er kühl, sollte dieses Fest als Triumph des Abd ar-Rahman erscheinen, und nicht als sein eigener. Nichts sollte ablenken von dieser großartigen Demonstration der Vorherrschaft des Kalifats von Córdoba über die gesamte iberische Halbinsel, der absoluten Abhängigkeit der christlichen Fürsten von seinem Herrscher. Und was Sanchos Einführung in den Harem des Palastes betraf, diese Ehre konnte ihm ebenfalls nur der Kalif persönlich erweisen …

Erst am nächsten Tag, im Abendgottesdienst des Sabbats, erlaubte sich Da'ud, seinen Erfolg offen zu genießen. Er hatte sich damit einverstanden erklärt, daß zu dem traditionellen Segenswunsch für den Kalifen und sein Haus auch sein Name hinzugefügt würde, und hatte erlaubt, daß ein eigens zu seinen Ehren komponiertes Lied gesungen würde. Den Juden von Córdoba sicherten Da'uds große Errungenschaften und die hohe Stellung, die man ihm deswegen bei Hof zugewiesen hatte, ein ruhiges Leben unter der Herrschaft des Kalifen. Ein Loblied war ein Lied zum Lobe Gottes, der ihnen diesen Schutzschild gegen mögliche Gefahren geschenkt hatte. Gegen Ende des Gottesdienstes versammelten sich die ehrwürdigen Mitglieder der Gemeinde um Da'ud, ließen Segenswünsche auf ihn und seine Lieben herabregnen. Die einfacheren Leute waren es zufrieden, sein Gewand zu berühren. Als Vorsteher der Gemeinde hatte sich Ya'kub die Mühe gemacht, dem Gottesdienst beizuwohnen, aber als die beiden dunkel gewandeten Gestalten zusammen nach Hause gingen, wie sie das über Jahre hinweg an jedem anderen Sabbatabend auch gemacht hatten, spürte Da'ud eine Schwäche in den Schritten seines Vaters.

»Was ist dir, Vater?«

»Ich bin in letzter Zeit ungeheuer müde.«

»Ich will dich gleich untersuchen, sobald wir zu Hause sind.«

Aber Ya'kub legte seinem Sohn, Einhalt gebietend, die Hand auf den Arm.

»Nicht heute abend. Deine Mutter und Sari haben sich große Mühe gegeben und ein Festmahl zubereitet, um deinen Triumph zu feiern. Die ganze Familie wird versammelt sein, wenn wir nach Hause kommen, auch deine Schwestern und ihre Ehemänner und alle unsere Enkelkinder. Laß uns diesen Abend nicht mit düsteren Gedanken überschatten. Morgen ist noch Zeit genug, mich gründlich zu untersuchen.«

Vater und Sohn, Meister in der Kunst der Verstellung, nahmen mit aller gebotenen Freude an dem Familientreffen teil. Erst gegen Ende des köstlichen, wunderbar angerichteten Mahles zeigte sich die Müdigkeit auf Ya'kubs eingefallenem, blassen Gesicht. Ohne ein Wort schlich er sich aus dem Zimmer, so leise und diskret, daß man sein Verschwinden kaum bemerkte, daß die Fröhlichkeit der Familie nicht gestört wurde. Nur Da'ud begriff es – und zitterte innerlich. Noch nie hatte er sich so sehr danach gesehnt, daß seine Nichten und Neffen endlich zu quengeln und zu streiten begannen, so daß seine Schwestern unter vielen Bekundungen des Bedauerns aufstehen und sich verabschieden würden. Endlich machten sie sich auf den Weg. Als man ihnen sagte, ihr Vater ruhe sich bereits von den Anstrengungen des Tages aus, baten sie Da'ud, ihm ihre Küsse zu überbringen, und verließen mit ihren Sprößlingen das Haus. Kaum war der letzte Besuch gegangen, da eilte Da'ud ans Bett seines Vaters. Liebevoll nahm er Ya'kubs Hand in die seine, fühlte ihm unmerklich den Puls, strich ihm dann zart über Nacken und Stirn, um die Temperatur zu messen.

»Wie lange leidest du schon an dieser Müdigkeit?«

»Längere Zeit.«

»Hast du noch andere ungewöhnliche Symptome bemerkt?«

»Überhaupt keine. Ich hätte dir sonst davon berichtet.«

Während sie sprachen, ließ Da'ud sanft die Hände über den Körper seines Vaters gleiten. Er schien dünner zu sein, als er ihn in Erinnerung hatte, obwohl das natürlich auch an seinem fortgeschrittenen Alter liegen konnte. Aber dann, als seine empfindlichen Finger Ya'kubs Knie berührten, bemerkte er am linken eine unnatürliche Beule. Als er das Gewand seines Vaters hob, sah er an der Innenseite des Knies eine Schwellung von der Größe einer kleinen Orange. Er drückte fester und merkte, daß die Beule hart war.

»Wie lange ist dein Knie schon so geschwollen?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe es erst vor wenigen Wochen bemerkt, als ich mich an einem Ballen Seide gestoßen habe.«

»Tut es weh?«

»Überhaupt nicht.«

»Gut«, meinte Da'ud leichthin. »Ich sage Mutter, daß sie dir mit Gerstengrütze und Milchsuppe und ihrem fein gewürzten Huhn wieder etwas zu Kräften verhelfen soll, und dann versuchen wir, die Schwellung abzubauen, indem wir getrocknete Feigen und Knochenmark in deine Mahlzeiten mischen.«

»Das ist ungeheuer viel zu essen für einen so dünnen Menschen wie mich«, lächelte Ya'kub. »Mein Appetit ist nie übermäßig gewesen, und er hat sich auch mit zunehmendem Alter nicht vergrößert.«

»Iß stets kleine Portionen, den ganzen Tag über, du wirst es nicht einmal bemerken. Ruh dich jetzt aus. Ich komme morgen früh wieder und sehe nach dir.«

»Nach der Synagoge«, mahnte ihn Ya'kub. »Du mußt die Familientradition aufrechterhalten. In meiner Abwesenheit ist es deine Pflicht, meinen Platz einzunehmen.«

»Wie du wünschst, Vater«, erwiderte Da'ud, und es schnürte ihm den Hals zu, als er seinen Vater auf die Stirn küßte und sich zurückzog.

Seine Mutter erwartete ihn mit fragendem, ängstlichem Blick, als er auf den Innenhof trat. »Es ist schlimm, nicht wahr? Ich weiß es, ich kann es spüren«, sagte sie und rang verzweifelt die Hände.

»Es ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Ich werde Ibn Zuhr zu Rate ziehen, welche Behandlung am besten geeignet ist. Inzwischen gib ihm viel Huhn, Milchsuppe mit Zimt und Gerstengrütze, um ihn zu Kräften zu bekommen, dann Honig, getrocknete Feigen und Mark, um die Geschwulst aufzuweichen.«

»Geschwulst?« Das Wort hallte wie ein Todesurteil durch die reglose Nachtluft. »Wo?«

»Am Knie.«

»Er hat nichts davon gesagt.«

»Weil es nicht schmerzhaft war.«

»Was ist zu tun, mein Sohn. Was können wir nur tun?« flehte und stöhnte Sola, und ihre Augen standen voller Tränen, als Sari zu ihr trat und ihr tröstend den Arm um die Schulter legte.

»Alles Menschenmögliche. Dessen kannst du sicher sein. Du mußt jetzt deine Tränen trocknen. Er darf deine Angst nicht spüren. Dein Lächeln, deine warme und tröstliche Gegenwart sind ein grundwichtiges Element in seiner Behandlung. Ich verlasse mich darauf. Laß mich nicht im Stich.«

»Soll ich heute hier schlafen?« bot Sari an.

»Ich glaube nicht«, antwortete Da'ud anstelle seiner Mutter. »Er schwebt nicht in unmittelbarer Gefahr. Wir dürfen keine düstere Atmosphäre schaffen. Ich komme nach dem Morgengebet wieder. Gute Nacht, meine liebe Mutter, und verzweifle nicht. So Gott will, heilen wir ihn.«

Weder Da'ud noch Sari verspürten in jener Nacht das geringste Bedürfnis zu schlafen. Lange saßen sie draußen auf dem Innenhof und grübelten. Obwohl jeder wußte, was im Kopf des anderen vorging, hielt doch keiner die Zeit für gekommen, um darüber zu reden. Es war schon lange nach Mitternacht, als die beiden schließlich aufstanden, sich nach einer traurigen flüchtigen Umarmung trennten und jeder in sein Schlafzimmer ging.

Nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes stand Da'ud auf und verließ beim ersten Morgenschimmer leise das Haus. Wie er es während seiner Studentenzeit beinahe jeden Morgen gemacht hatte, eilte er mit schnellen Schritten durch die menschenleeren Straßen zum nördlichen Teil der Stadt, vorbei am Haupteingang des alten Palastbezirks, hinter dem die Familie Ibn Zuhr wohnte. Das faltige Gesicht des vertrauten alten Dieners leuchtete auf, als er die große Holztür öffnete, nachdem Da'ud laut und dringlich angeklopft hatte.

»Abu Sa'id wird entzückt sein, mit Euch im Garten zu frühstücken wie in alten Zeiten. Ihr kennt den Weg«, sagte der Diener und eilte auf krummen Beinen voraus, um seinem Herrn Da'uds Besuch anzukündigen.

»Welch ein großes Vergnügen, dich hier zu sehen!« rief Abu Sa'id Hatim ibn Zuhr aus, als er in den ummauerten Garten hinter seinem Haus trat, um den ehemaligen Schüler zu begrüßen. Er war ein großgewachsener Mann, und seine höfische Eleganz verlieh der Habichtnase, den grauen, lebhaften kleinen Augen sowie dem scharfen Kinn, das durch einen kurz gestutzten, ergrauenden Bart ein wenig gemildert wurde, einen aristokratischen Zug. Die beiden Männer umarmten einander herzlich und spazierten dann zusammen durch das üppige Grün zu den Steinbänken in der berühmten Frühstücksecke des Meisters, die in einer Nische inmitten einer herrlichen Masse violetter Bougainvillea lag. Auf dem Marmortisch waren bereits Früchte, Milch und Honig neben frisch gebackenem Pitabrot aufgedeckt. Abu Sa'id lud Da'ud mit einer Handbewegung ein, sich zu setzen, brach dann ein Pitabrot auf, füllte es mit Honig und reichte es seinem Gast.

»Ganz Córdoba redet von deinem großen diplomatischen Erfolg. Du hast die christlichen Fürsten in unsere Hauptstadt gebracht, wenn ich auch ganz besonders stolz darauf bin, daß es dir gelungen ist, ihnen Vertrauen zu deinen Fähigkeiten als Arzt einzuflößen. Das einzige, was mir im Laufe der Jahre Sorge bereitet hat, ist die Tatsache, daß du es zugelassen hast, daß deine Tätigkeit bei Hofe deine ärztliche Praxis beeinträchtigt hat.«

»Die Umstände haben mich dazu gezwungen, verehrter Meister. Meine Arbeit an der Übersetzung des Dioskurides verlangte meine ständige Gegenwart in der Bibliothek des Palastes, und der Kalif hat sich daran gewöhnt, sich meiner Dienste in einer ständig wachsenden Anzahl von Bereichen zu bedienen. Da ein treuer Untertan seinem Herrn keine Bitte ausschlägt, habe ich ihm in all diesen Dingen getreulich gedient.«

»Ich verstehe. Und wie geht es deiner Frau?« fuhr Ibn Zuhr fort und kehrte zu den Höflichkeitsfloskeln der arabischen Konversation zurück.

»Es geht ihr gut, danke der Nachfrage.«

»Ich bin sicher, sie wird dir schon bald einen Erben schenken, der dein Haus fortbestehen läßt, einen Sohn, der sich als ein ebenso glänzender Gelehrter herausstellen mag wie du selbst, so daß in deiner Familie so wie in der unseren die medizinische Tradition von einer Generation auf die andere weitergegeben wird.«

»Das ist meine innigste Hoffnung«, erwiderte Da'ud, und das Herz zog sich ihm vor Schmerz und Enttäuschung zusammen.

»Und deine Eltern? Ist das hohe Alter gnädig mit ihnen?«

»Meine Mutter ist bei guter Gesundheit, mein Vater nicht.«

»Bringt dich dies zu so früher Morgenstunde zu mir?«

»Leider ja, Meister.«

»Was gebricht Abu Da'ud?«

»Eine Geschwulst am linken Knie, übermäßige Müdigkeit, leichter Gewichtsverlust. Ich würde mich gerne mit Euch darüber besprechen, ob Ihr es für geraten haltet, die Geschwulst durch das Messer zu entfernen, und wenn ja, um Euren Rat bitten, welcher Chirurg diesen Eingriff am besten machen könnte.«

»Leidet dein Vater noch an anderen Krankheiten?«

»Nein.«

»Ich gehe also davon aus, daß sein allgemeiner Gesundheitszustand gut ist. Sonst hättest du einen chirurgischen Eingriff in seinem Alter nicht in Erwägung gezogen. Eine Geschwulst am Knie … Immer das gleiche Dilemma. Wenn sie lokal begrenzt ist, ist das Risiko, das man mit einem chirurgischen Eingriff eingeht, gerechtfertigt. Wenn sie sich jedoch schon auf andere Organe ausgedehnt und sie bereits in Mitleidenschaft gezogen hat, ist es müßig, den Patienten der zusätzlichen Qual der Chirurgie zu unterziehen, da seine Tage ohnehin gezählt sind. Im Falle deines Vaters liegt die Geschwulst nicht in der Nähe größerer Blutgefäße oder Organe. Wir müssen also keine Gefahr für solche lebenswichtigen Körperteile befürchten. Ist sie groß?«

»Etwa von der Größe einer kleinen Orange.«

»Verglichen mit anderen, die ich gesehen habe, ist das nicht übermäßig, spricht also für eine lokal begrenzte Geschwulst. Aber wir können nicht sicher sein, ehe wir die Stelle nicht genau untersucht haben. Die Wucherung kann sehr wohl im Inneren in beträchtliche Tiefen vorgedrungen sein, so daß die wirkliche Größe des Gewächses unseren Augen verborgen ist. Wir wollen jedoch diesen Aspekt im Augenblick beiseite lassen und uns mit der zweiten Frage beschäftigen. Ich habe kürzlich einen außergewöhnlichen Studenten namens Abu'l Kasim Khalaf al-Zahrawi unterrichtet, dessen Leistungen in der Chirurgie ans Wunderbare grenzen. Er ist mit einem ruhigen Auge und einer schnellen, geschickten Hand gesegnet, ist in allem, was er macht, außerordentlich vorsichtig, und trotz seiner Jugend würde ich keinen Augenblick zögern, ihn zu empfehlen. Die Geschicklichkeit des Chirurgen muß daher bei deinen Erwägungen keine Rolle spielen.«

»Was ist Eure Meinung?«

»Der allgemein gute Gesundheitszustand deines Vaters, die Lage der Geschwulst und die Fähigkeiten des Chirurgen scheinen mir anzuzeigen, daß die Vorteile einer Operation die Risiken übertreffen. Falls die Geschwulst sich noch nicht ausgebreitet hat, könnte eine sauber durchgeführte Entfernung des Gewebes das Leben deines Vaters verlängern und ihm erlauben, in Frieden zu sterben. Aber die letzte Entscheidung liegt bei dir. Wenn du dich für einen chirurgischen Eingriff entscheidest, so werde ich meine bescheidenen klinischen Einrichtungen gerne dem Abu'l Kasim zur Verfügung stellen. Es ist bedauerlich, daß Córdoba noch kein Hospital und keine Lehrstätte besitzt, die sich mit denen von Bagdad vergleichen läßt und die den hervorragenden Gelehrten auf dem Gebiet der Medizin angemessen wäre, die sich innerhalb seiner Stadtmauern aufhalten. Jetzt, da der Palast in der Medina Azahara beinahe fertiggestellt ist, könnten wir vielleicht den Gedanken vorbringen, daß man dergleichen in dem weitläufigen Gelände einrichten könnte, das den Palast umgeben soll. Die Münze und ein Teil der Palastverwaltung wurde ja bereits dorthin verlegt, wie mir zu Ohren gekommen ist.«

»Das stimmt, desgleichen auch die Werkstätten für Gold- und Elfenbeinarbeiten. Aber was ein Hospital betrifft, so bezweifle ich, daß Abd ar-Rahman in seinem Alter noch ein so ungeheures Unterfangen in Angriff nehmen würde. Sein Sohn andererseits würde derlei begrüßen. Jedes Vorhaben, das dazu angetan wäre, den Ruf Córdobas als Zentrum der Wissenschaft und Kultur zu mehren, beflügelt seine Phantasie. Ich werde die Angelegenheit bei der nächsten Gelegenheit vor ihm zur Sprache bringen. Wenn mein Vater geheilt würde, so bin ich sicher, daß er einen erheblichen finanziellen Beitrag zu einer solch ehrwürdigen Einrichtung leisten würde.«

»Wir reden später noch einmal darüber. Geh nun und kümmere dich um ihn. Du weißt, daß du mich jederzeit, Tag und Nacht, zu Hilfe rufen kannst.«

14

Am Vorabend der Operation an seinem Vater fand Da'ud keine Ruhe. Nach einem letzten Besuch bei den Eltern, um die Ängste seines Vaters zu beschwichtigen und Solas Widerstandsfähigkeit zu stärken, ging er rastlos stundenlang am Ufer des Guadalquivir entlang, konnte seine quälenden Selbstzweifel nicht unterdrücken. Niemand wußte besser als er, welche fatalen Dinge selbst den Händen der besten Chirurgen passieren konnten … Zweimal war sein eigenes Leben in Gefahr gewesen, aber er hatte selbst das Risiko dafür getragen. Noch nie hatte er das Leben eines anderen aufs Spiel gesetzt. All seine vielfältigen Sorgen erschienen ihm nun lächerlich im Vergleich zu der furchterregenden Verantwortung, die er auf sich genommen hatte, als er die Entscheidung über das Leben seines Vaters getroffen hatte. Es war, als spielte er Gott, ohne jedoch die Allmacht Gottes zu besitzen. War es wirklich Anmaßung, wie es der alte Einsiedler behauptet hatte? War es Anmaßung, auch nur den Versuch zu unternehmen, den natürlichen Verlauf eines Menschenlebens zu ändern? Oder war es die freie und vollständige Entfaltung aller Fähigkeiten und Kräfte, die ihm und einigen wenigen seiner Kollegen verliehen worden waren? Hätte Gott nicht gewünscht, daß die Menschen mit ihren Talenten wuchern, warum hatte er sie ihnen dann geschenkt? Es mußte rechtens sein, daß man Lösungen für menschliche Probleme suchte, Heilung für die Leiden der Menschheit, genauso wie es rechtens war, daß die Hungrigen Nahrung suchten. Und da die Altvorderen lehrten, daß ein jegliches in der Natur auch seinen Widerpart hatte, mußte man Krankheiten auch heilen können. Die Suche nach Heilmethoden mußte weitergehen. Tod? Der Tod war so sehr Teil der Natur wie das Leben, sein Widersacher, auf den Tod folgte der regelmäßige Kreislauf der Wiedergeburt. Neues Leben, nicht die Verlängerung des alten … Aber wie alle Gelehrten, die ihm vorangegangen waren, blieb er so unwissend über den Ursprung des Lebens wie er machtlos war, die Endgültigkeit des Todes zu besiegen. Gott war und blieb der letzte Richter, diese Wahrheit mußte er anerkennen und annehmen, ein stilles Gebet im Herzen. Neues Leben, sinnierte er, als er sich auf den Heimweg machte. Das war die einzige Antwort auf die Fragen der Menschheit, die einzige Art, der Unausweichlichkeit des Todes entgegenzuwirken.

Die Tür zur Straße quietschte in den Angeln, als er in der Stille der Nacht nach Hause zurückkehrte. Als sie den Klang seiner leisen, schnellen Schritte vernahm, kam Sari ihm über den Innenhof entgegen. Einen Augenblick lang saßen sie zusammen im bleichen Schimmer des Mondes.

»Sari«, hob Da'ud leise an, nahm ihre schmale Hand in die seine, »wie auch die Operation morgen ausgeht, es ist klar, daß die Tage meines Vaters gezählt sind. Wir können noch einige wenige Jahre für ihn gewinnen und ihm übermäßiges Leiden ersparen, aber das Geheimnis der Unsterblichkeit besitzen wir nicht. Der einzige Trost, auf den wir unsere Hoffnung setzen können, ist die Zeugung neuen Lebens, um das zu ersetzen, das seinen Abschluß gefunden hat. Es ist Zeit, Zeit für dich und mich, Sari, Zeit, daß wir den ewigen Kreislauf des Lebens erneuern.« Sari erhob ihren Blick zu ihm, blickte ihm in die Augen, nicht ängstlich oder trotzig, sondern mit großer Aufrichtigkeit und Zuneigung.

»Ich warte schon einige Zeit darauf, daß du mir davon sprechen würdest, aber seit Ya'kubs großer Mattigkeit noch mehr. Ich habe keine Rechtfertigung, dir das zu versagen, was dein natürliches Recht ist. Du hast mich gelehrt, daß ich meine eigene Wahl treffen kann, aber ich darf auf keinen Fall für dich entscheiden. Du mußt dir eine andere Frau nehmen, Da'ud, eine Frau, die dir viele Söhne und Töchter gebiert und dein Haus mit Leben und Jugend und Fröhlichkeit erfüllt. Ich werde in meinem Herzen keinen Groll gegen dich oder gegen die Mutter deiner Kinder hegen. Noch wird sich an meiner tiefen Zuneigung zu dir etwas ändern«, murmelte sie und legte ihm den Kopf an die Schulter. »Denn in meiner eigenen unvollkommenen Art habe ich dich lieben gelernt.«

»Aber ich wünsche mir doch dich als die Mutter meiner Kinder«, antwortete Da'ud ihr, und jede Silbe, die er sprach, kündete von seinem Schmerz.

»Ich weiß. Und von dem Augenblick an, als ich die Aufrichtigkeit deiner Liebe zu mir erkannte, habe ich mich so sehr bemüht …«, erklärte sie ihm, und die Tränen, die ihr über die Wangen strömten, vermengten sich mit den seinen. »Aber ich darf deinem Begehren nicht länger im Weg stehen. Du mußt dir eine Frau suchen und Erfüllung finden. Das muß die kostbaren Bande, die zwischen uns bestehen, nicht durchtrennen.«

Verwirrt und innerlich zerrissen, konnte Da'ud nicht antworten. Eine andere Frau zu nehmen, eine Frau, die er niemals so lieben könnte, wie er Sari geliebt hatte und immer noch liebte, das würde bedeuten, daß er sich sein Versagen eingestand, ihre panische Angst vor der körperlichen Liebe zu überwinden – trotz der großen Geschicklichkeit, ja Kunst, die er in seinen langen, geduldigen Versuchen aufgebracht hatte, sie davon zu befreien. Versagen, das war ein bitteres Gefühl, das ihm bisher unbekannt gewesen war. Er lehnte sich dagegen auf, weigerte sich, es hinzunehmen. Und doch war die Logik hinter Saris Worten ganz klar. Eine andere Ehefrau. Wie sehr ihm das widerstrebte. Nur der Gedanke, daß er kinderlos bleiben würde, war ihm noch mehr zuwider.

»Ich denke darüber nach«, war alles, was er dazu sagte. »Gehe nun und ruhe dich aus. Ich werde noch eine Weile länger aufbleiben. Vielleicht bringen mir die Sterne Rat.«

Zufriedenheit strahlte auf dem rosigen Gesicht von Abu'l Kasim, als er aus dem Krankenzimmer trat. Er umarmte Da'ud herzlich und sagte: »Er hat sich erstaunlich gut gehalten. Einige Wochen der Ruhe, und er sollte wieder ganz der Alte sein.«

»Und die Geschwulst?« drängte ihn Da'ud.

»Klein genug, daß ich sie ganz herausschneiden und ausmerzen konnte, und in einer Lage, daß ich auch die Umgebung bis zum gesunden Gewebe entfernen konnte. Ich habe die Wunde bis in die Wurzeln hinein ausgebrannt, was die Heilung beschleunigen sollte. Ich bitte Euch um Entschuldigung dafür, daß ich Euch nicht erlaubt habe, bei der Operation anwesend zu sein. Ich fürchtete, daß eine Gefühlsbezeugung von Euch, dem Sohn des Kranken, oder von Eurem Vater meiner Konzentration hätte abträglich sein können. Geht jetzt zu ihm. Er ist noch ein wenig benommen von dem Mohntrank, den ich ihm zur Beruhigung verabreicht habe, aber ansonsten geht es ihm so gut, wie man es nur erwarten kann.«

Da'ud schwirrte der Kopf vor Erleichterung, als die Anspannung plötzlich von ihm abfiel. Ein Dankgebet auf den Lippen, betrat er das improvisierte Behandlungszimmer und ergriff die Hand seines Vaters, der friedlich schlummerte.

Hoch aufgeschossen, das dunkle, großflächige Gesicht mit den breiten Wangenknochen hager und von Falten durchzogen, näherte sich Bahya ibn Kashkil, als Da'ud sich aus der Menge befreite, die ihn nach dem Sabbatgottesdienst umringt hatte, um sich nach dem Gesundheitszustand seines Vaters zu erkundigen. Trotz seiner imposanten Statur hatten die Schritte des Fremden etwas Furchtsames, jenes Zögern des Neuankömmlings in einer Umgebung, die ihm nicht vertraut war.

»Ich entschuldige mich von ganzem Herzen, daß ich Euch in einer so schwierigen Zeit belästige«, begann Bahya ibn Kashkil, dessen Arabisch eine gewisse Bildung verriet. »Aber Meir ibn Migash, der Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Marrakesch und erste Tuchhändler dieser Stadt, nannte mir den Namen Eures Vaters. Ehe ich mich auf den Weg nach Córdoba machte, versicherte er mir, Ya'kub ibn Yatom würde alles in seiner Macht Stehende tun, um mir bei meiner Ankunft hier behilflich zu sein. Ich glaube, die beiden hatten im Laufe der vergangenen Jahre geschäftliche Beziehungen und empfinden großen Respekt für einander. Ihr könnt Euch meine Bestürzung vorstellen, als ich von der Krankheit Eures Vaters erfuhr. Ich hoffe, er ist auf dem Wege der Besserung?«

»Soweit das sein fortgeschrittenes Alter zuläßt«, antwortete Da'ud mit kühler Höflichkeit. »Als sein Sohn und Erbe seiner Verpflichtungen im Dienste der Gemeinde kann ich Euch vielleicht helfen?«

»Ihr seid zu gütig«, erwiderte der Neuankömmling und verbeugte sich respektvoll, um Da'uds Saphirring zu küssen.

»Was bringt Euch von Marrakesch nach Córdoba?«

»Der Wunsch nach Sicherheit, mehr nicht. Vor nicht allzu langer Zeit stolperte meine Frau über einen Stein und wurde auf dem Weg zum Brunnen unseres Heimatdorfes unweit von Marrakesch zu Tode getrampelt. Plötzlich waren Überfalltrupps der Fatimiden aus dem Osten aufgetaucht. Sie preschten durch unser Dorf, um gegen die Truppen der Zenata zu kämpfen, die die westlichen Gebiete verteidigen, die noch unter der Herrschaft der Omaijaden stehen. Meine arme Aisha war, als sie stolperte, den dahinjagenden Fatimiden direkt in den Weg geraten und wurde von den Hufen ihrer wilden Araberhengste zu einem jämmerlichen Häuflein Menschenfleisch zermalmt. Derlei Überfälle geschehen immer häufiger, und ich habe an ihrem Grabe geschworen, daß ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um unsere Tochter vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.«

»Ich verstehe Euren Kummer«, antwortete Da'ud förmlich. »Womit habt Ihr Euch in Marokko Euren Lebensunterhalt verdient?«

»Mein Vater hat mir ein kleines Stück Land in unserem Dorf vererbt, aber die Erträge waren nicht ausreichend, um uns einen guten Lebensunterhalt zu sichern, also habe ich mein Einkommen dadurch ergänzt, daß ich in den Kinderklassen der jüdischen Schule von Marrakesch Hebräisch unterrichtete. Aber seid ohne Furcht, Abu Suleiman, ich bin nicht verarmt und werde Eurer Gemeinde nicht auf der Tasche liegen. Ich habe mein Haus und mein Land verkauft und besitze daher zusammen mit meinen Ersparnissen genügend Geld, um hier ein bescheidenes Anwesen zu erwerben. Ich suche Arbeit, und ich hoffe auf eine Anstellung als Lehrer an Eurer Talmud- und Thoraschule.«

Während die beiden Männer sich noch unterhielten, hatte sich der Hof der Synagoge geleert. Nur ein junges Mädchen, beinahe so groß wie der Fremde selbst, stand noch in einer Ecke und hatte die lebhaften braunen Augen auf sie gerichtet, während sie versuchte, das Gespräch zu verfolgen.

»Eure Tochter?« fragte Da'ud mit einer Kopfbewegung in ihre Richtung.

»Ja. Darf ich sie Euch vorstellen?«

»Sicher.«

»Komm, Djamila, und erweise Abu Suleiman Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom, dem Sohn des Gemeindevorstehers von Córdoba, deinen Respekt.«

Die aufrechte, selbstbewußte Haltung der jungen Frau, als sie den Hof überquerte, die anmutigen Bewegungen ihrer langen, aber nicht ungelenken Gliedmaßen erweckten einen Funken des Interesses in Da'uds Gedanken, wenn auch nicht in der Tiefe seiner wie immer ruhigen Augen.

»Willkommen in Córdoba«, sagte er steif, als sie sich niederbeugte, um den Saum seines Gewandes zu küssen, und fuhr dann, an ihren Vater gewandt, fort: »Eine Stelle als Lehrer, sagt ihr. Das müßte der Leiter der Talmud- und Thoraschule entscheiden. Kommt heute abend, wenn der Sabbat zu Ende ist, in mein Haus, und ich gebe Euch einen Brief an ihn mit.«

»Bei allem Respekt, Abu Suleiman, ich möchte Djamila nur ungern nach Einbruch der Dunkelheit allein zu Hause lassen. Morgen in aller Frühe vielleicht?«

»Ihr könnt gern Eure Tochter mitbringen«, hörte sich Da'ud antworten, und seine Worte entfachten ein Funkeln in Djamilas wachen und aufrichtigen Augen. »Jetzt entschuldigt Ihr mich bitte«, murmelte er und eilte zum Mittagessen ins Haus seines Vaters.

Ya'kub ging es recht gut. Er schien nicht allzu sehr unter den Folgen der Operation zu leiden und konnte allmählich sogar sein Bein wieder gebrauchen. Da'ud sorgte sich allerdings wegen der zunehmenden Schwäche seines Vaters, wegen des langsamen, aber stetigen Gewichtsverlusts, dem auch alle Köstlichkeiten, die seine Mutter mit liebender Hand zubereitete, keinen Einhalt gebieten konnten. Sein Herz sagte ihm, daß dies nur eine Folge des fortgeschrittenen Alters war. Sein Wissen als Arzt sagte ihm etwas anderes. Und in ihm tobte der Streit zwischen den beiden, schien ihn zu zerreißen …

»Da'ud, mein Sohn«, begrüßte ihn Ya'kub und strengte sich an, um aufrecht in den Kissen zu sitzen, während die beiden Männer einander umarmten. »Ich bin jetzt ein alter Mann. Jeden Tag spüre ich, wie mich meine Kraft mehr verläßt. Ich habe mich daher entschlossen, mit dir zu sprechen, ehe es zu spät ist. Da'ud, mein Sohn«, wiederholte er, »es ist Zeit, daß du der Familie einen Erben schenkst. Ich verstehe deine Liebe zu Sari. Sie ist eine liebe und sanfte Seele, wunderhübsch anzusehen, und ich spüre, daß sie dich inzwischen beinahe genauso liebt wie du sie. Was in der Intimität eures Bettes zwischen euch ist, geht mich nichts an, das Ergebnis allerdings sehr wohl. Wenn sie nicht in der Lage ist, dir Kinder zu gebären, dann erlauben es Recht und Tradition, ja fordern dich sogar dazu auf, daß du eine andere Frau nimmst.«

»Ich denke schon eine ganze Weile über diese Angelegenheit nach, Vater, und Sari hat mich ermutigt, das zu tun, was du vorgeschlagen hast. Ich bin derjenige, der zögert. Seit dem Augenblick, als ich Sari das erstemal gesehen habe, habe ich nur von ihr als der Mutter meiner Kinder geträumt.«

»Nicht alle unsere Jugendträume gehen in Erfüllung. Dank deines wohlhabenden Elternhauses und deiner natürlichen Gaben ist dein Leben so reibungslos verlaufen wie der Flug eines Vogels, der in den Himmel aufsteigt. Du warst nie gezwungen, die Lehren der Entbehrungen, des Versagens oder der Enttäuschung über dich ergehen zu lassen. In deinem Alter ist es schwierig, sich mit Enttäuschung abzufinden, aber du mußt dich der Unabwendbarkeit der Tatsachen beugen.«

Da'ud antwortete nicht, doch plötzlich sah er ein paar große, dunkle, funkelnde Augen vor sich, die vor Lebenslust nur so blitzten … Er war erleichtert, als Sola zum Mittagessen rief. Jeder gab vor, nicht zu bemerken, wie lustlos Ya'kub in seinen Lieblingsgerichten herumstocherte, wie grau seine Gesichtsfarbe war und wie sehr er sich anstrengen mußte, allein um mit ihnen am Tisch zu sitzen. Es war ein trauriger, schmerzlicher Anblick. Man redete von allem möglichen, nur nicht von seiner Gesundheit, und der Ton erzwungener Normalität klang allen falsch im Ohr. Sobald das Essen vorüber war, kehrte Ya'kub zu seinem Diwan zurück, um sich auszuruhen, und Da'ud und Sari verabschiedeten sich. Die zärtliche Umarmung, mit der Da'ud seine sorgengeplagte Mutter umfing, sagte mehr als alle Worte des Trostes, die er ihr anbieten konnte. »Ich komme später am Abend noch einmal vorbei«, versprach er, als er sie wieder losließ, und küßte ihr eine Träne aus dem Augenwinkel.

Auf dem kurzen Heimweg berichtete Da'ud Sari von seiner Begegnung mit Bahya ibn Kashkil und dessen Tochter. »Sie kommen heute abend zu uns, um sich ein Empfehlungsschreiben an Rabbi Meir abzuholen. Wir sollten vielleicht ein paar Erfrischungen bereitstellen, ein Zeichen des Willkommens in unserer Gemeinschaft«, sagte er.

Während er neben seiner Frau Sabbatsiesta hielt, ihre schmale Hand leicht auf der seinen, dachte Da'ud über die Ironie des Schicksals nach, die in der Begegnung am Morgen gelegen hatte. Als Abd ar-Rahmans loyaler Sekretär hatte er vielleicht selbst das Schreiben verfaßt, das die Zenatas dazu anstachelte, sich gegen al-Mu'izz, den Rivalen der Omaijaden-Kalife in Nordafrika, zu erheben, der mit den Jahren dem Kalifat im Osten und Süden weite Landstriche entrissen hatte. Diese gewalttätige Auseinandersetzung hatte die Lebensgrundlage seiner jüdischen Glaubensgenossen zerstört, die sich heute um Hilfe an ihn gewandt hatten. Und doch lag ein gewisser Trost in der Tatsache, daß seine Stellung bei Hof zumindest den Juden in Córdoba Sicherheit garantierte, daß sie den Opfern des Kampfes zwischen den Omaijaden und den Fatimiden in anderen Gebieten von Abd ar-Rahmans Reich eine sichere Zuflucht bot.

Gereizt verscheuchte er eine Fliege, die um seinen Kopf surrte, und fegte sie in Richtung Fenster, damit sie Sari nicht belästigte, die friedlich neben ihm schlummerte. Wie wunderschön sie noch immer war, beinahe unverändert seit ihrem Hochzeitstag. Ihre Haut war noch so glatt und durchscheinend, ihr rostbraunes Haar noch so üppig und glänzend, ihre Gliedmaßen so schmal und zerbrechlich – das zarte Pflänzchen, das er noch nicht zum Blühen gebracht hatte, trotz aller Liebe und Leidenschaft, mit der er sie überhäuft hatte. Wie anders war sie als diese junge Flüchtlingsfrau von der marokkanischen Hochebene, deren offener, lebendiger Blick und aufrechte Haltung von einer gesunden Lebenslust und dem Verlangen sprachen, alles voll auszukosten, was das Leben zu bieten hatte. Und Djamila ihrerseits, wie anders war sie als die Töchter aus den angesehenen jüdischen Familien von Córdoba – lebendig, wach, ohne eine Spur müder Passivität. Sie kam aus einer bescheidenen bäuerlichen Familie, hatte wohl auf dem Hof ihren Teil der Aufgaben übernehmen müssen, hatte gelernt, ums Überleben zu kämpfen und, wenn sein Gefühl ihn nicht trog, dabei den Entschluß gefaßt, nach Besserem zu streben. Ihre ganze Haltung drückte ihren jugendlichen Drang aus, sich in der reichen und glänzenden Stadt Córdoba eine bessere Stellung zu erobern, obwohl sie nur die Tochter eines bescheidenen Neuankömmlings war.

Wieder einmal ein romantischer Jugendtraum, der sich nicht erfüllen würde? überlegte er, als seine Gedanken zu dem Gespräch zurückwanderten, das er mit seinem Vater geführt hatte. Eine zweite Frau … Aber wer? Welche von den heiratswilligen jungen Frauen Córdobas würde sich einverstanden erklären, seine Kinder zu gebären, aber in seinem Herzen und in seinem Haushalt stets eine untergeordnete Rolle zu spielen? Das Prestige seines Ranges würde diese jungen Frauen – oder ihre Väter – vielleicht zunächst locken, aber für nichts und niemanden würde er, Da'ud, je Sari, die große Liebe seines Lebens, aufgeben. Wie langweilig und apathisch diese jungen Frauen doch alle waren! Und wie sie ihn belasten würden! Nicht einmal um eines Erben willen konnte er sich vorstellen, sich mit einem dieser passiven, kuhäugigen Wesen im gleichen Haus aufzuhalten.

Wer aber dann? Noch eine unbekannte Fremde, noch eine Sari? Das konnte er sich nicht erlauben. Er mußte jemanden finden, der außerhalb seines vertrauten Lebenskreises stand, eine Fremde, und doch keine völlig Unbekannte. Wieder schwebte vor ihm das Bild der strahlenden und lebhaften Augen. Eine Fremde, doch nicht völlig unbekannt … Hatte nicht Djamila bereits genug vom Leben gesehen und mußte wissen, daß man einen Preis bezahlen muß, wenn man sein Los verbessern will? Sie konnte sich sicher in ihren kühnsten Träumen eine solch glänzende Möglichkeit nicht ausmalen. Jung, gefügig, gerade eben aus ihrem fernen marokkanischen Dorf angekommen, doch nicht ohne eine gewisse Bildung, würde sie alles annehmen, was er ihr bieten konnte, als Gegenleistung für das ungeheure Prestige, das sie als Mitglied seines Haushaltes gewinnen würde. Als Person war sie nicht abstoßend. Im Gegenteil, ihr Elan hatte eine gewisse Grazie, ihre Energie, hervorgebracht von einem Leben inmitten der Fülle – und der Grausamkeit – der Natur, entbehrte nicht eines gewissen Zaubers. Er würde sie sich heute abend einmal genauer ansehen. Wenn aus seinen zerbrochenen und aus ihren noch unerfüllten Träumen ein Sohn geboren würde, dann wäre er es zufrieden.

15

Bahya ibn Kashkil und Djamila fanden sich pünktlich eine Stunde nach Sonnenuntergang im Haus von Da'ud ibn Yatom ein. Ihre weiten, freien Bewegungen ließen auf ein in der freien Natur verbrachtes Leben schließen. Die beiden wirkten in der nüchternen Eleganz des Hauses unbeholfen, fehl am Platze. Anders als ihr Vater und die anderen seltenen Besucher im inneren Heiligtum von Da'uds Zuhause, zeigte Djamila keinerlei Anzeichen von Schüchternheit oder Ehrfurcht. Im Gegenteil: sie schaute sich mit unverhohlener Neugier um, bestaunte die Teppiche mit ihren herrlichen Farben, die Fenstergitter, die so fein gearbeitet waren, daß sie aussahen, als hätte man sie auf die Fenster gestickt, die leuchtenden Seiden und warmen Samtstoffe, die über die Diwane gebreitet waren. Wie reich und herrlich, jubelten ihre flinken Augen, aber Da'ud sah tiefer. Die Haltung von Nacken und Schultern, das selbstbewußte Auftreten mit einer Spur angeborenen Stolzes schienen hinzuzufügen: Auch ich werde einmal in solchem Wohlstand und Luxus leben.

Sari selbst reichte den Neuankömmlingen Wein und Süßigkeiten, die wunderschön auf silbernen Platten angerichtet waren, und Da'ud unterhielt sich auf Hebräisch mit Ibn Kashkil, um dessen Kenntnis dieser Sprache zu prüfen. Der Mann besaß zwar nur Grundlagenwissen, sprach aber korrekt, und das reichte aus, um dem amtierenden Lehrer der Kinderklassen in der Talmud- und Thoraschule zur Seite zu stehen. Während er zuhörte und mit seinen stillen Augen Djamila beobachtete, überlegte Da'ud, ob er seinem Empfehlungsschreiben hinzufügen sollte, daß er selbst anonym die Kosten für die Entlohnung ihres Vaters zu übernehmen bereit war.

Mit einem kurzen Nicken deutete Da'ud an, daß er Ibn Kashkils Befähigung für ausreichend hielt. Ermutigt lehnte sich Bahya aus den Kissen vor und fragte ein wenig selbstsicherer: »Ich bin mit den hiesigen Bräuchen nicht vertraut, aber in Marrakesch hat Djamila mir in der Talmud- und Thoraschule mit kleinen Dingen geholfen.«

»Wie zum Beispiel?« erkundigte sich Da'ud zerstreut, um sein Interesse an dem Mädchen zu überspielen.

»In Marrakesch wie zweifellos auch in Córdoba schicken nur die Armen ihre Kinder in die Gemeindeschule. Die Reichen lassen ihre Kinder zu Hause unterweisen. Also hat Djamila den Kindern grundlegende Dinge beigebracht. Sie hat mit ihnen Hände gewaschen, ihnen die Haare gekämmt und ihre Kleider geflickt. Wenn sie Hunger hatten, hat sie den nächstgelegenen Bäcker beschwatzt, ihr warmes frisches Pitabrot für die Kinder zu geben.«

»Wurde sie für ihre Dienste entlohnt?«

»Gewiß nicht«, erwiderte Bahya entrüstet. »Es war doch ihre Pflicht, dem Vater zu helfen und auch denen zur Seite zu stehen, die weniger vom Glück begünstigt waren als sie selbst.«

Beeindruckt wandte sich Da'ud direkt an Djamila. Mit höfischem Charme und einer neuen Wärme in der Stimme erkundigte er sich: »Angenommen, Rabbi Meir schließt sich meiner Empfehlung an und stellt Euren Vater ein, wärt Ihr bereit, die gleiche Aufgabe auch an unserer Schule zu erfüllen?«

Djamilas Augen strahlten vor Freude, weil der große Da'ud ibn Yatom sie angesprochen hatte, und sie antwortete mit fester Stimme und ohne eine Spur von Schüchternheit: »Aber natürlich. Es wäre mir eine Ehre und ein Vergnügen.«

Da'ud schickte einen Diener, der ihm Papier und Feder aus seinem Arbeitszimmer holen sollte. Rasch schrieb er seine Empfehlung. Er verfaßte sie so, daß sie eher einem Befehl entsprach, faltete und versiegelte sie und reichte sie Bahya ibn Kashkil.

»Ich bin sicher, dies wird Euch behilflich sein, Euch in Eurem neuen Zuhause einzurichten. Wir heißen Euch in unserer Gemeinschaft willkommen und wünschen Euch hier viel Glück.«

Sari sprach als erste, nachdem die beiden sich verabschiedet hatten. »Eine recht ungewöhnliche junge Frau, nicht wahr?«

»Ungewöhnlich im guten oder im schlechten Sinne?« fragte Da'ud mit gleichmütiger Stimme, während er sein silbernes Tintenfaß verschloß.

»Ganz gewiß im guten Sinne. Sie scheint mir so selbstsicher, so zielstrebig, Eigenschaften, die ich mir nie erworben habe, weil niemand da war, der sie mir hätte anerziehen können.«

»Wie kannst du einen so absurden Vergleich anstellen! Du bist die Freundlichkeit, die Ruhe und das Verständnis selbst, hast diese seltenen Gaben, die sie nie besitzen wird. Djamila ist begierig auf alles, was das Leben ihr zu bieten hat.«

»Das ist doch völlig berechtigt. Mein Schicksal ist so verlaufen, daß ich vom Leben nur noch ein Mindestmaß an menschlicher Würde erstrebte, ein wenig elementaren Anstand und ein wenig echte Zuneigung – einfache, natürliche, grundlegende Dinge, die man mir vorenthalten hatte. Sie sucht nun das, wovon sie annimmt, daß man es ihr vorenthalten hat, all die schönen Schmeicheleien des Lebens, das sich jenseits ihres abgelegenen, jämmerlichen Dorfes abgespielt hat. Daß mir der Reichtum und das Prestige, das ich durch dich gewonnen habe, so gleichgültig geblieben sind, bedeutet nicht, daß diese junge Frau nicht das Recht hat, derlei anzustreben.«

»Du könntest recht haben«, gestand ihr Da'ud widerwillig ein, als er aufstand, um vor der Nachtruhe noch einmal seinen Vater zu besuchen. Auf dem kurzen Weg zu seinem Elternhaus versuchte er, seine Eindrücke von seinem zweiten Zusammentreffen mit Djamila zu ordnen. Wie er selbst, so hatte auch Sari rasch gespürt, daß diese junge Frau sich verbessern wollte. Mehr noch, Sari hatte den Wunsch für völlig gerechtfertigt gehalten und den Unterschied zwischen Djamila und sich selbst betont. Genau dieser Gegensatz verhieß Gutes für die Beziehung zwischen den beiden, war ein entscheidender Faktor in Da'uds Überlegungen, denn er würde in seinem Haus keinen Streit dulden. Aber was würde Sari von ihm halten, wenn er Djamila nur heiratete, um ihren Körper dazu zu benutzen, ihm einen Erben zu schenken? Er liebte sie nicht, würde sie nie lieben. Er würde mit ihr das Lager ohne Liebe teilen. Wie konnte Sari ihn nach allem, was ihr Männer angetan hatten, für eine solche Tat nicht verachten, obwohl sie ihn ermutigt hatte, sich eine andere Frau zu nehmen? War Djamilas Ehrgeiz, sich in der Welt zu verbessern, den seine Frau so von ganzem Herzen guthieß, ausreichende Rechtfertigung – oder Entschädigung – für den zielgerichteten, ja zynischen Plan, den er hegte? Es war paradox, aber er verlangte nach der Billigung seiner ersten Frau, die er liebte, für seine Heirat mit einer zweiten, die er nicht liebte …

Sollte er vorgeben, Djamila zu lieben, oder ihr die Situation von Anfang an offen darlegen? In jedem Falle würde er sich darum bemühen müssen, sie zu bezaubern. Sie sollte doch auch Vergnügen daran haben, mit einem Mann das Lager zu teilen, der zwanzig Jahre älter war als sie. Es war eine lästige Aussicht, für die er weder die Geduld noch das Verlangen in sich spürte, aber wenn er nicht in Djamila eine gewisse Leidenschaft entfachte, würde er der Frau, die er wirklich liebte, nicht mehr in die Augen sehen können. Wäre sein Vater bei besserer Gesundheit gewesen, er hätte ihn vielleicht um Rat gefragt, aber wie die Dinge standen, wagte er es nicht, ihn weiter zu ermüden … Er würde noch ein wenig warten, Djamila etwas gründlicher in Augenschein nehmen, seine Entscheidung einige Zeit hinausschieben …

Ya'kub schlief schon, als Da'ud in seinem Elternhaus eintraf. Auf Solas leidenschaftliche Bitte, er möge seinen Vater retten, antwortete Da'ud mit einer verzweifelten Geste. »Ich habe in der Natur schon Wunder gesehen, ich habe von Wundern gelesen, aber es liegt nicht in meiner Macht, Wunder zu vollbringen«, sagte er und umarmte sie voller Mitleid. So standen sie, als an der Haustür ein gebieterisches Klopfen ertönte. Einen Augenblick später erschien Mustapha mit einem dringenden Befehl für Da'ud. Er sollte sich unverzüglich in den alten Palast begeben, wo al-Hakam, der Sohn und Erbe des Kalifen, krank darniederlag.

Da'ud merkte, daß Sola ganz steif vor Entrüstung wurde, weil jemand derart in den Kreis ihres Familienlebens eindrang. Der Sohn des Kalifen mochte krank sein, aber ihr Mann, Da'uds Vater, war dem Tode nahe. Auch Da'ud war nicht erfreut über Mustaphas Botschaft, konnte das aber im Gegensatz zu ihr geschickt verbergen.

»Es ist schon spät, Mutter. Du mußt dich ausruhen, während Vater schläft. Ich schaue morgen wieder vorbei.«

Als Da'ud in den Palast kam, lag al-Hakam, der gewöhnlich ruhig und nachdenklich war, auf dem Diwan und krümmte sich in furchtbaren Schmerzen. Von Angst gepeinigt, lief Abd ar-Rahman unruhig im Raum auf und ab, hatte angesichts der Leiden seines Sohnes seine ganze Herrscherwürde verloren.

»Gott sei Dank, Ihr seid hier!« rief er und packte Da'ud heftig beim Arm. »Es muß Gift sein! Einer seiner eifersüchtigen Halbbrüder versucht wohl, ihn aus dem Weg zu räumen, um selbst den Thron an sich zu reißen, wenn ich nicht mehr bin. Nur Ihr könnt ihn noch retten!«

Da'ud löste sich sanft aus dem mächtigen Klammergriff des Kalifen, stand einen Augenblick ruhig da und beobachtete den Patienten, beugte sich dann vor, um ihm Nacken und Stirn zu fühlen.

»Im Augenblick hat er kein Fieber. Wenn seine Temperatur sich nicht erhöht, können wir mit Sicherheit ausschließen, daß Gift die Ursache seiner Krankheit ist.«

»Allah sei gepriesen!« rief Abd ar-Rahman aus. »Eine solche Tragödie hätte ich nicht überlebt!«

»Wo verspürt Ihr den Schmerz?« erkundigte sich Da'ud und setzte sich auf die Kante von al-Hakams Diwan.

»Hier«, antwortete der junge Mann und zeigte auf die Gegend zwischen Zwerchfell und Oberbauch. »Es ist, als würde ich in zwei Teile geschnitten.«

Da'ud legte eine Hand auf den Bauch des Patienten. Er war so straff gespannt wie eine Trommel.

»Habt Ihr schon einmal solche Schmerzen gehabt?«

»Ja, aber sie waren nie so schlimm wie jetzt, und sie hören normalerweise auf, wenn ich mich der Blähungen entledigt habe.«

»Wann genau sind diese Schmerzen aufgetreten?«

»Sie kommen und gehen schon viele Jahre, eigentlich seit meiner Jugendzeit.«

»Waren sie mit einer bestimmten Speise oder einem Getränk verbunden?«

»Nicht daß ich mich besinnen könnte.«

»Sorgen? Ängste? Anspannung?«

Al-Hakam warf seinem Vater einen raschen Blick zu, der jedes Wort der Unterhaltung verfolgte. Da'ud begriff schnell und wartete die Antwort gar nicht erst ab. Sanft drückte er al-Hakams Bauch und meinte: »Ihr hattet einige Tage keinen Stuhlgang.«

»Woher wißt Ihr das?«

»Ein geschickter Arzt merkt das, wenn er den Bauch nur mit der Fingerspitze berührt. Ihr werdet Euch nach einem Einlauf besser fühlen, der all die überflüssigen Schlacken und Gase, die Euren Körper jetzt so schmerzhaft aufblähen, aus Euren Eingeweiden entfernen wird. Danach nehmt Ihr ein warmes Bad, trinkt einen Tee aus beruhigenden Kräutern und ruht bis zum Morgen aus.« Da'ud wandte sich dem Kalifen zu und fuhr fort: »Es gibt keinen Grund zur Besorgnis. Morgen ist Euer Sohn wieder gesund. Wenn man seinen täglichen Speiseplan ein wenig überwacht, sollte sich dieses Unwohlsein nicht mehr allzu häufig wiederholen. Als Euer Arzt möchte ich vorschlagen, daß auch Ihr Euch jetzt ein wenig Ruhe gönnt. Sorgen und Ängste könnten Eurem allgemeinen Gesundheitszustand nur abträglich sein.«

»Ich kann jetzt nicht ruhen. Ich bin zu aufgewühlt. Ein Ritt zur Medina Azahara wird meine Erregung besänftigen, und Zahra meine unruhige Seele.«

»In meiner Eigenschaft als Euer Leibarzt würde ich Euch, wiederum mit allem Respekt, raten, hierzubleiben und Euch ein wenig Ruhe zu gönnen.«

»Ich danke Euch für Euren Rat, aber es gibt Zeiten, in denen ein Patient besser als sein Arzt weiß, was gut für ihn ist.«

Als der Kalif gegangen war, verabreichte Da'ud rasch seinem Sohn und Erben den Einlauf und wartete geduldig auf dessen Wirkung. Danach saß er neben dem Patienten, bis dieser sich von dem Aufruhr erholt hatte, den der Einlauf in seinem Körper hervorgerufen hatte.

»Nun«, begann er, nachdem der Prinz sich ein wenig ausgeruht hatte, »was bedrückt Euch?«

Al-Hakam zuckte die Achseln. »Nichts Besonderes«, antwortete er, nicht gerade gewillt, seine innersten Gefühle zu offenbaren.

»Eine gewisse Unruhe bei dem Gedanken, daß Ihr die Aufgaben Eures Vaters übernehmen müßt, wenn die Zeit gekommen ist?«

»Ihr seid ein weiser und aufmerksamer Beobachter, Abu Suleiman.«

»Ich habe Euch beobachtet, wie Ihr vom Jüngling zum Mann herangereift seid, habe Eure häufigen Besuche in der Bibliothek bemerkt, wenn Eure Kameraden mit den Falken auf der Jagd waren oder ihre Fechtkünste vervollkommneten. Euer Hang zu den spirituellen Dingen, weniger zu den materiellen ist mir nicht verborgen geblieben. Eure Besorgnis angesichts der Verantwortung, die Ihr als Herrscher übernehmen müßt, ist aber unbegründet. Euer Vater hat so regiert, daß die Sicherheit und der Wohlstand seines Reiches und seine Verwaltung auf viele Jahre gesichert sind. Das Gebäude steht fest. Ihr müßt es nur pflegen.«

»Mit Eurer getreuen Hilfe und Eurem weisen Rat wird mir dies sicherlich gelingen.«

»Eure natürliche Intelligenz und die Bildung, die Ihr Euch so eifrig erarbeitet habt, machen Euch in bewundernswerter Weise für diese Aufgabe geeignet, aber wenn dies Euer Wunsch ist, so will ich Euch so treu dienen, wie ich Eurem Vater gedient habe. Jetzt aber müßt Ihr Euren Geist und Euren Körper entspannen. Laßt alle Spannung von Euch fließen, wenn Ihr im Bad liegt, und schlaft dann bis zum Morgen. Mit Eurer Erlaubnis verabschiede ich mich nun.«

»Nein. Bleibt noch ein wenig. Laßt uns über die Zukunft sprechen. Es ist mein glühender Wunsch, den Ruhm von Córdoba zu solchen Höhen zu erheben, daß es mit dem Glanz von Bagdad wetteifern kann. Die Große Moschee muß vergrößert und üppig ausgeschmückt werden, mit sich hoch aufschwingenden Bögen und glitzernden Mosaiken. Und ich träume von einer Bibliothek, die zehnmal größer ist als die heutige, mit Exemplaren jedes Werkes, das seit der Antike verfaßt wurde. Wir werden eine ganze Schule von Übersetzern um uns versammeln, die uns alles Wissen, alle Gedanken und Vorstellungen zugänglich machen, die die Menschheit seit der frühesten Geschichte gekannt hat.«

»Und wir müssen ein Hospital und eine medizinische Schule einrichten, die in der Qualität ihrer Behandlung und ihrer Lehre selbst die von Bagdad übertreffen«, erwiderte Da'ud mit eifriger Stimme.

»Nichts würde mir größeres Vergnügen bereiten. Wir sprechen wieder darüber, wenn die Zeit reif ist. Ich nehme jetzt mein Bad. Ihr habt meine Erlaubnis, Euch zurückzuziehen.«

16

Die wahren Umstände vom Tod Abd ar-Rahmans III. wurden nie bekannt. Mustapha entfernte sofort alle Spuren des Öls, das er in das Glied seines Herren massiert hatte, ehe sich der Kalif in die Umarmung seiner geliebten Zahra, des einzigen Objektes seiner Begierde in seinen späten Jahren, gestürzt hatte. Gemeinsam mit ihr hatte er dann den Leichnam seines Herrn in den Vorhof des Harems gebracht und ihn dort so hingelegt, daß es schien, als sei er auf dem Weg zu seiner Lieblingskonkubine zusammengebrochen und gestorben. Peinlich berührt, hatten die Hofärzte seine Version vom Tod des Kalifen bestätigt, hatten keinerlei Bedürfnis gehabt, die Angelegenheit näher zu untersuchen … Die Nachricht kam für Da'ud nicht überraschend. Abd ar-Rahman hatte lange gespürt, daß sein Ende nahte, und wenn er in den Armen der Frau gestorben war, die er liebte, so war das der süßeste Tod, den er sich hätte wünschen können.

Völlig gebrochen, weigerte sich sein Erbe, al-Hakam II. al-Mustansir, Da'ud während der folgenden Tage von seiner Seite zu lassen, weder beim Empfang für die unzähligen Menschen, die erschienen, um ihn in seiner Trauer zu trösten, noch bei den Festlichkeiten, mit denen man seine Übernahme des Titels eines Kalifen und Herrschers der Gläubigen feierte. Gereizt beschwerte er sich bei Da'ud über die seiner Meinung nach ungerechtfertigten Freudenbezeugungen und erhielt von diesem nur den schwachen Trost, derlei Kundgebungen seien wichtig, um seinen Ruhm zu mehren und seine Untertanen zu treuen Diensten zu verpflichten. Al-Hakam fühlte sich sichtlich unwohl inmitten all der Festlichkeiten, machte in seinen königlichen Roben eine schüchterne, in sich gekehrte Figur und fand, daß die farbenfrohen Verzierungen, die den Palast schmückten, ihn in den Augen schmerzten, erlebte die wirbelnden, fröhlichen Reitervorführungen als ermüdendes Spektakel, das üppige Festmahl als ungehörig. Nur die blumigen Lobgesänge, die ihm zu Ehren von den größten Dichtern des Reiches vorgetragen wurden, die herrlichen Metaphern, die kunstfertigen und strengen Reime bereiteten ihm ein wenig Vergnügen. Und die klagende Musik, die von den besten Musikern aus Sevilla noch bis spät in die laue andalusische Nacht hinein gespielt und gesungen wurde, verschmolz mit seiner Melancholie.

Während Da'ud den neuen Herrscher von al-Andalus die Woche hindurch beobachtete, wurde ihm klar, daß seine Verpflichtungen bei Hofe sich schon bald grundlegend ändern würden. Unter Abd ar-Rahman war er ein getreuer Diener gewesen, hatte bestimmte Aufgaben erfüllt, für die seine Begabungen und seine Ausbildung unverzichtbar waren, aber nur Rat erteilt, wenn man ihn in Angelegenheiten, die er zu beurteilen in der Lage war, darum ersucht hatte. Im Gegensatz dazu sah al-Hakam in ihm eindeutig eine lebenswichtige Stütze seiner Herrschaft. Er forderte seine ständige Anwesenheit, suchte seinen Rat in einer Vielzahl von Fragen, die mit der Regierung des Reiches verknüpft waren. Diese Rolle gefiel Da'ud gar nicht, denn sie verstieß gegen die traditionelle Zurückhaltung seiner Familie gegenüber dem Herrscherhaus. An jeder Wegbiegung würde er nun den hinterlistigen Intrigen der neidischen muselmanischen Höflinge ausgesetzt sein. Jeden Augenblick mußte er wach und auf der Hut sein. Und doch würde seine Zukunft – nein, vielmehr sein Leben – auf dem Spiel stehen, wenn er seinen Schwur, dem Oberherren treu zu dienen, zurücknähme. Wieder einmal saß er in der Falle, war Gefangener einer ausweglosen Situation. Ab jetzt würde ständig eine verdeckte Drohung über ihm, seiner Familie und der ganzen jüdischen Gemeinde schweben. Eines war ihm klar: Er mußte unverzüglich für das Weiterbestehen des Hauses Ibn Yatom sorgen.

Sobald die Festlichkeiten vorüber waren, rief al-Hakam seine Ingenieure und Architekten zusammen, um mit ihnen die Erweiterung und Ausschmückung der großen Moschee von Córdoba zu besprechen, die er schon lange plante. Da'ud nutzte diesen Spielraum, um an einem frühen Morgen einen Besuch in der Talmud- und Thoraschule abzustatten. Der Anblick, der sich ihm bot, während er unbeobachtet beim Eingang zum Innenhof stand, zerstreute alle Zweifel, die er noch gehegt hatte. Da stand Djamila, und eine Schar von kleinen Kindern wuselte um sie herum. Sie nahm sie spielerisch bei den Händen, um ihnen an dem Brunnen aus grob behauenen Steinplatten, der mitten im Innenhof stand, Gesicht und Hände zu waschen. Dann schickte sie die Kleinen mit einem leichten Klaps auf das Hinterteil ins Haus, wo ihr Vater seine Schar erwartete, um ihnen die ersten Grundlagen der Sprache ihrer Vorväter beizubringen. Als das letzte Kind verschwunden war, trat Da'ud ins Sonnenlicht, um Djamila zu begrüßen.

Mit koketter Hast stopfte Djamila ihre in Unordnung geratenen Gewänder in den Gürtel und strich sich das Haar zurück, das ihr ins Gesicht gefallen war, als sie mit den Kindern herumtobte. Erst dann verneigte sie sich respektvoll vor dem erlauchten Besucher.

Mit höfischer Eleganz beschwichtigte Da'ud sie. »Ich gratuliere Euch zu der Arbeit, die Ihr hier leistet. Euer Vater betrachtet sie als Eure Pflicht, aber es scheint mir, daß Ihr auch großes Vergnügen daran habt. Ihr habt eine natürliche Begabung für den Umgang mit Kindern, eine Lebhaftigkeit, die sie begeistert und ihr Vertrauen gewinnt.«

»Ich fühle mich selbst wieder wie ein Kind, wenn ich sie zufrieden lachen sehe.«

»Ihr tut ihnen einen größeren Dienst, als Ihr wißt. Wenn sie im Leben auf Schwierigkeiten stoßen, und gewiß liegen viele vor ihnen, dann sind diese Augenblicke sorglosen Glücks kostbare Erinnerungen, auf die sie gerne zurückblicken werden.«

»Ihr erweist mir mehr Ehre, als ich verdiene.«

»Im Gegenteil. Nicht mehr, als Euch zusteht. Ich selbst bin, wie Ihr wißt, kinderlos. Ich sehne mich nach dem Klang solch unschuldiger Fröhlichkeit in der Stille meines Heimes.«

Bahya ibn Kashkil hatte im Hof Stimmen gehört und kam nach draußen, um festzustellen, wer der frühe Besucher war. »Welchem Umstand verdanken wir diese unerwartete Ehre?« erkundigte er sich überrascht bei Da'ud, während er sich respektvoll näherte und ihm die Hand küßte.

»Ich möchte eine persönliche Angelegenheit mit Euch besprechen. Vielleicht könnte Djamila auf die Kinder aufpassen, während wir reden?«

Als das Mädchen im Klassenzimmer verschwunden war, kam Da'ud gleich zur Sache, wollte sie schnell hinter sich bringen. »Es ist in der jüdischen Gemeinde von Córdoba kein Geheimnis, daß ich kinderlos bin, obwohl ich schon seit über zehn Jahren mit meiner geliebten Ehefrau Sari verheiratet bin. Ich selbst bin über vierzig Jahre alt und kann nicht mehr länger warten, daß der Herr ein Wunder tut wie bei Avraham und Sarah, unseren heiligen Ahnen. Deine Tochter Djamila gefällt mir. Sie ist jung, gesund und kräftig, besitzt einen Lebenshunger und Elan, der mich anrührt. Aber vor allem hat sie eine natürliche Kinderliebe. Das hat mich dazu bewegt, heute mit Euch zu sprechen. Ich möchte jedoch eines klar sagen. Ich werde meine erste Frau Sari nie verstoßen, denn ich liebe sie mit einer tiefen und andauernden Liebe. Was ich von Euch erbitten möchte, ist Eure Zustimmung, daß ich Eure Tochter als meine zweite Frau und Mutter meiner Kinder zu mir nehmen kann, vorausgesetzt, sie ist selbst damit einverstanden.«

Bahya ibn Kashkil war wie vom Donner gerührt. Der große Da'ud ibn Yatom bat um die Hand von Djamila, der Tochter eines verarmten – wenn auch belesenen – Bauern aus einem obskuren marokkanischen Dorf? Selbst Gott hätte er kein solches Wunder abverlangen mögen! Wenn nur seine liebe Frau Aisha noch am Leben wäre, um dies zu sehen! Und doch: war es richtig, taumelten seine Gedanken durch die Verwirrung seines konventionell denkenden Hirns, daß ein so Großer sich mit einer so Niedrigen verband? Würden die, die groß und mächtig geboren waren, sie nicht ständig wegen ihrer niedrigen Herkunft demütigen? Plötzlich schallte ihm die Stimme seiner verstorbenen Frau in den Ohren: »Wach auf, du Kürbiskopf! Djamila ist meine so gut wie deine Tochter, und sie ist allemal so viel wert wie die Großen und Mächtigen und ganz und gar in der Lage, sich unter ihnen zu behaupten. Wie sonst hätte sie die Aufmerksamkeit von Da'ud ibn Yatom erregen können? Gib ihr eine Chance im Leben! Sie ist Frau genug, das Beste daraus zu machen.«

Als spräche jemand anderer an seiner Stelle, hörte sich Bahya stammeln: »Aber ich kann ihr keine Mitgift geben.« In dem Augenblick, als die Worte ausgesprochen waren, war ihm klar, wie absurd sie waren, und doch schämte er sich nicht seines rechtmäßigen Wunsches, seine Tochter in aller Würde zu verheiraten. »Wir besprechen die Vereinbarungen ein andermal«, erwiderte Da'ud feierlich, sorgsam darauf bedacht, den Stolz seines zukünftigen Schwiegervaters nicht zu verletzen. »Darf ich daraus schließen, daß Ihr meinen Antrag gutheißt?«

»Die Ehre, die Ihr uns erweist, ist so ungeheuerlich, so unerwartet, daß ich keine Worte habe, meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.«

»Ich nehme sie so, wie Ihr sie sprecht. Wenn Ihr jetzt so gut wärt, zu Eurer Klasse zurückzugehen, so würde ich gerne mit Djamila sprechen und ihr Herz zu gewinnen versuchen.« Jetzt, da er sich dieser Situation, die er bewußt herbeigeführt hatte, unmittelbar gegenüber sah, war Da'ud sehr unbehaglich zumute. Beim Anblick von Djamila, die eifrig mit langen, freien Schritten auf ihn zu kam, schien alle Würde, die ihm Rang und Position verliehen, von ihm zu weichen wie der schmelzende Schnee vor der Berührung des Frühlings, und er stand verletzlich und schutzlos vor dieser starken, lebensfrohen jungen Frau, die über zwanzig Jahre jünger war als er. Wie alt mußte er ihr erscheinen, und was für eine Jammergestalt mußte er abgeben, mehr als einen halben Kopf kleiner als sie, zart gebaut neben ihrer kräftigen Gestalt, von brauner Hautfarbe, wo die ihre rosig war, als hätte die rote Erde ihres Heimatdorfes ihre Spuren hinterlassen.

Er wandte ihr den Rücken zu, um seine Verwirrung zu verbergen, ging langsam über den Hof in die entfernteste Ecke, suchte verzweifelt nach Worten, die seine Absichten mit der gebotenen Zartheit zum Ausdruck bringen würden. Aber Djamila übertölpelte ihn.

»Vater sagt mir, Ihr wollt mich heiraten«, platzte sie heraus, und Freude schwang in ihrer Stimme mit.

Erstaunt über ihren Mut, den ersten Schritt zu machen, fuhr Da'ud herum, um ihr ins Gesicht zu sehen, und ein Funken der Anerkennung blitzte in seinen ruhigen, dunklen Augen auf.

»Und dein strahlendes Lächeln sagt mir, daß du mein Angebot annimmst«, erwiderte er und lächelte mit ausgesuchtem Charme zurück.

»Wer würde das nicht?« antwortete sie freudig, warf ihm die Arme um den Hals und küßte ihn mit einem sinnlichen Beben auf den Mund. »Aber warum ich?« fragte sie mit entwaffnender Offenheit und trat einen Schritt von ihm zurück. »Warum nicht eine der Töchter aus den großen jüdischen Familien, wie es deinem Stande angemessen wäre?«

Reue traf Da'uds Herz. Wie sollte er diesem unschuldigen Geschöpf erklären, wie zynisch er ihre Armut und ihren Ehrgeiz für seine Zwecke ausnutzen wollte? Wie ihr sagen, daß die Töchter aus den großen jüdischen Familien es sich nicht gefallen lassen würden, an die zweite Stelle zu treten, daß sie sich seiner ersten Frau, der ehemaligen Sklavin, nicht unterordnen würden, die in seinem Haushalt für immer die Vorrangstellung hatte?

»Wie ich schon deinem Vater gesagt habe, gefällt mir deine jugendliche Lebhaftigkeit und dein Hunger nach Leben, und deine Kinderliebe ergänzt sich wunderbar mit meinem dringenden Wunsch, Kinder zu zeugen.«

Die Wahrheit lag in dem, was nicht gesagt wurde, im Fehlen einer Liebeserklärung, die er beim besten Wissen und Gewissen nicht hervorbringen konnte. »Sari, meine Frau, die mir sehr lieb ist, ist eine sanfte und stille Seele. Ich bin sicher, du wirst in Frieden und Eintracht mit ihr leben.«

»Aber natürlich werden wir miteinander auskommen. Sie wird wie eine ältere Schwester für mich sein. O, wie glücklich ich bin, wie ungeheuer glücklich! Ich möchte singen und tanzen und meine Freude in die ganze Welt hinausrufen!«

In einer spontanen Regung wirbelte sie herum und warf ihm die Arme um den Hals, und ihre Begeisterung riß ihn mit. Er hatte keine andere Wahl, er mußte sie einfach umarmen, wenn auch sein Gebaren eher onkelhaft als leidenschaftlich war. Aber dann erinnerte er sich der Rolle, die er spielen mußte, und erwiderte ihren Kuß mit einer Sinnlichkeit, die ein wenig dringlicher als die ihre war. Erwartungsvolle Spannung schwebte zwischen ihnen, als sie voneinander ließen und Djamila in ihr Klassenzimmer und Da'ud zu seinem Herrscher zurückkehrte.

Da Ya'kubs Kräfte von Tag zu Tag schwanden, konnte man nicht daran denken, die Eheschließung von Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom mit Djamila, Tochter des Bahya ibn Kashkil, mit einem großen Fest zu begehen. Die religiöse Feier fand bei Sonnenuntergang im Innenhof von Ya'kubs Haus statt, und nur die engste Familie war anwesend. Während man Wein und leichte Erfrischungen reichte, nahm Ya'kub all seine Kraft zusammen, um Djamila im Hause der Ibn Yatom willkommen zu heißen, und kurz darauf verabschiedeten sich Da'ud, Sari und Djamila. Gemächlich spazierten sie durch die laue Nacht den kurzen Weg nach Hause, Djamila fröhlich und sorglos, Sari seltsam heiter, Da'ud kaum in der Lage, sein tiefes Unbehagen zu verbergen. Seit dem Morgen hatte er sich den Augenblick vorgestellt, wenn Sari sich allein zurückziehen würde, während er Djamila in das zweite Geschoß folgen würde, das er für sie hatte anbauen lassen, um die Intimsphäre seiner ersten Frau zu schützen. Sich von Sari zu trennen, das würde seine Seele zerreißen. Der Gedanke bedrückte ihn so ungeheuerlich, daß er alle anderen Erwägungen aus seinem Kopf verdrängte.

»Ich habe die Angewohnheit, vor dem Zubettgehen noch eine Weile draußen zu sitzen«, teilte er seiner Neuvermählten kühl mit, als sie zu dritt zögernd in dem mondbeschienenen Innenhof standen.

»Dann gehe ich hinauf und mache mich bereit«, antwortete Djamila mit der ihr eigenen Offenheit und eilte, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinauf. Unglaublich erleichtert, zog Da'ud Sari neben sich auf die alte Steinbank, wie er das in der Vergangenheit so oft gemacht hatte. Ihre Finger mit den seinen verschlungen, flüsterte er: »Ich werde dich heute nacht noch mehr lieben als je zuvor, seit ich dich zum erstenmal gesehen habe, denn im Geiste wirst du es sein, mit der ich mich vereinige.«

Sari nahm seine Worte mit einem langsamen, traurigen Nicken hin. So saßen sie in vertrauter Gemeinschaft einen langen, stillen Augenblick da. Dann stand Da'ud auf und ging zu seiner Braut, die ihn erwartete.

Sari zog sich rasch aus und legte sich auf das Bett, das sie und Da'ud bisher immer geteilt hatten. Instinktiv schob sie die Hand neben sich, auf Da'uds Platz, aber der war kalt und leer, keine Hand wartete auf die ihre, um sie zu ergreifen. Erst jetzt drang ihr die Wirklichkeit dessen, was geschehen war, ins innerste Herz, und es war ihr ein so bitterer Schmerz, daß ihr die Tränen in die Augen schossen. Die verzweifelte Sehnsucht nach seiner Anwesenheit, das dringende Bedürfnis, ihn neben sich zu spüren, die Intimität zu fühlen, die zwischen ihnen erwachsen war, war das die Liebe? In ihr zerriß etwas und entfesselte einen Sturm der Schluchzer und Tränen, der aus den tiefsten Tiefen ihrer verletzten Seele strömte.

17

Die Begierde loderte in dem Augenblick auf, als Da'ud und Djamila einander berührten. Djamila reagierte voller Leidenschaft auf die verfeinerte Liebeskunst, die Da'ud meisterlich beherrschte. Ihr großgewachsener, starker Körper mit den wohlgerundeten Brüsten und den dunklen Brustwarzen bewegte sich entspannt und geschmeidig unter seinen geschickten Händen. So heftig reagierte sie auf Da'ud, daß ihm alle Sinne wirbelten, daß die Umrisse der Frau verschwammen, die er besaß. Als sie spürte, wie er kraftvoll seinem Höhepunkt entgegenstrebte, spannte auch sie sich an und schnellte ihm entgegen, gesellte sich in vollkommener Vereinigung zu ihm. Sie war hingerissen. Großer Friede senkte sich über Da'ud, als er endlich zur Ruhe kam, ein Friede der körperlichen Erfüllung und Befriedigung, ein Friede der Erleichterung, genau das erreicht zu haben, was er sich vorgenommen hatte. Ihm hätte es genügt, sich von diesem Gefühl in einen sinnenschweren Schlummer einlullen zu lassen, doch Djamila war noch ruhelos vor Begierde, und er nahm sie erneut, und dann noch einmal. Erschöpft fiel er gegen Morgen in traumlosen Schlaf.

Erst als er erwachte und ihre kräftige dunkle Gestalt neben sich ausgestreckt sah, überkam ihn tiefste Scham. Er fand kein Vergnügen am Anblick ihres schweren Bauernkörpers, verspürte nicht das Verlangen, seine innersten Gedanken und Gefühle mit ihr zu teilen, auch nicht den Wunsch, sie ständig an seiner Seite zu haben. Die ungeheure Befriedigung, die sie aneinander gefunden hatten, war nur auf die Vereinigung ihrer Körper zurückgegangen, nicht auf eine Verschmelzung der Seelen. Würde er ein Kind lieben können, das aus einer so lieblosen Tat geboren wurde? fragte er sich, als er leise aufstand und die Treppe zum morgendämmerigen Innenhof hinunterging. Er sehnte sich danach, seine wirkliche Frau Sari zu besuchen und ihr seine ewige Liebe zu beteuern, aber er hielt sich zurück, um sie nicht unabsichtlich zu verletzen.

Warum war es ihm nicht vergönnt, mit der einzigen Frau in seinem Leben eine geistige und seelische und körperliche Einheit zu erreichen? haderte er mit seinem Gott, mit seinem Schicksal, während er rasch durch die morgendlich stillen Straßen wanderte.

Wie es seine Gewohnheit war, betrat er den Palast durch den etwas abseits gelegenen Eingang zur Bibliothek und begab sich diskret zum Arbeitszimmer al-Hakams, um dort sein tägliches Gespräch mit ihm zu führen.

»Ihr seht heute morgen außerordentlich wohl aus, mein gelehrter Freund, erfrischter und entspannter, als ich Euch je gesehen habe«, grüßte ihn der Kalif, legte das uralte Manuskript zur Seite, das er gerade studierte, und musterte seinen jüdischen Höfling genauer. »Eine Frau, nehme ich an«, lächelte er.

Mit einem kleinen Nicken stimmte Da'ud zu, gab aber keine weitere Erklärung.

»Ich freue mich, Euch bei so guter Laune zu finden«, meinte al-Hakam. »Ich hoffe, sie noch weiter zu verbessern, indem ich einen Gedanken fortführe, von dem wir bereits gesprochen haben. Ihr seid so begierig auf Wissen wie ich selbst, ganz gleich, aus welcher Quelle es auch kommen mag, und Ihr müßt folglich meinen Ehrgeiz teilen, unsere Stadt Córdoba mit einer Bibliothek ausgestattet zu sehen, die so reich und vielfältig sein soll wie das menschliche Streben selbst. Ich stelle sie mir als ein Schatzhaus des Wissens vor, das die Gelehrten von nah und fern anziehen wird und so meine Sehnsucht stillt, den weit verbreiteten Gedanken auszumerzen, daß wir nichts als eine Rasse von Kameltreibern und Eidechsenfressern sind, deren einzige Vergnügung das Schwingen des Krummschwertes ist. Unsere Sammlung religiöser, historischer und biographischer Schriften muß neben Werken unserer eigenen antiken arabischen Gelehrten noch durch Werke ergänzt werden, die von den Persern und Griechen verfaßt wurden. Wir sind zum Beispiel schlecht ausgestattet mit Büchern über Astronomie, Mathematik und Medizin. Als einen der größten Gelehrten in ganz al-Andalus halte ich Euch für den würdigsten unter meinen Höflingen, um diese edle Aufgabe auszuführen. Ich ermächtige Euch also, Sendboten in alle Winde auszuschicken, um dort in meinem Namen die Werke zu finden und zu erwerben, die Ihr für wert erachtet, einen Platz in unserer großen Bibliothek des Kalifen zu finden.«

»Diese Aufgabe übernehme ich mit Vergnügen«, erwiderte Da'ud. »Und da Ihr erneut den Wunsch äußert, den Ruhm unserer großen Stadt zu mehren, möchte ich respektvoll zu dem Gedanken zurückkehren, ein Hospital und eine medizinische Fakultät einzurichten, die es mit der von Bagdad aufnehmen kann. Schon jetzt strömen die Patienten nach Córdoba, um dort die Hilfe unserer berühmten Ärzte zu suchen, und«, fuhr er geläufig fort, »es werden noch viel mehr kommen, da es uns nun freisteht, das Geheimnis zu lüften, daß unter der ruhmreichen Herrschaft Eures Vaters das Geheimnis des Großen Theriak von Eurem untertänigen Diener entdeckt wurde.«

»Eine glanzvolle Leistung«, sagte al-Hakam. »Mein Vater hat mir kurz vor seinem Tode davon berichtet. Sie wird uns allen großen Ruhm bringen.«

»Das wird sie sicherlich, aber uns fehlen leider die entsprechenden Einrichtungen, um unsere eigenen Kranken zu behandeln, ganz zu schweigen von denen aus anderen Landen. Mit allem Respekt, o Herrscher der Gläubigen, gereicht uns diese Situation nicht zur Ehre.«

Al-Hakam sprang auf und begann aufgeregt im Zimmer auf und ab zu schreiten, seine schmalen Augen blitzten vor Erregung.

»Natürlich! Natürlich! Ihr habt völlig recht! Bei Allah, wir werden eine medizinische Einrichtung schaffen, die der Neid der gesamten zivilisierten Welt ist!«

»Da Euch der Gedanke annehmbar scheint, werde ich mich mit meinem Lehrmeister Abu Sa'id besprechen, der dieses Thema als erster angesprochen hat, sowie mit Eurem hervorragenden jungen Chirurgen Abu'l Kasim, damit sie mir sagen, wen man ihrer Meinung nach mit der Ausführung des Planes betrauen sollte.«

»Ihr werdet niemanden um Rat fragen. Ihr selbst seit hervorragend geeignet, ein solches Vorhaben zu vollenden. Ich habe völliges Vertrauen in Eure Eignung und Euer Urteil.«

»Aber …«

»Kein Aber, Abu Suleiman. Dies soll der Höhepunkt Eurer glanzvollen Laufbahn sein, die krönende Errungenschaft meiner Herrscherjahre. Wir dürfen keine Kosten scheuen. Dank Eurem Verhandlungsgeschick bei den christlichen Fürsten sind unsere Truhen übervoll. Bedient Euch dieser Reichtümer mit freier Hand. Nutzt sie für das Wohlbefinden unserer Untertanen und zum Ruhme unseres Reiches.«

»Ich bin zutiefst dankbar für die Ehre, die Ihr mir erweist, aber ich habe in Gelddingen nur wenig Erfahrung«, versuchte Da'ud wiederum zu protestieren, denn er wollte sich nur ungern möglichen Anschuldigungen aussetzen, er hätte öffentliche Gelder verschwendet oder gar unterschlagen.

»Kommt, kommt, wenn es Euch möglich war, das Geheimnis des Großen Theriak zu entschlüsseln, so werdet Ihr doch in der Lage sein, Geschäftsbücher zu überwachen. Besprecht das Vorhaben mit Euren Kollegen, den Ärzten, und unterbreitet mir Eure Gedanken, so daß wir den Rat unseres Architekten einholen können.«

Weiterer Protest war sichtlich vergebens. Zum Glück war die politische Situation des Kalifats so geartet, daß Da'ud nicht glaubte, al-Hakam würde seine Dienste auf anderem Gebiet benötigen: die christlichen Fürsten waren zu sehr mit ihren internen Streitereien beschäftigt, als daß sie ihren muselmanischen Herrscher hätten angreifen können. Und nachdem der Fatimide al-Mu'izz große Teile des Gebietes erobert hatte, das einstmals Abd ar-Rahman in Nordafrika regiert hatte, schien er es zufrieden, al-Hakam Ceuta und Tanger zu überlassen. Im Augenblick war der Kalif wohl nicht geneigt, zur Wiedererlangung seiner Oberherrschaft über das ganze Mittelmeer in den Kampf zu ziehen. Seine – und damit auch Da'uds – Energie würde sich nun ausschließlich auf die kulturelle Blüte seines Reiches richten.

Abu Sa'id Hatim ibn Zuhr bat die Studenten, die rings um ihn saßen, eine komplizierte Zeichnung des menschlichen Skeletts genau zu betrachten, während er hinausging, um sich mit Da'ud ibn Yatom in der Kühle seines üppigen Gartens zu unterhalten.

»Wie geht es deinem Vater?«

»Schlecht, verehrter Meister, schlecht«, erwiderte Da'ud und wandte sich ab, um den Duft eines Jasminstrauchs einzuatmen und seine Gefühle zu verbergen. »Dank Abu'l Kasims Geschick ist die Wunde völlig verheilt, aber seine Lebenskraft schwindet täglich mehr.«

»Schmerzen?«

»Nein.«

»Sein Zustand deutet wohl darauf hin, daß eine andere Geschwulst sich irgendwo an einer verborgenen Stelle gebildet hat und das gesamte Umfeld verseucht, seine lebenswichtigen Organe auszehrt. Dagegen, mein Sohn, gibt es kein Heilmittel.«

»Ich weiß, Meister, ich weiß. Aber ich kann mich nicht damit abfinden. Wenn in der Natur jede Erscheinung ihren Widerpart hat und jede Krankheit ihre Heilung, warum hat man noch nichts entdeckt, was diese bösartige Krankheit aufhalten kann?«

»Es sind mir Gerüchte zu Ohren gekommen, daß in den östlichen Ländern ein Heilmittel eingesetzt wird, aber ich habe noch nichts Genaueres darüber in Erfahrung bringen können.«

Sofort dachte Da'ud an den radanitischen Händler, der eine mögliche Verbindung in diese fernen Gegenden sein könnte, aber dessen letzter Besuch in Córdoba lag so lange zurück, daß Da'ud bezweifelte, daß der Mann überhaupt noch lebte.

»Ich werde die Sendboten, die ich auf Befehl des Kalifen zur Suche nach alten Manuskripten in die ganze Welt ausschicke, darum bitten, für mich Erkundigungen einzuziehen. Sie könnten zufällig auf etwas stoßen, so wie ich zufällig auf das Geheimnis des Großen Theriak gestoßen bin.«

»Du bist was? Willst du mir damit sagen, du hast tatsächlich die fehlenden Zutaten herausgefunden?« rief Ibn Zuhr ungläubig aus, das edle Gesicht von Bewunderung erhellt. »Wie? Wann?«

»Vor vielen Jahren, Meister, und auf dringlichen Wunsch Abd ar-Rahmans, der mir den Schwur abnahm, bis zu seinem Tode Stillschweigen darüber zu wahren. Er war besessen von der Furcht, zufällig oder vorsätzlich durch das Gift einer Schlange getötet zu werden, und befahl mir, nach den verlorengegangenen Zutaten zu suchen.«

»Erzähl mir, erzähl mir«, drängte Ibn Zuhr seinen ehemaligen Schüler und zog ihn neben sich auf eine mit Moos bewachsene Bank im Schatten eines riesigen Feigenbaums. Mit aller Ausführlichkeit berichtete Da'ud seinem Lehrer, wie er das uralte Geheimnis entschlüsselt hatte.

»Aber das ist nicht alles, Meister. Als Abd ar-Rahman gegen Ordoño in den Kampf zog, gab ich ihm eine große Flasche von diesem Gegenmittel mit. Und dann kam mir plötzlich der Gedanke, ihm vorzuschlagen – einerseits, um seine Angst zu mindern, und andererseits, um eine sichere Wirkung zu erzielen –, er solle eine kleine Menge vorbeugend trinken, falls er sich in Gefahr wähnte. Wenn es nichts nützte, so würde es doch sicherlich auch nicht schaden, dachte ich. Er tat, wie ich ihm geraten hatte, und wurde wenige Stunden später tatsächlich von einer Schlange gebissen, genau wie er es vorausgesehen hatte. Da nahm er eine volle Dosis des Großen Theriak ein und verspürte keinerlei Wirkung des Gifts. Keine. Überhaupt keine!«

»Unglaublich!« rief Ibn Zuhr aus. »Ganz unglaublich! Aber wir können daraus nicht ableiten, daß der Große Theriak auch als vorbeugende Maßnahme gegen das Gift wirkt, da er nach dem Biß noch eine weitere Dosis zu sich genommen hat. Es gibt keine Möglichkeit, herauszufinden, ob deine Intuition, wie du es nennst, begründet ist, ohne jemanden der Todesgefahr auszusetzen. Ah«, seufzte er, »wenn wir nur die Einrichtungen hätten, die es uns erlauben würden, unter gleichen Bedingungen die Reaktion von Patienten auf verschiedene Formen der Behandlung zu beobachten, unsere Beobachtungen aufzuzeichnen und auszutauschen …«

»Ein Hospital und eine medizinische Schule«, lächelte Da'ud. »So Gott will, werden wir beides bald haben. Al-Hakam ist beseelt von dem Gedanken, das medizinische Zentrum, von dem wir gesprochen haben, zu bauen, und er hat mich damit beauftragt, die Verantwortung für die Durchführung dieses Plans zu übernehmen.«

»Was für wunderbare Nachrichten du mir bringst! Wäre nicht der schlechte Gesundheitszustand deines Vaters, es gäbe Grund zum Feiern. Wir müssen uns mit Abu'l Kasim treffen und den Plan bis in alle Einzelheiten besprechen. Wir haben dir viel zu verdanken«, murmelte der Meister, als er seinen ehemaligen Schüler nach draußen begleitete. »Und darf ich dir Freude mit deiner neuen Frau wünschen?«

»Freude ist wohl ein zu starkes Wort. Zufriedenheit vielleicht. Oder vielmehr könnt Ihr mir wünschen, daß ich Vater eines Sohnes werde.«

In jener Nacht und jede Nacht in den drei Monaten nach seiner Heirat mit Djamila teilte Da'ud mit ihr das Beilager. Da sie von Natur aus überschwenglich und völlig ungehemmt war, bereiteten ihr die unzähligen Varianten des Liebesspiels, in die er sie einweihte, ungeahntes Vergnügen. Für ihn als Arzt barg der weibliche Körper kein Geheimnis. Als ihre Blutung jedoch bereits den dritten Monat in Folge ausgeblieben war, klang seine Leidenschaft ab. In gleichem Maße wuchs umgekehrt seine Sorge um ihren Zustand. Mit penibler Sorgfalt überwachte er ihren Tagesplan und ihren Gesundheitszustand, eine Fürsorge, die sie als übertrieben empfand. »Schwangerschaft und Geburt sind einfache, natürliche Dinge«, lachte sie ihn mit ihrem gesunden Bauernverstand oft aus, dennoch nahm sie seine Aufmerksamkeiten mit Demut entgegen. Er bestand sogar darauf, daß sie ihre Besuche bei den Kleinen in der Talmud- und Thoraschule, die sie seit ihrer Eheschließung so vermißten, einschränkte. »… um einen Unfall zu vermeiden – einen Fall, einen Stoß, Überanstrengung, wenn du mit den Kindern herumtollst. Schon bald wirst du ein eigenes Kind haben, um das du dich kümmern kannst«, fügte er dann in dem Versuch hinzu, sie bei Laune zu halten.

Djamila war ein Leben im Freien gewohnt. Sie hielt sich nur ungern längere Zeit in dem eingeschränkten Bezirk des Hauses auf, wie Sari das gerne tat. Djamila gewöhnte es sich also an, die Damen der feinen Familien der Gemeinde zu besuchen, die alle so begierig darauf waren, ihre Bekanntschaft zu machen, wie sie, die ihre zu pflegen. Die drei Schwestern Bar Simha, die längst mit wohlhabenden Händlern vermählt und Mütter zahlreicher Nachkommen waren, trugen ihr besonders drängende Freundschaftsangebote an und verbargen ihre Neugier über die zweite Ehefrau des Mannes, der sie so hochmütig abgelehnt hatte, hinter einem überschwenglichen Lächeln. Da'ud runzelte die Stirn über diese neue Vertrautheit, denn die Familientradition verlangte, stets einen gesunden Abstand zu jenen zu wahren, die vorgaben, vertraute Freunde werden zu wollen. Aber er brachte die Sache nicht zur Sprache. Jetzt war nicht die Zeit, Djamila zu verärgern oder zu reizen. Sari war seine Verstimmung aufgefallen, und sie versuchte ihn zu besänftigen. »Wenn das Kind erst einmal geboren ist, hat sie nicht mehr viel Zeit für solche Sachen«, sagte sie und legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm.

Als Djamila immer runder wurde, steigerte sich Da'uds Angst und Aufregung noch. Er zog sogar die Sterne zu Rate – ein Brauch, den er sonst mit äußerstem Mißtrauen beäugt hätte –, um sich zu versichern, daß die himmlischen Gestirne in einer günstigen Lage stehen würden, wenn das Kind geboren werden sollte.

Eines Abends war er gerade damit beschäftigt, die Sterne zu befragen, als ihn ein Diener aus seinem Elternhaus holen kam. Voller unguter Vorahnungen eilte er zum Bett seines Vaters. Der war so in sich zusammengesunken, daß man seine Gestalt unter den vielen Decken kaum noch ausmachen konnte, die seine Mutter auf das Bett gebreitet hatte, um ihn zu wärmen. Sein Gesicht war eingefallen, die straff über die hervorstechenden Knochen gespannte Haut so grau, daß sie den nahen Tod ahnen ließ, der Atem schwach wie der letzte Abendhauch. Als er spürte, daß Da'ud in der Nähe war, winkte er ihn mit knochigem Finger zu sich herunter. »Mögest du mit einem starken und gesunden Sohn gesegnet werden«, flüsterte er mit dem letzten Atemzug, der ihm noch vergönnt war. Dann wandte er sein Haupt und fand für immer seinen Frieden.

Trotz der langen Monate, in denen Da'ud sich auf das Sterben seines Vaters vorbereitet hatte, traf ihn die Endgültigkeit des Todes nun mit einer Gewalt, die all sein ärztliches Wissen und seine Erfahrung nicht mildern konnten. Warum hatte man noch keine Heilung für die Leiden der Menschen gefunden? Warum war der Tod ein unabwendbares Schicksal, das Gott und die Natur verhängt hatten? Diese ewigen Fragen wirbelten ihm durch den Kopf, unbeantwortet wie je. Wochenlang peinigte ihn dieser Schmerz und lehnte er sich gegen das Schicksal auf. Allein Sari schien ihm Trost spenden zu können.

»Das Kind wird kommen und die Leere füllen, die Ya'kub in unser aller Herzen hinterlassen hat«, wiederholte sie immer wieder. »Denk an das Kind, denk an die Zukunft, an das neue Leben, das du gezeugt hast, zur Fortsetzung des alten.«

Sie unterstützte ihn stetig und beständig. Obwohl sie sich nie daran gewöhnt hatte, ohne ihn an ihrer Seite zu schlafen, bereitete ihr das Wissen Trost, daß seine Nächte zwar Djamila gehörten, doch sein Leben, seine innersten Gedanken und Gefühle immer nur ihr, wie eh und je.

Die Wochen bis zur Geburt zogen langsam dahin. Hinter Da'uds äußerer Ruhe verbrachen sich Angst und Anspannung, Djamila sehnte voller Ungeduld die Entbindung herbei, und Sari versuchte, den einen zu beruhigen und die andere aufzuheitern.

Und dann klang in den frühen Morgenstunden eines eiskalten Wintertages der Schrei eines neugeborenen Kindes durch Da'uds Haus, ein Ruf zum Leben. Es war ein starker und gesunder Schrei, eine Antwort auf Ya'kubs letzten Wunsch. Aber er kam von Djamilas Tochter, nicht von Da'uds langersehntem Sohn.

Da'ud erblaßte, seine Schultern sanken herab, und seine Lippen bebten vor eiskalter Wut, als die Hebamme ihm ängstlich die Nachricht brachte. Abrupt wandte er sich um und wollte schon das Haus verlassen, doch Sari hielt ihn mit fester Hand zurück.

»Die Geburt war leicht, das Kind ist gesund, und Djamila geht es einigermaßen gut. Viele Söhne werden folgen. Komm, nimm das kleine Wesen in den Arm«, drängte sie ihn und forderte die Hebamme mit einer Handbewegung auf, ihm den Säugling zu reichen.

»Viele Söhne werden folgen?« fragte Da'ud dumpf, während er, peinlich berührt, auf das rötliche, verschrumpelte Wesen in seinem Arm schaute.

»Laß mich sie auch einen Augenblick halten«, sagte Sari. Ungläubig, seine alte schmerzliche Liebe zu ihr noch wie einen Dorn im Herzen, beobachtete Da'ud sie, wie sie ihm das kleine Bündel abnahm und es an sich schmiegte.

»Was für ein winziges, wunderbares Etwas!« flüsterte sie, und Tränen glitzerten ihr in den Augen. »Das Wunder des Lebens, das wir nähren und lieben und zu einem vollkommenen Menschenwesen machen müssen.«

Eine warme Welle stieg aus einer geheimnisvollen urzeitlichen Quelle im Innersten ihres Wesens in ihr empor, versetzte ihre Sinne in einen so mächtigen Aufruhr, daß sie beinahe das Bewußtsein verlor. Tiefe Röte überzog ihre blassen Wangen, während sie leise murmelte: »Liebster Da'ud, ich glaube, du hast mich endlich verstehen lassen, was die Bedeutung von Leben und Liebe ist.«

Als sie die Augen zu ihm hob, war das tiefe Blau von einem Licht der Liebe erhellt, das er nicht mehr in ihnen zu sehen gehofft hätte. »Ja. Viele Söhne werden folgen«, wiederholte er und nahm ihr Gesicht zärtlich in beide Hände. »Aber du wirst sie mir schenken.«

»Ja, o ja, mein Liebster, gerne werde ich sie dir schenken.«

Da'ud rief die Hebamme zu sich und gab ihr das Kind zurück. »Bring sie zu ihrer Mutter«, befahl er.

Dann lagen er und Sari zusammen. Ihre Vereinigung war voller Ekstase, von einer ungeheuerlichen, kosmischen Gewalt. Es war eine vollkommene Verschmelzung des leidenschaftlichen Lebensdrangs, der so lange in Sari verborgen geschlummert hatte, mit dem Strom von Da'uds Liebe, der so lange in seiner Seele gefangen gewesen war. Nie hätten sie gedacht, ein solches Glück erleben zu dürfen, so groß, so allumfassend, daß sie nicht voneinander lassen konnten. Erst am hellen Tag kamen sie wieder zum Vorschein, strahlend vor Glück, das um so größer war, da sie so lange darauf gewartet hatten.

Von nun an bewegten sich Da'ud und Sari wie außerhalb der Welt. Vom Sturm der Leidenschaft mitgerissen, der kein Ende zu nehmen schien, wurden sie vom Wunder ihrer vollkommenen Vereinigung von Leib und Seele zu unvorstellbaren Höhen getragen. Sie lebten wie verzaubert, auf einer Wolke aus Liebe und Leidenschaft, aus Zärtlichkeit und Ekstase, und ihr Glück strahlte Freude auf alle Menschen in ihrer Umgebung aus.

Außer auf Djamila. Sie wurde nicht mehr bemerkt, ihr Bett war leer und verlassen, das knospende Leben ihrer Tochter wurde nicht beachtet. Sie kämpfte tapfer, um ihren Stolz und ihre Selbstachtung nicht zu verlieren. Sie hatte ihrem Mann keine Vorwürfe zu machen. Er hatte sie gleich zu Anfang gewarnt, daß er nur Sari liebte. Hätte sie ihm einen Sohn geboren, so hätte er sich gewiß anders verhalten, wenn schon nicht zu ihr, so doch dem Neugeborenen gegenüber. Sie hatte für ihn gleichsam zu existieren aufgehört. Nur das Mädchen Amira war ein Beweis dafür, daß sie einmal vereint gewesen waren.