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TEIL II. Da'ud und Hai

18

Es war das einzige Mal in seinem Leben, daß Da'ud ibn Yatom die Mauer der Diskretion durchbrach, mit der er sonst eifersüchtig das Privatleben seiner Familie hütete. An dem Tag, den man für die Beschneidung seines erstgeborenen Sohnes Hai bestimmt hatte, standen die Türen seinen Hauses allen weit offen, die kommen und seine Freude mit ihm teilen wollten.

Erst wenige Wochen vor der Geburt des Kindes hatte man letzte Hand an das neue Haus angelegt, das Da'ud für seine wachsende Familie hatte errichten lassen. Von der Tür zur Straße hin führte ein schmaler Flur in einen großen Innenhof, um den die drei Flügel des Anwesens gruppiert waren. Der mittlere war ausschließlich Da'ud vorbehalten. Hier würde er arbeiten und seine wenigen Besucher empfangen. Die seitlichen Flügel waren für die beiden Frauen und ihre Kinder vorgesehen, eine Trennung, die jetzt und in Zukunft dem Haushalt Frieden und Ruhe sichern sollte. In emsiger Geschäftigkeit waren die griechischen Mosaikkünstler und Marmorbearbeiter, die arabischen Wasserexperten und Meister des Kachelverlegens, die berberischen Maler, die persischen Teppichverkäufer und die Seidenhändler aus Córdoba ein und aus gegangen, stets dienstbeflissen und eifrig, hatten sich in ihrer Hast beinahe überschlagen, um das Werk zum verabredeten Zeitpunkt zu vollenden.

Wenige Augenblicke, bevor die Gäste kommen sollten, nahm Da'ud Sari bei der Hand und ging mit ihr zum fernen Ende des wunderbar harmonisch gestalteten Wassergartens, der mit seinen schönen Schwüngen den Mittelpunkt des Innenhofes bildete. Dort, in der lauschigen Stille ihres Glücks, blieben sie einen Augenblick stehen, um den schmalen Wasserlauf zu betrachten, der geschützt zwischen zwei Reihen dichter, dunkler Zypressen lag. Feine Wasserschleier stiegen aus einer im Laub verborgenen Quelle auf, schwebten durch die Lüfte, ehe sie wieder ins ruhige Wasser zurücksanken. Die schlanke, nach oben schmaler werdende Silhouette der Bäume, die aufrecht, reglos und stumm wie Wachtposten dastanden, fand ihren Widerhall in einem einzigen fedrigen Zypressenschößling, der in eine Marmoreinfassung mitten im Wasserlauf gepflanzt war. Dorthin lenkte Da'ud seinen Blick.

»Ich habe dieses zerbrechliche, zarte Ding heute im Morgengrauen gepflanzt, damit es mit Hai zusammen aufwachse. Solange er noch klein ist, wollen wir seine Körpergröße daran messen, und wenn er herangewachsen ist, wollen wir beobachten, wie der Baum an Kraft und Größe gewinnt und wie unser Sohn zu den Höhen großer Errungenschaften, zu Würde und Stolz aufsteigt. Dies hier«, fuhr er fort und wandte sich seiner Frau zu, während er aus dem Ärmel seines Festgewandes einen kleinen Samtbeutel hervorzog, »dies hier ist für dich.« Er hob zärtlich ihre Hand und ließ eine goldene Kette hineingleiten, an der, aus Smaragden in goldener Fassung, ein Ebenbild des kleinen Schößlings hing.

»Wie ähnlich dir das sieht«, lächelte ihn Sari sanft an, »immer ein elegant gedrechselter Satz, eine kunstvolle höfische Geste.«

»Weder Worte noch Gesten reichen aus, um dir meine unendliche Freude mitzuteilen. Wie viele Menschen genießen zu Lebzeiten das Glück – was sie auch immer dafür bezahlen –, all ihre ehrgeizigen Wünsche erfüllt zu sehen?«

»Ein ernüchternder Gedanke, der uns mit Bescheidenheit erfüllen sollte«, murmelte Sari, als sie in Gedanken zu den ersten Erinnerungen ihres Lebens zurückkehrte, zu der primitiven Gewalt, den niedrigen Instinkten, der Furcht und dem Schrecken, dem Schmerz, der Häßlichkeit, dem Elend, der Einsamkeit – den einzigen Weggefährten ihrer unglückseligen Kinderzeit. Sie konnte nicht wie Da'ud sagen, daß alle ehrgeizigen Wünsche ihres Lebens erfüllt waren. Ehe er sie gerettet hatte, war ihr gar nicht bewußt gewesen, daß das Leben überhaupt irgend etwas Erstrebenswertes bieten konnte. Ihr einziger glühender Wunsch war allein die Flucht gewesen, obwohl sie nicht wußte, wohin sie fliehen sollte. Wären da nicht der radanitische Kaufmann und dann Da'ud selbst gewesen, sie hätte vielleicht nie erfahren, daß das Leben auch etwas anderes sein konnte als die Schrecken, die sie durchlitten hatte. Mehr noch, daß die Liebe, ein Gefühl, das sie weder empfangen noch gegeben hatte, tierische Lust zu höchster menschlicher Ekstase wandeln konnte.

Oh, welche Ekstase! Wie leicht und zart er sie berührt hatte, wie zärtlich er sie liebkost, mit seinen Händen das leiseste Beben der in ihr erwachenden Lust erspürt hatte. Mit diesen sicheren, liebenden Händen, die sie langsam auf den Pfaden ihres Verlangens emporführten, bis sie aus eigener Kraft mit ihm zu den schwindelerregenden Gipfeln der Leidenschaft aufstieg. In den Monaten nach der Geburt Amiras hatten sie sich ihrer Liebe hingegeben. Ihre Sinne, ihre Körper, ihrer beider Wesen verschmolzen zu einem einzigen lebendigen Ganzen, in das sich beide versenkten, einer vom anderen durchdrungen. Und wenn sie getrennt waren, sehnte sich einer nach der Berührung, nach dem Anblick des anderen, harrte ungeduldig auf das nächste Verschmelzen. Wie groß war die Gefahr gewesen, daß sie ihr Leben in Unkenntnis dieses höchsten Geschenks verbracht hätte, der vollkommenen Liebe eines Menschenwesens zu einem anderen, und der Wonne ihrer Erfüllung in der Erschaffung eines neuen Menschen – einer gottähnlichen Handlung. Wie vielen anderen, die wie sie in ein elendes Leben hineingeboren waren, war es denn vergönnt, eine so wundersame Wandlung ihres Geschicks zu erfahren? Dieses Wissen um die Unwägbarkeiten des menschlichen Schicksals – warum ausgerechnet sie, warum nicht eine andere? – zwang sie zur Bescheidenheit.

Wenn sie jetzt ihren Ehemann betrachtete, durchströmte sie ein überwältigendes Gefühl der Freiheit. Nun empfand sie nicht mehr die Schuld, ihm Enttäuschung und Unglück gebracht zu haben. Jetzt, da sie ihm freizügig gewährt hatte, was er geduldig erwartete, wonach er sich so schmerzlich verzehrte, was er aber nie erzwungen hatte, jetzt, da sie so viel gegeben wie gewonnen hatte, fühlte sie sich ihm ebenbürtig in der Partnerschaft ihrer Liebe, frei und gleich, so daß sie ihm ihre innersten Gedanken enthüllen konnte.

»Warum warst du während meiner Schwangerschaft so ruhig, so beinahe unnatürlich gelassen, und als Djamila ihr Kind Amira erwartete, so übermäßig besorgt?«

»Diese Frage habe ich mir in all den Monaten immer wieder selbst gestellt«, erwiderte Da'ud. »Ich hätte eigentlich ebenso von Ängsten geplagt werden müssen, nicht nur, weil sich vielleicht während deiner Schwangerschaft oder bei der Geburt ein nicht wiedergutzumachender Schaden, den man dir in deiner Kindheit zugefügt hatte, furchtbar hätte auswirken können. Der bloße Gedanke, dich im Kindbett zu verlieren, hätte mich Tag und Nacht verfolgen müssen. Aber es war nicht so. Von dem Augenblick an, als du dich mir so großzügig, so vollkommen geschenkt hast, mit grenzenloser Liebe und schrankenlosem Vertrauen, da wußte ich in meinem Innersten, daß unsere Vereinigung vom Himmel gesegnet war. So wie ich beim erstenmal, als dich meine Augen erblickten, wußte, daß ich mein ganzes Leben lang dich und nur dich lieben würde, so hatte nun die unerschütterliche Überzeugung von mir Besitz ergriffen, daß Hai dazu bestimmt war, gesund und sicher in diese Welt zu kommen, das lebendige Symbol unserer Vereinigung, das Zeugnis unserer Liebe, bestimmt dazu, sie fortzusetzen.«

»Und doch haben die Hebammen die Geburt nicht als leicht bezeichnet. Sie waren sehr besorgt. Einen Augenblick lang dachte ich, man hätte mir ein Stück meiner selbst mit Gewalt entrissen.«

Da'ud wartete einen Augenblick, ehe er antwortete. »Ich habe mit ihnen gesprochen.«

»Es wird keine weiteren Kinder geben, nicht wahr?«

»Vielleicht nicht. Das kümmert mich nicht. Ich habe nicht das Verlangen, dich noch einmal so leiden zu sehen. Ich habe dich, und ich habe unser Kind der Liebe, Hai, dessen Name ›Leben‹ heißt. Mit zwei solchen Schätzen wäre es vermessen, um noch mehr zu bitten.«

»Und du hast Amira – und Djamila ebenso.«

Da'ud brachte sie mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Sie hat ihren Zweck erfüllt«, sagte er nüchtern und bestimmt.

Hais leises Weinen beendete das Gespräch. Sari eilte in ihren Flügel des Hauses zurück, um ihr neugeborenes Kind zu stillen, während Da'ud die Ärmel seines dunklen Gewandes zurechtzupfte und die Gäste empfangen ging.

Rabbi Samuel Ben Mar Shauk, der ehrwürdige Gelehrte aus Lucena, kam als erster. Er war noch nie von kräftiger Gestalt gewesen, inzwischen jedoch gebrechlich und ein wenig zitterig geworden, und sein dünner weißer Bart gemahnte an den feinen Wasserschleier, der über dem Wassergarten schwebte. Tränen der Rührung standen ihm in den schwach gewordenen Augen, als er seinen ehemaligen Schüler umarmte, der sich von Anfang an als hervorragender Denker gezeigt und Großes versprochen hatte. Was für ein Vergnügen war es gewesen, ihm die Schönheit der biblischen Sprache und ihrer poetischen Bilder zu vermitteln, ihm die Weisheit der Talmudgelehrten zu erläutern. Welche Befriedigung hatte ihm die Gewißheit verschafft, daß jedes seiner Worte vom wachen Verstand dieses Jungen aufgenommen und dort sorgfältig abgewägt wurde. Selbst wenn Da'ud in seinem späteren Leben die Einhaltung bestimmter Regeln, die seiner Meinung nach mit seinem Alltag nicht vereinbar waren, weniger ernst genommen hatte, so war er sich ihrer doch bewußt und hatte eine wohlüberlegte eigene Entscheidung getroffen. Dafür konnte ihm Rabbi Samuel im Grunde seines Herzens keinen Vorwurf machen. Er war zutiefst gerührt über die Ehre, die Da'ud ihm hatte zuteil werden lassen, als er ihn zum Paten für Hai ausgewählt hatte. Obwohl Rabbi Samuel wußte, daß ihn die Reise aus der Abgeschiedenheit Lucenas in die geschäftige Stadt Córdoba, die einmal seine Heimat gewesen war, sehr ermüden würde, hätte ihn nichts bewegen können, diese Ehre auszuschlagen. Als nun seine schwachen Arme die schmale, ernste Gestalt Da'ud ibn Ya'kub ibn Yatoms, des mächtigsten Juden in ganz al-Andalus, umfingen, da murmelte er ein Dankgebet, daß Gott ihn am Leben erhalten und dafür gesorgt hatte, daß er diesen Tag erleben durfte. Da'ud war gerührt und zutiefst zufrieden. Die Wahl Rabbi Samuels zum Paten hatte ihm nicht nur die Möglichkeit gegeben, seinen Mentor zu ehren, er entging so auch der Gefahr, eifersüchtige Streitereien zwischen den prominenten Mitgliedern der Gemeinde heraufzubeschwören, die alle um seine Gunst buhlten.

Gleich hinter Rabbi Samuel erschien Rabbi Ezra, der Beschneider, dem Abu Sa'id und Abu'l Kasim unmittelbar folgten. Nachdem die beiden Ärzte Da'ud begrüßt hatten, unterhielten sie sich mit Rabbi Ezra über die sicherste und schnellste Art, die Vorhaut eines Neugeborenen zu entfernen. Mit der Miene der absoluten Autorität fuhr Ibn Zuhr mit dem Finger über die scharfe Klinge des Messers, das der mohel benutzen würde, während Abu'l Kasim überprüfte, ob der Schlitz zwischen den lotosförmigen silbernen Blättern der Schutzklemme, die den Penis des Säuglings abschirmen würde, die richtige Breite hatte. »Diese Instrumente wurden eigens für den heutigen Anlaß gefertigt«, gab Rabbi Ezra zu verstehen.

Nach einem zustimmenden Blick auf Abu'l Kasim verkündete Ibn Zuhr knapp: »Sie sind in Ordnung.« Dabei ließ er ein kleines goldenes Behältnis in die Hand des Beschneiders gleiten, das ein weißes alkalisches Pulver enthielt. »Streut ein wenig davon auf die Wunde, ehe Ihr sie verbindet«, sagte er und mischte sich dann zusammen mit Abu'l Kasim unter die anderen Gäste.

Eine glänzende Gesellschaft hatte sich versammelt. Der jüngere Bruder des Kalifen war als al-Hakams persönlicher Vertreter zugegen, zusammen mit anderen Prinzen aus dem Hause der Omaijaden, alle mit reichen Gewändern und funkelnden Juwelen geschmückt. Zu bedeutenden Wesiren gesellten sich Höflinge von geringerem Rang. Rabbis und Richter von den jüdischen Gerichten waren aus allen Gemeinden von al-Andalus gekommen. Dichter, Gelehrte und Philosophen in großer Zahl waren erschienen. Aus den christlichen Königreichen hatten die Herrscher von Leon und Navarra ihre persönlichen Gesandten geschickt. Königin Toda, die noch nie jemand der Undankbarkeit hatte bezichtigen können, schickte dem Sohn des Mannes, dem ihr Enkel Gesundheit und Thron verdankte, ein Miniaturschachspiel: filigrane Figuren aus Gold und Silber, das Schachbrett aus rotem und grünem Jaspis.

Als Da'ud den Blick über die zahllosen Gäste schweifen ließ, erfüllte ihn ein Stolz, der ihn ein wenig ängstigte. Wenn ein Mann den Gipfel seiner ehrgeizigen Wünsche erreicht hat, wenn die Höchsten des Landes ihm, dem engsten Vertrauten des Kalifen, dem Gelehrten und Arzt und dem Höchsten unter den Juden in al-Andalus, ihre Ehrerbietung erwiesen, was lag dann noch vor ihm? Der Titel eines Wesirs war ihm verwehrt, um ihn vor der Gegnerschaft der Imame zu schützen, die es nicht dulden würden, daß ein Jude Autorität über die Moslime bekam. Er konnte also nicht weiter aufsteigen. Die Zukunft konnte ihm folglich nur Stillstand oder Niedergang bringen. Andere junge Männer, die so sehr vom Ehrgeiz getrieben waren wie einstmals auch er, würden sicherlich auftauchen und mit ihm um die Gunst des Kalifen wetteifern … Und wer konnte vorhersagen, wie es in der Zukunft um sein persönliches Glück bestellt sein würde, das heute vollkommen war, aber doch zugleich äußerst verletzlich, da zwei Frauen, zwei Kinder einander gegenüberstanden, getrennt durch den harmonischen Garten, den er zwischen ihnen angelegt hatte. Bis heute war alles gutgegangen, ermahnte er sich. Genieße deinen Triumph! So wie du in der Vergangenheit den Gefahren getrotzt hast, so wirst du dich auch in Zukunft verteidigen, dich und deine geliebte Frau Sari und Hai, euren langersehnten Sohn.

Nun winkte ihn Rabbi Ezra zu sich. Seine Mutter Sola hatte Sari den Säugling bereits abgenommen und ihn an Rabbi Samuel weitergereicht, der auf seidenen Kissen ruhte und das Kind auf dem Schoß hielt, die Handreichungen des Beschneiders erwartete. Rabbi Ezra hatte die glänzenden neuen Instrumente sorgfältig auf einer makellosen Marmorplatte ausgebreitet und näherte sich dem Kind, entfernte die Windeln und spreizte die winzigen, protestierend strampelnden Beine weit auseinander. Sari, die vom Fenster ihres Zimmers aus die Zeremonie beobachtete, unterdrückte einen Angstschrei, ihr Körper krampfte sich heftig zusammen. Ihr einziger Wunsch in diesem Augenblick war die Flucht, die Flucht vor dem Anblick Ezras, der mit starker Hand die Beine des Kindes gegen dessen Willen spreizte, so wie andere, grausamere, brutale Hände vor vielen Jahren ihre mageren Kinderbeine mit Gewalt gespreizt hatten … Auch damals hatte sie ihre Angstschreie unterdrückt, aus Furcht, die Hände der alten Männer könnten ihr noch größere Gewalt antun … Sola, die sich ihrer inneren Qual nicht bewußt war, legte mütterlich den Arm um sie, eine warme menschliche Berührung, die tief in Saris innerstem Wesen etwas löste. Hemmungslos ließ sie ihren Tränen freien Lauf, und mit ihnen strömte all der Schmerz aus ihr heraus, den sie seit ihrer Kindheit stumm in sich verborgen hatte. Es war, als wäre sie durch ihren Sohn selbst wiedergeboren und hätte sich nun endlich davon befreit. Der Klang von Hais gesundem, kräftigem Protestgeheul – schwach in den Ohren anderer, aber ein durchdringender Schrei in den Ohren seiner Mutter – vermischte sich mit ihren eigenen Schluchzern, mit ihrem eigenen verspäteten Protest. Erst jetzt war in ihr der Wunsch nach Flucht für immer gewichen, und mit ihm in der Flut ihrer reinigenden Tränen auch der Schmerz. Sie mußte hierbleiben, ihren Sohn beschützen, ihn in den Armen wiegen, ihn an ihrer Brust nähren, ihn trösten, wie sie selbst getröstet worden war. Niemals würde sie ihn verlassen, so daß er die Prüfungen des Lebens allein bestehen mußte. Niemals, so lange sie Atem in sich verspürte.

An der gegenüberliegenden Seite des Gartens weinte auch Djamila an ihrem Fenster – heiße Tränen des Grolls und des verletzten Stolzes. Nicht um ihrer selbst willen, versuchte sie sich einzureden. Da'ud hatte aus seinen Absichten nie einen Hehl gemacht, als er sie zur zweiten Frau nahm. Sie hatte den Handel, den er ihr angeboten hatte, bereitwillig angenommen. Sie hatte nur sich allein die Schuld zuzuschreiben. Wie offenkundig er sie auch ignorierte, sie war jetzt und in Zukunft Mitglied seines Haushaltes, mit all dem Respekt und all den Annehmlichkeiten des Lebens, die ihr in dieser Rolle zustanden. Nein, sie weinte um Amira, seine Tochter, deren Existenz er nicht zu Kenntnis nahm. Der Anblick der festlichen Menge, die draußen versammelt war, ließ in ihr eine Welle der Auflehnung emporsteigen, trieb ihr vor Wut das Blut in den Kopf. Für Hai wurde eine öffentliche Feier veranstaltet, wie es sie in den Annalen dieser zurückhaltenden, aber mächtigen Familie noch nie gegeben hatte. Für Amira hatte es nichts gegeben. Gar nichts. Kaum eine Familienfeier. Daß Da'ud seit der Geburt ihrer Tochter ihr Bett gemieden hatte, war eine Beleidigung, die sie sich zu ertragen zwang. Aber daß er keinerlei Zuneigung zu seinem erstgeborenen Kind zeigte, war etwas, das sie ihm nicht vergeben konnte und wollte.

Ihre Freundinnen, die Schwestern Bar Simha, die gekommen waren, um ihr während der Zeremonie Gesellschaft zu leisten, versuchten sie nach Kräften zu trösten. Niemals würden sie die Erniedrigung vergessen, die sie über sich ergehen lassen mußten, als Da'ud sie abwies und einem Findelkind den Vorzug gab, das er auf dem Sklavenmarkt aufgegabelt hatte. Es wurde kein einziges Wort zwischen ihnen und Djamila gewechselt, aber sie verstanden sich auch so vollkommen. Während man den Schwestern jedoch beigebracht hatte, ihren Groll zu unterdrücken und sich ergeben in ihr Schicksal zu fügen, war Djamila aus anderem Holz geschnitzt. Sie war ein unabhängiger Geist, in ihr brodelte die Auflehnung, sie weigerte sich, ihr Schicksal einfach hinzunehmen. Plötzlich hörte sie auf zu weinen, richtete sich voller Stolz auf und sagte mit ruhiger, entschlossener Stimme zur Amme ihrer Tochter: »Fatma, komm und sieh dir die Zeremonie an. Ich kümmere mich um Amira.«

Gespanntes Schweigen herrschte in der versammelten Menge, viele Augenpaare ruhten auf Rabbi Ezras Händen: Ibn Zuhrs durchdringender Habichtblick war voller Unruhe. Da'uds unvergleichliche äußerliche Ruhe wurde Lügen gestraft durch das unruhige Nesteln seiner Hände an der silbernen Borte seines Gewands. In Rabbi Samuels alten Augen standen Tränen des Mitleids. Saris Augen waren vor Angst fast blind. Und Djamilas Augen funkelten vor Groll. Mit einer schnellen, geschickten Bewegung seines glänzenden Messers nahm Ezra den kleinen Hai ben Da'ud ibn Yatom in den uralten Bund Gottes mit dem Volk Israel auf. Im Gartenhof erhob sich lautes Geschrei, als die versammelte Menge Segenswünsche über das Kind und über das Haus Ibn Yatom ausschüttete.

Auf diesen Augenblick hatte Djamila gewartet. Mit einer ausladenden Bewegung ihrer kräftigen Arme hob sie Amira hoch und trug sie mit festen, sicheren Schritten nach draußen in den Garten. Dort stand sie, trotzig, herausfordernd inmitten der erlesenen Männergesellschaft, in frecher Mißachtung aller Sitten. Ihre mutige, störrische Haltung war ein verzweifelter Protest: Und mein Kind, deine Tochter, ist sie nicht auch würdig, von den Menschen gesegnet zu werden? Zutiefst erschreckt von der drängelnden Menschenmenge, ließ Amira einen durchdringenden Schrei ertönen. Die Köpfe wandten sich zu dem Störenfried um. Ängstliche Blicke flogen zum Hausherren. Aber Da'ud schien sich der Unruhe nicht bewußt zu sein. Nun schwollen Amiras Schreie zu einem ohrenbetäubenden Gebrüll an. Mit einer Kraft, die man ihrem kleinen Körper nicht zugetraut hätte, schlug sie wild mit Armen und Beinen um sich, versuchte sich mit aller Macht aus der Umklammerung ihrer Mutter zu befreien. Djamila unternahm nichts, um sie zurückzuhalten. Sie drängte zu Da'ud, ihrem Mann, als könne sie ihn durch bloße Willensanstrengung zwingen, sie zu bemerken, aber es half alles nichts. Amira, die kleinen Füße fest gegen die Brust ihrer Mutter gestemmt, konnte sich mit einem letzten Aufbäumen befreien. Mit einem Angstschrei fiel sie zu Boden, das Gesicht vor Wut und Schrecken schon blau angelaufen. Schockiertes Schweigen senkte sich über die Menge, man wechselte erstaunte und über diesen skandalösen Zwischenfall entrüstete Blicke. Ein schüchterner junger Mann, dem Amira zu Füßen gefallen war, hob das Kind auf, gab es seiner Mutter zurück und geleitete die beiden mit unerwarteter Freundlichkeit ins Innere des Hauses zurück. Im gleichen Augenblick reichte Da'ud, der die unerhörte Szene ignorierte, den kleinen Hai, dessen Schluchzen man mit einem Tropfen Wein auf die Lippen gelindert hatte, in die Obhut seiner Mutter zurück.

So wurde nun Hai sanft an der Brust seiner Mutter gewiegt, und auch Amira lag sicher und geborgen in den Armen Djamilas, die Ordnung war wieder hergestellt. Das Fest konnte beginnen. Die Musikanten spielten ihre Weisen, deren Rhythmen in die herannahende Nacht hinausdrangen. Dichter deklamierten elegante Verse, perfekt gereimte und fein formulierte überschäumende Lobpreisungen auf ihren Gastgeber und Mäzen. Roter Wein ergoß sich schäumend aus goldenen und silbernen Karaffen in edle Kelche. Die letzten Gäste verabschiedeten sich erst, als der Gesang der Vögel sie daran erinnerte, daß die Morgendämmerung nahte. Dieses Fest sollten alle Anwesenden noch viele Jahre in Erinnerung behalten, jeder aus seinem eigenen, ganz besonderen Grund.

19

Am nächsten Morgen kam Rabbi Samuel vor seiner Rückreise nach Lucena noch einmal zu Da'ud, um von seinem ehemaligen Schüler Abschied zu nehmen. In der Gegenwart seines alten Lehrers schien sich Da'ud wieder in den glänzenden, doch gehorsamen Schüler zu verwandeln, all seine Größe abzulegen. Traurigkeit überschattete das Gespräch. Beide Männer wußten, daß sie einander im Leben wohl nie mehr wiedersehen würden. Sie erinnerten sich an die Vergangenheit und besprachen die Zukunft, und Da'ud ging so weit, seine Sorge über die vielen verschiedenen Pflichten zum Ausdruck zu bringen, die ihm al-Hakam auferlegte und die ihm nicht alle behagten.

»Wie ehrenvoll die Aufgaben auch sein mögen, die du zu erfüllen berufen wirst, vergiß niemals deine Verpflichtungen gegenüber deinen jüdischen Brüdern«, warnte ihn Rabbi Samuel, und der ernste Ton verlieh seiner zittrigen Stimme Festigkeit. »Deine Stellung bei Hofe gibt dir nicht nur die Macht, sie zu beschützen, sie verleiht dir auch die moralische Autorität eines Richters und Schlichters.«

»Es ist weder meine Absicht noch mein Wunsch, diese Verpflichtungen zu vernachlässigen«, antwortete Da'ud bescheiden. »Im Gegenteil, ich suche schon eine Weile nach einem jungen Mann, der mir in diesen Angelegenheiten behilflich sein könnte. Es fehlt nicht an möglichen Kandidaten, aber die Wahl ist heikel. Wenn ich dem Sohn einer hervorragenden Familie meine Gunst zeige, ziehe ich mir unweigerlich die Feindseligkeit aller anderen zu. Unter gar keinen Umständen möchte ich die Einheit und Stärke unserer Gemeinde von Córdoba aufs Spiel setzen.«

»Dann mußt du jenseits der Stadtgrenzen suchen. Wir haben in unseren Akademien von Lucena viele begabte Studenten«, erwiderte Rabbi Samuel nachdenklich und strich sich über die feinen Strähnen seines dünnen weißen Barts. »Der junge Mann, der mich begleitet hat, könnte eine solche Aufgabe hervorragend erfüllen. Er ist ein wenig schüchtern und genau wie du hochintelligent, zugleich diskret. Da er aus einer bescheidenen Bauernfamilie stammt, würde er sich über die Bezahlung freuen und dir sicher gern dienen. Vielleicht möchtest du mit ihm reden, ehe wir uns auf den Heimweg machen? Er wartet draußen.«

Da'ud nickte zustimmend und befahl einem Diener, den jungen Mann hereinzubitten. In dem Augenblick, als er den Raum betrat, flackerte in Da'uds ruhigen Augen verblüffte Erinnerung auf. Dieser Mann hatte am Vortag die von Djamila provozierte Störung bei der Beschneidungszeremonie auf so elegante Weise überspielt. Auch heute nahm Da'ud keinen Bezug auf den Zwischenfall. Noch würde er jemals mit dem leisesten Hinweis andeuten, daß er ihn bemerkt hatte.

Rabbi Samuels Beschreibung des Menahem ben Saruq war zutreffend, wenn auch oberflächlich gewesen – mit Absicht? fragte sich Da'ud. Er fand die unterwürfige Bescheidenheit des jungen Mannes ein wenig unangenehm, trotz der offensichtlichen Vorteile, die eine solche Eigenschaft bei einem Untergebenen hatte. Aus Respekt vor der Empfehlung seines Mentors erkundigte sich Da'ud bei dem jungen Mann trotzdem nach seinen Studien und Hoffnungen für die Zukunft. Nach langem bohrendem Befragen brachte er ihn endlich dazu, von dem Vorhaben zu sprechen, das er schon eine ganze Zeit plante.

Menahem klemmte die Hände fest zwischen die Knie und richtete die seelenvollen Augen auf seine weißen Fingerknöchel, ehe er begann: »Es ist mein sehnlichster Wunsch, ein biblisches Lexikon in hebräischer Sprache zu verfassen, das die Reinheit und Eleganz unserer uralten Sprache aufzeigt.«

»Auf Hebräisch?« fragte Da'ud überrascht. »Warum nicht in arabischer Sprache, wie sie Eure glänzenden Vorgänger in Babylonien benutzt haben? Arabisch ist schließlich auch die Umgangssprache in den Gemeinden Andalusiens und dient in zunehmendem Maße selbst unseren besten Dichtern als Vorbild, ob sie nun in hebräischer oder arabischer Sprache schreiben.«

Menahem errötete vor Verlegenheit, aber er war schon zu weit gegangen, um noch Ausflüchte zu machen. Er verlagerte auf dem niedrigen Diwan sein Gewicht und rieb einen Augenblick die Hände gegeneinander, während er über eine Antwort nachdachte. »Ist es denn nicht die tiefste Sehnsucht eines jeden gläubigen Juden, unser altes biblisches Erbe zu bewahren, unser einziges und einzigartiges literarisches Vorbild?«

»Ich bin mir dessen nicht völlig sicher«, antwortete Da'ud kühl, verärgert, weil dieser angeblich so sanfte junge Mann dem Wunsch Ausdruck gab, sich gegen den wachsenden Einfluß arabischer literarischer Formen auf die jüdischen Literaten Spaniens zu stemmen, auf Männer, die den Geist und die Schriften ihrer Zeit und ihrer Umgebung gründlich in sich aufgenommen hatten. »Euer Bemühen ist zwar löblich, doch bezweifle ich, daß Ihr Erfolg haben werdet, wenn Ihr unsere Dichter zu überreden versucht, ihre überaus kunstreiche Verwendung der glänzendsten Ausdrücke literarischer Kultur aufzugeben, wie sie im heutigen al-Andalus blüht und gedeiht. Ihr tätet gut daran, Eure Energie und Eure Gelehrsamkeit anderswo einzusetzen«, schloß er.

»Genau dieses ›anderswo‹ ist es doch, wo ein hebräisches Lexikon von unschätzbarem Wert wäre«, mischte sich Rabbi Samuel ein und warf das ganze Gewicht seiner Autorität zu Gunsten seines jungen Schülers in die Waagschale. »Unser Volk lebt in alle Winde zerstreut, unsere Sprache ist eine der wenigen Verbindungen, die uns noch eint. Wenn zum erstenmal in unserer Geschichte ein biblisches Wörterbuch in hebräischer Sprache verfaßt werden sollte, dann wäre es allen Gemeinden in der Diaspora zugänglich und würde für sie alle einen gemeinsamen Maßstab in der Reinheit und Eleganz der Sprache setzen. Sicherlich braucht doch auch unsere geheiligte Sprache in gleichem Maße die Pflege, den Schliff und die Verfeinerung, die die Araber der ihren zukommen lassen?« Rabbi Samuel lehnte sich vor und argumentierte eindringlich – und mit genauer Kenntnis seines Gesprächspartners. »Wenn du die Schirmherrschaft über einen derart wichtigen Meilenstein im Studium der hebräischen Linguistik übernehmen würdest, so würde dein Ruhm in der gesamten jüdischen Welt ins Unermeßliche steigen, dein Name für alle Zeiten von all jenen bewundert werden, die unser jüdisches Erbe ehren und bewahren.«

Trotz seiner spontanen Abneigung gegen den jungen Gelehrten, dessen Bescheidenheit eindeutig eher vorgetäuscht als echt war, konnte sich Da'ud bei all seiner Macht und Größe der Autorität seines Mentors nicht widersetzen. Außerdem gefiel ihm Menahems Projekt eigentlich. Dessen Durchführung unter seiner Ägide würde dem Namen Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom einen unvergänglichen Platz in den Annalen des jüdischen Volkes sichern. Diese Aussicht ließ ihn – genausowenig wie jeden anderen Menschen – nicht völlig unberührt.

So kam es, daß eine Woche später Menahem ben Saruq seine Arbeit als Da'uds Assistent für jüdische Angelegenheiten aufnahm. Jeden Donnerstag kam er ins Haus, wo man ein kleines Zimmer neben Da'uds Arbeitszimmer für ihn eingerichtet hatte. Dort bereitete er sich auf das wöchentliche Treffen mit seinem Gönner vor, das im allgemeinen am Freitag, dem Ruhetag der Moslems, stattfand. Den Rest seiner Zeit verbrachte Menahem in dem geräumigen Zimmer, das er sich bei der Witwe Tamara gemietet hatte. Sie war eine entfernte Verwandte der Familie Bar Simha und nur zu froh, einen anderen Menschen in ihrem riesigen, leeren Haus zu haben. Außerdem konnte sie es sich, auch wenn es nach außen hin anders schien, nicht leisten, auf diese Ergänzung ihres mageren Einkommens zu verzichten.

So unsympathisch ihm sein hebräischer Sekretär mit den eckigen Bewegungen, den knochigen Händen und dem ständig vorwurfsvoll traurigen Gesichtsausdruck auch war, so sehr sah sich Da'ud doch schon nach kurzer Zeit gezwungen, zuzugeben, daß Rabbi Samuels dringende Empfehlung berechtigt gewesen war. Menahem führte den umfangreichen Briefwechsel mit den jüdischen Gemeinden von al-Andalus und anderen Teilen des Omaijadenreichs, schrieb Briefe von makelloser Eleganz, traf stets unfehlbar genau den richtigen Ton. Wenn man ihn in strittigen Fragen um seine Meinung bat, antwortete er mit Bescheidenheit, Ausgewogenheit und kristallklarer Logik.

Mehr noch, als er erfuhr, daß Da'ud für die Anschaffung von Manuskripten für die Bibliothek des Kalifen verantwortlich war, schlug er vor, eine ähnliche Sammlung jüdischer Werke zusammenzutragen, wie sie in den großen Talmudzentren Babyloniens zahlreich zu finden waren. Ein solches Vorhaben würde der jüdischen Gemeinde von Córdoba zu höchster Ehre gereichen, brachte er vor. Er, Menahem, würde die alleinige Verantwortung für dieses Projekt übernehmen, wenn Da'ud es genehmigen und die notwendigen Geldmittel zur Verfügung stellen würde. Obwohl Da'ud über die Initiative seines Sekretärs entzückt war, reagierte er auf den Vorschlag sehr kühl und ließ einige Zeit verstreichen, ehe er seinen Segen dazu gab. Menahem mußte unbedingt in seine Schranken verwiesen werden. Wenn Da'ud die Zügel schleifen ließ, könnte er gefährlich werden … Die Gelder kamen aus Da'uds Privatvermögen. Er wollte sich mit keinem anderen Menschen die Ehre teilen, der Mäzen eines so ehrenvollen Unternehmens zu sein.

Während der wenigen Stunden, die sie jede Woche miteinander verbrachten, nahm keiner der beiden Männer je wieder Bezug auf die strittige Frage, die zwischen ihnen im Raum stand – Menahems Bestreben, sich dem wachsenden Einfluß arabischer literarischer Formen auf die hebräische Sprache zu widersetzen. So gelang es ihnen, in kühler, unpersönlicher Harmonie miteinander zu arbeiten.

Auch in Da'uds häuslichem Leben herrschte der Anschein von Harmonie, aber dort verbargen sich ebenso Spannungen hinter der heiteren Fassade. Nach dem Vorbild des Hausherrn drehte sich unter seinem Dach alles um Hai. Alles Tun wurde den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes untergeordnet, und die Liebe und Aufmerksamkeit des gesamten Haushaltes wurde ihm ohne Einschränkung in reichem Maße zuteil. Über jede seiner Bewegungen, jedes Murmeln, jede Handlung oder Reaktion wurde Bericht erstattet, alles wurde bis in die kleinste Kleinigkeit von seiner Mutter, seiner Großmutter, seiner Kinderfrau und sämtlichen Dienstboten kommentiert, dann seinem Vater unverzüglich bei dessen Heimkehr aus dem Palast mitgeteilt. Von dem Augenblick an, da er das Haus betrat, hatte Da'ud nur noch Augen für Hai und seine geliebte Sari. Bis weit in den lauen, süß duftenden Abend hinein blieben die drei draußen neben dem murmelnden Wasserlauf oder unter den dunkler werdenden Zypressen, und die Eltern bewunderten die Vorwitzigkeit des Kleinen, sahen darin den unwiderlegbaren Beweis für seinen herausragenden Verstand, schrieben seine tiefblauen Augen der Mutter zu, die dunkle Gesichtsfarbe dem Vater, die langen Hände allein ihm selbst …

Amira ließ sich nur schwer in Djamilas Flügel des Hauses halten, wenn sie einmal ihren Vater und den kleinen Halbbruder draußen beim Spielen erspäht hatte. Temperamentvoll und entschlossen befreite sie sich aus jeglicher Umklammerung und strebte resolut zu den beiden hin. Wenn Sari sah, wie sie angelaufen kam, streckte sie mit einem warmen Willkommen die Arme nach ihr aus. Sie drückte das Mädchen an sich und zeigte ihm das Wunder von Hais Händen mit den langen, schlanken Fingern, nahm dann die kleine Patschhand des Mädchens in die ihre und ließ sie damit sanft die Hand des Säuglings berühren. Sie würde alles in ihrer Macht Stehende tun, beschloß sie für sich, um in dem Mädchen liebevolle, beschützende Gefühle für Hai zu wecken. Da'ud jedoch ignorierte seine Tochter weiterhin und fachte damit den Groll im Herzen der verstoßenen Mutter nur noch mehr an.

Wie schon in den langen Monaten der Schwangerschaft besuchte Djamila weiterhin die feinen Damen der Gemeinde, insbesondere die Schwestern Bar Simha. So weilte sie immer länger und häufiger außer Haus, und mit der Zeit schloß sich Amira immer mehr an Sari an. Wäre Sari nicht gewesen, hätte dieses Kind vielleicht niemals das Licht der Welt erblickt. Letztlich war Sari dafür verantwortlich, daß Amira lebte, nicht dieses kleine Mädchen selbst. Amira sollte nicht unter den Folgen von Saris eigener schrecklicher Kindheit leiden müssen und auch nicht unter dem Leben, das ihre Mutter nun gewählt hatte. Seit Hais Geburt hatte Djamila keine Funktion, keinen Platz mehr in Da'uds Haus. Wer konnte es ihr verdenken, wenn sie außerhalb des Hauses unschuldigen Zerstreuungen nachging? Amira sollte nicht den Preis dafür zahlen. Sie war unschuldig, sie sollte nicht die Mutterliebe entbehren müssen, auf die sie ein Recht hatte, ein Recht, das man Sari so grausam vorenthalten hatte. Wenn Djamila zu unglücklich war, um dem Kind Liebe zu schenken, dann würde eben sie, Sari, für sie einspringen, so gut sie konnte. Da'ud hatte nichts dagegen, daß Sari seiner Tochter solche Zuneigung zeigte, doch er selbst blieb ihr fern, stets kühl und unnahbar. Er liebte nur seinen Sohn, seinen Hai.

Was hätte er ohne diesen ruhigen Hafen der Liebe, des Vertrauens und des Verständnisses gemacht, in dem er sich von der Plage seiner Tage erholen konnte? Das fragte er sich unweigerlich jeden Abend, wenn er nach Hause zurückkehrte. Die christlichen Fürsten, untereinander zerstritten, hatten den Tribut an ihren arabischen Oberherrn stets nur zögerlich gezahlt, doch ohne diese Gelder konnten die Arbeiten an dem Hospital nicht weitergehen. Genausowenig konnten ohne das Geld die Manuskripte, auf die der Kalif so erpicht war, gekauft oder abgeschrieben werden. Da'ud sah sich also gezwungen, ständig mit den Finanzen zu jonglieren, manchmal sogar Anleihen aus seinem Privatvermögen beizusteuern, um nicht das Vertrauen derer zu verlieren, deren Dienste für ihn lebenswichtig waren. Über diese Probleme sprach er mit niemandem außer seinem Lehrmeister Ibn Zuhr. Allerdings war er sich auch völlig darüber im klaren, daß sein Schweigen weder Geheimhaltung garantieren noch als Schutz gegen die üble Nachrede des Abu Bakr dienen konnte.

Niemand vermochte besser als der schlaue Finanzberater die Kosten der Unternehmungen zu berechnen, mit der al-Hakam Da'ud betraut hatte, niemand konnte die Einkünfte und die Ausgaben, für die er verantwortlich war, besser einschätzen. Sicherlich, würde Abu Bakr vielleicht flüstern, hätte der Jude nicht aus privaten Mitteln Gelder vorgestreckt, wenn er nicht vorher Tributzahlungen zu seinen eigenen dubiosen Zwecken veruntreut und anrüchigen Kunden zu Wucherzinsen geliehen hätte, von denen er nun die Schulden nicht wieder einzutreiben vermochte? Und was war mit den jüdischen Manuskripten? So quälte sich Da'ud, wenn ihn eine seiner dunklen und zweifelnden Stimmungen heimsuchte. Warum hatte er sich vom Vorschlag seines anmaßenden Sekretärs in Versuchung führen lassen, warum hatte er entgegen allen praktischen Erwägungen dem Wunsch nach Unsterblichkeit nachgegeben? Wenn Abu Bakr von der Sammlung erfuhr, die die jüdische Gemeinde zusammentrug, wie schnell würde er dann das Gerücht in Umlauf setzen, Da'ud mißbrauche al-Hakams Sendboten, sende sie auf Kosten des Kalifen zum Nutzen seiner eigenen Gemeinde aus? Solche Lügen, geduldig von mächtigen Männern in die Ohren nur allzu williger Zuhörer geträufelt, erhielten leicht das Gepräge der Echtheit … Obwohl er seine Bücher gewissenhaft führte, die ihm anvertrauten öffentlichen Gelder untadelig verwaltete und keinen einzigen Piaster Zinsen für die zeitweilig vorgestreckten Summen nahm, lebte Da'ud ständig in einem Zustand der Anspannung, der ihm allmählich den Seelenfrieden raubte.

Immer mehr mußte er sich eingestehen, daß die Umstände und sein eigener Ehrgeiz ihn von seinem jugendlichen Wissensdurst fort und in eine Welt geführt hatten, die nicht mehr die seine war. Sogar seine morgendlichen Unterredungen mit dem Kalifen erfüllten ihn keineswegs mit Stolz und Befriedigung, sondern dienten lediglich dazu, den Unterschied zwischen ihm und den erhabenen Kreisen zu betonen, in denen er sich nun bewegte. Der Kalif, ein Moslem, konnte vor ihm, einem Juden, ungehindert über den Grenzbereich zwischen kalter, intellektueller Logik und religiösem Glauben spekulieren, konnte ganz offen seine Leidenschaft für erstere und seine tiefe Skepsis gegenüber dem letzterem zum Ausdruck bringen, eben wegen dieser unauslöschlichen, tief verwurzelten Unterschiede zwischen ihnen beiden. Nur weil al-Hakam sicher war, daß kein Sterbenswörtchen über seine inneren Zweifel je den stets aufmerksamen Imamen zu Ohren kommen würde, gestattete er es sich überhaupt, seine ketzerischen Gedanken dem jüdischen Vertrauten mitzuteilen.

»Ich ertappe mich manchmal bei der Überlegung«, gestand ihm al-Hakam einmal mit einem traurigen, schuldbewußten Lächeln, wie ein Kind, das man beim Stehlen von Süßigkeiten erwischt hatte, »daß unsere antiken Vorväter recht hatten, als sie Götter mit menschlichen Eigenschaften anbeteten, höhere Wesen, die Krieg führten und Frieden schlossen, liebten und haßten, nach Belieben Belohnungen und Strafen austeilten. Es fällt mir leichter zu glauben, daß wir nach ihrem Ebenbild geschaffen sind als nach dem Ebenbild eines gnädigen, guten Gottes, einer einzigen Gottheit. Es fällt mir leichter, die Menschheit als das Spielzeug kapriziöser Götter zu sehen denn als Spielzeug Eures Jahwe, des Jesus der Christen oder unseres Allah. Denn wenn wir nur Marionetten im kosmischen Theater des Einzigen und Wahren Gottes sind, wie soll man all das Elend erklären, das auf der Erde existiert?«

»Ja, wie«, erwiderte Da'ud unverbindlich, wollte nicht zugeben, daß der gleiche Zweifel auch an ihm nagte. Wie gründlich sein Volk im Exil Elend und Leiden kennengelernt hatte! Jederzeit konnten Unterdrückung und Verfolgung die Juden treffen, sie, die landlose Minderheit, die den Völkern ausgeliefert war, bei denen sie zu Gast lebte, und die daher jederzeit als Opfer herhalten mußte, an dem man allen Unmut auslassen konnte. Und doch, trotz allem glaubten sie unerschütterlich, waren sie trotzig immer noch davon überzeugt, das Auserwählte Volk Gottes zu sein …

Wäre das Los der Juden ein anderes gewesen, wären nicht die Gemeinden in al-Andalus auf ihn angewiesen, auf ihn, den Anführer und Beschützer vor derlei Anfechtungen, er, Da'ud ibn Yatom, hätte sich nur zu bereitwillig aus der Welt zurückgezogen, in die ihn sein Schicksal geführt hatte, hätte nur zu gern auf alle Ehren und Reichtümer, auf die Macht und den Ruhm verzichtet, die man ihm gegeben hatte, und sich dem einfachen, sorglosen Leben der Gelehrsamkeit gewidmet. Ein solches Leben, frei von jeglicher Verpflichtung für seine jüdischen Brüder, wäre möglich gewesen, wenn die Juden ein eigenes, unabhängiges Königreich besessen hätten.

Während seine Gedanken so wanderten, erinnerte sich Da'ud an einen Abschnitt, den er in der Geographie des Abu Ishak al-Istrakhri gefunden hatte, in einem Band, den er kürzlich für die Bibliothek des Kalifen erworben hatte. Dort wurde kurz ein jüdischer Chakan erwähnt, der vor etwa zweihundert Jahren die Chasaren regiert hatte, einen mächtigen Turkmenenstamm, der irgendwo zwischen dem Schwarzen und dem Kaspischen Meer lebte. War Chasarien ein unabhängiges jüdisches Königreich gewesen? Existierte es noch? Wie und wann, wenn überhaupt, hatten sein Herrscher und dessen Untertanen die Gesetze Moses angenommen? Sollte er einen Gesandten zum Chakan jenes fernen Reiches schicken? Wenn es ein solches jüdisches Königreich gab, dann würde er nur zu gern seine Bürde niederlegen und mit Sari und dem geliebten Sohn dorthin ziehen, um so zu leben, wie es seiner Natur entsprach.

Ehe die Gesandten des Kaisers Otto, die zur Zeit am Hof des Kalifen von Córdoba weilten, nach Deutschland zurückkehrten, würde er vielleicht Menahem in seinem eleganten Hebräisch einen Brief an den Herrscher von Chasarien verfassen lassen und darin all die Fragen stellen, die ihn bewegten. Wenn man sie angemessen entlohnte, würden die beiden jüdischen Mitglieder der Delegation sicherlich Wege finden, dieses Schreiben an seinen Bestimmungsort zu befördern. Falls er eine befriedigende Antwort erhielte, mit welcher Freude würde er über Berg und Tal, Land und See reisen, um zu jenem Ort zu gelangen, wo der Friede und die Ruhe Israels herrschten.

20

Der Winter war streng gewesen, kälter und stürmischer als jeder andere Winter in al-Andalus seit Menschengedenken. Beim ungewohnten Anblick von Schnee, der sich wie Schaum über die milden Gärten von Córdoba breitete, rannten die Kinder vor Freude jauchzend ins Freie. Die Eltern jubelten nicht. Obwohl die seltsame Schönheit ihrer sonnigen Stadt unter der Schneedecke auch sie nicht gleichgültig ließ, schmerzte es sie doch, mit anzusehen, wie die Zypressen unter dem doppelten Angriff von Wind und Schnee hin- und herschwankten, wie die Dachziegel in rötlichen Scherben zerbarsten, wie sich Risse in dem für warme Sommer gebauten Mauerwerk zeigten. Saris größter Kummer war der Tod der Pflanzen, die sie seit den Tagen vor ihrer Heirat sorgfältig gepflegt hatte. Mit den Jahren waren sie so groß geworden, daß man sie im Garten in eine Ecke gepflanzt hatte, doch obwohl sie dort zu gedeihen schienen, überlebten sie den strengen Winter nicht.

Hais Zypresse war inzwischen vier Jahre alt, sie hatte nur wenig gelitten, da sie von den ausgewachsenen Bäumen ringsum abgeschirmt wurde. Nur ein, zwei Äste ragten hier und da wie gebrochene Gliedmaßen hervor, störten die elegante, schmale Silhouette. Sari deutete den Tod der Pflanzen des Einsiedlers als Symbol für das Ende ihrer einsamen, unfruchtbaren Jahre, das Überleben des Zypressenschößlings jedoch versprach große Dinge für Hais Zukunft. Wenn die gelehrten Männer von Córdoba an den Einfluß der Sterne auf das Leben der Menschen glaubten, warum sollte sie dann nicht überzeugt sein, daß ein anderes Geschöpf Gottes ihr etwas über die Zukunft verraten konnte? So erklärte sie es jedenfalls lächelnd Da'ud, um ihn von seinen Alltagssorgen abzulenken. Obwohl er solche Gedanken bei seinen Kollegen ungeduldig abtat, lächelte er nachsichtig über Saris Vorstellungen. Ihr Frohsinn hielt ihn stets ein wenig von seinen Grübeleien ab.

Bei den ersten warmen Strahlen des Frühlings bepflanzte Sari ihre Ecke des Gartens neu. Eines Morgens war sie gerade dort beschäftigt, als Djamila und Amira in frischen, farbenfrohen Gewändern mit strahlend bunten Seidenschärpen um die Taille auftauchten.

»Wir machen einen Spaziergang am Fluß«, rief Djamila ihr zu, während sie die Hand ihrer Tochter ergriff und mit ihr an dem kleinen Wasserlauf entlang zu einem Tor in der Mauer am äußersten Ende des Gartens eilte. Sari winkte ihnen zum Abschied nach, folgte ihnen mit traurigem Blick. Es tat ihr in der Seele weh, daß Da'ud die beiden so offenkundig verachtete. Doch er gestattete ihr nicht, das Thema auch nur anzusprechen. Vielleicht würde sich doch noch eine passende Gelegenheit ergeben, seufzte sie, während sie sich wieder ihren Pflanzen zuwandte und ein Blatt liebkoste, das noch ganz hell und zart war, gerade eben im Frühling neu geboren. Wie gut, daß sie und Djamila so verschieden waren, daß sie so mühelos in Harmonie unter einem Dach leben konnten. Sie fühlte sich zwar noch manchmal ein wenig schuldig wegen der Lage, die sich im Hause ergeben hatte, aber letztlich war Da'ud allein dafür verantwortlich, wie sich die Situation weiterentwickelt hatte. Wenn man ihn schon nicht bewegen konnte, sich seiner zweiten Frau und seiner Tochter gegenüber anders zu verhalten, dann würde wenigstens sie dafür sorgen, daß Hai und Amira als Freunde aufwuchsen.

Amira, die endlich von den Beschränkungen der Wintermonate befreit war, rannte und hüpfte neben ihrer Mutter her, nahm eine frisch gebackene goldgelbe Pastete vom Teller eines Straßenverkäufers und stopfte sie sich in den Mund, kitzelte die zuckenden Ohren eines festgebundenen Esels und bettelte um einen mit Zucker überzogenen Apfel, ehe die beiden das Getümmel des Marktes hinter sich ließen und zum Fluß hinuntergingen. Djamila wußte, daß sie dort die drei Schwestern Bar Simha antreffen würde, die im Laufe der Jahre ihre ständigen Gefährtinnen geworden waren. Die Zeit und ihre unterschiedlichen Erfahrungen als Ehefrauen und Mütter hatten die starke Ähnlichkeit ihrer jüngeren Jahre etwas zurücktreten lassen. Sitbora, die Älteste, war eine herrische, beinahe dominante Matrone geworden. Dona war zu einer nachdenklichen Seele herangereift, während Palomba, die Jüngste, die ihren drallen Busen vorstreckte wie die Taube, der sie ihren Namen verdankte, ein passives, leicht zu beeinflussendes Kind geblieben war, das sich mit allen und jedem einverstanden erklärte.

Der übliche Treffpunkt, eine Wiese unter dem großzügigen Schatten einer Akazie, war vom angestiegenen Wasser des Flusses überschwemmt, das seit der Schneeschmelze wild toste. Djamila fand ihre Freundinnen ein wenig abseits. Sie spazierten durch eine Wiese mit wilden Anemonen, die beim ersten Anzeichen des Winterendes erblüht waren und den Boden mit einem zarten roten Schimmer überzogen. Die drei redeten nicht wie gewöhnlich über die Eheschließungen ihrer Kinder, von denen sich einige bereits im heiratsfähigen Alter befanden, sondern über eine Angelegenheit, die sich im Laufe des Winters ergeben hatte. Ihre Eltern waren beide hochbetagt verstorben, Opfer der Kälte und der Feuchtigkeit geworden, denen ihre ohnehin schon gebrechlichen Körper nicht genügend Widerstand zu leisten vermochten. In seinem Testament hatte der Vater der jüdischen Gemeinde eine beträchtliche Summe für wohltätige Zwecke vererbt, hatte es aber versäumt, die Institution zu benennen, für die dieses Geld verwendet werden sollte. Die Schwestern, die darauf erpicht waren, den Ruhm ihrer Familie zu mehren und den Namen ihres Vaters zu verewigen, sprachen gerade über mögliche Nutznießer, als Djamila und Amira sich zu ihnen gesellten. Das Kind eilte sogleich, einen Strauß seidiger Anemonen zu pflücken, streichelte sich mit den weichen Blütenblättern übers Gesicht und ärgerte dann eine Gottesanbeterin, die es erbarmungslos von einem Blatt zum anderen verfolgte.

Djamila machte einen Vorschlag, der nur ihrem kühnen, freien Geist entspringen konnte. »Warum richtet ihr mit dem Geld nicht eine Talmud- und Thoraschule für Mädchen ein?«

Schallendes Gelächter ließ die Busen der drei Schwestern Bar Simha erbeben.

»Sei doch einmal ernst«, ermahnte sie Sitbora. »Wir suchen nach einem Vorschlag, den wir unseren Männern unterbreiten können. Sie sind ohnehin nicht sonderlich versessen darauf, sich mit dieser Angelegenheit zu befassen, denn in solchen Fällen wird normalerweise der Vorsteher der Gemeinde beauftragt, die Gelder nach seinem Gutdünken zu vergeben.«

»Aber ich meine es doch ernst«, protestierte Djamila. »Warum sollte unseren Töchtern die Bildung vorenthalten werden, auf der wir bei unseren Söhnen so rigoros bestehen?«

»Da ist etwas daran«, nickte Dona nachdenklich, während sie sich die Sache noch einmal durch den Kopf gehen ließ.

»Ja, ich glaube, du hast recht«, pflichtete ihr Palomba erwartungsgemäß bei.

Sitbora jedoch überstimmte sie beide. »Allein der Gedanke ist unvorstellbar«, konstatierte sie mit Entschiedenheit. »Die Männer würden so etwas niemals zulassen, und ohne sie können wir nichts machen.«

»Unsinn!« schimpfte Djamila. »Ihr braucht nur ein Schulzimmer und Bücher. Eine Lehrerin habt ihr schon.«

Drei Paar Rehaugen wandten sich voller Erstaunen auf sie. »Du?«

»Wer sonst?«

»Du, ein Mitglied des großen Hauses Ibn Yatom? Dein Mann würde beim bloßen Gedanken heftig widersprechen! Nein«, erklärte Sitbora, »ich bin nicht bereit, derlei umstürzlerische Gedanken zu unterstützen. Meine Ruhe ist mir lieber. Außerdem, wozu brauchen unsere Töchter Bildung, wenn sie doch ihr Leben ihrem Ehemann, ihren Kindern und ihrem Haushalt widmen werden?«

Nach reiflichem Überlegen schloß sich Dona ihrer Meinung an, und Palomba als folgsames Lamm ebenfalls.

»Was wir uns vorstellen könnten«, meinte Dona dann milde, »wäre der Anbau eines neuen Flügels an das Waisenhaus für Mädchen.«

»Das ist eine wunderbare Idee!« strahlte Palomba über ihr ganzes rundes Gesicht und zeigte ihre Grübchen.

»Aber nur, wenn der Plan voll und ganz von Da'ud ibn Yatom unterstützt wird«, warnte Sitbora, »denn wenn ein Gebäude einmal errichtet ist, braucht es auch Wartung und Pflege, und für die muß die Gemeinde aufkommen. Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, daß unsere drei Ehemänner sich damit einverstanden erklären würden, die herzlichen Beziehungen zu Djamilas Ehemann aufs Spiel zu setzen, indem sie einen eigenen Vorschlag unterbreiten. Nur wenn wir uns seines Wohlwollens sicher sind, haben wir überhaupt eine Chance, sie davon zu überzeugen.«

Wieder einmal richteten sich drei Augenpaare auf Djamila, diesmal erwartungsvoll. Denn obwohl die Schwestern wußten, daß sie in Da'uds Haushalt nur die zweite Stelle einnahm, hatten sie keine Vorstellung davon, wie sehr sich die beiden Ehepartner entfremdet hatten.

Die ins Abseits geratene Ehefrau des Da'ud ibn Yatom spürte, wie ihr die Knie weich wurden und die Übelkeit den Magen umdrehte. Niemals würde sie zugeben, auch nicht ihren besten Freundinnen gegenüber, in welch erniedrigende Position im Haushalt sie inzwischen verbannt worden war. Keine Menschenseele außerhalb der engsten Familie wußte, daß ihr Ehemann am Sabbattisch nur einen flüchtigen Gruß für sie hatte, kaum einen zerstreuten Kuß für seine Tochter Amira. Daß ihr Bett kalt war. Daß nur Hai ihren Ehemann auf seinen Spaziergängen begleitete, wenn er den Fortschritt beim Bau des Hospitals in Augenschein nahm. Daß Amira, wenn sie die beiden fortgehen sah, zu ihm lief und bettelte, auch mitgenommen zu werden, dann aber nur einen kleinen Klaps auf das Hinterteil bekam und zu ihrem Kindermädchen oder der Mutter zurückgeschickt wurde. Djamilas Stolz und gesellschaftliche Stellung ließen es nicht zu, daß sie diese Dinge irgend jemandem anvertraute. Niemals könnte sie zugeben, daß sie in den Augen ihres Ehemanns nicht mehr existierte und daher keine Macht besaß, ihn in irgendeiner Weise zu beeinflussen.

Und doch glimmte noch ein Funken Hoffnung in ihr, denn vielleicht würde er sich geschmeichelt fühlen, über ein so ehrenwertes Vorhaben die Schirmherrschaft zu übernehmen. Ein Vorhaben zur Erinnerung an Isaac bar Simha, das stimmte zwar, aber unter der erhabenen Schirmherrschaft von Da'ud ibn Yatom … Doch dieser Funke erlosch, kaum daß er aufgeflackert war. Wenn sie ihm einen solchen Vorschlag unterbreitete, er würde ihn zurückweisen, nur weil sie ihn gemacht hatte. Wie sollte sie dann ihren Freundinnen je wieder unter die Augen treten? Wie könnte sie eine so unerklärliche Weigerung begründen, ohne ihnen zu offenbaren, daß ihre Stimme im Hause ihres Ehemannes nichts mehr zählte? Sie mußte also einen anderen Weg finden, ihm die Anfrage nahezubringen, vielleicht durch einen neutralen Boten … Wenn sie sich nun an seinen Sekretär für Angelegenheiten der Gemeinde wandte, diesen unauffälligen, äußerst bescheidenen Menschen, der mit den grauen Wänden des Raumes zu verschmelzen schien, in dem er schweigend die Befehle seines Herrn ausführte …

»Ich werde mit Da'ud sprechen, sobald sich eine Gelegenheit ergibt, aber jetzt muß ich gehen«, erwiderte sie hastig auf die fragenden Blicke ihrer Freundinnen.

»So bald schon?«

Sie rief Amira zu sich und meinte leichthin: »Ich habe versprochen, mit Amira ihren Großvater zu besuchen, sobald das Wetter besser ist. Jetzt, da er nicht mehr in der Talmud- und Thoraschule unterrichtet, ist sie seine einzige Schülerin. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, was für ein Vergnügen er daran hat, ihr das Lesen und Schreiben beizubringen«, erzählte sie lachend im Weggehen.

Djamila war zu unruhig und verwirrt, um gleich in die bedrückende Atmosphäre des Hauses Ibn Yatom zurückzukehren, und wanderte ziellos durch die Gassen und Sträßchen ihrer Wahlheimat. Ihre Nasenflügel bebten vom betäubenden Duft der frischen Gewürze, der vom Markt her wehte, vom Geruch des Pferdedungs, der aus den Ställen des Palastes drang, vom scharfen Gestank des Eselsurins, der in der Sonne trocknete – eine Mischung von Gerüchen, die sie an ihre sorglosen Kindertage erinnerte, an ein Leben, nach dem sie sich immer mehr zurücksehnte. Würde die Ehre, die Tochter Da'uds zu sein, Amira in späteren Jahren dafür entschädigen, daß ihr die Vaterliebe gefehlt hatte? Das fragte sie sich zum tausendsten Male.

»Mami, warum konnten wir nicht am Fluß bleiben, statt durch diese stinkenden Gassen zu spazieren?« beschwerte sich Amira. »Ich will nach Hause. Ich bin müde.«

»Quengle nicht«, antwortete Djamila barsch.

»Aber mir ist schlecht«, jammerte das Kind. »Ich will wieder zum Fluß und für Sari Blumen pflücken. Warum können wir da nicht hingehen?«

»Weil ich es sage.«

»Du bist wie Vater«, murmelte das Kind und senkte den Kopf, während seine Lippen bebten und ihm Tränen über die Wangen rollten. Djamilas Herz krampfte sich vor Reue zusammen. Sie nahm ihre Tochter auf den Arm und drückte sie an sich. Zum Teufel mit den Bar Simhas, murmelte sie vor sich hin. Sie würde mit Menahem sprechen, gleich morgen, am Donnerstag, und die Sache hinter sich bringen. Zur Entschädigung kaufte sie Amira auf dem Markt die schillernden Glasmurmeln, die sie sich schon so lange wünschte. Trotz all ihres angeborenen Selbstbewußtseins war Djamila beklommen zumute, als sie am nächsten Morgen den mittleren Flügel des Hauses betrat. Sie drang selten in Da'uds Bereich vor, hatte sich in der einschüchternden Strenge dieser Räume nie wohl gefühlt. Jetzt erhöhten die dunklen Holzpaneele, die an den Wänden aufgehängten hebräischen Texte in mattroter Kalligraphie, die dicken weinroten Teppiche, die ihre Schritte dämpften, nur noch ihre Unsicherheit. Die Tür zu Menahems Zimmer stand ein wenig offen. Sie klopfte leise an und betrat den düsteren Raum, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Menahem hob den Blick von seinen Urkunden und schaute sie mit unverhohlenem Erstaunen an.

»Guten Morgen. Kann ich etwas für Euch tun?« fragte er höflich.

»Ich denke schon«, antwortete Djamila mit strahlendem, selbstbewußtem Lächeln. »Es geht um die wohltätige Schenkung, die Isaac bar Simha hinterlassen hat.«

»Eine nicht näher bezeichnete Spende, nicht wahr?«

»Ihr seid sehr gut informiert.«

»Das ist meine Aufgabe.«

»Natürlich. Genau deshalb bin ich hier, weil der Zweck der Spende nicht näher bestimmt wurde. Isaac bar Simhas drei Töchter möchten die Mittel im Andenken an ihren Vater für den Anbau eines neuen Flügels an das Waisenhaus für jüdische Mädchen verwenden, und sie bitten um die Zustimmung meines Mannes für dieses höchst lobenswerte Vorhaben.«

»Aus meiner bescheidenen Kenntnis der Gemeindeangelegenheiten«, antwortete Menahem vorsichtig, »ist mir bekannt, daß allein der Vorsteher der Gemeinde den Nutznießer einer nicht näher bezeichneten Schenkung bestimmt.«

»Ich weiß. Deswegen möchte ich Euch bitten, die Sache so vorzutragen, daß die Wünsche der Schwestern meinem Ehemann bekannt werden und er sie wohlwollend in Erwägung zieht.«

»Warum ich? Warum legen ihre Ehemänner nicht selbst einen offiziellen Antrag dieser Art vor?« fragte Menahem, der inzwischen vorsichtig geworden war.

»Angesichts der langjährigen Freundschaft zwischen den Familien Bar Simha und Ibn Yatom schien es mir einfacher, die Angelegenheit direkt zur Sprache zu bringen.«

»Warum wünscht Ihr dann meine Hilfe?«

»Derlei Dinge werden am besten von Mann zu Mann besprochen«, sagte Djamila leichthin.

»Eure Bitte ist so ungewöhnlich wie der Wunsch der Schwestern Bar Simha, den Nutznießer der Erbschaft ihres verstorbenen Vaters selbst zu bestimmen. Ich bin nur Angestellter und dem Willen meines Herrn in allen Dingen untergeordnet. Ich wiederhole noch einmal, daß es bei den Ehemännern liegt, einen förmlichen Antrag an Da'ud ibn Yatom zu stellen, und daß ich nicht befugt bin, diese Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Wenn sie, wie ich vermute, nur ungern von der hergebrachten Tradition abweichen und nicht in die Vollmachten des Gemeindevorstehers eingreifen wollen, dann schlage ich vor, redet Ihr am besten selbst mit ihm.«

»Die Männer von Córdoba neigen nicht dazu, die Wünsche einer Frau in Betracht zu ziehen.«

»Ebensowenig, wie sie kaum unausgegorene Vorschläge von seiten ihrer Untergebenen erwägen«, konterte Menahem trocken und wandte sich wieder dem Studium der Papiere zu, die vor ihm lagen.

Da beugte sich Djamila vor, packte seine kantige Hand mit den wenig gepflegten Nägeln und legte sie mit der Handfläche nach unten neben ihre eigene bebende Hand.

»Seht nur!« rief sie. »Seht nur, wie sich Eure Hand und die meine ähneln! Beide sind sie groß und knochig, es sind muskulöse Hände, die auf dem Land hart gearbeitet, geschuftet und gepflügt haben, um den Lebensunterhalt zu verdienen. Wir sind beide Bauern, Wachs in den Händen der Prinzen. Wer und was hat aber jenen die Macht gegeben, uns so zu führen, als wären wir leblose Marionetten ohne eigenen Willen oder eigene Meinung? Was kann der Vorschlag der Schwestern schon schaden, daß Ihr Euch so fürchtet, ihn zu unterbreiten?«

»Es geht nicht um schaden oder nicht. Ich brauche schlicht und ergreifend die Schirmherrschaft Eures Gatten, um mein hebräisches Lexikon und die Grammatik fertigzuschreiben. Ich kann es mir nicht leisten, mir seinen Unmut zuzuziehen, indem ich mich gegen jegliche Tradition stelle.«

»Was Ihr doch für ein jämmerlicher Feigling seid!« beschimpfte ihn Djamila, und Tränen der Verzweiflung brannten ihr in den Augen.

Menahem hob den Kopf und schaute sie unverwandt an. »Zweifellos, so lange diese Einstellung meinen Zwecken nützt. Aber, von einem Bauern zum anderen gesprochen, sie währt vielleicht nicht ewig.«

»Was währt vielleicht nicht ewig?« schnitt Da'uds Stimme wie eine kalte Stahlklinge durch die Luft.

Menahem und Djamila erbleichten, bestürzt über die Anwesenheit ihres Herrn zu einer so ungewöhnlichen Stunde.

»Was währt vielleicht nicht ewig?« wiederholte er eisig.

In blinder Wut fuhr Djamila zu ihm herum. »Die Unterwerfung der Frauen unter ihre Männer«, schrie sie ihm ins Gesicht, und all ihr Zorn lag in diesen unerhörten Worten.

»Wirklich? Und das war das Thema deines Gespräches mit meinem Sekretär?« erkundigte sich Da'ud beiläufig, nahm ein Dokument von Menahems Tisch und überflog es.

»Keineswegs«, erwiderte Djamila und erstaunte Menahem mit der festen Entschlossenheit, die sie angesichts der furchterregenden Gelassenheit ihres Gatten an den Tag legte. »Ich habe mit ihm über eine besondere Bitte der Schwestern Bar Simha gesprochen, die möchten, daß die wohltätige Schenkung, die ihr verstorbener Vater hinterlassen hat, für den Bau eines neuen Flügels am Waisenhaus für Mädchen verwendet wird. Menahem meinte, es sei nicht üblich, daß Frauen in solchen Angelegenheiten ihre Wünsche äußerten, und als ich mein Mißfallen darüber bekundete, meinte er, die Situation würde vielleicht nicht ewig währen.«

»Du möchtest zweifellos, daß sie jetzt gleich beendet wird?« fragte Da'ud kalt.

Djamila galoppierte weiter wie ein durchgegangener Gaul, konnte die Kraft ihrer Auflehnung nicht mehr zügeln. »Ich glaube, wenn man Mädchen eine grundlegende Bildung angedeihen ließe, ähnlich wie den Jungen, dann wären sie besser in der Lage, die Wirklichkeit des Lebens jenseits der engen Grenzen ihrer Häuser zu begreifen und sich eine eigene Meinung zu bilden.«

»Und du hast es also übernommen, die ›Meinung‹ deiner engsten Freundinnen vorzutragen?«

»Es würde mich freuen, wenn ihre Wünsche, die an sich schon großen Wert haben, wohlwollend in Betracht gezogen würden.«

»Da du es bist, die in ihrem Namen gehandelt hat, wäre es der Ehre unseres Hauses abträglich, wenn ich so ungnädig wäre, diese Bitte zu verweigern«, erwiderte Da'ud ohne einen Augenblick des Zögerns und setzte sie damit völlig außer Gefecht. »Ihre Ehemänner müssen trotzdem einen förmlichen Antrag in ihrem Namen vorlegen. Aber laß alle Betroffenen wissen, daß dies unter keinen Umständen als Präzedenzfall gelten darf. Ich verbiete dir strengstens, je wieder eine solche Initiative zu ergreifen. Ich habe deine Freundschaft mit diesen Frauen wider besseres Wissen toleriert. Strapaziere meine Geduld nicht übermäßig.«

Damit drehte er sich auf dem Absatz um, rief Hai aus dem Garten zu sich, der dort mit Amira und ihren neuen Glasmurmeln spielte, und nahm ihn zu seinem Besuch auf der Baustelle für das Hospital mit.

Sari spielte mit Amira weiter, wo Hai aufgehört hatte …

Djamila wandte sich, strahlend vor Triumph, Menahem zu. »Seht Ihr, Unterwürfigkeit zahlt sich nicht immer aus.«

»Ich würde mich an Eurer Stelle nicht zu früh freuen«, antwortete er säuerlich. »Euer Gatte ist ein umsichtiger und entschlossener Mann. Nicht umsonst hat er all die Jahre hindurch seine privilegierte Position halten können. Ich habe oft beobachtet, daß er sich im einen Augenblick zurückzieht, um dann zu einem günstigeren Zeitpunkt nur um so weiter vorzupreschen. Ich sage dies nicht, um Euren Triumph zu schmälern, sondern um Euch vor Eurer eigenen Impulsivität zu warnen.« Er legte seine Papiere zur Seite und schaute sie unverwandt an. In seinen Augen war ein neues Licht aufgeflackert, in seiner Stimme lag eine Spur von Zärtlichkeit. »Ich danke Euch für Eure Geistesgegenwart, als Ihr mich in Schutz genommen habt. Ich bewundere Euren Mut, aber er kann nur etwas bewirken, wenn Ihr ihn auch zu zügeln vermögt.«

»Von einem Bauern zum anderen gesprochen, Ihr redet weise«, gab Djamila offen zu. »Euer Rat ist gut. Darf ich ihn mir auch in Zukunft einholen, sollte sich die Notwendigkeit ergeben?«

»Mit Vergnügen, aber auf diskretere Weise als gerade eben.«

»Ich werde vorsichtig sein«, antwortete sie mit ungewöhnlicher Gefügigkeit, während sie sich zum Gehen schickte. Er folgte ihr mit den Blicken, bewunderte das Wiegen ihrer breiten Hüften, den Stolz ihrer aufrechten Schultern. Nachdenklich starrte er in den leeren Raum, den sie zurückließ, ehe er sich mit einem resignierten Seufzer wieder seinen langweiligen und staubigen Dokumenten zuwandte.

21

Hais Spaziergänge mit dem Vater gehörten zu den größten Freuden seiner Kindheit. Der feste Griff, mit dem seine Hand umfaßt wurde, die Stärke und Kraft der geschmeidigen Schritte seines Vaters, die die Luft durchschnitten wie ein Ruder das Wasser, all das vermittelte ihm ein Gefühl felsenfester Sicherheit, das ihm weder seine nachgiebige Kinderschwester noch seine liebende Mutter geben konnte. Hai war ein stilles Kind, beobachtete schweigend, nahm alles in sich auf, sprach aber wenig. Von Zeit zu Zeit entzog er seinem Vater die Hand, beugte sich herab und hob einen Marienkäfer auf, dessen rote Flügel mit den schwarzen Punkten prächtig in der Sonne glänzten, oder er bückte sich und verfolgte den Weg einer Doppelkolonne von Ameisen, die in militärischer Ordnung von einem Krümelchen Essen zu ihrem Ameisenhaufen hin und zurück marschierten. Geduldig blieb Da'ud dann stehen und erklärte seinem Sohn die Wunder der Schöpfung, ehe sie sich zusammen wieder auf den Weg machten.

Als Hai jedoch an jenem Morgen innehielt, um eine verletzte Amsel zu betrachten, die, von Federn und einer Lache geronnenen Bluts umgeben, am Wegesrand lag und deren einziges Lebenszeichen nur noch das schwache Beben ihrer Brust war, weigerte sich Da'ud, stehenzubleiben und das hilflose Geschöpf zu untersuchen.

»Komm weiter, Kind«, befahl er knapp.

»Aber Vater, der Vogel leidet. Wenn wir ihn mit nach Hause nehmen und die Wunde versorgen, dann kann er vielleicht wieder fliegen.«

»Dazu ist es zu spät.«

»Können wir es nicht wenigstens versuchen?«

»Heute nicht«, antwortete Da'ud, packte sein Kind fester bei der Hand und zerrte den Jungen mit einer ärgerlichen Gereiztheit weg, wie er sie ihm gegenüber sonst selten zeigte.

Während Hai widerwillig weiter mitging, weinte er vor Mitleid mit dem hilflosen Geschöpf, das sein Leben aushauchte, gleichermaßen aber ließ die strikte Weigerung seines Vaters, der ihm nicht einmal einen Versuch der Rettung zugestehen wollte, seine Tränen fließen. Noch nie hatte man so ohne jeglichen Grund derart streng mit ihm gesprochen. Erst als Hai die hochaufragende Gestalt des Abu Sa'id Hatim ibn Zuhr sah, der ihnen vom Hospital her entgegengeeilt kam, wischte er sich verstohlen mit dem Handrücken über die Augen, und auch diese Geste entging seinem Vater an jenem Morgen.

Hai konnte nicht wissen, daß Da'ud innerlich vor Wut kochte über Djamilas Initiative, mit der sie ihn gegenüber den Schwestern Bar Simha, die er verabscheute, und seinem Sekretär, den er nicht leiden konnte, in eine unmögliche Lage gebracht hatte. Was für eine üble Situation hatte sich da in seinem Haushalt ergeben, dachte er wütend, während er mit großen Schritten voranging. Die Geburt des Kindes, das er an der Hand hielt, war das kaum noch erhoffte Ergebnis von Djamilas Anwesenheit unter seinem Dach gewesen. Aber seither war sie ihm unerträglich geworden, und so sehr er es versuchte, er empfand auch nichts für seine Tochter, die ihrer Mutter in allem so glich. Nun hatten die Dinge jedoch eine schlimmere Wendung genommen, da Djamila die Stellung mißbrauchte, die er ihr in seinem Haus zugestanden hatte, indem sie versuchte, sich in Dinge einzumischen, die sie nichts angingen. Schlimmer noch waren ihre offen geäußerten Ansichten zur Bildung von Mädchen. Wenn sie es sich in den Kopf setzte, derlei Gedanken auch außerhalb der sicheren Mauern seines Hauses zu verbreiten, so konnte das großen Schaden für die etablierte Ordnung der jüdischen Familie heraufbeschwören. Irgendwie mußte er ihr Einhalt gebieten. Mit solchen Gedanken beschäftigt, bemerkte Da'ud gar nicht, daß Ibn Zuhr sich näherte. Erst der vertraute Klang seiner Stimme riß ihn aus seinen Grübeleien.

»Hallo, kleiner Mann«, begrüßte der Meister gerade Hai und wuschelte ihm liebevoll durch die rostroten Locken. »Du wächst wohl gleichzeitig mit den Mauern deiner zukünftigen Wirkungsstätte heran?« Er lächelte und wandte sich dann in dringenderem Ton an Da'ud. »Gut, daß ich dich treffe. Ich wollte gerade die Stadt nach dir absuchen.«

Da'ud erstarrte. Nur ein überaus dringendes Problem konnte Ibn Zuhr bewegt haben, seinen streng geregelten Tagesablauf zu ändern und sich auf die Suche nach ihm zu begeben. Der Meister nahm Da'ud beim Arm und ging mit ihm ein Stück in die Richtung fort, die er mit Hai gekommen war. »Ich habe heute morgen der Baustelle meinen üblichen wöchentlichen Besuch abgestattet, als plötzlich Abu Bakr mit einigen seiner Schmarotzer auftauchte. Seine Anwesenheit machte mich stutzig, also verbarg ich mich hinter einer Säule und beobachtete ihn heimlich. Zunächst war er offenkundig überrascht, daß bisher nur wenig Fortschritt zu verzeichnen ist und daß auf der Baustelle nur so wenig gearbeitet wird – heute war nur die Rumpfmannschaft von Bauarbeitern anwesend. Aber nach kurzer Überlegung wich seine Verblüffung einem befriedigten Grinsen, das ich schon beinahe bösartig nennen würde, und er ging höchst erfreut fort, plauderte gutgelaunt mit seinen Schmeichlern. Da wir ihn als Meister der Intrige kennen, hielt ich es für das beste, dich gleich zu warnen. Man muß kein weltgewandter Höfling sein, um zu begreifen, daß es ihm, dem wichtigsten Steuereintreiber des Kalifen, ein Dorn im Auge sein muß, wenn du Zugriff auf den Tribut hast, den die christlichen Königreiche zahlen.«

»Äußerst ungern zahlen«, ergänzte Da'ud trocken.

»Aber es sind Gelder, von denen Abu Bakr sehr wohl behaupten könnte, daß du sie unterschlägst. Weiß irgend jemand außer mir, daß du dein eigenes Geld vorgestreckt hast, um das Bauvorhaben am Leben zu halten?«

»Meines Erachtens nicht, aber bei Palastintrigen werden Dinge verbreitet, ohne daß irgend jemand weiß, wo sie herkommen.«

»Ich will dich nicht aufhalten. Unter diesen Umständen ist Eile geboten. Gott mit dir«, murmelte der Meister, während er sich müde und mit traurig hängenden Schultern auf den Heimweg machte.

Hai mußte rennen, um auf dem Rückweg mit seinem Vater Schritt zu halten. Noch nie hatte Da'ud ihm dermaßen wenig Beachtung geschenkt. Immer hatte er bisher seine Schritte an die seines kleinen Sohnes angepaßt, nie war Hai gezwungen gewesen, das Tempo seines Vaters mitzugehen. Verwirrt über Da'uds seltsame neue Haltung, völlig erschöpft von der körperlichen Anstrengung, zu der er sich gezwungen sah, kämpfte der kleine Junge tapfer mit den Tränen, die ihm in den Augen standen. Als er jedoch die Amsel sah, die tot und starr dalag, schossen ihm Tränen in die Augen und rollten ihm über die heißen, geröteten Wangen. Kaum hatte er die Schwelle des Hauses Ibn Yatom überschritten, da ließ er die Hand seines Vaters fahren und floh in die beruhigende Sicherheit seines Zimmers, warf sich bäuchlings auf das Bett und erstickte seine Schluchzer in den Kissen, bis ihn der Schlaf übermannte.

Ohne mit irgend jemandem ein Wort zu sprechen, eilte Da'ud in sein Arbeitszimmer und nahm ein Buch zur Hand, das noch in der rauhen Leinwand eingenäht war, in der man es ihm am Vortag überbracht hatte. Er übersah seinen Sekretär vollkommen, befahl, sein schnellstes Vollblut zu satteln und legte die kurze Entfernung zwischen der Stadt und der Medina Azahara in halsbrecherischer Geschwindigkeit zurück.

Ein Ausdruck ungeheurer Erleichterung zeigte sich auf dem aufgedunsenen Gesicht des weißen Eunuchen, der den Eingang zu den Privatgemächern des Kalifen bewachte, als er Da'ud näher kommen sah. »Gerade eben wurden Boten nach Córdoba ausgeschickt, um Euch zu suchen«, sagte er mit flötender Stimme. »Ihr müßt Euch sogleich zum Kalifen begeben. Ihr findet ihn im Lesezimmer.«

Im Lesezimmer, wo er so viele ruhige Stunden im Gespräch mit seinem Herrscher verbracht hatte, dachte Da'ud bitter. Er liebte diesen Raum mit dem grauen Marmor und den Bogenfenstern hoch oben in den Wänden, die mit so feinem Maßwerk verziert waren, daß sie das Tageslicht ungehindert durchließen. Der Raum war nur spärlich möbliert, enthielt lediglich die zum Studium der Bücher absolut notwendigen Dinge – wunderbar geschnitzte Lesepulte mit damaszenischen Intarsien, Tische aus libanesischem Zedernholz, Diwane, bedeckt mit Berbertuchen in dunkeln Tönen und mit Dutzenden von Kissen in allen Formen, Größen und Farben. Vielleicht würde er nun zum letzten Mal über diese Schwelle treten …

Äußerlich ruhig, machte sich Da'ud auf eine Konfrontation mit seinem Herrscher gefaßt. Würde er Abu Bakr beim Kalifen vorfinden? Und wie war der Steuereintreiber die Sache angegangen? Beschuldigte er ihn direkt der Unterschlagung oder hatte er in Ermangelung handfester Beweise nur tückische Anspielungen und Andeutungen gemacht, die Da'ud nur noch schwerer zu widerlegen vermochte, da sie so vage waren? Da'ud holte tief Luft, als man die Türen des Lesezimmers vor ihm öffnete.

Völlig verdattert blickte er auf die Szene, die sich ihm bot. Das war es also! Al-Hakam II. al-Mustansir, der Herrscher der Gläubigen, lag mit geschlossenen Augen und schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Diwan. Sofort bemerkte Da'ud unter den Gewändern den aufgeblähten Leib. Sollte doch jetzt Abi Bakr kommen und versuchen, ihn in Mißkredit zu bringen, dachte er mit süßen Rachegefühlen, während er das Buch, das er in der Hand hielt, auf einen Tisch aus Zedernholz legte und sich neben dem Kalifen auf den Diwan setzte. Während er mit der Hand leicht über den geblähten Leib strich, stöhnte der Kalif. »Nicht wieder einen Einlauf, bitte nicht. Ich kann den Aufruhr, den das in meinen Eingeweiden anrichtet, nicht mehr aushalten. Es muß eine andere Methode geben.«

»Entspannt Euch, o Herrscher der Gläubigen, entspannt Euch. Atmet tief ein und wendet Eure Gedanken Dingen zu, die Euch Vergnügen bereiten – einem exotischen Parfüm, der Schönheit einer soeben erblühten Rose, der üppigen Rundung einer jungfräulichen Brust, die Ihr mit der Hand umfaßt.«

Während er so sprach, massierte Da'ud sanft den Leib des Kalifen. Als sein Patient ein wenig beruhigt schien, erhob sich Da'ud und richtete einige schnelle Worte an den Eunuchen, der hinter der Tür bereit stand. Wenige Augenblicke später wurde ein warmer Umschlag gebracht. Da'ud legte ihn auf al-Hakams geblähten Bauch und massierte weiter, bis er merkte, daß sich die Spannung im Körper des Kalifen zu lösen begann und die Gase, die ihn aufblähten, sich grollend ihren Weg durch die Gedärme nach draußen bahnten.

»Es ist lange her, daß Ihr derlei Beschwerden hattet«, bemerkte er dann.

»Die Wesire plagen mich unentwegt, weigern sich, mich in Ruhe zu lassen, daß ich mich meinen Studien widmen kann«, beschwerte sich der Kalif weinerlich. »Als hätten sie nichts anderes zu tun, als meine Ohren mit schlauen Anspielungen und vagen Andeutungen zu belästigen, mich dazu anzustiften, selbst die treusten Untertanen zu verdächtigen.«

»Das ist ein Übel, dem alle Herrscher unweigerlich ausgesetzt sind«, antwortete Da'ud gelassen.

Die Blähungen vergingen nun rasch, und während al-Hakams Körper wieder seine normale Form annahm, verfolgte er seinen Gedankengang mit fester Stimme weiter.

»Stellt Euch vor, sie wollten sogar einen Mann von Eurer Statur und Eurer Unbescholtenheit verleumden, einen, der das Leben zweier Kalife in seinen treuen Händen gehalten hat. Ist ihre Boshaftigkeit, ist ihr Neid so mächtig, daß er sie für die Wirklichkeit blind macht?«

»Wir wollen eher sagen, daß sie versuchen, jede Situation zu ihrem Vorteil zu wenden. Nehmt zum Beispiel den Fall des Hospitals«, fuhr Da'ud fort und ergriff geschickt die Initiative. »Die Arbeiten sind dort aus Geldmangel praktisch zum Stillstand gekommen, weil die christlichen Fürsten den Tribut, der von ihnen fällig ist, nur sehr schleppend zahlen. Damit die Bauarbeiter nicht abwandern, mußte ich mein eigenes Vermögen angreifen, wofür ich selbstverständlich Eurem Schatzamt keinen Piaster Zinsen abverlangt habe. Aber ich kann nicht das gesamte Vorhaben finanzieren, und ich kann den Lohn für die Arbeiter auch nicht in alle Zukunft vorstrecken. Eine solche Situation bietet natürlich eine hervorragende Möglichkeit, den Verdacht auf mich zu lenken, zum einen wegen Unterschlagung der Tributgelder und zum anderen, weil ich meine eigenen Mittel vorstrecke, um damit ein ordentliches Sümmchen auf Eure Kosten zu verdienen.«

»Das alles verstehe ich, mein getreuer Freund. Ihre üblen Nachreden sind mir nichts Neues. Was ich nicht begreife, ist, warum ich nicht über die Zahlungsunwilligkeit der christlichen Fürsten unterrichtet wurde.«

»Damit Ihr mich nicht auch beschuldigt, daß ich Euch an Euren Studien hindere. Aber ich hätte irgendwann die Sache vor Euch zur Sprache gebracht. Die Prinzen von Leon und Navarra müssen zur Räson gebracht werden.«

»Mit Gewalt?«

»Wenn es sein muß, aber vielleicht reicht eine Drohung schon aus.«

»Wie ist Sanchos Gesundheitszustand dieser Tage?«

»Ich denke, zufriedenstellend. Seine Frau hat ihm unlängst einen Sohn geboren. Es wäre vielleicht angebracht, das Kind zu untersuchen. Wenn es die Krankheit seines Vaters geerbt hat, sollte frühzeitig eine entsprechende Behandlung verordnet werden.«

»Wie gut wir uns doch verstehen«, lächelte al-Hakam und erhob sich von seinem Diwan, stark und gesund, als hätten ihn niemals Krämpfe geschüttelt. »Ich werde eine kleine, aber gut bewaffnete Truppe zusammenstellen, die, falls nötig, eine Strafexpedition unternehmen kann und Euch nächste Woche nach Leon begleiten soll«, sagte er. Dann fiel sein Blick auf das in Leinen eingeschlagene Buch auf dem Tisch. »Ist dies das hundert Jahre alte Exemplar von Al-Fazaris Übersetzung der Werke der indischen Astronomen, das Ihr mir vor einiger Zeit versprochen habt?«

»Sehr richtig.«

»Wißt Ihr, Abu Suleiman – oder vielleicht sollte ich Euch Abu Hai nennen? –, manchmal denke ich, daß sie Euch wegen der Tiefe und Breite Eures Wissens hassen. Was wissen sie denn, diese Nachfahren von Wüstenkriegern, was kennen sie denn schon außer blutigem Krieg und niedrigen Intrigen? Sie glauben, daß sie kultivierte Männer sind, wenn sie einen schönen Reim schmieden oder einen Lobgesang komponieren können, aber es wird noch viele Generationen dauern, bis ihr Geist wirklich verfeinert ist. Wir jedoch, Ihr und ich, wir werden sie verwirren, bei Allah, wir werden sie verwirren.«

Da'ud verneigte sich tief, um das Kompliment des Kalifen entgegenzunehmen. Mit sorgfältigen, aber eifrigen Händen entfernte al-Hakam das Leinen und ließ die Augen über die verblaßten Illustrationen und die winzige Kalligraphie des uralten Werks streifen.

»Mit Eurer Erlaubnis, o Herrscher der Gläubigen, verlasse ich Euch nun«, sagte Da'ud. »Ich muß Vorbereitungen für meine Reise in den Norden treffen.«

»Geht in Frieden«, murmelte der Kalif, ohne den Blick von dem kostbaren Band zu wenden. »Aber vor allem, kehrt in Frieden zurück.«

Da'ud war das Herz leichter als seit vielen Monaten. Er verließ den Palastbezirk und machte sich eilig auf den Heimweg. Beim Stadttor sprach ihn ein reisender Vogelhändler an, ein riesiger, schwarzer Afrikaner, dessen Gesicht vor Schweiß glänzte und in einem breiten Grinsen strahlte. Ein großer Langschwanzpapagei saß ihm auf der Schulter, und in dem verbeulten Käfig, den er vor Da'ud hinhielt, kreischten schrill vielfarbige Kolibris.

»Einen guten Tag Euch, werter Herr. Wie ich sehe, seid Ihr ein Mann von verfeinertem Geschmack, ein Mann, der es wert ist, diesen Papagei zu besitzen, den Ihr auf meiner Schulter seht. Schaut ihn Euch gut an, o ehrenwerter Herr, er ist ein seltener Vogel mit seinem hellgrauen Gefieder und seinem scharlachroten Schwanz, er hat nicht das schreiende Gelb und Rot und Grün anderer Papageien, das Euch die Augen blendet, wenn Ihr sie von den erbarmungslosen Strahlen der Sonne ausruhen möchtet. Ein eleganter Vogel für einen feinen, eleganten Herren.«

Da'ud amüsierte sich über das freche Verkaufsgeschwätz des Händlers, schenkte ihm ein freundliches halbes Lächeln und strich mit dem Finger über die rundliche Brust des Papageis. Dann warf er dem Afrikaner zu dessen großem Erstaunen ein paar Goldmünzen in die ausgestreckte Hand. »Das ist ein kleines Vermögen für einen solchen Vogel«, sagte Da'ud und hielt dem Papagei einen Finger hin, daß er darauf Platz nähme. »Aber das Schicksal hat es heute mit uns beiden gut gemeint. Ich habe nach einem Geschenk für meinen Sohn gesucht, den ich heute morgen davon abgehalten habe, das Leben eines verwundeten Vogels zu retten«, sagte er, als könnte er sein schlechtes Gewissen erleichtern, indem er sich diesem Fremden anvertraute. »Ich hoffe, daß ich das mit diesem schönen Tier wiedergutmachen kann.«

»Sicherlich, Euer Ehren, sicherlich«, stammelte der Schwarze, immer noch völlig durcheinander von dem unglaublichen Glück, das ihm widerfahren war. Er folgte Da'ud mit Blicken, bis er beinahe nicht mehr zu sehen war. Dann wirbelte er den Käfig mit mächtigem Schwung um sich, jauchzte vor Freude und machte sich auf den Weg zum Marktplatz, um seinen neu erworbenen Reichtum zu verprassen.

22

Pedantisch genau, weil er sich nur ungern von beinahe der Hälfte des mageren Lohns trennte, den ihm sein Gönner zukommen ließ, zählte Menahem die Münzen für seine monatliche Miete in die ausgestreckte Handfläche der Witwe Tamara. Obwohl deren rauhe und gerötete Haut verriet, daß sie seit dem Tod ihres Gatten gezwungen war, niedrige Hausarbeiten zu verrichten, so waren doch ihre sorgfältig gepflegten Fingernägel und anmutigen Bewegungen stumme Zeugen der Eleganz und verfeinerten Lebensart, die sie früher einmal gekannt hatte. Sie dankte ihm nicht. Sie dankte ihm nie. Es hätte sie erniedrigt. Sie nahm das Geld einfach, als sei es Wechselgeld, das ihr ein Lieferant feinster Seide aus Córdoba noch schuldete, und steckte es geistesabwesend in die Falten ihres abgewetzten, früher einmal eleganten Gewandes.

Wie an jedem Tag außer am Donnerstag, Freitag und natürlich am Sabbat wandte sich Menahem wieder seinen Papieren und Büchern zu, machte sich an die Arbeit, um die Wortstämme der geheiligten hebräischen Sprache zu definieren und zu klassifizieren, ohne dabei auf arabische Beispiele oder arabische grammatische Ausdrücke zurückzugreifen. Es war still in dem weitläufigen Haus. Kein Diener störte ihn in seiner Konzentration. Doch plötzlich, kurz nachdem er sich an die Arbeit gesetzt hatte, schrillten Frauenstimmen durch die Stille. Eine Weile gelang es ihm, diese Störung zu ignorieren, aber als er den Namen Djamila hörte, legte er die Feder nieder, richtete sich auf und versuchte dem Gespräch zu folgen, das im Nebenzimmer stattfand: Es war die neueste Klatschgeschichte, die die Schwestern Ibn Isaac der Witwe Tamara erzählten, um diesen seltenen Besuch bei ihrer einsamen Verwandten ein wenig kurzweiliger zu gestalten.

»Ich war mir gar nicht sicher, daß sie damit Erfolg haben würde«, sagte Dona, »denn jeder weiß doch, daß sie in Da'uds Haus hinter Sari nur die zweite Stelle einnimmt.«

»Ich war mir auch nicht sicher«, ließ sich Palomba als Echo vernehmen.

»Unsinn«, schimpfte Sitbora. »Da'ud würde es niemals zulassen, daß die Ehre der Familie besudelt wird. Schließlich ist ja Djamila die Mutter seiner Tochter.«

»Das stimmt«, piepste Palomba.

»Das arme ungeliebte Kindchen«, bemerkte Dona traurig. »Ich sehe oft, wie Da'ud Hai zum Hospital mitnimmt, aber ich habe noch nie beobachtet, daß er Amira irgendwohin mitnimmt, nicht einmal auf den Markt, um ihr dort ab und zu einen Zuckerapfel zu kaufen. Wie das Djamila betrüben muß.«

»Sie hat es nicht anders verdient«, keifte Sitbora. »Sie ist nichts als die Tochter eines Fellachen aus den wilden Bergen Marokkos, die nur scharf auf alle Ehren und Reichtümer ist, die sie an sich raffen kann.«

»Du redest manchmal wirklich dummes Zeug«, widersprach ihr Dona. »So wie wir Da'ud kennen, hatte sie wahrscheinlich in der Sache gar kein Mitspracherecht. Er wollte unbedingt einen Erben haben, war aber nicht bereit, seine geliebte Sari in seinem Haushalt und in seinem Herzen vom ersten Platz zu verdrängen. Djamila war die ideale Lösung, eine einfache Bauerntochter, die er seinem Willen unterwerfen konnte.«

Genau wie mich, stimmte ihr Menahem insgeheim voller Bitterkeit zu, während er mit dem Zeigefinger die wenigen Münzen, die ihm von dem spärlichen Lohn, den ihm dieser herausragende Mäzen zudachte, noch verblieben waren, auf dem Tisch hin und her schob. Wenn sein Lexikon endlich fertig und veröffentlicht war, dann wußte er nur zu gut, daß Da'ud als Schirmherr allen Ruhm und alle Ehre ernten würde, während er, der Verfasser, wenn überhaupt, nur wenig Anerkennung erfahren würde …

»Frauen von höherem Rang, als sie es war, hätten ein solches Angebot nur zu gern angenommen«, fuhr Dona fort. »Ob nun an zweiter Stelle oder nicht, es geht ihr unendlich viel besser als in der Position der bettelarmen Tochter eines unbekannten Hebräischlehrers in der Talmud- und Thoraschule.«

»Da bin ich anderer Meinung«, fuhr die Witwe Tamara mit der Erfahrung eines älteren Menschen dazwischen. »Es ist immer noch besser, von einem einfachen Mann geliebt als von einem Großen verachtet zu werden.«

»Wie weise du bist, Tante Tamara«, seufzte Palomba mit vor Bewunderung weit aufgerissenen Augen.

Die Liebe eines einfachen Mannes, die Liebe eines Bauern zu einer Bauerstochter, sinnierte Menahem, während ihm das Bild von Djamilas stolzer Haltung, das Wiegen ihrer breiten Hüften, die Fülle ihrer schweren Brüste quälend vor Augen trat. Sie hatte eine natürliche, erdenschwere Ausstrahlung, die ihn mehr erregte, als alle parfümierte Lässigkeit der hochwohlgeborenen Damen von Córdoba das je vermocht hätte. Hatte sie ihn um seine Liebe ersucht, als sie um die Erlaubnis bat, ihn um Rat fragen zu dürfen, überlegte er. Auf diesem Gebiet, auf dem er kaum über Erfahrungen verfügte, war er sich seines Urteils nicht sicher. Er erhob sich von seinen Kissen und schritt unruhig im Raum auf und ab, um das aufsteigende Begehren zu zügeln. Es war Wahnsinn, solche Gedanken zu hegen, schalt er sich streng. Die kleinste Andeutung einer solchen Verwicklung würde eine Tragödie über sie beide heraufbeschwören.

»Am meisten bedaure ich das kleine Mädchen«, murmelte Dona. »Sie wird nicht nur von ihrem Vater verachtet. Sie hat auch darunter zu leiden, daß ihr Vater den Halbbruder ganz offensichtlich bevorzugt. Wenn wir Frauen uns auch damit abgefunden haben, daß die Söhne den Töchtern vorgezogen werden, so haben doch unsere Väter und Ehemänner niemals ihre Töchter dermaßen ignoriert oder jeglicher väterlichen Liebe beraubt, wie das Da'ud mit Amira macht.«

Als er diese Worte hörte, schoß Menahem ein wilder Gedanke wie ein Blitz durch den Kopf. Amira konnte in vielerlei Hinsicht als vaterlos gelten, war beinahe eine Halbwaise. Er, Menahem, würde also eine heilige Pflicht erfüllen, wenn er sie in seiner Obhut wie sein eigenes Kind aufzog. »Wahnsinn!« murmelte er vor sich hin, erstickte diesen Gedanken gleich im Keim, kämpfte auch die Versuchung nieder, die das sinnliche Bild Djamilas für ihn darstellte. Er verschloß seine Gedanken vor den Stimmen der Schwestern, beugte sich erneut über den Tisch und zwang sich, sich wieder der ordentlichen, systematischen, alphabetischen Liste zu widmen, in der er die hebräischen Wortstämme mit einem, zwei und drei Buchstaben zusammenfaßte, jeweils mit Bibelversen verdeutlicht. Allmählich vertrieb ihm die vertraute Routine die Hirngespinste und brachte seine Gedanken und Gefühle wieder ins Gleichgewicht.

Am folgenden Donnerstagmorgen betrat Menahem das Haus Ibn Yatom mit einem Gefühl unbestimmter Erwartung und unterschwelliger Erregung. Was er erwartete, was der Grund für seine Erregung war, weigerte er sich einzugestehen, denn er genoß die neuen Gefühle und unterdrückte sie doch gleichzeitig. Da Da'ud im Norden bei den christlichen Prinzen weilte, gab es für ihn viel zu tun, und trotz seiner Rastlosigkeit machte er sich mit gewohntem Eifer an die Arbeit. Der Morgen war schon halb verstrichen, ehe er den Kopf hob und zuließ, daß die Geräusche des Haushalts in sein Bewußtsein vordrangen. Hai wiederholte mit dem Hauslehrer seine Lektionen. Die beiden saßen draußen unter den Zypressen in der frischen Frühlingsluft. In seinem Käfig, der hinter ihnen an der Wand hing, kreischte der Papagei seine verballhornte Version vom Namen seines Besitzers: »Ayi! Ayi!« Amira quengelte, ihre Mutter solle ihr einen Kanarienvogel kaufen.

»Schon gut, aber nicht heute«, erklärte ihr Djamila.

»Warum nicht?« protestierte das Mädchen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. »Hai hat einen Papagei. Warum kann ich nicht einen Kanarienvogel haben?«

»Weil heute Donnerstag ist. Am Donnerstag drängeln sich auf dem Markt die Muslime, die ihre Einkäufe für den Freitag erledigen, und die Juden, die für den Samstag einkaufen, und die Christen, die für den Sonntag einkaufen. Wir gehen am Montag hin, das ist ein schöner, ruhiger Tag, dann können wir ungestört einen Vogel aussuchen und ein besseres Geschäft machen«, sagte sie mit fester Stimme und stand auf, um sich ins Haus zu begeben.

Der gesunde Bauerninstinkt ist noch ganz stark in ihr zu spüren, überlegte Menahem. Aber als er hörte, wie ihre festen Schritte sich den Gemächern Da'uds näherten, begann er zu hoffen, daß weder die Menschenmengen noch die Hoffnung auf ein besseres Geschäft der Grund für ihr Zögern gewesen waren. Vielleicht lag es daran, daß heute Donnerstag war und er sich im Hause aufhielt …

Sie betrat sein Zimmer, ohne anzuklopfen, und kam in ihrer offenen, direkten Art gleich zum Thema.

»Ich bin hier, um mit Euch über den neuen Mädchenflügel des Waisenhauses zu sprechen«, verkündete sie. Menahem war enttäuscht. Er hatte sich gewünscht – und doch auch gefürchtet –, daß sie vielleicht andere Absichten hegte …

»Wie kann ich Euch behilflich sein?«

»Ganz einfach. Wenn die Zeit gekommen ist, möchte ich mit dem Maler selbst über die Farben und die Muster für die Innenräume sprechen. Ich möchte, daß die Räume eine helle, fröhliche Atmosphäre haben, nicht die traurigen Grau- und Grüntöne, die man so oft in derlei Einrichtungen sieht. Im Leben der Waisenkinder gibt es wahrhaftig ohnehin schon viel zu wenig Freude. Zumindest können wir ihre Phantasie mit strahlenden Farben und Licht beflügeln.«

»Das sollte nicht schwer zu bewerkstelligen sein, da ich zweifellos damit beauftragt werde, die Ausführung des Vorhabens zu überwachen.«

»Wenn wir das Geld mit Bedacht ausgeben«, drängte Djamila weiter und setzte nun erst recht auf den guten Willen, den er soeben gezeigt hatte, »dann ist vielleicht genug übrig, um auch noch Spielsachen und Spiele und …«

»Ich weiß, was Ihr in Wirklichkeit möchtet«, unterbrach sie Menahem. »Bücher und eine Lehrerin für die Waisenmädchen, wie wir sie auch den Jungen zukommen lassen. Leider kann ich Euch da nicht helfen. Es ist eine Frage der Grundsätze, der Tradition, und die zu ändern steht nicht in meiner Macht.«

»Zum Teufel mit der Tradition! Warum sollten wir den Mädchen die wichtigsten Mittel vorenthalten, die jeder erwachsene Mensch braucht, um in Notfällen mit dem Leben fertig zu werden? Seht Euch nur die arme alte Witwe Tamara an. Hätte man ihr auch nur die Grundzüge des Rechnens und der einfachen Geschäftsvorgänge beigebracht, niemand hätte sie betrügen und ihr das Vermögen abschwindeln können, und sie müßte jetzt nicht selbst ihre Schwelle fegen. Wie, meint Ihr, wären wir zurechtgekommen, nachdem meine Mutter tot war, wenn ich nicht den Bauernhof hätte bewirtschaften können, während Vater als Lehrer in Marrakesch so viel verdiente, wie er nur konnte? Es ist ein Verbrechen, Frauen in völliger Unkenntnis über die Welt ringsum zu belassen.«

Djamila wurde von ihrer Überzeugung mitgerissen und lief mit kräftigen Schritten durch das Zimmer, während sie ihre Gedanken hervorsprudelte. »Es muß eine unauffällige Methode geben, wie wir diesen hilflosen Mädchen eine grundlegende Bildung mitgeben können, die sie vor der Unbill des Lebens ein wenig schützen kann, denn sie haben keine Eltern, die das für sie tun können. Ihr selbst wißt besser als die meisten anderen, wie wichtig Bildung für Menschen von niedriger Geburt ist, und es fehlt Euch sicherlich nicht an Intelligenz. Euch fällt doch bestimmte eine Methode ein, wie man diese Kinder lehren kann, ohne gleich die Gemeinde zu schockieren?«

Djamila fuhr herum, um Menahem geradewegs ins Gesicht zu starren, aber sein durchdringender Blick ließ sie verstummen. »Was ist? Macht Euch meine Waghalsigkeit Angst? Bin ich die erste Frau, die je hilflose Mädchen zu schützen versucht hat?«

»Die erste Frau …«, wiederholte Menahem mit heiserer Stimme, »die erste Frau, die ich je … je …«, aber seine Stimme versagte.

»Je was?«

Menahem senkte den Blick auf seine Papiere und blätterte hin und her.

»Los doch. Sagt es mir. Ihr seid schon zu weit gegangen, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich bin die erste Frau, die ihr je …«, versuchte sie ihm zu entlocken, wie man einem Kind eine Lektion entlockt, die es noch nicht ganz gelernt hat.

»… die ich je als Frau betrachtet habe«, stammelte er schließlich, die Augen immer noch unverwandt auf die Papiere gerichtet.

Djamila brach in schallendes, helles Gelächter aus. »Das nagt also an Euch! Und mit gutem Grund. Von einem Bauern zum anderen, das ist ein außerordentlich unnatürlicher Zustand für einen jungen Mann wie Euch! Aber es gibt in Córdoba viele andere Frauen wie mich. Wir müssen eine für Euch suchen, um das zu ändern.«

»Das hätte keinen Zweck. Die Heilung ist hier, in diesem Raum, aber sie ist mir verwehrt. Und selbst wenn es nicht so wäre, könntet Ihr mir sicherlich keinen Reiz abgewinnen. Ich besitze keine der Eigenschaften, die in einer Frau Liebe erwecken könnten. Allein schon meine rauhen, ungeschickten, herabbaumelnden Hände«, sagte er und legte die Handflächen auf den Tisch. »Die sind völlig abstoßend, und außerdem bin ich mit den höflichen Gepflogenheiten einer Werbung überhaupt nicht vertraut. Und weil es mir ohnehin an den Mitteln fehlt, eine Frau zu ernähren, die meinem Status als Gelehrter entspricht, mache ich mich auf ein Leben in Einsamkeit gefaßt.«

»Was für ein Unsinn!« lachte Djamila wiederum, obwohl Menahems zarte Anspielungen auf die Gefühle, die er für sie hegte, sie sehr gerührt hatten. »Es muß doch irgendwo eine passende Jungfer für Euch geben …«

Menahem hob den Kopf und hatte sich nun entschlossen, seine Gedanken – und seine Gefühle – offen zu bekennen.

»Jetzt, da meine Augen auf Euch geruht haben, sind sie blind für alle anderen Frauen. Euer natürlicher Stolz, Euer unabhängiger Geist, die üppige Fülle Eures Körpers, großzügig wie Mutter Erde selbst – all das verursacht in mir einen Aufruhr der Gefühle. Und dann ist da noch das besondere Band, das uns miteinander vereint: unsere bescheidene Herkunft und die zynische Art, wie wir alle beide von unserem gemeinsamen Herrn und Gebieter benutzt werden. Nachts träume ich davon, Euch seinen Fängen zu entreißen, tagsüber verlangt es mich selbst danach, mich aus diesen Ketten zu befreien. Und oft, wenn ich dieses Haus verlasse, sehe ich mich als liebenden Vater Eurer Amira, weil es mir das Herz zerreißt, wie Euer Gatte sie behandelt. Doch meine Hoffnungen und Wünsche werden keine Erfüllung finden, ich muß verzichten. Ich erwarte nicht, daß Ihr meine Gefühle erwidert. Ich bitte Euch nur, ihrer nicht zu spotten.«

Djamila lachte nicht mehr, war selbst durch die Gewalt von Menahems offenem Geständnis in Aufruhr geraten.

»Ihr geht jetzt besser«, sagte Menahem und griff wieder zur Feder, als seine grauen Augen – in denen Tränen schimmerten – ihre Verwirrung bemerkten. »Da Da'ud nicht im Hause ist, werden sich die Diener die Mäuler zerreißen, wenn Ihr zu lange bei mir bleibt, und schon bald wird irgendeine unschuldige Bemerkung von meinen Feinden zu bösartiger Verleumdung aufgeblasen.«

»Feinde? Wie könnte ein so milder und zurückhaltender Mann wie Ihr Feinde haben?« rief Djamila aus.

»Jeder Mann von einigen Fähigkeiten hat Feinde, sobald er seinen Fuß in die Stadt Córdoba setzt. Seine bloße Existenz gefährdet den Status, den Einfluß oder den Ruf irgendeines anderen. In meinem Fall kommt die Feindseligkeit von Seiten der Gelehrten, aber deswegen ist sie um nichts weniger boshaft. Fragt Euren Vater, wenn Ihr ihn das nächste Mal besucht. Er kann Euch das besser erklären als ich«, schloß Menahem knapp und beugte den Kopf mit entschiedener Miene über die Papiere, zum Zeichen, daß er das Gespräch für beendet hielt.

Djamila ging mit raschen Schritten zum Wassergarten zurück. Ihr einziges Bestreben war, vor den Augen der Dienerschaft die Verwirrung zu verbergen, die Menahems Liebeserklärung in ihr gestiftet hatte.

»Komm«, rief sie Amira zu, die ihre Murmeln am Rand des Wasserlaufs entlangrollte, »wir gehen doch noch deinen Kanarienvogel kaufen.« Mit einer schwungvollen Bewegung packte sie ihre Tochter bei der Hand und zog sie mit sich. Die beiden gesellten sich zu den Städtern, die aus allen Richtungen zum Marktplatz strömten. Obwohl ihr sonst das Gedränge und der Lärm mißfielen, stellte Djamila fest, daß sich in der Anonymität der Menge ihre Verwirrung hervorragend verbergen ließ. Wer hätte gedacht, daß in diesem nichtssagenden, wenig ansehnlichen Körper eine so empfindsame Seele hauste? überlegte sie verwundert, während sie sich an einem staubbedeckten Esel vorbeidrückte, dessen Sattelkörbe voller strahlend bunter Frühlingsblumen waren. Daß er die ganze Zeit über davon geträumt hatte, sie und Amira aus ihrem jetzigen Leben zu erlösen? Und doch war das vielleicht nicht so überraschend. Wenn ein Mann sich so ausschließlich einer Aufgabe widmen konnte, an die er mit glühendem Herzen glaubte, warum sollte er dann nicht fähig sein, denen, die er liebte, ähnliche Hingabe zu zeigen? Wie wunderbar das Gefühl sein mußte, so zu lieben und geliebt zu werden, wie Da'ud Sari liebte und sie ihn. Sie hatte das nie erfahren … Es stimmte, und Menahem hatte es selbst mit entwaffnender Offenheit gesagt: er war kein Mann, in den sich ein junges Mädchen Hals über Kopf verliebte. Doch hatte er so viel Verständnis für das Menschenherz, was ihr weit kostbarer schien als alle oberflächlichen, noch so bezaubernden Hofmanieren Da'uds. Wie seltsam es wäre, überlegte sie weiter, wenn es durch irgendeinen unwahrscheinlichen Lauf der Ereignisse ausgerechnet ihr zufallen sollte, Menahem in der Kunst der Liebe zu unterweisen, in die Da'ud sie mit solchem Geschick eingeführt hatte? Absurd, lächelte sie traurig vor sich hin, als sie diesen Gedanken verwarf, denn obwohl in ihr eine gewisse Wärme aufflackerte, weil sie merkte, daß sie geliebt wurde, fühlte sie doch kaum mehr als vages Mitleid mit diesem ehrenwerten Mann, dessen Liebe sie nicht erwidern konnte.

Aber sie würde ihren Vater nach denen fragen, die er seine Feinde genannt hatte, um herauszufinden, ob es sie wirklich gab oder ob sie nur das Hirngespinst eines Mannes waren, der einen Groll gegen seinen Herrn hegte und gegen alles, für das dieser stand. So in Gedanken versunken, kaufte Djamila nach kaum einer Sekunde Feilschen für Amira den buntesten, rundlichsten, teuersten Kanarienvogel auf dem Markt zusammen mit einem schönen Käfig aus Schmiedeeisen. Fröhlich kehrten die beiden nach Hause zurück und hängten den Vogel gegenüber von Hais Papagei an die Wand. Der kreischte immer noch »Ayi! Ayi!«

23

Wo ist Amira? Sie ist doch hoffentlich nicht krank?« fragte Bahya ibn Kashkil besorgt, als er seiner Tochter spät an einem Sabbatnachmittag die Tür zu seinem bescheidenen Heim öffnete.

»Sie war fest eingeschlafen, als ich das Haus verließ, und ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu wecken«, log Djamila. Das Gespräch, das sie mit ihrem Vater führen wollte, war für Kinderohren nicht geeignet …

Bahya nickte enttäuscht. Er stellte nicht in Frage, daß das Wohlergehen der Jugend wichtiger war als das Glück der Alten, aber wenn diese Jungen eine Vorstellung hätten, wie groß die Freude war, die ihre fröhliche, unschuldige, lichterfüllte Gegenwart in das verebbende Leben der Älteren brachte, wie gern würden sie dann auf ein wenig Schlaf verzichten, um ihnen dieses ungeheure Vergnügen zu bereiten … Aber davon sagte er kein Wort zu seiner Tochter. Um nichts auf der Welt wollte er mit nutzlosen Vorwürfen das Vergnügen trüben, das ihm ihre kurze Anwesenheit schenkte.

»Also, meine Liebe«, begann er, goß ihr einen Becher Wein ein und bot ihr ein paar trockene Kekse an, die er auf einen alten Zinnteller gelegt hatte. Der Teller war zwar verbeult, doch eines der wenigen Besitztümer, das er aus seinem früheren Zuhause mitgebracht hatte. Heute beschwor sein Anblick in Djamila eine schwindelerregende Welle des Heimwehs herauf, die sie mit aller Gewalt unterdrücken mußte. »Wie geht es zu Hause, jetzt da der Herr nicht bei Euch weilt?«

»Wie immer. Da'ud ist so mit seinen vielen öffentlichen Pflichten beschäftigt, daß ich ihn auch dann kaum sehe, wenn er in der Stadt ist. Ich hatte gehofft, daß sein neuer Sekretär ihn ein wenig entlasten würde, aber das scheint nicht der Fall zu sein.«

»Das überrascht mich nicht. Menahem ist eine viel zu umstrittene Persönlichkeit, als daß Da'ud ihm große Verantwortung für die Angelegenheiten der Gemeinde abtreten könnte.«

»Umstritten? Ein so zurückhaltender, bescheidener Mann?«

»Das ist er nur dem äußeren Schein nach, fürchte ich. Auf seinem Arbeitsgebiet hat er sehr ausgeprägte Meinungen, die er ohne Zögern verteidigt. Er hat sich stets kritisch darüber geäußert, daß unsere Dichter arabische Themen und Metren in die hebräische Verskunst übernehmen. Erst kürzlich ist es bei einem Treffen von Literaten zum offenen Disput gekommen, als Saul ben Hayyuj ein neues Gedicht vortrug, in dem er ein Weinfest pries, das in einem herrlichen Frühlingsgarten abgehalten wurde. Äußerst erbost griff Menahem vor der versammelten Gesellschaft Saul offen an, und es waren, wie ich höre, auch ein, zwei arabische Dichter anwesend, die Saul oft besucht.

›Es ist höchst unmoralisch‹, hat Menahem wohl erklärt, ›ein solches Vergnügen zu besingen, während das Heilige Land in den Händen der Fremdlinge ist und der Tempel in Ruinen liegt. Mehr noch, der Weingenuß lenkt die Männer vom Studium der Bibel, unseres geheiligten Erbes, ab. Diese Sitte ist mit unserer Tradition nicht vereinbar.‹

Saul ignorierte den Zwischenfall, denn das reichliche Lob, das seine Zuhörer ihm spendeten, wog bei weitem diese Einzelstimme auf, die sich gegen ihn erhoben hatte. Ich nehme an, er wollte Menahems Kritik auch keine zu große Bedeutung verleihen, indem er sie öffentlich zurückwies. Doch damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Da Saul nun einmal ein stolzer und arroganter Mann ist, der über beträchtliche Mittel verfügt, beschloß er, sich auf weit subtilere Weise zu rächen. Seit jenem Abend verbreitet er das Gerücht, das Lexikon, an dem Menahem arbeitet, sei kaum mehr als eine Kopie der Werke aus der Schule des Saadiah Gaon in Babylonien und der einzige Unterschied läge darin, daß Menahem sich stur weigere, irgendeinen Vergleich zwischen der hebräischen und der arabischen Sprache zuzulassen. Noch erlaube er uns den Gebrauch arabischer Wörter oder grammatikalischer Prinzipien zur Erklärung. Also müsse er hebräische Entsprechungen für bestimmte arabische Ausdrücke erfinden, die außer ihm selbst niemand verstehen könne. Doch das ist nicht Sauls einzige Waffe. Man sagt, er ermutige inzwischen einen seiner jungen Studenten, zu beweisen, daß die hebräischen Wortstämme nicht aus einem, zwei, drei oder manchmal sogar mehr Buchstaben bestehen, wie Menahem mit großen Mühen beweisen will, sondern daß sie nach einer allgemeinen Regel immer drei Buchstaben enthalten.«

»Und wen unterstützt Da'ud in dieser Debatte?«

»Mit der für ihn typischen Schlauheit keinen. Er spielt den einen gegen den anderen aus, um sich so seine eigene Vorherrschaft zu sichern, aber ich denke, seine Sympathien gehören Saul. Er hat stets die Übernahme arabischer poetischer Regeln durch unsere hebräischen Dichter befürwortet. Obwohl das arabische Versmaß nicht zum Geist der hebräischen Sprache passen will und obwohl Wein- und Liebesgedichte tatsächlich unserer Tradition fremd sind, ist er selbst, wie die meisten unserer Intellektuellen, so sehr von den arabischen Schriften beeinflußt, daß er an dieser Anpassung nichts Absonderliches finden kann. Im Gegenteil, ich habe ihn oft sagen hören, daß diese Vermischung der Kulturen ein innig zu wünschendes Ziel sei. So wie er es sieht, wird eine derartige Entwicklung die hebräische Dichtkunst zu ungeahnten Höhen literarischer Schaffenskraft führen und die hebräische und arabische Sprache auf die gleiche Stufe stellen.«

»Und doch hat er Menahem ausgewählt, um ein Gedicht zu verfassen, das in der neuen Synagoge, die zum ehrenden Gedenken an seinen Vater errichtet wurde, auf der Gesetzeslade steht.«

»Das ist ein religiöses Gedicht. Und es wahrt als solches alle alten Traditionen, die im Heiligen Land verwurzelt sind. Derlei Werke wurden nicht von arabischen Vorbildern beeinflußt. Letztere haben jedoch unsere Dichter zum Schreiben von weltlichen Gedichten inspiriert, was eine völlig neue Entwicklung in der hebräischen Literatur darstellt.«

»Glaubst du, daß Saul gerne Menahems Stelle als Da'uds Sekretär für jüdische Angelegenheiten hätte?«

»Nicht den Posten selbst. Er ist zu reich, als daß er ihn brauchte, und zu arrogant, um irgendeine untergeordnete Position einzunehmen. Aber er würde vor nichts zurückschrecken, um einen Mann zu ruinieren, der ihn in aller Öffentlichkeit beleidigt hat, seinen Stolz vor den Augen der arabischen Dichter verletzt hat, deren Werke er bewundert und an deren Meinung ihm viel liegt.«

»Natürlich«, sagte Djamila leidenschaftslos und nagte an einem Keks, während sie die Bedeutung dieser Worte erwog.

Den ganzen restlichen Nachmittag schmiedeten die beiden Pläne für Amiras weitere Bildung. Als die Schatten der Dämmerung sich auf das Haus senkten, verabschiedete sich Djamila.

Schnellen Schrittes ging sie nach Hause, von einer namenlosen Furcht erfüllt. Mit der drängenden, zwingenden Monotonie einer Nomadentrommel dröhnten ihr die Worte ihres Vaters im Ohr: »Er wird vor nichts zurückschrecken, vor nichts … nichts … nichts …« In ihrem innersten Herzen zitterte sie vor der grauenerregenden Wirklichkeit, die hinter diesen Worten lag, vor einer Brutalität, einer Gewalt, die so extrem war wie die köstliche Verfeinerung einer Kultur, die in der gesamten zivilisierten Welt gepriesen wurde. Hatte nicht einer der Herrscher von Sevilla, dessen Hof für seine Musik so berühmt war wie der von Córdoba für seine Dichtkunst, seine Feinde im Bad ermorden lassen, sie dann enthauptet und ihre Schädel als Pflanzkübel benutzt, die er ordentlich auf seiner Fensterbank aufreihte? Und was war mit dem schrecklichen Tod ihrer eigenen Mutter? Wenn Männer wie Saul die arabische Kultur mit solcher Begeisterung übernahmen, lag dann nicht die Schlußfolgerung nahe, daß sie nicht davor zurückschrecken würden, auch deren Methoden bei der Beseitigung ihrer Feinde zu übernehmen? Schaudernd vor Schrecken, suchte Djamila Zuflucht in der unschuldigen kindlichen Umarmung Amiras.

In den folgenden Wochen ging sie Menahem aus dem Weg. Er würde merken, daß sie mit ihrem Vater gesprochen hatte und daß sie nun um ihrer beider willen äußerste Vorsicht walten lassen mußte. In Gedanken war sie jedoch oft bei ihm, wie er da allein über seinen Verben saß, allein mit seinen Wortstämmen, seinen Phantasien. Wie er in seinen wachen Stunden mit dem unerfüllbaren Traum lebte, ihr den Reichtum an Liebe und Ergebenheit zu schenken, der in seiner Seele schlummerte – jenen Schatz im Tausch gegen die falsche, vergoldete Fassade, die sie in ihrer Jugend verblendet und verführt hatte. Und obwohl sein ungelenker Körper nichts von der höfischen Eleganz und Anmut Da'uds hatte, ertappte sie sich doch bei der Frage, ob nicht der Trost seiner ungeschickten Umarmung, die Aufrichtigkeit seiner unreifen Leidenschaft der kühlen Distanziertheit eines Mannes vorzuziehen war, der ihr kein einziges Mal gesagt hatte, daß er sie liebte. Während ihrer Besuche bei den Schwestern Ibn Isaac achtete sie auf allen Klatsch, den man dort austauschte. Doch da die Ehemänner der Schwestern Kaufleute waren, die ihren Status nicht ihrer Gelehrsamkeit, sondern ihrem Geld verdankten und also nicht zur gebildeten jüdischen Elite gezählt wurden, erfuhr sie nur wenig über den Zwist zwischen Saul und Menahem.

Wenige Wochen später erschien Menahem an einem Donnerstagmorgen nicht im Hause Ibn Yatom. Djamilas erster Gedanke war, zu seinem Haus zu eilen. Vielleicht war er krank, brauchte Betreuung? Aber sie unterdrückte diesen Wunsch, aus Angst, ihn zu kompromittieren. Sie könnte vielleicht einen Diener zu ihm schicken, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen, aber da Da'ud nicht zu Hause war, würde auch das ein Risiko sein, das sie nicht eingehen mochte. Wenn ihm etwas Schreckliches widerfahren war, würden die Schwestern Ibn Isaac als erste davon hören, von seiner Vermieterin, ihrer Tante. In hastiger Eile kleidete sie sich an und mußte sich noch die Zeit vertreiben, bis der Morgen weit genug für einen Besuch bei Sitbora vorangeschritten war, bei der Schwester, die Tamara wohl am ehesten alarmieren würde, wenn etwas Schlimmes geschehen war.

»Gut, daß du hier bist«, begrüßte Sitbora sie mit säuerlicher Miene. »Da stecken wir in einem schönen Schlamassel. Der unglückselige Sekretär deines Mannes, der sich für berufen hält, selbst den gelehrtesten Männern die Leviten zu lesen, ist gestern abend verprügelt worden. Heute morgen war Tante Tamara hier, sie ist wütend und ziemlich erschüttert, obwohl sie ständig das Gegenteil beteuert. Wir haben getan, was wir konnten, um sie zu beruhigen, und dann hat Samuel sie nach Hause begleitet und nach einem Arzt geschickt, der Menahems Wunden versorgen soll.«

»Was hat Menahem denn getan, um eine solche Behandlung zu verdienen?« fragte Djamila unschuldig.

»Es ist während einer dieser hochgestochenen Zusammenkünfte passiert, bei denen die Dichter in ihren mondbeschienenen Gärten sitzen und sich bei einem, zwei Bechern Wein gegenseitig ihre neuesten Gedichte vortragen und alle darum wetteifern, ihre Talente zur Schau zu stellen. Menahem, so scheint es, hat alle gegen sich aufgebracht, weil er ständig etwas daran auszusetzen hat, daß sie den Stil ihrer arabischen Kollegen übernehmen. Aber sie laden ihn trotzdem immer wieder ein, zum einen, weil er so gelehrt ist, und zum anderen, weil er Da'uds Sekretär ist.

Nun, wie mir Samuel erzählt hat, als er schließlich zum Frühstück nach Hause kam – wütend, wenn ich das noch erwähnen darf –, hat Menahem Saul beschuldigt, ein Gedicht geschrieben zu haben, das wie das Liebesgedieht eines Mannes für einen zarten Jüngling klingt. Saul erwiderte, seine Anspielung auf die Antilope und die Gazelle oder worum es immer in diesem Gedicht geht, sei nur eine Metapher für den lebendigen Gott des Dichters. Daraufhin bezichtigte ihn Menahem rundheraus der Lüge. Die Araber, deren homosexuelle Gepflogenheiten ja allen bekannt seien, benützten derlei Bilder, wenn sie von ihrem ›Geliebten‹ schrieben, soll er angeblich erklärt haben. Und dann ging es los. Die Beleidigungen flogen hin und her, die Mehrheit war auf Sauls Seite, und Menahem verließ unter Protest die Zusammenkunft. Mitten in der Nacht drang dann eine Bande von üblen Schlägern gewaltsam in Tamaras Haus ein, und sie verabreichten ihm die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens.

Was für ein Aufruhr! Als hätte die arme alte Witwe nicht schon genug Probleme mit all den Schwindlern, die ihr das ganze Vermögen abgeluchst haben. Jetzt beherbergt sie auch noch einen Unruhestifter unter ihrem Dach! Höchste Zeit, daß dein Mann nach Hause kommt und seinen Sekretär in die Schranken verweist. Samuel meint, wenn dieser Streit so weitergeht, muß irgendwann die gesamte Gemeinde Partei ergreifen, und dann streiten wir uns alle über etwas, das die meisten von uns nicht einmal verstehen. Samuel jedenfalls ist nicht bereit, eine Gemeinde zu finanzieren, die ihre Mitglieder nicht davon abhalten kann, Zwietracht zu säen. Du, Djamila, die du immer wieder darauf bestehst, daß auch Frauen ein Recht haben, ihre Meinung zu Dingen außerhalb des Heims zu sagen, du hast die Pflicht, das deinem Mann mitzuteilen.«

Was für eine jämmerliche Maskerade! schrie Djamilas Seele auf. Sie hatte sich in dem Netz verfangen, das sie selbst geknüpft hatte, und nun forderte man sie heraus, gegen jede Sitte zu handeln und ihren Prinzipien zu folgen, um einen Mann, der sie liebte, bei einem anderen, der sie verstoßen hatte, in Mißkredit zu bringen …

»Bis zu Da'uds Rückkehr ist die ganze Angelegenheit längst vergessen«, sagte sie leichthin, gab vor, die Sache nicht allzu ernst zu nehmen.

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Da'ud hält ja wohl große Stücke auf Sauls Gelehrsamkeit. Es wird ihm gar nicht gefallen, wie feindselig Menahem gegen ihn hetzt.«

»Aber er hält auch große Stücke auf die Gelehrsamkeit seines Sekretärs. Niemand, sagt er, kann einen hebräischen Satz so rein und elegant formulieren wie er.«

»Nun, es hat keinen Sinn, daß wir uns aufregen«, erklärte Sitbora mit einer heftigen Aufwallung ihres herrischen Busens. »Es ist an den Männern, diese Dinge nach ihrem Ermessen zu regeln. Wo ist Amira heute morgen?« fragte sie, um das Thema zu beenden.

»Sie und Hai verbringen Stunde um Stunde damit, dem Papagei und dem Kanarienvogel das Sprechen beizubringen. Nichts kann sie da weglocken. Es ist sehr lustig, den beiden zuzusehen.«

Die beiden Frauen sprachen noch über dies und das, bis Djamila sich endlich verabschieden durfte. Unentschlossen wanderte sie durch die Straßen. Schlichte menschliche Freundlichkeit verlangte von ihr, daß sie bei Menahem vorbeischaute, die Furcht vor den Folgen einer so unbedachten Handlung hielt sie zurück. Sie durfte ihm nicht einmal ein mitleidiges Schreiben zusenden, denn der Bote könnte sie verraten. Wenn sie sich zu sehr für Menahems Wohlbefinden interessierte, würde sie nur mißtrauische Blicke ernten. In Gedanken versunken, erreichte sie auf ihrer ziellosen Wanderung den Marktplatz, kaufte Unmengen frisches Käsegebäck und nahm die Köstlichkeiten als Überraschung für die Kinder mit nach Hause.

Am folgenden Sabbatnachmittag besuchte sie ihren Vater wieder, wollte unbedingt seine Fassung der Geschehnisse vom Mittwoch hören. Zu ihrer Überraschung stimmte sie in allen Einzelheiten mit dem Bericht überein, den ihr Sitbora gegeben hatte.

»Alle in der Synagoge waren sprachlos vor Staunen über diese Geschichte. Alle sagten ihre Meinung dazu, wenn auch keiner genau wußte, worum es eigentlich ging. Was für ein Durcheinander!« berichtete Bahya und schüttelte den Kopf.

»Das ist doch absurd«, meinte Djamila, »ein solches Theater um ein paar Gedichtzeilen.«

»Nein, mein Kind, die Sache liegt tiefer. Es geht um die Grenzen zwischen harmonischer Anpassung an unsere Umgebung und Wahrung unserer Identität.«

»Die Moslems werden uns nie als gleichberechtigt anerkennen. Als Dhimmis hat uns Omar gebrandmarkt, und Dhimmis bleiben wir auch, Bürger zweiter Klasse im Haus des Islam.«

»Ich denke auch nicht, daß wir Gleichheit anstreben sollten. Gerade unser Anderssein schützt uns ja, denn unsere Herrscher vertrauen uns mehr als ihren eigenen Leuten, die alle potentielle Rivalen sind. Aber trotzdem gewinnen wir nichts, wenn wir mit Verachtung auf ihre kulturellen Errungenschaften herabsehen. Im Gegenteil, wir sollten von ihnen lernen, sollten ihre eleganten literarischen Stilmittel zu unseren eigenen Zwecken einsetzen, um unsere schöpferischen Leistungen zu verbessern. Je höher das Niveau, das wir nach ihren Maßstäben erreichen, desto größer der Respekt, den wir ihnen abverlangen, und desto weniger sind wir der traditionellen Verachtung des Islams für die Dhimmis in seiner Mitte ausgesetzt.«

»Du meinst also, Menahem irrt sich mit seiner Kritik?«

»Nicht vollständig. Es ist heilsam, daß sich von Zeit zu Zeit eine Stimme wie die seine erhebt, um Übertreibungen zu vermeiden, die zum Verlust unserer ureigensten Werte führen könnten.«

»Ich frage mich, ob Da'ud das auch so sieht.«

»Dein Gatte ist ein kluger Mann. Bisher hat er zwischen den beiden gegensätzlichen Strömungen das Gleichgewicht wahren können. Sollte aber nun dieser Zwischenfall zu einer dauerhaften Spaltung der Gemeinde führen, dann wird er sich wohl gezwungen sehen, eine Position zu beziehen. Wann erwartet ihr seine Rückkehr?«

»Spätestens vor dem Herbstregen.«

»Das sind also noch einige Wochen. Wir wollen hoffen, daß die Angelegenheit bis dahin in Vergessenheit geraten ist.«

Die Worte ihres Vaters hatten Djamila ein wenig beruhigt, und sie schlief besser als in den beiden vorangegangenen Nächten. Am Morgen stand sie erfrischt auf und beschloß, einen langen Spaziergang am Flußufer entlang zu machen. Als sie gerade auf die Straße treten wollte, hörte sie das Klappern eines Spazierstocks, der in unregelmäßigen Abständen auf die unebenen Pflastersteine stieß. Sie blinzelte in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien, schaute noch einmal hin und war sich dann sicher, daß es Menahem war, der unter Schmerzen am Stock auf sie zu gehumpelt kam. Sie rannte ihm beinahe entgegen und ging dann langsam mit ihm zum Haus zurück.

»Ich wollte Euch nur eine weitere Tracht Prügel ersparen, deswegen bin ich Euch nicht besuchen gekommen«, entfuhr es ihr. »Wie geht es Euch?«

»Gut genug, daß ich mich hierher bemühen und meine donnerstäglichen Pflichten erfüllen kann.«

»Ich wollte Euch ein Wort des Mitgefühls zukommen lassen, aber ich fürchtete mich, es einem Boten anzuvertrauen.«

»Daran habt Ihr gut getan. Ich wollte Euch versichern, daß die Prügel, die ich bezogen habe, mich nicht sehr mitgenommen hat, aber ich habe aus dem gleichen Grund darauf verzichtet. Stundenlang habe ich dagelegen und versucht, mir eine sichere Art der Verständigung mit Euch auszudenken, aber es ist mir keine eingefallen.«

Djamila zögerte einen Augenblick, ehe sie antwortete. »Nun, am Eingang zu Da'uds Gemächern, von meiner Seite des Hauses aus gesehen, befindet sich eine Nische mit einem Almosenkästchen. Jahrelang stand dieses Kästchen in Ya'kubs Laden auf der Theke, doch nach seinem Tod hat es der Mann, der das Geschäft übernommen hat, durch das aus Elfenbein ersetzt, das sich heute dort befindet. Ich habe ihn gebeten, mir das Kästchen zu geben, als Erinnerung an die Freundlichkeit, die mir Ya'kub trotz meiner bescheidenen Herkunft immer erwiesen hat. Niemand bemerkt, daß es dort steht. Ich bin die einzige, die es ab und zu herausnimmt und abstaubt. Wenn es absolut notwendig ist, könnt Ihr es als Briefkasten verwenden, zumindest bis zur Da'uds Rückkehr.«

»Es sei denn, ich wäre wieder bettlägerig«, meinte Menahem nachdenklich.

»Haltet Euch eine Weile zurück«, drängte ihn Djamila. »Es wäre töricht, Da'ud zu zwingen, in diesem Disput eine klare Position zu beziehen. Ihr würdet dann vielleicht als Verlierer dastehen. Ich staube das Almosenkästchen häufiger ab, ich verspreche es Euch, insbesondere am Donnerstagabend«, sagte sie, ehe sie ihn am Eingang zum Haus verließ. »Seht Ihr jetzt, wie nützlich es ist, wenn eine Frau schreiben und lesen kann?«

Menahem wagte nicht zu fragen, ob er hoffen dürfte, auch von ihr ab und zu einen Brief im Kasten zu finden. Ihm war es schon genug, daß sie bereit war, seine Briefe zu suchen – und daß sie in der Lage war, sie zu lesen.

24

Niemand, am allerwenigsten Da'ud ibn Yatom selbst, hatte damit gerechnet, daß er seinen Auftrag in so kurzer Zeit erfüllen würde. Zweifellos hatte schon der königliche Prunk, mit dem er als persönlicher Gesandter al-Hakams auf dessen dringenden Wunsch hatte reisen müssen, die christlichen Prinzen beeindruckt, doch hatte sie wohl eher noch der Anblick der Elitegarden, die den größten Teil des fürstlichen Gefolges ausmachten, in Angst und Schrecken versetzt. Die Garde war nur leicht bewaffnet, doch die Beweglichkeit der Krieger auf ihren geschmeidigen Araberpferden, vereint mit der blitzschnellen Geschicklichkeit ihrer Schwerter machte sie zu furchterregenden Gegnern für die christlichen Heere, die von ihren schweren Rüstungen behindert wurden. Hier tänzelte wieder einmal ein überlegener David um Goliath herum, hatte Da'ud leise lächelnd gedacht, während er auf dem edlen Roß einherritt, das ihm sein Herrscher geschenkt hatte und das den Schweif stolz und freudig erhoben trug. Da'uds schmale, dunkel gekleidete Gestalt stand in scharfem Kontrast zum perlgrauen Fell des Tieres. Kaum war die Kunde vom Nahen des Gesandten vom Hof des Kalifen bis zu den Palästen von Leon und Navarra und zu Fernan Gonzalez im abtrünnigen Kastilien vorgedrungen, da kamen ihm auch schon hochrangige Sendboten der Prinzen entgegen, um ihn zu begrüßen. Als ihnen die bedrohlichen Trommelwirbel und schrillen Trompetenklänge ins Ohr schallten, die den arabischen Zug begleiteten, begrüßten sie al-Hakams Leibarzt äußerst unterwürfig. Während sie sich verbeugten und Kratzfüße machten, warfen sie verstohlene Blicke auf die arabischen Reiter, die unruhig an den Griffen der Damaszenerdolche hantierten, die an ihren Gürteln blitzten.

Der Sprecher der christlichen Fürsten teilte Da'ud mit, daß ihre Herrscher Kunde von seiner Absicht erhalten hätten, zum Hofe Sanchos von Leon zu reisen, um dessen neugeborenen Sohn zu untersuchen. Deswegen seien sie höchst erfreut, sich diesen glücklichen Umstand zunutze machen zu können, um sich ihrer Schulden beim Herrscher der Gläubigen zu entledigen. Ihre Schatztruhen, so versicherten sie, seien schon von Burgos und Pamplona unterwegs nach Leon. Da'ud war sehr erleichtert. Er war nicht gerade erpicht darauf gewesen, auch noch die anstrengende Reise von Leon nach Burgos und weiter nach Pamplona auf sich zu nehmen, um die Schulden einzutreiben. Offenbar waren Leon und Navarra so sehr damit beschäftigt, das widerspenstige Kastilien in die Schranken zu verweisen, daß sie auf keinen Fall auch noch ihren muslimischen Oberherren provozieren wollten.

Sancho hatte Da'ud mit königlichen Ehren empfangen und ihm voller Stolz die Nachkommen vorgestellt, die er seit seiner Wunderheilung in Córdoba gezeugt hatte – und seit jener stürmischen Nacht im Harem des Kalifen, wie er sich erinnerte und dabei Da'ud mit einer vulgären Geste in die Rippen stieß, die der Höfling widerwärtig fand. Ein einziger Blick genügte, um ihn zu versichern, daß weder Sanchos Sohn und Erbe noch seine anderen Kinder auch nur eine Spur vom petit mal ihres Vaters zeigten. Trotzdem untersuchte er sie alle sorgfältig, um seinen Besuch zu rechtfertigen, und verschrieb ihnen eine bis ins einzelne festgelegte Kombination aus Diät, Bewegung und regelmäßigen Vollbädern.

»Vollbäder?« rief Sancho entsetzt aus. »Schön und gut im milden Klima von Andalusien, aber wie könnt Ihr hier, bei unseren strengen Wintern, so etwas Barbarisches verschreiben, wenn von den schneebedeckten Pyrenäen die eisigen Winde gefegt kommen und vom Meer her Stürme mit Schneeregen? Die armen Kinder werden schrecklich frieren und an Unterkühlung sterben.«

»Sauberkeit ist ein sine qua non für gute Gesundheit und Wachstum«, beharrte Da'ud. »Einmal schnell vor einem lodernden Kaminfeuer in einer Wanne mit heißem Wasser abgeschrubbt zu werden, das wird ihnen nicht schaden, ich verspreche es Euch.«

Sancho schmollte und war keineswegs überzeugt. Er hatte Da'ud gedrängt, seinen Aufenthalt noch zu verlängern und mit ihm jeden Tag ins gesprenkelte Sonnenlicht der Buchenwälder auszureiten, die der Arzt so sehr liebte. Aber Da'ud hatte dieses Angebot abgelehnt. Das harte Leben am christlichen Hof, die plumpen Manieren der Höflinge, all das bereitete ihm großes Unbehagen. Sobald die wohlgefüllten Geldtruhen aus Burgos und Pamplona angekommen waren, hatte er sich auf den Heimweg gemacht, hatte sein Gefolge immer wieder zu größter Eile angetrieben. Der vom Kalifen erzwungene Pomp und die Pracht dieser Reise behagten ihm nicht, denn sie gingen gegen alle Prinzipien, die nun schon seit über vierzig Jahren sein Verhalten bestimmten. Er hatte nur noch den Wunsch, zur vertrauten Behaglichkeit und in die Zurückgezogenheit seines Heims zurückzukehren, zu seinem bescheidenen Lebensstil, seiner geliebten Sari und seinem vergötterten Sohn Hai, dem Dreh- und Angelpunkt seines Lebens. War der Junge während seiner Abwesenheit wohl merklich gewachsen? Er hatte ihn lange nicht mehr an der Zypresse gemessen, so beschäftigt war er gewesen, warf er sich vor, während er seinem Pferd auf der letzten Strecke des Rückwegs nach Córdoba die Sporen gab. Wenn sie sich beeilten, würde er noch rechtzeitig ankommen, um den nächsten Sabbat mit seinen Lieben zu feiern …

Am Donnerstagabend bei Einbruch der Dunkelheit, sie waren etwa noch einen halben Tagesritt von Córdoba entfernt, befahl Da'ud seinem Gefolge, in der kühlen Nacht weiter in Richtung Heimat zu reiten, anstatt noch einmal in einer staubigen, übelriechenden Herberge abzusteigen und erst am Mittag des folgenden Tages zu Hause einzutreffen. Sogar ihn überraschte es, daß ihn seine ungeduldige Sehnsucht nach Saris tröstender Gegenwart mit der Gewalt jugendlicher Leidenschaft vorantrieb, aber so war es nun einmal. Mit den Jahren war seine Liebe zu ihr nicht geringer geworden. Im Gegenteil, ihrer beider Leben waren so eng miteinander verschlungen, daß diese Verbindung von nichts und niemandem aufgelöst werden konnte. Nicht einmal die Anwesenheit von Djamila und Amira unter dem gleichen Dach konnte ihrer Beziehung etwas anhaben, aber das lag, wie er wohl wußte, lediglich daran, daß er die beiden schlicht übersah. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Djamila zu seiner zweiten Frau nahm, denn niemals hätte er erwartet, daß Sari ihm doch noch näherkommen würde, wie sie es schließlich getan hatte. So hatte ihm Djamila, ohne es zu wissen, den allergrößten Dienst seines Lebens erwiesen – wie er ihr, als er sie heiratete. Sie waren also quitt.

Aber jetzt? War es richtig, sie so völlig zu übersehen, nun, da er sie nicht mehr brauchte? War es richtig, ihr die Erfüllung als Frau, vielleicht weitere Kinder, zu versagen? War ihre gesellschaftliche Stellung als Mitglied seines Haushaltes hinreichende Entschädigung dafür, wie er sie behandelte? Trotz seiner lebenslangen Erfahrung als geschickter Lenker von Menschen und Situationen stellte Da'ud fest, daß er in einem Dilemma gefangen war. Sein natürliches Gespür für Ehre und Anstand und sein Ruf als Mann von Würde erlaubten es ihm nicht, Djamila mitsamt seiner Tochter aus dem Haus zu vertreiben, nicht einmal unter dem Mäntelchen einer arrangierten Ehe mit einem Mann, der bereit war, seine abgelegte Ehefrau zu heiraten. Und doch, wenn er sie im Haus behielt, verdammte er sie zu einer kalten und unfruchtbaren Zukunft. Vielleicht würde sich mit der Zeit eine Lösung finden, seufzte er und verbannte das Problem aus seinen Gedanken, als die Umrisse der Mauern, Kuppeln und Minarette von Córdoba auftauchten, dunkler als die Dunkelheit. Er hatte nun nur noch Gedanken für seine geliebte Sari. Sobald er innerhalb der Stadtmauer war, entließ er seine königliche Garde und ritt mit wenigen Begleitern weiter, die sich um die Sicherheit der Geldtruhen und seiner eigenen Habseligkeiten kümmerten.

Mit dem beinahe unheimlichen Gespür der Liebenden schrak Sari mitten in der Nacht auf und ahnte, daß Da'ud sich seinem Zuhause näherte. So unwahrscheinlich es auch schien, da Reisende kaum je nachts unterwegs waren, weil sie Räuber fürchteten, lauschte sie doch angestrengt, bis sie schließlich in der Stille der Nachtstunde Hufgetrappel vernahm. Sie stand sofort auf und lief, ihre Diener zu wecken. Schlaftrunken tappten sie herum, um Lampen und Kerzen zu suchen, die ihrem Herrn den Weg beleuchten sollten. Doch das Haus lag immer noch in beinahe völliger Dunkelheit da, als Da'ud, gefolgt von den Trägern mit seiner Habe, eintrat. Die Männer des Kalifen waren mit der Umgebung nicht vertraut und prallten mit den Hausdienern beinahe zusammen. Gepäckstücke wurden in alle Richtungen gezerrt. In der großen Verwirrung rammte jemand eine Truhe in die Nische mit Ya'kubs altem Almosenkästchen. Es schwankte eine Sekunde und fiel dann zu Boden. Das alte Holz zersplitterte in tausend Stücke.

Da'ud gab den vielen Dienern und Trägern, die wie kopflose Hühner umherrannten, einige rasche Befehle. Als die Ordnung endlich wieder hergestellt war, entließ er die Männer, die ihm der Kalif zur Verfügung gestellt hatte, und schickte seine Hausdiener wieder zu Bett. Nachdem alle fort waren, steckte er ein kleines Stück Papier in die Tasche, das ihm jemand in dem Aufruhr in die Hand gegeben hatte, und gesellte sich zu Sari, die in ihrem Schlafzimmer auf ihn wartete.

Mit der gleichen starken Leidenschaft, die ihn durch die Nacht getrieben hatte, liebte er sie nun, abwechselnd zart und stürmisch, sanft und herrisch, aber immer, wie eh und je, mit feinem Gespür für Rhythmus und Tempo ihrer Begierde. Die Morgenröte dämmerte bereits, als sie beide aufstanden, um zusammen ihren geliebten Sohn Hai zu betrachten. Er lag noch friedlich schlummernd da, die roten Locken umgaben seinen Kopf wie ein kupferner Heiligenschein.

Wie an jedem Donnerstag und Freitagmorgen, ob Da'ud anwesend war oder nicht, erschien Menahem frühzeitig im Hause Ibn Yatom, um seinen regelmäßigen Pflichten nachzugehen. Kaum war er ins Haus getreten, warf er einen schnellen Blick auf das Almosenkästchen. Panik ergriff ihn. Die Nische war leer! Warum? Aber natürlich, sagte er sich schnell. Djamila mußte das Kästchen herausgenommen haben, um es abzustauben, wie sie es ihm gesagt hatte. Es war ihr Kästchen. Warum sollte sie das nicht tun? Er durfte seiner Unruhe – oder seiner Liebe – nicht erlauben, ihn um den Verstand zu bringen …

Er betrat wie immer seine Kammer und begann in Erwartung der Rückkehr seines Dienstherrn die unzähligen Dokumente, die seiner Aufmerksamkeit harrten, in dringende, alltägliche und unwichtige zu sortieren. Er hatte bereits drei Stapel rings um sich ordentlich aufgeschichtet, als sich leise die Tür öffnete. Er hob den Kopf, die Augen strahlend vor Erwartung. Ein wenn auch noch so flüchtiger Blick auf Djamila, während sie das Almosenkästchen an seinen Platz zurückstellte, war mehr, als er erhofft hatte. Doch rasch verblaßte das Leuchten auf seinem Antlitz. Vor ihm stand Da'ud.

Auf diesen Anblick völlig unvorbereitet, fuhr Menahem auf, verbeugte sich tief vor seinem Dienstherrn und murmelte den traditionellen Segen für die Rückkehr von einer langen Reise. Während die vertrauten Worte über seine Lippen kamen, fragte er sich, wann Da'ud wohl eingetroffen war? Er selbst hatte das Haus am vergangenen Abend bei Einbruch der Dunkelheit verlassen, und bei Nacht waren Reisende doch eigentlich niemals unterwegs, um sich nicht der Gefahr eines Überfalls durch herumstreunende Räuberbanden auszusetzen. Aber dieses Risiko hatte Da'ud ja außer acht lassen können, wurde Menahem nun klar, da er im Geleitschutz der Garden des Kalifs sicher war. Sollte er vielleicht bemerkt haben, daß das Almosenkästchen nicht an seinem üblichen Platz stand? Hatte man den Dienern oder gar der armen Djamila selbst peinliche Fragen gestellt? Er musterte Da'uds Gesicht, um Anzeichen für eine Verstimmung festzustellen, fand es aber wie immer undurchdringlich. Das Kästchen gehörte Djamila, sagte er sich immer wieder, sie konnte damit machen, was sie wollte …

»Hattet Ihr eine angenehme Reise, Abu Hai?« erkundigte er sich, und trotz seiner tiefen Besorgnis klang seine Stimme ganz ruhig.

»Erfolgreich war sie, ja, aber nicht angenehm«, antwortete Da'ud kurz, während er hier und da Papiere von den verschiedenen Stapeln nahm und überflog.

»Dies sind die Angelegenheiten, die dringend Eurer Aufmerksamkeit bedürfen«, sagte Menahem und reichte ihm den kleinsten Stapel. »Die anderen können warten, bis Ihr Euch vollständig von den Strapazen der Reise erholt habt.«

»Wir kümmern uns gleich um alles«, befahl Da'ud und bat Menahem mit einer Handbewegung in sein Arbeitszimmer. »Ist eine Antwort vom König der Chasaren gekommen?«

»Nein, noch nicht.«

Die beiden Männer arbeiteten, bis die länger werdenden Schatten im Garten anzeigten, daß der Vorabend des Sabbats anbrach. Da'ud entließ seinen Sekretär gerade noch so rechtzeitig, daß sie ihr rituelles Bad nehmen, frische Kleidung anziehen und zum Abendgebet in die Synagoge eilen konnten. Hai war schon gewaschen und angezogen und wartete ungeduldig darauf, daß auch sein Vater fertig wurde.

Wie es Ya'kub gehalten hatte, so machte es auch Da'ud mit seinem einzigen Sohn Hai: Hand in Hand, beide in festliche Gewänder gekleidet, gingen Vater und Sohn in stiller Würde zum Sabbatgottesdienst. Aber sie besuchten nicht mehr die Synagoge, in der Ya'kub gebetet hatte. Seit Da'ud ein kleines, herrlich ausgeschmücktes Gebetshaus auf einem Stück Land hatte errichten lassen, auf dem einmal eines der Vorratshäuser Ya'kubs gestanden hatte, versammelte sich die Familie hier zum Gebet. Einige hervorragende Gelehrte der Gemeinde hatten sich ebenfalls angewöhnt, hierher zu kommen, aber Menahem wie auch Djamilas Vater waren der alten Synagoge treu geblieben, wo sich der Großteil der jüdischen Gemeinde von Córdoba, reiche Händler und niedrige Handwerker, wohlhabende Juweliere und Gerber mit verfärbten Händen, einfanden, um zu ihrem Gott zu beten.

Warme Worte des Willkommens wurden Da'ud ibn Yatom zuteil, während er auf den Ehrenplatz zuschritt, den man für ihn frei gehalten hatte. Nach den Gebeten eilte Saul auf ihn zu, entschuldigte sich wortreich, er habe von Da'uds Rückkehr nichts gewußt und daher auch keinen Lobgesang im arabischen Stil zur Ehre seiner wohlbehaltenen Wiederkehr verfassen können. Die beiden Männer wechselten einige kurze Worte, ehe sich die Gesellschaft zerstreute, und jeder an den heimischen Herd zurückkehrte.

Djamila sah ihren Ehemann erst beim traditionellen Familienmahl an jenem Abend wieder. Seit sie in seinem Haushalt weilte, war dies wohl das erste Mal, daß ihr seine unerschütterliche Miene Furcht einflößte. Im Morgengrauen, als sie nachsehen wollte, ob Menahem ihr in Ya'kubs Kästchen eine Nachricht hinterlassen hatte, erklärte ihr ein Diener, der den Boden fegte, das Kästchen sei im Aufruhr der unerwarteten Wiederkehr Da'uds zerbrochen. Was er ihr nicht sagen konnte und was sie ihn nicht zu fragen wagte, war, ob ein Zettel darin gelegen hatte …

Während die Mahlzeit voranschritt, schien Da'uds Verhalten ihr und ihrer Tochter gegenüber eine Spur wärmer zu sein, als sie es gewohnt waren, obwohl nur Djamila diesen Unterschied bemerken konnte: hier ein halbes Lächeln für Amira, dort eine Andeutung, daß er ihre Gegenwart wahrnahm. Obwohl sie sich hütete, diesen sparsamen, herablassenden Gesten zuviel Bedeutung beizumessen, so trugen sie doch einiges dazu bei, sie ein wenig zu beruhigen. Wenn Da'ud eine Nachricht von Menahem gefunden hatte, als das Kästchen herunterfiel, dann war ohnehin alles verloren. Wenn nicht, und das schien seine veränderte Haltung anzudeuten, und sie wollte es in ihrer Verzweiflung nur zu gerne glauben, dann hatte sie nichts zu befürchten. Es gab für sie keine andere Möglichkeit, das eine oder das andere herauszufinden, als still dazusitzen und die Ereignisse abzuwarten …

Diese Ereignisse sollten mit der plötzlichen Gewalt eines Sommergewitters aus heiterem Himmel über sie hereinbrechen.

Der Sabbat verlief friedlich. Im ganzen Haus herrschte gedämpfte Freude über die Rückkehr des Hausherrn. Nachdem die nachmittägliche Siesta vorüber war, trat Da'ud an Djamila heran, als sie sich gerade fertig machte, um das Haus zu verlassen. Mit dem ihm eigenen unwiderstehlichen höfischen Charme, den er nun schon viele Jahre nicht mehr auf sie verströmt hatte, bat er sie, auf ihren allwöchentlichen Besuch bei ihrem Vater zu verzichten. Es ging ihm nicht gut? Sie konnte ihn auch morgen besuchen. Auch er würde sich anschließen, falls das Fieber noch nicht nachgelassen hätte. Nach so langer Trennung von seinen Lieben wollte er jedoch heute einen ruhigen Abend im Kreise der ganzen Familie verbringen, sagte er mit leisem Nachdruck, während er ihr sanft den Arm um die Taille legte und sie in den Garten hinausführte.

Sobald man Hai sorgfältig an dem Stamm der Zypresse gemessen hatte, die mit ihm heranwuchs, rannte der Junge fort, um sich zu Amira zu gesellen und mit den Unterrichtsstunden fortzufahren, in denen die beiden mit unermüdlichem Fleiß ihren Vögeln beizubringen versuchten, einander zu antworten.

»Wie gut die Kinder miteinander auskommen«, sagte Sari freundlich, als sie, Da'ud und Djamila sich neben den Wasserlauf setzten und in der leichten Abendbrise ihre erfrischenden Scherbetts nippten. Da'ud bestätigte dies mit einem kurzen Nicken und erging sich dann in einer lyrischen Beschreibung der Schönheit des kühlen, klaren Sonnenlichts, das in den Wäldern des Nordens durch das bebende Laub der Buchen drang. Die Frauen hörten ihm wie gebannt zu, als plötzlich der Zauber, in den sie seine Redekunst gebannt hatte, durch einen Aufruhr an der Tür zur Straße gestört wurde. Wenig später kam ein Diener hereingerannt, doch ehe er noch den Mund aufmachen konnte, wurde er bereits von einer Frau zur Seite gedrängt, die sich auf keinen Fall von einem Untergebenen abweisen lassen wollte.

Da'ud stellte sein Scherbett ab und betrachtete die Frau. Seine anfängliche Verwunderung verwandelte sich in die Wärme, die ihm die Gebote der Gastfreundschaft abverlangten.

»Meine liebe Witwe Tamara«, begann er, während er sich erhob und auf sie zuschritt, die Hände zum Willkommensgruß ausgestreckt. »Was verschafft uns die Ehre dieses unerwarteten Besuchs am Sabbat?«

»Es ist kein Besuch«, erklärte die Frau mit steinerner Miene und wimmerte ein wenig, als sie ihre gebeugte und eingesunkene Gestalt aufrichtete, um wenigstens eine Erinnerung an ihre frühere Größe und Würde heraufzubeschwören. »Ich bin gekommen, um mich in aller Form zu beschweren.«

»Es muß eine ernste Angelegenheit sein, wenn Ihr Eure Sabbatruhe dafür gebrochen habt«, erwiderte Da'ud eisig. Er machte sich gar nicht erst die Mühe, seine Verärgerung über diese unerhörte Störung seines Privatlebens zu verbergen.

»Sie ist mehr als ernst. Es ist ein Skandal«, stellte die Witwe mit hochmütiger Empörung fest. Sie drehte mit den Fingern der einen Hand den riesigen Smaragdring, den sie an der anderen Hand trug, hin und her, nahm dann die Haltung einer Frau an, die es gewohnt war, daß man ihr wegen der Stellung ihres Gatten stets gehorchte, und brachte ihren Protest vor.

»Heute morgen, während mein Mieter, Euer Sekretär Menahem, in der Synagoge weilte, brach eine Bande wilder Gesellen mit Gewalt in mein Haus ein. Die Kerle packten Menahems Habe und warfen sie aus dem Fenster, mitten auf die Straße. Dann nahmen sie am Fenster seines Zimmers Aufstellung und warteten dort, bis sie sahen, daß er nach Hause zurückkehrte, worauf sie auf die Straße rannten und ihn überfielen, mit Eisenstangen und Peitschen auf ihn einschlugen, bis er beinahe das Bewußtsein verlor. Schließlich warfen sie ihn, verletzt und blutend, auf seine armseligen Siebensachen, schütteten einen Eimer Wasser über ihm aus, um ihn wieder zu Bewußtsein zu bringen, und brüllten ihm ins Ohr: ›Schlimmeres erwartet dich, wenn du nicht bis zur Abenddämmerung die Stadt verlassen hast.‹ Dann machten sie sich aus dem Staub, offensichtlich höchst zufrieden mit dem, was sie angerichtet hatten.

Ich frage Euch, Abu Suleiman – oder sollte ich sagen Abu Hai? –, was hat dieser stille, rechtschaffene, harmlose Gelehrte verbrochen, daß er es verdiente, mit Gewalt aus seinem Zuhause und aus unserer guten Stadt Córdoba vertrieben zu werden? Als man ihn vor einigen Wochen mitten in der Nacht zum ersten Mal verprügelt hat – und mich dabei zu Tode erschreckte, wenn ich das hinzufügen darf –, sind wir davon ausgegangen, daß in Eurer Abwesenheit Ordnung und Disziplin zusammengebrochen waren. Heute aber ist das nicht der Fall, da ja die Neuigkeit von Eurer Rückkehr sich gestern abend wie ein Lauffeuer durch die Gemeinde verbreitet hat. Ich verlange, die Gründe für diese empörenden Vorfälle zu erfahren! Des weiteren verlange ich volle Wiedergutmachung für die Schäden an meinem Haus sowie für den Mietverlust, den ich nun wegen der brutalen Vertreibung meines Mieters erleiden muß.«

»Aber natürlich, Witwe Tamara«, erwiderte Da'ud gewandt. »Ich verstehe Eure Empörung. Ich bin über die Geschehnisse genauso schockiert und betroffen wie Ihr. Ihr sagt, mein Sekretär wurde während meiner Abwesenheit schon einmal überfallen? Habt Ihr eine Vorstellung, warum?«

»Es hieß, zwischen ihm und dem Dichter Saul habe es ein Zerwürfnis gegeben. Menahem hätte behauptet, Saul hätte in einem seiner Gedichte eine skandalöse Anspielung gemacht, und zwar auf verbotene Beziehungen zwischen Männern und Jünglingen, soweit ich das verstanden habe. Man munkelt, Saul steckte hinter diesem Vorfall.«

»Vielleicht ist der Zwist seither noch gewalttätiger geworden«, bemerkte Da'ud geistreich. »Ich danke Euch, daß Ihr gekommen seid, um mich über diese Angelegenheit in Kenntnis zu setzen. Ich werde sie genau untersuchen, sobald der Sabbat vorüber ist. Was die Entschädigung betrifft, so braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen.« Er hielt einen Augenblick inne, dachte nach und fuhr dann fort. »Es stimmt doch, daß Ihr ein kleines Stück Land zwischen der Stadt und den Ausläufern der Berge Euer eigen nennt?«

»Das ist richtig«, erwiderte die Witwe steif.

»Steht ein Haus darauf?«

»Ein kleines Häuschen, aber es ist verlassen.«

»Könnte man es wieder bewohnbar machen?«

»Sicherlich. Es war einmal ein zauberhaftes kleines Anwesen.« Tamaras Blick schweifte in die Ferne, als sie sich erinnerte: »Wir hatten dort einen Pächter, der uns von diesem Stück Land mit beinahe allem versorgte, was für unseren Haushalt notwendig war. Seine Frau kümmerte sich um das Haus, als wäre es ein Palast, und jeder schlichte Gegenstand war für sie wie ein kostbarer Schatz. Aber das war vor vielen Jahren, als mein armer Isaac noch lebte.«

»Als Entschädigung schlage ich Euch vor, daß die Schuldigen oder, falls man ihrer nicht habhaft wird, die Gemeinde für Euch dieses kleine Häuschen renovieren soll. Dann könnt Ihr es vermieten, vielleicht an Menahem selbst, da ja nun das Leben in Córdoba für ihn unerträglich geworden ist.«

»Hat er denn ausreichende Mittel, um mich regelmäßig zu bezahlen?« erkundigte sich Tamara mißtrauisch.

»Das wird geregelt. Habt keine Sorge, ich will Euch nicht betrügen, wie es schon so viele andere getan haben. Ihr erhaltet von mir eine schriftliche Erklärung und alle notwendigen Sicherheiten, für die ich persönlich bürge. Ich hoffe, das ist zu Eurer Zufriedenheit. Jetzt wird Euch einer meiner Diener nach Hause begleiten und Euch helfen, Menahem wieder auf die Beine zu bringen. Zusammen könnt Ihr ihn dann mit all seinen Habseligkeiten zu dem kleinen Häuschen bringen, und dort kann er die Nacht über bleiben. Es mag dort vielleicht nicht sehr bequem sein für ihn, aber er ist zumindest in Sicherheit.«

Nachdem er einen Diener gerufen und seine Befehle gegeben hatte, geleitete Da'ud selbst die Witwe zur Tür und versicherte sich, daß sie, in Gesellschaft eines seiner Diener, auf dem Heimweg war.

Während Da'uds kurzer Abwesenheit tauschten Sari und Djamila im Garten Blicke äußerster Besorgnis. Obwohl sie im Charakter sehr unterschiedlich waren – Sari so schüchtern und zurückhaltend wie Djamila lebhaft und unternehmungslustig –, waren doch beide Frauen verblüfft darüber, wie Da'ud mit einem Handstreich Menahems Schicksal besiegelt hatte. Die Szene, die sie gerade miterlebt hatten, bot ihnen eine seltene Gelegenheit, ihren Mann zu beobachten, wie er Menschen und Situationen seinem Willen unterwarf. Das Geschick, das er dabei an den Tag gelegt hatte, erfüllte sie beide mit einer Mischung aus Schrecken und Bewunderung. Wie aalglatt er die Witwe beruhigt hatte. Wie glänzend er die Angriffe auf Menahem gleichzeitig verdammt und gutgeheißen hatte und doch seine Vertreibung aus seinem Heim und aus der Stadt bestätigt hatte, indem er eine Lösung vorschlug, die für die Witwe außerordentlich reizvoll und zudem geschickt als großzügige Geste guten Willens gegenüber Menahem getarnt war, so daß weder die Witwe noch Menahem sie ablehnen konnten. Aus gutem Grund wollte der Kalif seinen jüdischen Berater immer in seiner Nähe wissen, dachte Djamila traurig, während sie sich fragte, warum Menahem wegen einer scheinbar so trivialen Angelegenheit eine derart harte Strafe auferlegt wurde. Sicherlich hätte Da'ud weniger drastische Maßnahmen ergreifen können, um diesen Disput zu schlichten und den Frieden in der Gemeinde wieder herzustellen?

Die Antwort auf diese unausgesprochene Frage ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Als er in den Garten zurückkehrte, nahm Da'ud einen langsamen Schluck von seinem Scherbett, ehe er sich Djamila zuwandte. »Ich hatte immer das Gefühl, daß das Leben in den engen Mauern eines Hauses und einer Stadt, noch zusätzlich zu den Beschränkungen, die dir deine Stellung als meine Ehefrau auferlegt, deinem beweglichen, unabhängigen Geist zuwider ist. Selbstsüchtig und gedankenlos habe ich dich aus deiner natürlichen Umgebung herausgerissen, dich mit Reichtum und Ansehen verlockt. Das war ein Fehler. Das Unglück steht dir ins Gesicht geschrieben. Nicht die höchsten Ehren, nicht der Reichtum von Prinzen kann einen Menschen für das Fehlen der Liebe in seinem Leben entschädigen. Das hast du nun herausgefunden. Ich hege daher die Absicht, dich in eine Umgebung zurückzuversetzen, die deinem Wesen besser entspricht, jedoch nicht, ohne sicher zu sein, daß dich dort liebende Hände willkommen heißen werden.«

Vollkommen verständnislos schaute Sari zwischen Da'ud und Djamila hin und her, konnte die Bedeutung dieser Worte nicht erfassen. Da'ud hielt inne und ließ Stille herabsinken, schuf eine Atmosphäre der Spannung, der Vorahnung, die so deutlich zu spüren war, daß sogar die Kinder ihr Spiel unterbrachen, da sie mit ihren zartfühlenden Seelen bemerkt hatten, daß sich vor ihren Augen ein menschliches Drama abspielte, dessen Bedeutung sie nicht zu ergründen vermochten.

Djamila fröstelte leicht vor innerer Kälte, hielt sich aber aufrecht, während sie darauf wartete, daß Da'ud über ihr Schicksal bestimmte. Mit einer beinahe unmerklichen Bewegung zog er aus den Falten seines Gewandes ein kleines, zusammengefaltetes Stück Papier, dessen Siegel säuberlich gebrochen war.

»Dies hier«, sagte er und hielt das Papier zwischen Daumen und Zeigefinger, »hat mir die Lösung eines Problems beschert, über das ich schon lange nachgrübele. Nicht die Worte der Botschaft, die hier geschrieben steht, weißt du. Menahem ist ein zu kluger Kopf, als daß er sich oder dich kompromittieren würde. Nein. Es geht um das, wofür diese Botschaft steht: daß eine Beziehung so weit herangereift ist, daß beiderseitiges Vertrauen zwischen meinem Sekretär und dir entstanden ist.«

Mit größter Achtsamkeit faltete Da'ud den Zettel auseinander und las laut vor: »›Ich bin nun beinahe vollständig wieder hergestellt und sorgsam darauf bedacht, Euren Rat zu befolgen. Es scheint daher keine Gefahr zu drohen. Stets Euer treuer Diener.‹ Natürlich keine Unterschrift, aber es gibt in ganz Córdoba nur eine Hand, die so schön zu schreiben vermag. Hat dein Vater den großen Irrtum begangen, dir eine Erziehung angedeihen zu lassen, die dich befähigt, derlei Botschaften zu lesen?« fragte er, ehe er fortfuhr. »Deine Besorgnis um Menahem ist lobenswert, und der Rat, den du ihm gegeben hast, war zweifellos gut, doch beides scheint mir einem Gefühl zu entspringen, das tiefer geht, als man es von einer Frau in deiner Position dem Sekretär ihres Gatten gegenüber erwarten würde. Was Menahem betrifft, so verrät er sich nur mit einem Wort: ›stets‹. Die Floskel ›Euer treuer Diener‹ wäre ausreichend gewesen, aber es gibt Zeiten im Leben eines jeden Mannes, in denen die Leidenschaft alle Vernunft zum Schweigen bringt.

Aus all dem schließe ich, daß es zwischen Euch beiden ein Band des Verstehens und der Zuneigung gibt, und wenn mich mein Gespür nicht trügt, leidenschaftliche Liebe zu dir auf seiten Menahems. Ihm werde ich dich daher anvertrauen. Zusammen werdet ihr das Land wieder fruchtbar machen, das ich gerade für euch gepachtet habe, und gemeinsam werdet ihr das verlassene Haus zu neuem Leben erwecken. Ich muß wohl nicht erwähnen, daß alle Formalitäten einer Scheidung und Heirat rasch und mit äußerster Diskretion vorgenommen werden. Und jetzt«, sagte er und erhob sich, um damit anzudeuten, daß die Entscheidung unwiderruflich war, »in Anbetracht der Sorge, die du um Menahems Wohlbefinden an den Tag gelegt hast, erfordert es der menschliche Anstand, daß du unverzüglich zu ihm gehst, dich um seine Wunden kümmerst und ihm etwas zu essen bringst. Morgen früh schicke ich eine Abordnung Bauarbeiter los, die das Haus bewohnbar machen sollen, so daß ihr am Abend dort ein neues Leben beginnen könnt, ein Leben voller Liebe und ohne alle Einschränkungen.«

Empört sprach Sari die Worte, die Djamila in ihrer Erschütterung nicht hervorbrachte. »Und was soll aus deiner Tochter Amira werden, wo kommt sie in all den Vorkehrungen vor, die du soeben getroffen hast?« fragte sie mit vor Zorn bebender Stimme.

»Für sie und ihre Mutter wird großzügig gesorgt, und sie wird immer als meine Tochter gelten. Ihr natürlicher Platz ist jedoch an der Seite ihrer Mutter.«

»Das mag sein, aber ich bestehe darauf, daß du sowohl Djamila als auch mir dein feierliches Versprechen gibst, daß die geschwisterlichen Bande zwischen deinem Sohn und deiner Tochter ein Leben lang erhalten bleiben. Die Kinder sollen den Preis für deine Fehler nicht zahlen müssen.«

Saris leiser, aber unbeugsamer Ton und ihr kaum verhohlener Tadel trafen Da'ud bis ins Mark.

»In dieser Hinsicht habt ihr meine Zusicherung«, antwortete er knapp.

Dann erhob sich Djamila, und in ihrer stolzen Kopfhaltung, in ihrem festen Schritt zeigte sich ihre ganze angeborene Würde. »Mit deiner Erlaubnis, Abu Hai, beginne ich mein neues Leben sofort. Sobald der Sabbat vorüber ist, sei so gut und bitte die Diener, meine Habseligkeiten zu packen und sie heute abend noch am Haus abzuliefern. Amiras Kinderschwester soll sie morgen in aller Frühe zu mir bringen. Auch sie wird das einfache, ehrliche Landleben genießen.«

Ohne einen Blick zurück verließ sie das Haus, das in Wahrheit niemals ihr Heim gewesen war.

In dem eisigen Schweigen, das sich nun herabsenkte, warf Sari ihrem Mann einen Blick unverhohlener Verachtung zu. »Warum?« fragte sie ihn schließlich. »Warum hast du sie so gedemütigt?«

»Um meine Ehre zu wahren.«

»Sie hat deine Ehre nicht befleckt.«

»Ist das hier nicht Beweis genug?«

»Nein, Da'ud. Du hast die Botschaft nur als Vorwand benutzt, um sie loszuwerden, sie für ein Verbrechen bestraft, das sie nicht begangen hat«, murmelte Sari, und die Ruhe, mit der sie ihren Tadel vorbrachte, verlieh der Wahrheit, die sie ausgesprochen hatte, nur noch größere Gewalt und Überzeugungskraft.

»Ich glaube nicht, daß ich sie bestraft habe. Vielleicht war es die größere Strafe für sie, daß ich sie je geheiratet habe. Ich kann sie nicht lieben. Menahem kann es. Hier war ihr Leben falsch und unfruchtbar. Dort wird es Wahrhaftigkeit bekommen und aufblühen wie das Land. Verurteile mich nicht vorschnell. Laß den Schock vergehen, und das Leben beginnt neu in den frisch gepflügten Furchen aufzubrechen. Wenn die Ernte eingebracht wird, ist noch Zeit genug für ein Urteil.«

Sola, die seit Ya'kubs Tod in ruhiger Abgeschiedenheit gelebt hatte, von ihren Enkelkindern und gelegentlich ihren Töchtern umgeben, vernahm mit erschrockenem Schweigen die Kunde von der Verbannung Djamilas. In ihrem Innersten zerriß der letzte dünne Faden, der sie noch ans Leben band. Wenige Wochen später starb sie im Schlaf, stahl sich leise davon, um sich wieder zu dem Mann zu gesellen, dessen Leben ihr Daseinsgrund gewesen war.

25

Sari und Djamila machten es sich auf den aufgehäuften Kissen mit groben Leinenüberzügen bequem, deren Farben von der andalusischen Sonne ausgebleicht waren und von jahrelangem Gebrauch zeugten. Ein dichtes Dach aus Weinblättern über der Pergola schützte sie vor der aufsteigenden Hitze des Mittags, während sie miteinander sprachen und ab und zu einen wachsamen Blick auf die Kinder warfen: Amira, Hai und die siebenjährige Dalitha. Die drei tobten zwischen den graugrünen Olivenbäumen herum, die in geordneten Reihen hinter dem Haus wuchsen und deren knotige und verschlungene Stämme die flinken Kinderbeine geradezu zum Hinaufsteigen einluden. Sari beobachtete ein wenig ängstlich, wie Hai an einem Stamm hochkletterte, sich in eine Astgabel hockte und dann vorbeugte, um Dalitha seine starke helfende Hand hinzustrecken, damit sie ihm nachkommen konnte.

»Hai beschützt Dalitha, als wäre sie seine kleine Schwester«, sagte Djamila lächelnd.

»Sie hätte sehr wohl seine Halbschwester sein können«, murmelte Sari traurig. »Manchmal bedaure ich, daß sie es nicht ist.«

Djamila blickte mit offener Verwunderung auf. In den acht Jahren seit ihrer jähen Vertreibung aus dem Hause Ibn Yatom war dies das erste Mal, daß Sari auf die Ereignisse damals zu sprechen kam.

»Aber warum?« fragte sie. »Nach Hais Geburt war ich doch kaum mehr als ein Eindringling in eurem Hause. Du, Hai und Da'ud, ihr wart eine so verschworene Gemeinschaft, daß für Amira und mich einfach kein Platz mehr war.«

»Es tut mir auch nicht um deinetwillen leid, sondern um unseretwillen, um Da'uds und meinetwillen. Ich habe die Haltung, die er nach Hais Geburt dir und Amira gegenüber an den Tag gelegt hat, nie gutgeheißen. Es ist das einzige Thema, das er sich strikt mit mir zu besprechen weigert. Bis heute habe ich ihm die Art und Weise nicht vergeben, in der er dich damals aus dem Haus gejagt hat. Es steht zwischen uns, ist ein ständiger unsichtbarer Vorwurf, der das Glück trübt, das wir einmal kannten. Es tut nichts zur Sache, daß du heute unendlich viel zufriedener bist, als du es je unter unserem Dach hättest werden können. Die Art, wie er dich benutzt und dann weggeworfen hat, ohne auch nur einen Augenblick lang deine Wünsche in Betracht zu ziehen, ist unverzeihlich. Selbst gestern, bei einem so feierlichen Anlaß wie Hais Bar Mizwa, die mit all der schlichten Eleganz und ruhigen Würde begangen wurde, die du aus unserem Hause kennst, konnte er sich nicht durchringen, Amira als seine Tochter zu behandeln. Ich selbst fühlte mich für sie gedemütigt. Ich hätte mir beinahe gewünscht, sie wäre nicht gekommen. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das meine Freude getrübt hat.«

»O doch, das kann ich«, stimmte ihr Djamila traurig zu. Die Erinnerung an die Beschneidungsfeier war ihr noch schmerzlich im Gedächtnis. »Menahem ist wie du«, fuhr sie fort. »Er wird ihm auch nie vergeben. Er ist immer noch überzeugt, daß Da'ud hinter dem zweiten Angriff und seiner Verbannung aus der Stadt steckte. Saul und er müssen diesen Plan ausgeheckt haben, als sie sich am Abend zuvor in der Synagoge trafen. Menahem kannte seinen Dienstherren gut genug, um sich darüber im klaren zu sein, daß er den literarischen Streit mit Saul für seine eigenen Zwecke ausnutzen würde. Da'ud würde aus der ganzen Angelegenheit mit unbefleckter Ehre und makellosem Ruf hervorgehen und dazu noch die Einheit der Gemeinde wahren, daran bestand kein Zweifel. Da'ud konnte Menahem nie leiden, mußt du wissen. Er hatte ihn mehr oder weniger gegen seinen Willen eingestellt, um seinem ehrenwerten Lehrer Rabbi Samuel einen Gefallen zu tun. Obwohl Menahem ihm stets treu gedient hat, war Da'ud nur zu froh, einen Vorwand gefunden zu haben, unter dem er ihn loswerden konnte – und mich gleich dazu«, sagte sie lachend. »Ich werde nie vergessen, wie charmant er nach seiner Rückkehr aus Leon zu mir war, während er seinen Plan doch schon ausgeheckt hatte. Was für ein schlauer Fuchs er doch ist!«

»Du nimmst das alles so leicht«, wunderte sich Sari.

»Es ist zwecklos, Groll zu hegen. Mein Zorn kann Da'ud nicht erreichen. Er kann mich nur bitter machen. Ich streiche ihn lieber ganz aus meinem Leben und wende mich schöneren Dingen zu. Außerdem mußt du zugeben, daß er klug genug war, aus Menahems unschuldigen Zeilen eine Wahrheit herauszulesen, die keineswegs offensichtlich war, nicht einmal für mich. Nichts hätte mir ferner gelegen als eine Ehe mit Menahem. Und doch, als man uns so zusammengeworfen hatte und wir auf uns gestellt waren, wurde schon bald klar, wie grenzenlos dieser Mann lieben kann: Er fing mich auf, wenn ich strauchelte, beruhigte mich, wenn ich tobte, linderte meine Pein, wenn jede Faser meines Wesens schmerzte. Und er wurde für Amira der Vater, der Da'ud nie war und auch nie sein wird. Weißt du«, lächelte sie und breitete die Arme aus, als wolle sie das weißgetünchte Haus umfassen, die Blumenbeete in allen Farbschattierungen, die es umgaben, die schwer beladenen Obstbäume und die gut gepflegten Weinstöcke und Olivenhaine, »überall ist Leben und Freude und Schönheit. Ich bedaure nur, daß mein Vater es nicht mehr hat erleben dürfen.«

»Wäre Da'ud nicht in Leon gewesen, als ihn das Fieber ereilte, er könnte vielleicht heute noch unter uns weilen.«

»Vielleicht. Wenn ich mir auch niemals vergeben habe, daß ich auf Da'ud gehört, meinen Besuch an jenem Sabbatnachmittag verschoben und ihn so meiner tröstlichen Gegenwart in seiner Sterbestunde beraubt habe, danke ich doch Gott, daß es ihm erspart geblieben ist, die Schande meiner Verbannung aus dem Hause Ibn Yatom zu erleben.«

»Wer weiß?« fragte sich Sari. »Er hätte sie vielleicht als Segen betrachtet, so wie du selbst sie inzwischen siehst. Aber liebst du Menahem so sehr, wie du ihn zu schätzen weißt?« fragte sie.

»Ich habe es gelernt«, erwiderte Djamila und erhob sich plötzlich, um das Gespräch zu beenden. Sari hatte mit ihrer Frage an etwas gerührt, das sie sich selbst nicht eingestehen wollte. Denn trotz des Grolls, den sie einmal gegen Da'ud gehegt hatte, konnte sie nicht leugnen, daß er es vermocht hatte, sie in einen süßen Aufruhr der Liebe und Leidenschaft zu versetzen, daß schon seine zarte Berührung ausgereicht hatte, sie für ihn zu erwärmen, daß seine Distanziertheit in ihr nur das Verlangen und die Begierde noch vergrößert hatte.

Menahem hatte in ihr keine solchen wirbelnden Leidenschaften erregt, keine Begeisterung entfacht. Hatte sie ihn zu leicht gewonnen? fragte sie sich manchmal. Liebte sie ihn nicht so, weil sie sich nicht bemühen mußte, ihn zu erobern, ihm zu gefallen, ihn zu halten? Aber er besaß alle Eigenschaften, die sie brauchte, um ihr Leben neu aufzubauen: Er war maßvoll, wo sie stürmisch war, vorsichtig, wo sie waghalsig war, er schützte sie und war ungeheuer zuverlässig. Sie konnte nicht behaupten, daß sie nicht geliebt und geachtet wurde. Sie konnte sich nicht beklagen, daß er sie geringschätzte oder übersah. Und wenn auch ihr Herz nie raste, ihre Sinne bei seinem Anblick nicht erbebten, unter seinen ungeschickten Berührungen nicht entbrannten, dann lag der Fehler nicht bei ihm, wahrscheinlich nicht einmal bei ihr. Das Geheimnis der lodernden Leidenschaften lag anderswo, sie wußte nicht, wo. Sie hatte längst aufgegeben, danach zu suchen, war fest entschlossen, ihr Leben in ruhigen, gemächlichen Bahnen verlaufen zu lassen.

»Komm, laß uns Feigen für die Kinder pflücken«, sagte sie fröhlich und ging auf einen Baum zu, der in der Nähe stand. Dalitha kam sofort angerannt. Hai folgte ihr, nahm die runde, dunkelrote Frucht, die Djamila ihm hinhielt, und strich mit einem seiner langen, feinen Finger über den Flaum, der zart darauf lag. Sorgfältig öffnete er die Feige und untersuchte das reife, rote Fleisch, ob auch kein Wurm darin sei, ehe er eine Hälfte Dalitha reichte. Sie ahmte ihn nach und betrachtete die Feige genau. »Oh, das sieht ja wie ein ganzes Würmernest aus!« rief sie und schrak vor Ekel zurück.

»Überhaupt nicht«, antwortete Hai. Er beugte sich nieder, legte ihr einen Arm um die Schulter und ließ sie noch einmal hinsehen. »Es ist wie der Bart eines alten Mannes, lauter wirre weiße und rote Fäden.«

»Dann sind die Samenkörner die Flöhe im Bart«, meinte Dalitha starrköpfig und schauderte vor Widerwillen, während sie zusah, wie er die Zähne in das süße, saftige Fleisch hieb.

»Nein, das sind sie nicht. Es sind die Krümel von seinem Frühstück.«

»Amira, komm und schau dir das an!« rief das kleine Mädchen ihrer älteren Halbschwester zu. »Hai sagt, das Innere einer Feige sieht aus wie der Bart eines alten Mannes.«

»Wenn Hai das sagt, dann muß es stimmen. Er hat doch immer recht!« lachte Amira gutmütig, während sie Sari und ihrer Mutter half, den gelben Weidenkorb zu füllen, der unter dem Baum stand.

»Mach dich nur lustig!« erwiderte Hai und zog Amira spielerisch am Ohr.

»Hai ist immer so glücklich und so fröhlich, wenn er hier ist«, vertraute Sari Djamila an, während sie sich niederbeugten, um die gepflückten Feigen in den Korb zu legen. »So voller Lachen und Leichtigkeit. Wenn seine Studien ihm nicht eine solche Last auferlegten, er würde sicherlich mehr Zeit bei euch verbringen. Er nutzt ohnehin schon jede Gelegenheit, um der lähmenden Nüchternheit und Strenge unseres Hauses und den Launen Da'uds zu entfliehen.«

»Da'ud verhält sich dir und Hai gegenüber launisch? Das kann ich mir kaum vorstellen«, bemerkte Djamila mit einiger Überraschung, während sie sich den schweren Korb auf die starken, sonnengebräunten Unterarme hob.

»Die Zeit fordert ihren Tribut«, erwiderte Sari traurig. »Er leidet neuerdings an Gelenkschmerzen. Er sieht natürlich zu, daß er sich ausreichend bewegt, und beschränkt sich gewissenhaft auf leichte, wenig gewürzte Speisen. Er läßt sich auch ab und zu selbst zur Ader. Das scheint ihm einige Linderung zu verschaffen, doch schon bald kehren die Schmerzen zurück, besonders im Winter. Obwohl er Arzt ist, erträgt er Schmerzen nur schlecht, und er weigert sich, das Mittel anzuwenden, das er so oft anderen verschrieben hat, einen Umschlag aus Taubendung, glaube ich. Er sagt, er könne einfach den Geruch nicht ertragen. Du kennst ihn so gut wie ich und kannst dir sicher vorstellen, wie tapfer er seine Beschwerden vor der Außenwelt verbirgt. Hai und ich müssen den Großteil seines Unmuts ertragen, wenn er sich in der Abgeschiedenheit unseres Heims einmal gehen läßt. Hai ist geduldiger und mitfühlender, als man das von einem Jungen seines Alters erwarten würde, aber wie alle Kinder braucht er die Gesellschaft von Brüdern und Schwestern, die ihm zu Hause fehlt.«

»Er ist ein intelligenter, sensibler Junge. Vielleicht kommt er nur deshalb so gern hierher, weil er den kindlichen Wunsch hegt, uns dafür zu entschädigen, wie sein Vater uns behandelt hat? Er hat vielleicht sogar deine Mißbilligung gespürt und ist davon beeinflußt worden. Kinder bekommen oft mehr mit, als wir Erwachsenen meinen.«

»Ich weiß nicht. Wir haben nie darüber geredet. Später vielleicht, wenn er erwachsen ist. Ich möchte, daß er seinen Vater lieben und ehren lernt, was immer er auch in späteren Jahren über seine Untugenden herausfinden mag. Im Augenblick genießt er wahrscheinlich einfach nur die entspannte Atmosphäre in eurem Zuhause und die Gesellschaft der beiden lebhaften Mädchen.«

Djamila verfolgte das Thema nicht weiter. »Du weißt, daß Hai hier immer willkommen ist. Ich habe stets mein Bestes getan, damit hier sein zweites Zuhause ist, damit das Band zwischen ihm und seiner Halbschwester nie durchtrennt wird.«

»Das ist dir über alle Erwartungen gut gelungen. Er und Amira sind nicht nur beste Freunde, er scheint auch Dalitha, deine und Menahems Tochter, unter seine brüderlichen Fittiche genommen zu haben.«

»Ja, er ist von Anfang an unendlich lieb zu ihr gewesen. Aber komm, es ist Zeit, daß wir das festliche Mahl auftragen, das wir ihm anläßlich seiner Bar Mizwa versprochen haben. Und dann müssen wir ihm noch unser Geschenk überreichen.«

»Ein Geschenk ist doch nicht nötig. Da'ud hat dafür gesorgt, daß Amira ihm …«

»Nicht Da'ud, liebe Sari«, unterbrach Djamila sie, indem sie ihr fest die Hand auf den Unterarm legte. »Wir. Menahem, Dalitha, Amira und ich.«

»Was für eine Verrücktheit habt ihr euch wieder ausgedacht?«

»Keine Verrücktheit. Komm«, sagte Djamila und ging ihr voraus auf die andere Seite des Hauses. »Wir haben einen Teil unseres Gemüsegartens abgetrennt, mit dem Hai jetzt machen kann, was er möchte.«

Saris Augen wurden vor Rührung ganz feucht. »Wie passend«, murmelte sie.

»Genau, und zudem ist es ein Geschenk, das in unserer Macht steht. Menahem und ich haben oft bemerkt, wie eingehend er jede Pflanze untersucht, die ihm unter die Augen kommt – Blüten, Blätter, Wurzeln, alles. Dieses kleine Stückchen Erde wird es ihm möglich machen, Samen zu säen, zuzuschauen, wie sie wachsen, und seine Studien zu treiben, wohin ihn seine Neugier auch führen mag.«

Während Djamila sprach, blitzte vor Saris innerem Auge die Erinnerung an die Reihe von Pflanzen wieder auf, die in Da'uds Zimmer in seinem Elternhaus auf der Fensterbank gestanden hatte, zarte Pflänzchen, die er, in seinem Bemühen, sie ins Leben zurückzulocken, ihrer Obhut anvertraut hatte. Jetzt lebte sein jugendlicher Forschergeist in ihrem einzigen Sohn wieder auf. Für welche Zwecke würde Hai all das Wissen einsetzen, das er ansammelte? fragte sie sich. Würde er nur die Grenzen des menschlichen Wissens erweitern wollen wie Da'ud in jungen Jahren, oder würde er sich daran machen, das Los seiner Mitmenschen zu verbessern? Sie für ihren Teil hoffte, daß aus ihm der wahre Arzt würde, der sein Vater trotz seines großen Ruhmes nie gewesen war.

»Mehr konnte man von diesen Bauern auch nicht erwarten«, meinte Da'ud geringschätzig, als Sari ihm von Menahems und Djamilas schöner Geste berichtete.

»Ich finde es rührend, daß sie Hai bei seinem Studium der Pflanzen unterstützen wollen. Weißt du noch, mit welch selbstvergessenem Interesse du die Pflanzen betrachtet hast, die dir der Einsiedler damals hinterließ? Das gehört doch alles auch zu der umfassenden Bildung, die du für ihn vorsiehst, oder nicht?«

Da'ud antwortete mit einem übellaunigen Knurren. »Ich brauche keine Einmischung von dieser Seite.«

»Sie meinen es nur gut.«

»Mag schon sein.«

Hai errötete ob der Mißachtung seines Vaters für die Menschen, deren Warmherzigkeit und Schlichtheit er liebte, sagte aber aus Respekt kein Wort. Sari, die längst gelernt hatte, daß jegliche Diskussion überflüssig war, wenn ihr Mann in einer solchen Stimmung war, schwieg ebenfalls. Am folgenden Sabbat jedoch versuchte Da'ud alles wieder gutzumachen.

»Ich freue mich über dein Interesse an den verschiedenen Pflanzen«, sagte er zu Hai, als sie sich zum Abendessen niederließen. »Bei Gelegenheit, ehe meine Gelenke noch mehr schmerzen, müssen wir einmal zusammen zur Hütte des Einsiedlers reiten – wenn überhaupt noch etwas von ihr übrig ist –, und ich zeige dir, wo ich die Pflänzchen gefunden habe, die deine Mutter neulich erwähnte. Leider sind sie damals in dem harten Winter eingegangen, als du vier oder fünf Jahre alt warst. Unter den unzähligen Arten, die sich um die Hütte des Alten herum an unser Klima gewöhnten, war auch eine besondere Art von Aloe, deren Namen ich nicht kannte und von der er mir berichtete, daß sie überall im Orient für ihre Wunderkräfte berühmt war. Es waren beinahe seine letzten Worte. Er hat das Geheimnis ihrer Wunderwirkung mit ins Grab genommen.«

»Was ist aus den Pflanzen geworden, die er züchtete?«

»Als ich endlich alle Zutaten des Großen Theriak ermittelt hatte und Zeit gehabt hätte, mir um sie Gedanken zu machen, hatten Banausen sie bereits alle ausgerissen. Seltsamerweise hatte auch mein Lehrer Ibn Zuhr Gerüchte von einer Heilpflanze gehört, die in den Ländern des Ostens gegen bösartige Krankheiten angewandt wird. Aber alle Nachforschungen, die wir im Laufe der Jahre anstellten, waren ergebnislos.«

»Meinst du, es könnte die gleiche sein wie die, von der der Einsiedler sprach?«

»Ich weiß es nicht, aber es wäre wunderbar, wenn du die Suche fortsetzen würdest. Vielleicht hast du mehr Erfolg als ich. Du darfst jedoch nicht zulassen, daß die Liebe zur Botanik dich von deinen medizinischen Studien ablenkt, die nun bald beginnen. Wenn du dich in den wissenschaftlichen Fächern als ebenso brillanter Schüler erweist wie in deinen jüdischen, klassischen und sprachlichen Studien, dann bin ich ziemlich sicher, daß Ibn Zuhr, obwohl er inzwischen ein alter Mann ist, doch zustimmen und dich in den erlauchten Kreis derer aufnehmen wird, die er heute noch zu unterrichten geruht. Du hast mehr Glück als ich seinerzeit, denn heute haben wir ein Hospital, das diesen Namen verdient und in dem du die Krankheiten und ihre Symptome und die Wirkungen unserer Behandlungen studieren kannst. Du hast inzwischen die religiöse Volljährigkeit erreicht, und ich rate dir: Nimm die Weisheit dieses Lehrers in tiefen Zügen in dich auf und nutze jeden Tag, den Gott ihm noch schenkt.«

Saris Augen strahlten vor Freude, als sie dieses Gespräch zwischen Vater und Sohn hörte. Möge Da'ud noch erleben, wie die ehrgeizigen Pläne, die er für Hai schmiedete, sich verwirklichten.

Angefüllt mit Lernen und unersättlicher Neugier, verging Hais Jugend und frühes Mannesalter wie im Flug. Sein Vater wurde nun allmählich alt und zunehmend streitsüchtig, da ihn die Bürde seiner Aufgaben drückte. Das wachsende Mißtrauen gegen Intrigen im Palast verschlechterte seine Laune noch mehr, raubte ihm die Kraft, die er gebraucht hätte, um seine Gelenkschmerzen zu ertragen. Sari war die Geduld in Person, und auch Hai war voller Mitleid und Zuneigung für seinen Vater, wenn es ihm die Studien einmal erlaubten, mit ihm zusammen zu sein. Bei diesen Gelegenheiten versuchte Da'ud seinen Sohn in die Kunst des Überlebens am intriganten Hof von Córdoba einzuweihen, denn er bezweifelte keinen Augenblick, daß Hai in seine Fußstapfen treten würde. Der aber fand immer einen Vorwand, um derlei Gesprächen aus dem Weg zu gehen – einen Aufsatz über Fieberkrankheiten, den er noch einmal durchlesen mußte, anatomische Zeichnungen, die es anzufertigen galt, Listen von wärmenden und kühlenden Arzneimitteln, die auswendig zu lernen waren. Nie versuchte Da'ud ihn zurückzuhalten. Die intellektuellen Fähigkeiten und die Strebsamkeit seines Sohnes waren außergewöhnlich, und wie er es zu Recht vermutet hatte, gab Ibn Zuhr wiederholt seiner Genugtuung über das Vergnügen Ausdruck, das ihm die Unterweisung des jungen Mannes bereitete.

Auch Hais Besuche in dem Häuschen auf dem Land wurden seltener, je anstrengender seine Studien wurden. Trotzdem bereiteten sie ihm unverändert große Freude. Wann immer er erschien, kam im ganzen Haus eine fröhliche und festliche Stimmung auf. Djamila und ihre Töchter machten sich um ihn zu schaffen, Menahem lauschte in seiner mit Büchern vollgestopften Ecke, wo er sein Lexikon zu Ende schrieb, den neuesten Nachrichten aus Córdoba. Dann gingen Hai und die Mädchen nach draußen, um sich die Pflanzen anzusehen, die auf Hais Gartenstück in den Jahren seit seiner Bar Mizwa herangewachsen waren. Er hatte sie mit großer Sorgfalt und unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Familie ausgewählt: dichte Büsche graublauen Lavendels, dessen Blüten man zwischen die Kleidung und die Wäsche der Familie legen konnte; die gelb blühenden pelzigen Senfpflanzen, aus denen Würze für die Speisen bereitet wurde, die Djamila aus dem von ihr angebauten Gemüse kochte, und schließlich der süße gelbe Steinklee, nach dem Da'ud so fieberhaft gesucht hatte, die einzige Zutat, die ihm für die Bereitung des Großen Theriak noch gefehlt hatte, als er wenig älter gewesen war als Hai jetzt. Die Geschichte der Entdeckung des Steinklees, die im Kreise der Familie immer und immer wieder wie eine Legende erzählt wurde, hatte Hai angeregt, ihn anzubauen. Seit seiner frühen Kindheit wußte er, daß auch dessen Wurzeln schon ein wirksames Mittel gegen Schlangenbisse darstellten, und der Gefahr von Schlangenbissen war Djamilas Familie, da sie ja auf dem Land lebte, ständig ausgesetzt. Wenn ihnen aus irgendeinem Grund der Vorrat an dem kostbaren Heilmittel der Ahnen, dem Großen Theriak, ausging, konnten die Kleewurzeln ihnen von großem Nutzen sein.

In den ersten Sommern nach seiner Bar Mizwa hatten es sich Hai und die Mädchen angewöhnt, die Ernte und das Trocknen der Lavendelblüten und der Senfkörner zu einem richtigen Fest zu gestalten. Sie begannen am frühen Morgen mit der Arbeit, lachten und neckten sich, bis sie völlig erschöpft in der sengenden Mittagshitze niedersanken und die Nachmittage hindurch schliefen. Doch als Hai die Menge seiner Studien derlei Vergnügungen nicht mehr erlaubte, mußte er den Mädchen den größten Teil der Arbeit überlassen. Wie vorauszusehen war, wurde Dalitha als Jüngste geschont. Sie behauptete, die pelzigen Senfpflanzen verursachten ihr am ganzen Körper schrecklichen Juckreiz, weigerte sich, sie auch nur anzurühren, und half Amira nur beim Lavendel.

Sobald aber Hais Studien der verschiedensten Arzneien weit genug fortgeschritten waren, kümmerte er sich wieder um die Pflanzen, die er gesät hatte, in dem verzweifelten Bemühen, einen wärmenden Umschlag zusammenzustellen, der die Schmerzen seines Vaters lindern könnte. Jeden Sommer trocknete er Senfkörner und mahlte sie zu Pulver. Dann fügte er Mehl und soviel Lavendelöl hinzu, wie er aus den Stengeln der Sommerernte gewann, ein zusätzliches wärmendes Ingredienz, das wirksam und – wichtig für Da'ud – zugleich wohlriechend war. Amira stellte sich als fähige Helferin heraus, Dalitha vergnügte sich damit, die Lavendelstengel aufzuheben, die bei der Ölgewinnung hierhin und dorthin flogen. Sie rieb sie zwischen den Handflächen und sog den erfrischenden Duft tief ein.

Dann ruhten sich die drei im kühlenden Schatten der Pergola aus, und während sie das Scherbett nippten, das Djamila ihnen gebracht hatte, erfragte Amira von ihrem Halbbruder zuweilen seine Meinung zu einem Gedicht, das sie geschrieben hatte. Einmal feierte sie das Thema des Frühlings, das Menahem für sie aus dem Hohen Lied Salomos ausgesucht hatte. Ein anderes Mal hatte sie, angeregt von den Wundern der Natur, die sie täglich beobachtete, ein Herbstgedicht verfaßt, in dem es lyrische Anklänge an das Buch Ruth gab. Hai lobte sie immer sehr, und wenn er zuweilen vorschlug, ein Wort oder einen Reim zu verändern, so tat er das so taktvoll und zart, daß er sie nicht kränkte.

Dalitha wurde dann immer ganz unruhig, rannte ins Haus und kam, eine Hand hinter dem Rücken verborgen, zurück. Sie war fest entschlossen, sich nicht von ihrer älteren Schwester in den Schatten stellen zu lassen, näherte sich Hai und errötete mit einer Mischung aus Schüchternheit und Bewunderung für diesen rotschopfigen, blauäugigen Halbgott, der sich mit der Anmut einer Antilope bewegte und der über alles unter der Sonne Bescheid wußte. Scheu und doch voller Stolz zog sie eine Seite mit hebräischer Kalligraphie hervor und hielt sie ihm hin. Hai legte dann immer den Arm um ihre schmalen Mädchenschultern und versprach ihr, er und sie würden eines Tages auch schöne Verse miteinander schreiben. Dalithas Herz hüpfte vor Freude, und wenn Hai sah, wie sich ihr Gesicht erhellte, wurde auch ihm ganz warm ums Herz.

Mit der Zeit war Ibn Zuhr mit Hais Fortschritten in der Kunst des Aderlasses zufrieden und erlaubte ihm, diese ab und zu an seinem Vater zu erproben, um ihn von den dickflüssigen Blutsäften zu befreien, die ihm die schmerzhafte Entzündung seiner Gelenke verursachten. Dabei bemerkten sowohl Da'ud, der Patient, als auch Sari, die als helfender Engel immer in der Nähe war, daß ihr Sohn eine Begabung besaß, die ihn unter allen anderen Ärzten, die sie kannten, hervorhob. Da'ud war sich nicht sicher, ob nicht vielleicht väterlicher Stolz ihn blind machte, und brachte das Thema bei seinem verehrten Lehrmeister zur Sprache, als er ihm aus Anlaß des großen moslemischen Festes Id il-Fitr als Vertreter der jüdischen Gemeinde einen Besuch abstattete.

»Ja«, bestätigte ihm der alte Lehrmeister, »dein Sohn ist mit einer außergewöhnlichen Begabung gesegnet, deren Zeugen sowohl ich als auch meine Studenten im Hospital bereits wurden. Es reicht aus, daß er seinen mitleidigen Blick auf einem Menschen ruhen läßt, für dessen Leiden wir kein Heilmittel kennen, es reicht, daß er eine schwache, fiebernde Hand in die seine nimmt, und schon kehrt Leben und Hoffnung in Augen zurück, die bereits fast erloschen waren. Wäre ich nicht ein Mann der strengen Wissenschaft, ich wäre versucht zu glauben, daß ein lebenspendender Strom von seinem Auge und seiner Hand in die Menschen überfließt. Schon allein sein Talent für die Diagnose und sein umfassendes Gedächtnis für Heilverfahren und Medikamente läßt ihn als einen der brillantesten Studenten herausragen, den ich je hatte. Wenn er sich trotz der ungeheuer vielen menschlichen Leiden, die zu heilen auch er außerstande sein wird, diese seltene und kostbare Gabe bewahrt, diese Fähigkeit, seinen Patienten ein Gefühl des Wohlbefindens und Vertrauens einzuflößen, ihnen die Prüfung des nahenden Todes zu erleichtern, dann wird aus ihm ein Arzt von ganz besonderem Rang.«

»Euer Lob ist überwältigend.«

»Ich spreche nur die Wahrheit. Ich bin zu alt, um mich mit Schmeicheleien abzugeben, wie das die Herren bei Hofe für nötig erachten.«

»Ich danke Euch, Meister. Möge Gott Euch noch viele Jahre gesund am Leben erhalten.«

An jenem Abend, als Hai auf Da'uds schmerzenden Knie mit leichter Hand den Umschlag auflegte, den er eigens für ihn zubereitet hatte, wußte sein Vater, daß die Linderung, die er verspürte, von dem tiefen Mitgefühl, das von seinem Sohn zu ihm strömte, ebenso ausging wie von den Heilkräutern. In Hais Augen leuchtete eine Wärme, die von seinem Verständnis für jegliche Form menschlichen Leidens zeugte und von dem leidenschaftlichen Wunsch, es zu lindern.

26

Diese Bande von Räubern und Schurken!« entfuhr es Da'ud bei seiner Rückkehr aus dem Palast, während er unter Schmerzen in den Garten humpelte. »Da legen sie mir arabische Fassungen von Abhandlungen großer griechischer Astronomen vor und behaupten, sie seien von Hunayn übersetzt. Haben sie vergessen, mit wem sie es zu tun haben? Oder haben sie eine so geringe Meinung von meiner Gelehrsamkeit, daß sie denken, sie könnten mich an der Nase herumführen? Ein geübtes Auge erkennt auf den ersten Blick die Mängel einer Übersetzung. Und für diese plumpen Fälschungen verlangen sie auch noch einen horrenden Preis! Sie verdienen alle Strafen, die die Kadis über sie verhängen! Wenn man ihnen erst die Hände abgehackt hat, dann stehlen sie wenigstens nicht mehr!

Barmherziger Gott, wie müde ich es bin, ständig auf der Hut vor allen möglichen Formen des Betrugs und der Lüge zu sein, vor Verschwörungen und Unwahrheiten und Verleumdungen jeglicher Art. Wie ich die Wesire verachte, deren Eingeweide von Mißtrauen und endlosen Spekulationen über die Verschwörungen zerfressen sind, die ich ihrer Meinung nach mit dem Kalifen aushecke. Es würde mir unendliche Freude bereiten, wenn sie erführen, daß wir stets nur über Bücher und Manuskripte reden oder über das passive Erdulden des von Gott bestimmten Schicksals im Gegensatz zum freien Willen des Menschen und seiner Fähigkeit, sein Geschick selbst zu lenken. Wie satt ich das alles habe«, seufzte er und wandte sich Sari zu, die ihm tief besorgt in sein Zimmer gefolgt war. Ausgemergelt und aschfahl vor Erschöpfung, legte er sich auf seinen Diwan. »Rufe Hai«, murmelte er, »laß ihn kommen, damit er die Schmerzen in meinen Knochen lindert.«

Hai begrüßte seinen Vater fröhlich, als er eintrat, aber seine tiefblauen Augen umwölkten sich, als er bemerkte, wie ungewöhnlich blaß Da'ud war. »Haben die Fälscher dich wieder geärgert?« scherzte er, während er die Salbe, die er immer zur Hand hatte, auf das linke angeschwollene Knie seines Vaters strich. Beim Auftragen spürte er unter dem Zeigefinger einen Knoten, der keinem Druck wich. Da'ud ließ mit keinem Stöhnen vernehmen, daß ihn die Berührung dieses Knotens schmerzte. Hai warf dem Vater einen raschen Blick zu, stellte erleichtert fest, daß der mit geschlossenen Augen dalag, während die Salbe ihre tröstliche Wärme verbreitete. Noch einmal berührte er den Knoten, ohne daß Da'ud es bemerkte, drückte dann fest auf das umliegende Gewebe. Darauf reagierte sein Patient. Hais Gedanken rasten: kein Schmerz, kein Verlust an Reaktionsvermögen, keine Heilung – Megatechne, Band 3 (unzählige Male durch Beobachtung bestätigt) –, außer man nahm einen chirurgischen Eingriff vor, und selbst dann … Aber vielleicht hatte er unrecht, gebot er sich selbst Einhalt. Vielleicht war es keine Fasergeschwulst, sondern einfach ein verhärteter Abszeß, den man langsam mit aufweichenden Mitteln auflösen konnte – mit Zugsalbe, Honig, getrockneten Feigen, Storax, Knochenmark und Fetten – De Medicamentorum Facultatibus V – rasselte er aus dem Gedächtnis herunter.

Zum Glück war Da'ud in leichten Schlummer gefallen und bemerkte die Verwirrung seines Sohnes nicht. Denn hier lag nicht irgendein Patient hilflos und unwissend auf dem Krankenbett. Er war auch nicht nur sein Vater, den er liebte, wie jeder Sohn seinen Vater liebt. Er war selbst ein anerkannter Arzt, hatte bei denselben Lehrern studiert. Wie behandelte man einen solchen Mann? Fragte man ihn nach seiner Meinung, beriet man sich mit ihm? Erklärte man ihm, daß sein Leben bald ein Ende haben würde, wenn sich die Diagnose bewahrheitete? Oder zog man sie in Zweifel, wie offensichtlich sie auch erscheinen mochte, und gab vor, eine Behandlung zu verschreiben, um ihm Hoffnung zu schenken? Würde der Vater sich trotz all seines Wissens an eine solch vage Hoffnung klammern, genau wie jeder andere Sterbliche? Oder verpflichtete gerade seine Gelehrsamkeit den behandelnden Arzt zur absoluten Offenheit? Gott, der in den Himmeln wohnt, führe mich durch dieses Dilemma!

»Ich habe noch etwas zu erledigen«, erklärte er seiner Mutter. Die hatte das Zimmer ihres Gatten verlassen, während Hai ihn behandelte, und saß draußen im Garten in der kühlen Frische der Herbstluft, während sich die Dunkelheit herabsenkte.

»Wie geht es ihm?« erkundigte sie sich besorgt.

»Er ruht sich aus«, beruhigte Hai sie und verließ das Haus, ehe sie seinen inneren Aufruhr bemerkte.

Er vergaß Raum und Zeit und wanderte ziellos durch die Straßen, ein Teil seiner Gedanken so kristallklar wie der andere Teil verwirrt war, die Sinne benommen, der Körper angespannt vor ängstlicher Erwartung. Unaufhaltsam brach die Nacht herein, der Vollmond stieg am Himmel auf und tauchte die schlummernde Stadt in ein gespenstisches Licht. Ein scharfer Wind erhob sich. Hai begann zu frösteln, ihm klapperten die Zähne. Kälte? Furcht? Verzweiflung über die Nichtigkeit seines erbärmlichen Wissens? Mit der Zeit führten ihn seine Schritte zu dem einzigen Ort, an dem er noch Hilfe zu finden hoffte.

Trotz der späten Stunde hämmerte er an die dicke Holztür. Die Dienstboten hatten sich schon längst zurückgezogen, und es dauerte eine Weile, bis er drinnen langsame, zögernde Schritte näher kommen hörte.

»Wer ist denn da zu so unziemlicher Stunde?« ließ sich die vertraute Stimme vernehmen, die noch ganz verschlafen klang.

»Ich bin es, Hai ben Da'ud.«

Ibn Zuhr machte sich an den Riegeln der Haustür zu schaffen, während Hai unruhig von einem Fuß auf den anderen trat und die Arme um sich schlang, um sich aufzuwärmen.

»Komm herein, mein lieber Junge«, forderte ihn sein Lehrmeister auf und hielt eine Kerze in die Höhe, um ihm den Weg zu leuchten. Tröstend legte er den Arm um Hais bebende Schultern, während sie zusammen ins Haus traten. Er dachte an jenen anderen unerwarteten Besuch vor beinahe zwanzig Jahren.

»Etwas quält deinen Vater. Was ist es?«

»Ich bete zu Gott, daß ich mich irre, Meister, aber ich fürchte, es ist eine Fasergeschwulst.«

»Am linken Knie?« erkundigte sich Ibn Zuhr.

»Ja, Meister. Woher wußtet Ihr das?«

»Das ist jetzt nicht wichtig«, antwortete der Arzt knapp, wollte die Wahrheit genauso ungern glauben wie Hai, vielleicht aus besserem Grund …

»Groß?«

»Nicht größer als eine Murmel.«

»Gut. Ich schaue morgen früh bei ihm vorbei und überprüfe deine Diagnose. Wenn ich deiner Meinung bin, lassen wir die Geschwulst sofort von Abu'l Kasim entfernen, damit sie sich nicht im Körper ausbreiten und dort Schaden anrichten kann. Wenn wir sofort handeln, haben wir gute Aussichten, ihn noch zu retten.«

»Aber Meister, ich muß Euch etwas sagen. Er schlief, als ich die Geschwulst ertastete. Er selbst weiß nichts davon. Wie und was sage ich ihm?«

Ibn Zuhr rieb sich mit der Hand die trüben Augen und die eingesunkenen Wangen, ehe er sich zu sprechen entschloß.

»Es wird nicht notwendig sein, daß du irgend etwas sagst.« Er legte seinem jungen Studenten die blau geäderte Hand auf das Knie und fuhr fort: »Dein Großvater Ya'kub ibn Yatom hatte ein ähnliches Leiden, und dein Vater kam damals zu mir, genau wie du heute.«

»Ihr wißt also, daß es eine bösartige Krebsgeschwulst ist, und er weiß es auch.«

»Höchstwahrscheinlich, mein Sohn. Aber wir haben sie früher entdeckt als bei Ya'kub. Nur Mut, mein lieber Junge, nur Mut. Es besteht noch Hoffnung.«

»Werdet Ihr das auch meinem Vater sagen?«

»Aber natürlich. Unsere sogenannte Gelehrsamkeit gibt uns nicht das Recht, einem Menschen den größten Trost der Schöpfung zu rauben. Hoffnung ist die einzige Hilfe, die wir ihm anbieten können. All unsere auswendig gelernten Regeln und Prinzipien sind nur allgemeine Schlußfolgerungen, die wir aus der Beobachtung vieler Fälle gezogen haben. Vieler, aber nicht aller Fälle. Was für den einen richtig ist, kann für den anderen falsch sein, was den einen heilt, kann dem anderen sogar schaden. Deswegen, mein Sohn, ist die Hoffnung immer gerechtfertigt, bis Gott sein letztes Urteil fällt, die einzige Entscheidung, gegen die es keinen Einspruch gibt.«

27

Ralambo warf sich die ordentlich gefaltete Lamba über die Schulter und bewegte sich mit langen, lockeren Schritten mühelos zwischen den Warensäcken, den laut feilschenden Händlern und den geplagten Lastträgern hindurch, bis er das venezianische Schiff erreichte, das in Kürze in See stechen würde. Als er seinen Fuß auf die Laufplanke setzte, sog er noch einmal tief die warme, duftende Luft ein. Das Strahlen auf seinem Gesicht spiegelte unendliche Zufriedenheit wider: mit sich selbst, seinem Geschick und der großen weiten Welt. Endlich hatte er den Hafen von Alexandria erreicht und machte sich auf den letzten Abschnitt der lang ersehnten Reise. Bald würde er im Westen ankommen, von dem er die Leute seit seinen Kindertagen reden hörte, den aber die wenigen Besucher in der roten Lehmhütte seines Vaters niemals selbst gesehen hatten. Er wußte nur, daß die Bewohner dieser Welt äußerst begierig nach den Kräutern und Gewürzen, den Juwelen und dem blassen und zerbrechlichen Seladonporzellan waren, nach allem, was die orientalischen Händler in die nördlichen Häfen seines Heimatlandes, der Großen Roten Insel Madagaskar, brachten. Dort verkaufte man die kostbaren Waren an die arabischen Händler weiter, die sie an der Ostküste Afrikas entlang in die geschäftigen ägyptischen Häfen verschifften, wo sie wiederum von geschäftstüchtigen venezianischen Händlern verladen wurden, die diese unschätzbaren Herrlichkeiten an allen Küsten des Mittelmeeres verteilten.

Bisher hatte Ralambo noch keine feste Vorstellung von seinem letzten Reiseziel. Er wollte sich so lange bei den westlichen Händlern erkundigen, die er in den Häfen antraf, bis er erfuhr, was er wissen wollte. Er ging mit festen Schritten über die federnde Planke an Bord, bemühte sich, die lose aneinandergeketteten weißen Sklaven zu übersehen, die man gerade von Bord getrieben hatte und deren helle Haut unter der erbarmungslosen ägyptischen Sonne scharlachrot verbrannt war. Diese jämmerliche Menschenkette wurde nun abgeführt und schlurfte bis zum nahe gelegenen Bedestan, wo arabische Händler heftig um sie feilschen und dann die ersteigerte Beute an reiche orientalische Machthaber verschachern würden, die sie für so helles Fleisch fürstlich entlohnen würden. Der kühle, scharfe Geruch von Kampfer stach ihm in die Nase, als ihn ein zerlumpter Träger, der unter seiner Last tief zu Boden gekrümmt ging, unsanft zur Seite schob. Halb schreitend, halb rennend trug der Hammal seine Last über die Planke in den Stauraum des Schiffes, wo bereits unzählige Säcke voller Zimt, Pfeffer und duftendem Moschus standen.

Der Kapitän des Schiffes, von so übler Laune wie beachtlichem Leibesumfang, kam mit schwankendem Seemannsgang zu Ralambo herüber und erkundigte sich nach seinem Bestimmungsort.

Ralambo zögerte einen Augenblick, ehe er antwortete: »So weit westlich wie möglich.«

»Sevilla. Drei Dirham für einen Platz an Deck.«

Empört über einen derartigen Wucherpreis für diese Überfahrt erkundigte sich Ralambo: »Und wenn ich von Bord gehe, ehe wir Sevilla erreichen?«

»Genau der gleiche Preis«, grunzte der Kapitän und streckte ihm seine gierige, schwielige Hand hin.

Widerwillig zählte Ralambo ihm die Silbermünzen auf die schmutzige Handfläche und wandte sich dann ab, um sich eine Ecke des Achterdecks zu reservieren, indem er seine Lamba darauf ausbreitete. Abgesehen von der Habgier des Kapitäns konnte er von Glück sagen, daß ein Schiff mit Fahrtrichtung Westen gleich neben dem Boot vor Anker lag, auf dem er erst heute morgen über das Rote Meer angekommen war. Nun zurrten die flinken, drahtigen Matrosen unter den wachsamen Augen des Kapitäns die Ladung fest und bereiteten alles vor, um den Anker zu lichten. Der Wind war günstig, die See ruhig, und die Sonne schien strahlend, als sich das Schiff immer weiter von den Schreien und der emsigen Betriebsamkeit des großen ägyptischen Hafens entfernte und die Segel für seine Reise nach Westen setzte.

Während er sich über das Heckbord lehnte, beobachtete Ralambo den Schaum, der achtern hinter dem Schiff aufwirbelte, aufstob und wieder mit der dunklen See verschmolz. Dieser Anblick fesselte ihn noch genauso wie am Anfang seiner langen Seereise. Wie schon unzählige Male, seit er die Sicherheit seines Zuhauses verlassen hatte, tastete er nach dem Beutel, der flach vor seinem Bauch hing. Er war an einer langen festen Lederschnur befestigt, die Ralambo um den Hals trug, und war durch eine fest gewickelte Leinenbinde eng am Leib gesichert. So weit, so gut, lächelte er vor sich hin und tätschelte den kostbaren Beutel. Eine ruhige, warme, ereignislose Reise von der Großen Roten Insel nach Norden, keine Piraten, keine Stürme, keine anderen Unglücksfälle, und nun war das Ende seiner Reise abzusehen …

Wenn er zurückdachte, so erinnerte er sich, wie schwierig es gewesen war, seinen Vater davon zu überzeugen, daß die westlichen Händler wahrscheinlich mehr für den Extrakt bezahlen würden als die raffgierigen Inder, die sich jede Unze aneigneten, derer sie habhaft werden konnten, und dafür nach Ralambos Meinung einen Hungerlohn zahlten. Sein Leben lang hatte sein Vater sich als Vermittler zwischen den einzigen Erzeugern des Extraktes, einem Stamm an der Südwestspitze Afrikas, und den indischen Kaufleuten betätigt, die regelmäßig an der Roten Insel anlegten, um den kostbaren Auszug zu kaufen. Auf Ralambos Betreiben hin hatte er ab und zu auf seine schüchterne, naive Weise versucht, eine bessere Bezahlung auszuhandeln, aber die Kaufleute hatten nur ihre schlauen, dunklen Augen zu Schlitzen verengt, sich mit den fetten Händen über die gemütlichen Bäuche gestrichen und ihm unfehlbar immer mit dem gleichen Argument geantwortet.

»Wir sind die einzigen, für die der Extrakt überhaupt einen Wert hat«, lächelten sie selbstgefällig und zerquetschten ihn damit wie eine lästige Fliege. Aber Ralambo hatte ein Gegenargument vorgebracht. Warum sollten diese Inder die einzigen sein, die diesem Extrakt einen Wert beimaßen, dessen Ausgangsstoffe die Afrikaner so grimmig bewachten? Was sie oder ihre Kunden entdeckt hatten, könnten doch auch andere herausfinden. Er würde den Stoff nicht nach Osten, sondern nach Westen bringen. Irgendwo mußte es doch einen Mann geben, der weise genug war, um ebenfalls entdecken zu können, was die Inder daran so hoch schätzten …

Auf seinem Rundgang über das Schiff blieb der Kapitän kurz stehen und lehnte seinen massigen Körper neben Ralambo über das Heckbord. In einem seltenen Anflug von Gesprächigkeit erklärte er dem hoch aufgeschossenen, dunkelhäutigen Passagier, man sei auf dem Weg nach Piräus, wo man eine Ladung Weizen aufnehmen werde, die für den Heimathafen des Schiffes, Venedig, bestimmt sei. Durch die kurz aufgeflackerte Herzlichkeit des Seemanns ermutigt, fragte Ralambo ihn: »Leben in einer dieser beiden Städte die weisesten Männer des Westens?«

»Wenn Ihr weise Männer sucht, so müßt Ihr weiter reisen, als Ihr vorhattet, so weit nach Westen, wie es nur geht, denn nur in Córdoba könnt Ihr die größten Gelehrten des Mittelmeerraumes finden.«

Ralambo wollte gerade fragen, wie weit es von Sevilla nach Córdoba sei, aber da hatte sich der Kapitän schon abgewandt und seinen Rundgang erneut aufgenommen.

Einer nach dem anderen versammelten sich die restlichen Passagiere an Deck. Es waren wohlhabende venezianische Kaufleute, die sich leise miteinander unterhielten und den Sohn der Roten Insel ignorierten, der nun mit angezogenen Knien auf seiner Lamba saß, die Arme um die Beine geschlungen, die nackten Füße an den Knöcheln gekreuzt, den starren Blick ins Nichts gerichtet. Gerne hätte er auch sie gefragt, wo die weisesten Männer des Westens zu finden seien, aber es war ein solcher Hochmut um sie, daß sie ihn einschüchterten. Dieses Gefühl war ihm nicht neu. Als Sohn einer melanesischen Mutter und eines afrikanischen Vaters war er von Kindesbeinen an von beiden Völkern verachtet worden, die auf der Großen Roten Insel nicht gerade freundschaftlich zusammenlebten, die Melanesier in den kühleren Bergregionen, die Afrikaner entlang der heißen Küste. Auf der Suche nach einer Zuflucht vor den Belästigungen beider Seiten, nach einem Ort, wo er mit seiner zarten asiatischen Frau – ›meiner kleinen Porzellanpuppe‹, wie er sie nannte – in Frieden leben konnte, hatte sich sein Vater in den Ausläufern der Berge zwischen den beiden Gebieten niedergelassen. Er hatte zurückgezogen gelebt. Inmitten des üppigen immergrünen Regenwaldes und der violetten und blauen Jacarandablüten, fasziniert von den winzigen Vögeln, deren glänzende bunte Federn in der Sonne schimmerten wie Edelsteine in einer saftigen grünen Fassung, hingerissen von den Schmetterlingen, deren zahllose auffällige Muster ein Fest für sein schönheitsliebendes Auge waren, hatte er sich kaum je in die weite Welt hinaus gewagt. Wenn Ralambo immer von einer Reise in den Westen geträumt hatte, dann nicht nur, weil er von Natur aus neugierig und rastlos war. Er wollte auch aus der Abgeschiedenheit ausbrechen, in der er aufgewachsen war, und von der Insel entkommen, zu deren beiden Volksstämmen er nicht gehörte. Im Westen würde er ein Fremder sein, aber kein Ausgestoßener, der wegen seines gemischten Blutes verachtet wurde.

Gegen Abend versammelten sich die Matrosen auf dem Achterdeck und ließen eine Korbflasche kreisen, aus der sie alle in langen, schmatzenden Zügen tranken. In einer freundlichen Geste reichte einer von ihnen die Flasche auch an Ralambo weiter, der so trank, wie er es von den anderen gesehen hatte. Er schauderte beim Geschmack der rötlichen Flüssigkeit, die ihm scharf auf der Zunge brannte, lächelte aber anerkennend, um die Seeleute nicht zu beleidigen oder gar in ihren Augen lächerlich zu erscheinen. Die Flasche ging einmal, zweimal, dreimal, viermal herum, und Ralambo trank, wenn er an der Reihe war, wie alle anderen. Dann jedoch begannen seine Wangen zu glühen, es drehte sich ihm alles vor Augen, und ihn überfiel eine unerklärliche Müdigkeit. Leise zog er sich aus dem Kreis der lauten Matrosen zurück, legte sich auf seine Lamba und fiel in trunkenen Schlaf bis zum Mittag des nächsten Tages.

Demitrios ging unruhig auf und ab, immer auf und ab im halbmondförmigen Hafen von Rhodos. Er war ein Opfer seiner eigenen Unentschlossenheit. Wie oft durfte ein Mann sein Schicksal herausfordern? fragte er sich, hatte immer noch nicht ganz begriffen, wie er den unaussprechlichen Schrecken heil hatte entkommen können, die er seit seiner Ankunft in Chasarien durchlebt hatte. Der König hatte ihn herbeigerufen, damit er dessen kranken Bruder behandelte. Doch einen Tag zuvor waren Berichte eingetroffen, daß die Russen auf den Don zu marschierten. Bei seiner Ankunft im herrlich vergoldeten Palast hatte man ihm nicht einmal genug Zeit gelassen, sich zu baden und nach der langen Reise aus Byzanz ein wenig zu erfrischen.

»Wir müssen in aller Eile in die Festung Sarkel«, hatte ihn König Judah gedrängt und ihn rasch durch eine Reihe goldener Kammern geführt, die verlassen waren, da die Elite des Königreiches in die Schlacht gezogen war. Der gedrungene, bärtige Herrscher hatte ihm die Zügel eines kräftigen Pferdes gereicht, dem man eilig einen Sattelteppich übergeworfen hatte, und ihm knapp erklärt: »Solche Überfälle häufen sich in letzter Zeit. Die Russen versuchen uns zu zermürben, damit sie uns eines Tages ganz erobern können, um einen vor fünfzehn Jahren begonnenen Plan zu vollenden. Wir erwarten, daß sie wie immer in Sarkel angreifen, wo man den Fluß durch die Sümpfe und über die Furten am leichtesten überqueren kann. Wir müssen die Russen unbedingt zurückdrängen, ehe sie einen Fuß auf unser Territorium setzen. Dank der Festung, die Eure Landsleute vor über einem Jahrhundert dort für uns errichtet haben, sind wir ihnen bisher immer erfolgreich entgegengetreten, aber wir haben keine Zeit mehr zu verlieren.«

»Was ist aber mit Eurem Bruder?«

»Als ehemaliger Oberbefehlshaber des Heeres hat er sich kategorisch geweigert, hierzubleiben. Ich habe ihn auf einer Trage vorausgeschickt. Unsere Haupttruppen sind im Morgengrauen aufgebrochen. Wenn Ihr schnell reitet, könnt Ihr sie noch einholen. Wir treffen uns in der Festung«, schloß er und stampfte davon, um einer Kavallerieeinheit, deren feurige Pferde schon ungeduldig mit den Hufen scharrten, seine Befehle zu erteilen.

Es war alles ein grauenvoller Irrtum gewesen. Dieses Mal war das Auftauchen der Truppe, scheinbar nur ein weiterer Überfall im Zermürbungskrieg der Russen, lediglich ein Ablenkungsmanöver gewesen, um die Chasaren in Richtung Nordwesten zu ihrer flußaufwärts gelegenen strategischen Festung zu locken. In der Zwischenzeit drangen die Haupttruppen der Russen von Süden her das Tal des Don hinauf und überrannten problemlos die schwach besetzten Festungen, die König Judah dort zurückgelassen hatte. Als ihn die Nachricht vom vollen Ausmaß der Katastrophe erreichte, waren König Judah und seine Mannen bereits umzingelt. Sie konnten den russischen Angreifern, die Zeit gehabt hatten, sich gegenüber von Sarkel auf dem rechten Flußufer auf erhöhtem Gelände einzugraben, nichts entgegensetzen. Es war keineswegs einer der üblichen Überfälle, vielmehr war diesmal der Angriff auf die Festung der Chasaren Teil einer großen russischen Offensive, mit der man das heiß begehrte Königreich in die Knie zwingen wollte.

Anstatt den Bruder des Königs zu behandeln, der auf der Reise nach Sarkel sein Leben ausgehaucht hatte, kümmerte sich Demitrios nun um die Verwundeten, die wenigen ›Glücklichen‹, die die Kämpfe und die erbarmungslosen Sümpfe des Flußtals überlebt hatten, wo die Schlacht getobt hatte. Von morgens bis abends und bei Nacht sogar im flackernden Schein einer einzigen Kerze hatte er gebrochene Knochen geschient, Wunden versorgt und versucht, mit freundlichen Worten das Los derjenigen zu lindern, für die er nichts mehr tun konnte. Was für eine völlig andere Welt, als sich um die Blähungen der reichen byzantinischen Händler zu kümmern oder um die Migräne ihrer verzärtelten Frauen, für die er auf Abruf bereitzustehen hatte …

Eines Nachts, als er gerade einem Soldaten, dem er das Bein abgenommen hatte, den groben Beißkeil zwischen den Zähne herausnahm, kam der König und kniete sich neben ihn. Sein Bart war zerzaust, die Augen blutunterlaufen, die Kleider zerrissen und mit Schlamm bespritzt. Er zog den Arzt in eine Ecke des Behandlungsraumes, packte Demitrios bei der Schulter und begann eindringlich zu sprechen.

»Ich weiß nicht, was in der morgigen Schlacht mit mir und meinen Leuten wird, aber welches Schicksal uns auch immer erwartet, Ihr sollt es nicht teilen müssen. Soeben wird ein kleines Ruderboot mit dem wenigen Proviant, den wir entbehren können, auf dem Fluß zu Wasser gelassen. Ihr müßt unverzüglich im Schutze der mondlosen Nacht darin fliehen. Wenn Euch die Russen gefangennehmen, so wird Euch Euer ärztliches Geschick retten. Ich erbitte nur eine Gegenleistung für diese Chance, Euer Leben zu retten. Wer weiß, vielleicht ist es mein letzter Wunsch.«

Er packte Demitrios' Schulter noch fester, als er mit wild glühenden Augen hastig fortfuhr: »Es ist ungeheuer wichtig, daß das Schicksal meines Königreiches jenseits des Kaspischen und Schwarzen Meeres bekannt wird. Vor vielen Jahren erhielt ich einmal ein Schreiben von einem gewissen Da'ud ibn Yatom, einem großen jüdischen Arzt in Córdoba, der etwas über die Art und die Religion meines Landes zu erfahren suchte. Ich weiß nicht, ob ihn meine Antwort je erreicht hat. Meine Bitte ist nun, daß Ihr nach Córdoba reist, ihn aufsucht und ihm folgendes mitteilt:

Es stimmt, daß vor zwei Jahrhunderten unser großer Herrscher Bulan und seine engsten Gefolgsleute den jüdischen Glauben angenommen haben. Sie entschlossen sich dazu nach einer Debatte zwischen den Vertretern der drei großen Religionen: einem Repräsentanten Eures eigenen orthodoxen Christentums, wie man es im mächtigen byzantinischen Reich praktiziert, das von Südwesten her seine Schatten auf uns wirft; einem Sprecher für den Islam, die Religion der Araber, die uns seit Jahrhunderten an unserer südlichen Grenze zu schaffen machen; und einem Vertreter der jüdischen Religion, deren Rabbis keine weltliche Macht haben, für uns also keine Bedrohung darstellen. Wenige Jahre nach der Bekehrung unserer Anführer gelang uns ein triumphaler Sieg über die Araber in den Ländern südlich des Kaukasus, und mit der Kriegsbeute errichteten wir einen Tempel, der dem in der Bibel erwähnten so ähnlich ist wie nur irgend möglich. Später befahl unser König Obadiah, es sollten Synagogen gebaut werden und man solle Schulen einrichten, in denen die Thora und der Talmud denjenigen unter uns gelehrt wurden, die sich von der Schamanenreligion unserer türkischen Ahnen dem Judentum zugewandt hatten. Ich bin ein Nachfahre dieses Obadiah, und die meisten Mitglieder meines Hofstaates sind auch Juden.

Sagt Da'ud weiterhin, daß unser Königreich Zeiten großen Ruhms und großer Macht gekannt hat, Zeiten, in denen es sich weit nach Westen ausdehnte, weit über das Schwarze Meer hinaus. Erzählt ihm, daß wir uns seit Jahrhunderten der Angriffe der Araber südlich des Kaukasus erwehren. Allerdings muß ich zugeben, daß uns dort auch das Glück hold war, denn sie hatten anderswo wichtigere Kämpfe auszutragen. Inzwischen haben sich jedoch die Zeiten geändert, und gegen die übermächtigen Russen haben wir kaum eine Chance. Erzählt all das dem Da'ud ibn Yatom und erzählt ihm auch, daß ich mit dem Sch'ma Israel auf den Lippen sterben werde.« Judah, dessen Mund vor Furcht ganz ausgetrocknet war, nahm einen Schluck Wasser aus seiner Kürbisflasche, ehe er fortfuhr.

»Geht nun, getreuer Sendbote. Rudert vorsichtig zwischen den Sümpfen und Untiefen hindurch, verfolgt einen diagonalen Kurs flußabwärts. Sobald Ihr in sicherer Entfernung vom feindlichen Lager seid, geht an Land. Wenn der letzte Ansturm vorüber ist, nehmen sicherlich die Flößer wieder ihre Reisen flußabwärts auf. Mit einem von ihnen werdet Ihr bestimmt bis zum Schwarzen Meer kommen, wo Ihr eine Überfahrt nach Byzanz finden könnt. Dies hier soll Eure Reise bis Córdoba bezahlen«, fügte er hinzu und reichte Demitrios einen wohlgefüllten Beutel. »Ich denke nicht, daß Eure Reise vergebens sein wird. Ihr könnt gewiß von diesem jüdischen Gelehrten viel lernen, wenn ich nur die Hälfte dessen glauben darf, was er mir über sich geschrieben hat. Geht darum in Frieden, und Gott mit Euch.«

Wie leicht es geklungen hatte, als Judah diese Reise beschrieb, erinnerte sich Demitrios voller Bitterkeit, als er erneut die Bucht von Rhodos umrundete. In der undurchdringlichen Schwärze der Nacht mußte er vor jedem Ruderschlag mit dem Ruder ringsum tasten, damit er nicht mit einer einzigen falschen Bewegung den dünnen Streifen befahrbaren Wassers verließe, über den sein Boot lautlos glitt, und in einem Sumpf endete, aus dem ihn all sein Schreien und Rufen nicht mehr retten würde. Es hatte in jener Nacht nicht die geringste Hoffnung bestanden, das andere Ufer zu erreichen. Er konzentrierte all sein Bemühen nur darauf, in diesem schmalen Wasserband zu bleiben und sich nach Süden zu bewegen. Als einmal eine Sekunde lang seine Aufmerksamkeit nachließ, spürte er schon, wie der Bug des Bootes auf eine Sandbank auflief. Starr vor Schrecken, falls er etwa den einzelnen russischen Wachtposten aufweckte, der ein wenig weiter flußaufwärts schlummerte, stieß er sich mit seinem Ruder wieder ins Fahrwasser zurück.

In kaltem Angstschweiß gebadet, bewegte er sich die ganze Nacht hindurch Zentimeter für Zentimeter vorwärts, doch als im Osten die erste bleiche Morgendämmerung leuchtete, war er nur wenig vorangekommen. Aufmerksam blickte er sich in der nun weniger undurchdringlichen Finsternis um, versuchte seine Position zu bestimmen. Zu seinem großen Schrecken stellte er fest, daß er immer noch die massige Kalksteinfestung Sarkel und am gegenüberliegenden Ufer die russischen Truppen ausmachen konnte, die allmählich aus dem Schlaf erwachten und die schwelende Glut der Abendfeuer wieder anfachten, um sich eine Morgenmahlzeit zuzubereiten. Jeden Augenblick würden nun die Wachtposten am Ufer entlanggeritten kommen, die man weiter flußabwärts aufgestellt hatte, um die Flanken der Truppen zu schützen, die sich zum letzten Ansturm auf Sarkel bereitmachten. Koste es, was es wolle, er mußte Deckung finden.

Durch das heller werdende Grau des Morgens erspähte er eine Sandbank, die nur wenige Ruderschläge entfernt lag und von dichtem Schilf überwachsen war. Rasch ruderte er dorthin, setzte mit äußerster Vorsicht einen Fuß nach dem anderen auf den schlammigen Boden, bis er ganz sicher war, daß er nicht nachgeben würde. Dann zerrte er das Boot hinter sich an Land und duckte sich ins Schilf. So kauerte er den ganzen Tag, von panischer Angst erfüllt, daß selbst die kleinste Bewegung die Aufmerksamkeit der Soldaten erregen könnte. Zwischen den schlanken Schilfrohren hindurch konnte er den weiteren Flußlauf erkennen und ihn sich für die folgende Nacht einprägen.

Den ganzen Tag lang tobte die Schlacht, erschollen die verzweifelten Schreie der Verwundeten, die im Sumpf versanken, vermischten sich mit dem Klirren der Schwerter und dem Zischen von Tausenden von Pfeilen, die über das Tal hin und her schwirrten. Bei Einbruch der Nacht drangen andere Töne an sein Ohr. Aus der einstmals mächtigen Festung der Chasaren erscholl rauhes Siegesgebrüll aus Hunderten von russischen Kehlen …

Während die siegreichen Krieger feierten, war er von der Sandbank zurück ins Wasser geschlichen, nun des Kurses sicher, den er den ganzen Tag über geplant hatte. Im nächsten Morgengrauen befand er sich unweit des rechten Flußufers und außer Reichweite der russischen Truppen. Beim ersten Morgenlicht hielt er nach einer passenden Landestelle Ausschau, wo er die steile Böschung hinaufklettern konnte, die in Abständen immer wieder von tiefen Klüften durchzogen war. Schließlich entdeckte er einen geeigneten Platz, stützte sich auf das Ruder und setzte vorsichtig Fuß um Fuß, bis er unter großen Mühen die Böschung erklommen hatte. Kaum war er oben angekommen, sackte er erschöpft zusammen.

Er hatte den größten Teil des Tages geschlafen. Aber als er aufwachte, stand er einem neuen Schrecken gegenüber: dem des Verhungerns. Von dem spärlichen Proviant, den ihm Judah mitgegeben hatte, war nichts mehr übrig, und als er sich umschaute, sah er nur die unendliche Weite der Steppe, ohne jegliche menschliche Behausung. Verzweifelt suchte er im Bewuchs des Flußufers nach Beeren, Wurzeln, nach irgend etwas, das ihm die Hungerkrämpfe lindern könnte, die an ihm nagten, das den Schwindel in seinem Kopf zum Stillstand bringen, seine zitternden Knie stärken würde. Nichts. Er wagte nicht, sich zu weit vom Flußlauf zu entfernen, damit er die Flößer nicht verpaßte. Und dann schwebte vor seinen vernebelten Sinnen eine verschwommene Erinnerung. Irgendwo, fiel ihm ein, hatte er gelesen, daß Schilfwurzeln eßbar seien. Er hatte keine Wahl, er mußte die Böschung wieder hinabrutschen und mit letzter Kraft die robusten Pflanzen mitsamt der Wurzel ausreißen.

So hatte er zwei ganze Tage überlebt, ehe er ein Floß erspähte, das langsam den Fluß hinuntergefahren kam. Einige geschickte junge Männer sprangen leichtfüßig von einem Baumstamm zum anderen, lenkten das Floß weg von den trügerischen Sümpfen ins Fahrwasser. Der Kapitän, ein übelriechender Klotz von einem Kosaken erklärte sich schließlich – gegen einen beträchtlichen Teil der Münzen aus Judahs Beutel – widerwillig bereit, ihn auf seinem schmalen Floß mitzunehmen und mit ihm das trockene Brot, das Salzfleisch, den schimmeligen Käse und Knoblauch, ihren einzigen Proviant, zu teilen. »Kein Alkohol«, grunzte er. Der war ihm allein vorbehalten. Nachdem Demitrios den Brocken groben Schwarzbrots heruntergewürgt hatte, den ihm der Kosak zuwarf, war er erschöpft niedergesunken und hatte beinahe die ganze lange und langsame Floßfahrt flußabwärts verschlafen. Zum Glück hatte er das Rütteln und Rucken der Baumstämme nicht mitbekommen, die mit dem Floß zusammenstießen, war taub für die kehligen Flüche und das übellaunige Knurren des Flößers gewesen, der auf seinem Knoblauch kaute und rülpste und furzte, wenn er nicht gerade seinen Mietlingen Befehle zubrüllte.

Erst nachdem er in Taman an Bord eines Schiffes gegangen war, atmete er auf. Es kam natürlich nicht in Frage, daß er ins ferne Córdoba reisen würde, trotz König Judahs letztem Wunsch. Ihn beherrschte nur noch eine einzige Sehnsucht: nach Hause zurückzufahren, stundenlang in einem heißen Dampfbad zu schwitzen und dann behaglich zwischen seidenen Laken zu liegen, die üppig weichen Rundungen seiner Frau unter sich. So malte er sich gerade die Heimkehr aus, als aus heiterem Himmel am Horizont plötzlich bleierne Wolkenbänke aufzogen. Die Sonne verfinsterte sich, große Regentropfen fielen schwer auf das Deck. Die See wurde unruhig, begann zu steigen und zu kabbeln. Das Schiff tanzte wild auf den Wellen, die Mannschaft hielt mit aller Kraft die Segel gegen den Wind, während Blitze die Luft durchschnitten und der Regen wie ein aufgeplusterter Vorhang über die schräg liegenden Decks gepeitscht wurde. Zwei Tage und eine Nacht toste der Sturm. Demitrios tat das einzig Mögliche: Er betete – zu Christus, zu Maria, zu Gottvater selbst, flehte, wie er nie zuvor gefleht hatte. Jetzt wußte er, warum die Türken dieses trügerische Wasser ›schwarz‹ nannten, und während sein Leben an ihm vorüberzog, fragte er sich, welches Verbrechen er wohl begangen hatte, um eine solche Strafe zu verdienen. Als wie durch ein Wunder das Schiff dann doch in den ruhigen Wassern des Bosporus schaukelte und zur Stille des Goldenen Horns vordrang, schwor er feierlich, zum Dank für seine Errettung würde er tun, was er dem Juden versprochen hatte, der ihm das Leben, gerettet hatte.

Wenn er Córdoba erreichen und noch vor dem Winter zurückkehren wollte, mußte er beinahe unverzüglich von Konstantinopel aufbrechen. Während der kurzen Ruhepause, die er sich gönnte, fand er heraus, welchem Kloster der Mönch Nicolas angehört hatte. Der dortige Prior schüttelte nur traurig den Kopf. Seine glatte weiße Hand ruhte auf dem silbernen Kruzifix, das er auf der Brust trug, als er erklärte: »Unser geliebter und gelehrter Mitbruder ist im vergangenen Jahr verstorben, aber ich erinnere mich noch an den jüdischen Gelehrten, mit dem er zusammengearbeitet hat. Es war Da'ud ibn Yatom, ein Jude von ungewöhnlicher Bildung, wie ich höre.« Nachdem so Judahs Worte bestätigt waren, machte sich Demitrios mit einer gehörigen Portion Optimismus auf die Reise. Vielleicht ließ sich wirklich etwas von diesem Juden lernen, dessen Ruf so weit verbreitet war. Aber als das griechische Schiff, auf dem er die Reise nach Spanien angetreten hatte, in der Ägäis in heftige Stürme geriet, beschlich ihn das Gefühl, daß das Schicksal mit ihm spielte. Erfüllte er nicht das Versprechen, das er dem König der Chasaren gegeben hatte? Warum dann diese erneute Qual? Wenn so die ganze restliche Reise nach Sevilla aussehen sollte, war es dann überhaupt klug, sie auf sich zu nehmen? Er konnte schließlich alles, was ihm Judah anvertraut hatte, niederschreiben und diesen Brief mit einem vertrauenswürdigen Sendboten nach Córdoba schicken. Immer wieder war er seit seiner unter einem ungünstigen Stern stehenden Ankunft in Itil gerade eben noch mit dem Leben davongekommen. Durfte er es wagen, das Schicksal noch einmal herauszufordern? fragte er sich, als sein Schiff in den geschützten Hafen von Rhodos einlief.

Bei näherem Hinsehen hatte sich herausgestellt, daß das Schiff erst nach gründlichen Reparaturen wieder seetüchtig sein würde, doch jegliche Verzögerung der Abreise stellte seine Rückkehr nach Byzanz vor Ende des Sommers in Frage. An jenem Morgen suchte jedoch ein robustes venezianisches Handelsschiff gleichfalls Zuflucht vor den wilden Wassern der Ägäis und ging im sicheren Hafen von Rhodos vor Anker. Sobald die Elemente sich beruhigt hatten, würde es die Segel erneut setzen und sein Reiseziel Sevilla ansteuern. Sollte er an Bord gehen oder so schnell wie möglich in die Sicherheit von Byzanz zurückkehren? Christus im Himmel, lenke meine bescheidenen Schritte, betete Demitrios und machte am Ende des weiten Hafenrunds kehrt, um seinen Rundgang erneut aufzunehmen.

28

Moslems in ungeheurer Zahl strömten aus der Großen Moschee und verliefen sich in den engen Gäßchen Cordobas, als Ralambo und Demitrios durch die Stadttore kamen. Neugierig wandten die Menschen den Kopf nach dem ungewöhnlichen Paar: Der eine war groß, hatte rauchdunkle Haut, lief barfuß und mit eleganten lockeren Schritten, hatte eine bunte Decke ordentlich über die Schulter gefaltet und nahm mit wachen, mandelförmigen Augen alles ringsum gierig in sich auf. Der andere war blaß, blauäugig, elegant nach byzantinischer Mode gekleidet, trug ein leicht hochmütiges Lächeln auf den dünnen Lippen, blickte mißtrauisch und abschätzig drein. Sie bewegten sich gegen den Menschenstrom, der langsam von der Moschee wegdrängte, blieben hier und da stehen, um sich nach dem Weg zu erkundigen. Beide waren überrascht, welche Ehrfurcht der Name Da'ud ibn Yatom erregte, und staunten, daß jedermann wußte, wo sein Heim zu finden war.

Ralambo strahlte zufrieden. Seine Geduld hatte sich ausgezahlt. Er hatte gewartet, bis die venezianischen Kaufleute in ihrem Heimathafen an Land gegangen waren und außer ihm nur noch Demitrios als Passagier an Bord war. Erst dann hatte er ihn angesprochen. Die Unterhaltung, die sie mit dem wenigen Arabisch führen mußten, das sie beide sprachen, war elementar gewesen, aber sie hatte ausgereicht, ihn den Namen des weisen Mannes erfahren zu lassen, den er suchte.

Nach und nach hatte er sich dem griechischen Arzt nützlich gemacht, hatte ihm seine Mahlzeiten gebracht, das Wasser für seine Waschungen abgekocht, die er sehr genau nahm, hatte seine Kajüte saubergemacht und aufgeräumt – alles, um sicher zu sein, daß der Grieche nichts dagegen haben würde, wenn er ihn zu dem großen Da'ud begleitete.

Nun bogen sie in die Straße ein, zu der man sie gewiesen hatte, und als sie das Haus erreichten, klopfte Ralambo auf eine Geste des Demitrios hin an die schwere Holztür. Ein Diener öffnete und fragte sie nach ihrem Begehr.

»Ich habe eine Botschaft für Da'ud ibn Yatom von Judah, dem König der Chasaren«, antwortete Demitrios. Ralambo stellte man keine Fragen. Man hielt ihn für den Diener des Byzantiners.

Da'ud selbst, einen Arm zum Willkommen ausgestreckt, die Augen leuchtend vor Freude, kam an einem Stock über den Flur gehumpelt und begrüßte Demitrios. »Möge der Herr gesegnet sein, der mich diesen Augenblick hat erleben lassen. Wie lange ich darauf gewartet habe!« rief er aus, und seine Stimme bebte. Er nahm Demitrios beim Arm und geleitete ihn in den Wassergarten. Ralambo folgte den beiden stumm auf nackten Füßen, bestaunte mit weit aufgerissenen Augen die Präzision der Gartenanlage, den Schimmer des Sonnenlichtes auf dem ruhigen Wasserlauf, die einzige, schmal zulaufende Zypresse, die groß und elegant von einer kleinen Insel im Zentrum aufragte.

Da'ud hatte nicht die Geduld, so lange zu warten, bis man den Gästen Erfrischungen gereicht hatte oder das Gespräch mit den üblichen höflichen Floskeln eröffnet war. Nachdem er herausgefunden hatte, wer sein Besucher war, führte er ihn zu einer unter Bäumen stehenden Marmorbank und bestürmte ihn sofort mit Fragen über das, was er gern für ein unabhängiges jüdisches Königreich gehalten hätte. Für Demitrios hatte diese Frage zwar keine große Bedeutung, doch ließ ihn Da'uds eifrige Begeisterung nicht gleichgültig. Mit Bedauern begriff er, daß es seine wenig beneidenswerte Pflicht sein würde, Da'ud diese Illusion zu rauben.

»Ich verstehe«, murmelte Da'ud, als Demitrios mit seinem Bericht über die vernichtende Niederlage zu Ende war, die die Russen dem Königreich der Chasaren beigebracht hatten. Das Leuchten in seinen Augen war erloschen, nun beherrschten wieder die dunklen, darunter liegenden Ringe das blasse Gesicht. Doch nach kurzem, tiefem Nachdenken sagte er: »Wir dürfen die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Ich werde die Angelegenheit mit dem Kalifen besprechen. Sobald meine Gesundheit wieder hergestellt ist, reise ich nach Itil. Es muß eine Möglichkeit geben, Chasarien aus der Umklammerung der Russen zu befreien.«

»Das müßt Ihr beurteilen«, erwiderte der Byzantiner, dessen Gleichgültigkeit mit einer Spur Skepsis gemischt war. »Ich bin nur Arzt.« Doch hegte er Zweifel, ob der byzantinische Kaiser Nikephoros Gefallen an der Vorstellung von einem mächtigen jüdischen Staat an der nordöstlichen Grenze seines Reiches finden würde, der zudem noch mit den Omaijaden von Córdoba verbündet war …

Während die beiden Männer ins Gespräch vertieft waren, hatte sich Ralambo ein wenig zurückgezogen, seinen Gürtel gelockert und das lederne Band herausgezogen, an dem sein kostbarer Beutel hing. Jetzt, da die Männer verstummt waren und jeder seinen Gedanken nachhing, nahm er das Band vom Hals, ließ den Beutel heruntergleiten und ging auf sie zu.

In seinem einfachen Arabisch sagte er: »Ich bin Ralambo von der Großen Roten Insel Madagaskar. Gewisse Händler aus dem Orient kaufen diesen Extrakt bei uns ein.« Er hielt inne, streckte seine Hand vor, um Da'ud den Beutel zu geben, und fuhr fort. »Für sie und nur für sie ist er von großem Wert. Ich bringe ihn Euch, weiser Mann des Westens, weil ich den Grund dafür herausfinden möchte.«

Demitrios nahm eine Traube von der Platte, die man vor ihn hingestellt hatte, und leichte Belustigung umspielte seine Mundwinkel. Der große Da'ud würde kurzen Prozeß mit diesem lästigen Mischling machen, und dann könnten sie sich beide einer zivilisierten Diskussion über die verschiedenen medizinischen Heilverfahren widmen.

Da'ud nahm den Beutel, öffnete ihn und untersuchte den Inhalt genau. Dann roch er an dem bräunlichen Pulver und verriet mit einer leichten Bewegung seiner Augenbraue ein gewisses Interesse. Vorsichtig nahm er ein, zwei Körnchen mit dem Zeigefinger auf und prüfte mit der Zungenspitze den Geschmack.

»Woher kommt das?« fragte er Ralambo.

»Von der äußersten Spitze Afrikas. Es gibt dort einen Stamm, der es herstellt.«

»Woraus?«

»Das ist ihr Geheimnis.«

»Weißt du, welche Art von Pflanzen in diesem Teil Afrikas wachsen?«

»Große Pflanzen mit langen, stacheligen Blättern.«

Da'ud warf ihm einen raschen Blick zu. »Hai!« rief er über den Garten hinweg. »Komm zu uns, mein Sohn, und bringe Papier und Feder mit.«

Als Hai auftauchte, stellte Da'ud Demitrios und Ralambo kurz vor und fuhr dann eifrig fort: »Ralambo hat uns diesen Extrakt mitgebracht, der von der Spitze Afrikas kommt und bei gewissen orientalischen Händlern sehr gesucht ist. Er hat den weiten Weg zu uns auf sich genommen, um herauszufinden, warum das so ist.« Während er sprach, zeichnete Da'ud ein langes, spitzes Blatt, flach und fleischig mit einer gezackten Kante. »Meinst du diese Art Blatt?«

»Ja«, erwiderte Ralambo. »Aber es wachsen dort viele verschiedene Arten.«

»Auch welche, deren Blätter sich nach außen rollen?«

Mißtrauisch geworden, antwortete Ralambo nicht.

Da'ud und Hai tauschten wissende Blicke aus, während Demitrios, der sich sichtlich langweilte, einen flüchtigen Blick auf Da'uds Zeichnung warf. »Nun ja, das ist die Aloepflanze«, bemerkte er leichthin. »Seit der Zeit der Antike weiß man, daß sie ein äußerst wirksames Heilmittel ist, um den Körper von schlechten Säften zu befreien, und sie beschleunigt auch die Heilung gewisser Wunden.«

»Das stimmt«, erwiderte Da'ud mit ruhiger Autorität. »Aber ich glaube, daß es eine besondere Art gibt, die uns bisher nicht bekannt ist und im Orient als ein wahres Wundermittel gilt, wobei ich allerdings nicht genau sagen kann, wie sie wirkt.«

Nun ließ sich Demitrios herab, doch ein wenig Interesse an dem Thema zu bekunden. Mit ärgerniserregender Überlegenheit meinte er: »Ich hatte einmal die Gelegenheit, einen persischen Arzt kennenzulernen, den unser Kaiser an das Totenbett seiner Mutter gerufen hatte. Er war völlig am Boden zerstört, der arme Mann, denn er hatte den Tod der Frau nicht zu verhindern vermocht. Allen und jedem erklärte er, er hätte sie wahrscheinlich retten können, wenn ein gewisser chinesischer – oder war es ein indischer? – Händler, der ihm irgendein Wundermittel versprochen hatte, Isfahan erreicht hätte, bevor er nach Byzanz aufbrach.«

»Woran ist die Frau gestorben?« fragte Hai.

»Ich glaube, es war die Auszehrung, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Ich war zu jener Zeit noch nicht Hofarzt, hatte also keine Gelegenheit, sie zu untersuchen.«

»Habt Ihr herausgefunden, um was für ein Heilmittel es sich handelte?« drängte ihn Hai.

»Offen gestanden, nein. Ich hege größtes Mißtrauen gegen diese schlauen orientalischen Medizinmänner, die uns für horrende Summen das sogenannte Lebenselixier anbieten. Was können sie schon wissen, das unseren griechischen Meistern verborgen war?«

Hai errötete vor Empörung über die engstirnigen Vorurteile und das bornierte Denken des Griechen, aber Da'ud verwies ihn mit einem Blick in die Schranken.

»Wahrhaftig, was schon?« stimmte der erfahrene Höfling bei. »Nun, mein geschätzter Kollege, darf ich Euch für die Dauer Eures Aufenthaltes in Córdoba die Gastfreundschaft meines Hauses anbieten? Es muß Euch gewiß nach Ruhe verlangen, da ihr eine so lange und abenteuerliche Reise hinter Euch habt.«

Inzwischen fühlte sich Demitrios recht unwohl in der Gegenwart des jüdischen Arztes und seines vorwitzigen Sohnes. So viele Fragen, immer diese rastlose Suche … einfach viel zu schlau für seinen Geschmack … »Ich danke Euch herzlich, aber mein Aufenthalt hier ist nur von sehr kurzer Dauer, und ich würde noch gerne dem Oberhaupt unserer kleinen Gemeinde hier meine Aufwartung machen, ehe ich wieder aufbreche.«

»Wie Ihr wünscht«, erwiderte Da'ud höflich. »Aber ehe Ihr geht, möchte ich Euch noch ein Geschenk machen, zum Ausdruck meiner Dankbarkeit für all das, was Ihr für König Judah, für mich und für das ganze jüdische Volk getan habt.«

Er erhob sich mühevoll, humpelte ins Haus und kam wenig später mit einem massiven Goldpokal wieder, dessen Fuß reich mit großen, viereckig geschliffenen Smaragden besetzt war.

»Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Großzügigkeit, aber ich verdiene ein so wunderbares Geschenk nicht«, antwortete Demitrios mit offensichtlicher Aufrichtigkeit. »Ich habe nur meine Pflicht getan, habe den letzten Wunsch eines Ehrenmannes erfüllt, der mir das Leben gerettet hat.«

Ein Diener wurde herbeigerufen, der Demitrios zu seinem nächsten Ziel begleiten sollte. Sobald die beiden das Haus verlassen hatten, setzte sich Da'ud wieder hin und wandte seine ganze Aufmerksamkeit Ralambo zu.

»Ihr habt großen Mut bewiesen, daß Ihr so weit gereist seid, um mich aufzusuchen. Aber sagt mir, könnt Ihr die Aloenart erkennen, von der dieser Extrakt stammt?«

Ralambo antwortete nicht.

»Nun, könnt Ihr es?«

»Niemand außer den Stammesältesten darf in ihre Nähe. Aber ich kann Euch so viel Extrakt liefern, wie Ihr wollt«, bot er eifrig an.

»Das wäre ein Anfang, aber es reicht nicht aus.«

Hai betrachtete seinen Vater mit unverhohlenem Erstaunen. Sicher war doch das, was für die orientalischen Ärzte gut genug war, auch für sie hier in Córdoba ausreichend? Gewiß wäre es besser als gar nichts, und es würde ihnen die lang ersehnte Gelegenheit geben, die Eigenschaften dieses Heilmittels endlich zu erforschen. Aber Da'ud verfolgte sein Ziel unnachgiebig.

»Ihr habt gehört, was dem persischen Arzt geschehen ist«, erinnerte er Ralambo streng. »Das Mittel, das man ihm versprochen hatte – ob es nun dieses oder ein anderes war, spielt keine Rolle –, erreichte ihn nicht mehr rechtzeitig, um das Leben seiner Patientin noch zu retten. Praktizierende Ärzte können sich nicht auf eine Arznei verlassen, deren Quelle so weit entfernt liegt. Zu viele Gefahren bedrohen die Handelswege. Wir brauchen die Pflanze, damit wir sie hier ansiedeln und den Extrakt selbst herstellen können.«

Die kindliche Freude und der erwartungsvolle Eifer, die Ralambos Gesicht überstrahlt hatten, erloschen plötzlich. »Die kann ich Euch nicht bringen.«

»Vielleicht nicht Ihr allein, aber da Ihr wißt, wo sie zu finden ist, könnten wir Euch vielleicht helfen.«

Ralambo starrte ausdruckslos vor sich hin, verständnislos, völlig verwirrt. Er hatte erwartet, daß man ihn loben und für seine Taten großzügig entlohnen würde, nicht, daß man ihn ausfragte und wie einen Sklaven bedrängte.

»Zum Beispiel«, fuhr Da'ud fort und lehnte sich unter Mühen vor, wollte ihn unbedingt überzeugen, »könnten wir Euch und dem betreffenden afrikanischen Stammesfürsten so viel Geld, Gold oder Silber bezahlen, so viele Juwelen oder Schwerter oder Dolche geben, wie Ihr wollt, oder irgend etwas anderes, wonach Euch der Sinn steht.«

»Aber nur für den Extrakt«, wiederholte Ralambo störrisch, die Augen zu Boden gesenkt.

Da'ud ließ sich nicht beirren. »Wir könnten Euch auch ein zuverlässiges Schiff geben, das Euch zu Eurer Insel zurück und von dort durch die Meerengen und hinunter bis zur Spitze Afrikas bringen kann, damit Ihr die Pflanze holen könnt.«

Wieder schüttelte Ralambo den Kopf.

»Aber warum nicht?«

»Sie würden mich umbringen«, brachte er schließlich hervor.

»Dann geben wir Euch eine tüchtige Leibgarde mit, die Euch beschützen soll.«

»Nein, Herr. Wenn sie mich entdecken, dann werden sie in ihrer Rache die Rote Insel schrecklich verwüsten.«

»Ralambo«, fuhr Da'ud geduldig fort, als spräche er mit einem Kind. »Ihr habt Euren Mut, Eure Findigkeit und Eure Entschlossenheit bewiesen, indem Ihr ganz allein hierher nach Córdoba gereist seid. Ich bin überzeugt, Ihr könnt diese Aufgabe erfüllen, ohne daß Euch jemand dabei bemerkt.«

»Nein, Herr. Der Stamm dort ist sehr wild und grausam. Ich mache es nicht.«

»Mein Herr und Meister, der mächtige Kalif von Córdoba ist auch ein wilder, grausamer Mann. Wenn er herausfindet, daß Ihr von Alexandria gekommen seid, wo seine Feinde, die Fatimiden, herrschen, dann könnte er Euch verdächtigen, als Spion hier zu sein. Die Strafe dafür ist der grausamste Tod.«

Entsetzt schaute Hai von seinem Vater, der so verbissen sein Ziel verfolgte, zu Ralambo, dem unschuldigen Jungen von der Roten Insel, der drauf und dran war, auf Da'uds zynische Kniffe und Hinterlist hereinzufallen. Er brannte darauf, ihm zuzurufen: »Hüte dich vor den Großen und Mächtigen!« Doch nun war es schon zu spät.

»Wenn ich es mache«, sagte Ralambo mit bebender Stimme und zitternden Händen, »verspricht mir dann Euer Herr, der Kalif, daß ich, wenn ich mit dem Leben davonkomme und nach Córdoba zurückkehre, in Frieden in seinem Königreich leben kann?«

»Ohne Zweifel. Ihr habt mein feierliches Versprechen.«

Mit vor Eifer gerötetem Gesicht und einer Lebensenergie, die Hai nicht mehr an ihm gesehen hatte, seit ihn Abu'l Kasim im letzten Herbst am Knie operiert hatte, begann Da'ud die Einzelheiten der bewaffneten Expedition auszuarbeiten, die Ralambo anführen sollte. Er beriet sich mit Hai über die beste Art, wie man die Pflanze transportieren und auf der Reise pflegen sollte, berechnete Gezeiten, Winde und Jahreszeiten und kam schließlich zu dem Ergebnis, daß das Schiff unverzüglich in See stechen sollte, um im Laufe des folgenden Sommers zurückzukehren. Dann hätte er endlich nicht nur einen hinreichend großen Vorrat an Extrakt, sondern auch die Pflanzen, aus denen man ihn gewann. Man versprach Ralambo eine beträchtliche Summe, von der er einen Teil bei der Abreise, den Rest bei seiner Rückkehr bekommen sollte.

»Bis die Expedition vorbereitet ist und in See stechen kann, seid Ihr als Gast in meinem Hause willkommen«, sagte er lächelnd zu dem armen Tropf, nachdem man ihm alles in klaren und einfachen Worten erklärt hatte. Eine subtile Form des Hausarrests, begriff Hai, und eine Mischung aus Bewunderung und Widerwillen über den modus operandi seines Vaters vertiefte noch die Abneigung, die er lange schon gegen die krasse Wirklichkeit der Macht hegte. Wenn die Zeit gekommen war und er eine Entscheidung über seine eigene Zukunft fällen mußte, würde dann sein Vater in der Lage sein, ihn zu verstehen? fragte er sich, während er aufstand, um Ralambo dabei zu helfen, sich im Haus zurechtzufinden.

29

Ralambos Abreise hatte in Da'ud neues Leben geweckt. Seine Kraft kehrte zurück, und er konnte teilweise seine Tätigkeit bei Hofe wieder aufnehmen. Al-Hakam war so beeindruckt von der Entschlossenheit seines Arztes, die Pflanze zu bekommen, aus der man das sogenannte Wundermittel gewinnen konnte, hatte ein so lebhaftes Interesse an der Expedition des Malegassen gezeigt, daß er seine schnellsten und getreusten Sendboten – ausgestattet mit viel Gold für Bestechungen – in alle Häfen entlang des Weges geschickt hatte. Sie sollten sicherstellen, daß das Schiff und alle Mitglieder seiner Mannschaft jede mögliche Hilfe erhielten und daß man ihnen keine Hindernisse in den Weg stellte. Sie wußten sehr wohl, welches Schicksal sie erwartete, wenn sie diesen Auftrag nicht erfüllten.

Aber Da'uds Energie war nur von kurzer Dauer. Als der Winter hereinbrach, die eisigen Winde von den Bergen wehten und selbst die zähesten, sonnendurchtränkten Einwohner von Córdoba bis ins Mark frieren ließ, wurde allen offenbar, wie gebrechlich Da'ud wirklich war. Er konnte immer weniger Zeit im Palast verbringen, blieb schließlich ganz fort. Jeden Morgen stand er ein bißchen später auf, jeden Nachmittag war seine Siesta länger, so daß er sein Bett täglich nur noch für wenige Stunden verließ. Sein Interesse an den Dingen schwand, seine Wünsche schrumpften auf ein Mindestmaß. Seine Welt wurde immer kleiner, sein allmählich versagender Lebensgeist wandte sich immer mehr sich selbst zu, beschäftigte sich ausschließlich mit dem Kampf ums Überleben.

Hai und Sari waren zutiefst beunruhigt. Nicht nur seine innere Stärke schwand; auch sein Körper schien sich beinahe vor ihren Augen aufzulösen. Weder die Gerstengrütze noch die Milchsuppe oder irgendeine andere Köstlichkeit, die Sari liebevoll für ihn zubereitete, konnten seinen Verfall aufhalten.

»Es ist die Kälte«, flüsterte er, ein trauriges Lächeln auf den grauen Lippen, als er sich wieder einmal anschickte, sich zu Bett zu begeben. »Wenn der Sommer kommt, geht es mir bestimmt besser.«

Doch als man die ersten Regungen des Frühlings spürte und süße warme Lüfte die stillen Tümpel und eleganten Zypressen der großen Stadt Córdoba liebkosten, nahm Da'ud beinahe gar nichts mehr zu sich. Panik ergriff seine Frau und seinen Sohn. Nacht für Nacht saß Hai über Traktate und Abhandlungen gebeugt, suchte nach einem Heilmittel, das man im Laufe der Jahrhunderte vielleicht vergessen oder übersehen hatte. Er klappte gerade sein Exemplar von Galens De Alimentorium Virtutibus zu, nachdem er wieder einmal eine Nacht erfolglos gesucht hatte. Da fielen seine müden Augen auf einen Abschnitt, den er schon viele Male gelesen hatte:

»Im Altertum lebten die Menschen beinahe ausschließlich von Aloe, weil sie den Körper nährt.«

Aber Galen hatte nicht angegeben, ob diese Menschen krank oder gesund waren. Eindeutig würde doch ein Patient, der so geschwächt war wie sein Vater, die abführende Wirkung einer solchen Nahrung nicht vertragen. Und doch … und doch … Er erhob sich und ging in der Stille der Nacht unruhig im Raum auf und ab. Die flackernde Kerze warf zitternde Schatten an die Wände. Was, wenn der Extrakt, der sich in Ralambos Beutel befand, die gleiche Wirkung zeitigte? War er so teuer, weil seine lebensstärkende Wirkung nicht durch seine wohlbekannte läuternde Wirkung aufgehoben wurde? Sollte er es versuchen? Schon lange war ihm klar, daß sein Vater dahinsiechte, weil die Entfernung der Geschwulst trotz allem die Zersetzung seiner inneren Organe nicht hatte aufhalten können. Das war zweifelsohne seinem Vater ebenfalls klar – auch wenn Da'ud nie etwas davon hatte verlauten lassen. Er hatte schließlich selbst bei seinem Vater die gleiche Krankheit behandelt. Hai hatte nicht viel zu verlieren, schien es, wenn er es versuchte, ein wenig, nur ein wenig, nach und nach …

Er besprach das Thema vorsichtig mit Sari. Sie hatte keine Einwände gegen das Experiment. »Aber versuche es erst nur mit einer sehr kleinen Menge«, mahnte sie ihn zur Vorsicht. Um den bitteren Geschmack des Pulvers zu übertönen, schlug sie vor, Hai solle es in eine Süßigkeit mischen, die sie manchmal aus Eibischwurzel bereitete. Das war nicht nur eine Köstlichkeit, die Da'ud besonders gerne mochte, er hatte sie auch selbst Ya'kub verschrieben, weil sie eine lindernde Wirkung auf seine verborgenen Verletzungen hatte.

Als die Paste vorbereitet war, rollte Sari sie zu kleinen Kugeln, die sie auf einem silbernen Tablett neben ihren Mann stellte, sorgsam darauf bedacht, sie ihm nicht aufzudrängen, damit er nicht gegen ihre dringende Bitte aufbegehrte. Zu ihrer ungeheuren Erleichterung knabberte er an dem Konfekt, aß es Stück für Stück den ganzen Tag hindurch, bis er am Abend schließlich alles verspeist hatte. War es Wunschdenken, oder schien es ihm am nächsten Morgen wirklich ein wenig besser zu gehen? Jedenfalls nicht schlechter. Auf Da'uds Verlangen bereiteten sie am nächsten Tag eine größere Menge zu. Am Abend waren nur noch ein, zwei Kugeln übrig. Als Da'ud am nächsten Morgen aufstand, schien sein Schritt fester, seine Haut weniger grau. Sari lächelte und sagte ihm, wieviel besser er aussehe, worauf er ihr mit einem Zwinkern in den Augen, die ein wenig von ihrem Glanz zurückbekommen hatten, antwortete: »Ich habe dir doch gesagt, es würde mir besser gehen, sobald das Wetter sich erholt hat.«

Während der folgenden Tage stand ein ständiger Vorrat an Eibischkugeln griffbereit neben Da'ud, und jedesmal war ein wenig von Ralambos Extrakt hinzugefügt. Zwei Wochen später konnte es keinen Zweifel mehr geben: Da'ud hatte nicht unter der abführenden Wirkung zu leiden gehabt, sein Zustand hatte sich merklich verbessert. Aber nun ergriff Hai und Sari Panik. Beinahe die Hälfte des Beutelinhalts war bereits verbraucht. Wenn Ralambo nicht innerhalb des kommenden Monats eintraf, wäre alle Hoffnung verloren, Da'ud noch zu retten. Wie recht sein Vater gehabt hatte, dem glücklosen Eingeborenen so fest gegenüberzutreten, mußte Hai zugeben. Obwohl er mit niemandem darüber geredet hatte, war sich Da'ud offensichtlich über die Art seiner Krankheit im klaren. In dem ›Wundermittel‹ – dem Lebenselixier, wie Demitrios es genannt hatte – hatte er seine einzige Hoffnung auf eine Heilung gesehen, und sein Selbsterhaltungstrieb hatte alle anderen Erwägungen beiseite gefegt.

Aber wo war Ralambo? Als die Expedition aufgebrochen war, hatte Hai sie für so gefährlich gehalten, daß er Zweifel hegte, ob er den Mann je wiedersehen würde. Doch jetzt begann er genau wie sein Vater zu beten, mit der ganzen Dringlichkeit, zu der er fähig war, irgendein Höheres Wesen anzuflehen, das es irgendwo im Chaos der Schöpfung gab. Er flehte, Ralambo möge mit dem Extrakt zurückkommen, ehe der Beutel leer war und nichts mehr zwischen seinem Vater und seinem unvermeidlichen Abstieg ins Grab stand.

Sari konnte das Zittern ihrer Hände nicht mehr verbergen, als sie das letzte Körnchen des bräunlichen Pulvers in ihr Konfekt mischte – zusammen mit einer Träne, die in die Schüssel tropfte. Hai achtete sorgfältig darauf, daß er jeden Tag zu der Zeit zu Hause war, wenn Da'ud von seiner Siesta erwachte. Mit seiner einzigartigen Mischung aus Mitleid, Zärtlichkeit und sensibler Fürsorge nahm er den Vater mit einer freundschaftlichen Geste beim Arm, überspielte so, wie sehr er ihn stützte. Dann spazierten sie gemeinsam unter den Zypressen des Wassergartens auf und ab, bis Hai bemerkte, daß Da'uds Schritte sich verlangsamten. Es sei an der Zeit, einen Umschlag auf die schmerzenden Gelenke aufzubringen, schlug er dann vor, und trotz der lauen Luft des Sommerabends breitete er seinem Vater die üppige Pelzdecke, die der Kalif ihm mit allen guten Wünschen für eine baldige Genesung zugesandt hatte, über die Knie. Dann saß er neben ihm, lehnte sich auf dem Diwan zurück und knabberte schwach an den saftigen Früchten und köstlichen Süßigkeiten, mit denen Sari ihn zu locken versuchte.

Zwei- oder dreimal in der Woche schickte al-Hakam einen persönlichen Gesandten, um sich nach der Gesundheit seines Arztes zu erkundigen und zu fragen, ob er ihm in irgendeiner Weise behilflich sein könne. Der Bote vertraute Hai mehr als einmal an, der Kalif sei außerordentlich bestürzt über Da'uds Krankheit. Sonst schickte er seinen engsten Beratern seinen Hofarzt zur Behandlung, aber wen konnte er dem Arzt schicken, der sie alle an Fähigkeit und Wissen übertraf? Und wer würde ihn behandeln, wenn seine Zeit gekommen war, sollte der große Da'ud sich nicht erholen?

Auf Anordnung des Kalifen wurde der Hafen von Sevilla genau beobachtet, so daß man die kostbare Substanz gleich, sobald die Expedition zurückkehrte, unter schwerster Bewachung in aller Eile nach Córdoba bringen konnte. Woche um Woche zog sich dahin. Sari wurde immer blasser und unruhiger, während Da'ud zu einer gespenstischen, beinahe schon durchsichtigen Gestalt abmagerte. Manchmal war es, als hätte sich sein Geist schon vom Körper befreit. Hai saß stundenlang weinend bei ihm, und das Mitleid schien ihn von innen auszuhöhlen. Er versuchte mit seinen Gedanken Ralambo zu größerer Eile anzutreiben, strengte sich so sehr an, daß er beinahe die Grenzen seiner Kraft erreicht hatte. Er weigerte sich, die Hoffnung aufzugeben, in Resignation zu verfallen, der Enttäuschung zu erliegen, die jeder Arzt verspürt, der nicht verhindern kann, daß ein Leben, das er umsorgt hat, ihm aus den Händen gleitet. Morgen, übermorgen, spätestens in der nächsten Woche würde die Expedition mit dem Extrakt zurückkehren, der Da'uds Verfall Einhalt geboten hatte, und er würde von dem tödlichen Abgrund zurücktreten, an dessen Rand er jetzt mit schwankenden Schritten stand.

So saß Hai eines Abends und konzentrierte seine Gedanken, als könnte er durch seinen bloßen starken Willen die Rückkehr der Expedition beschleunigen, als sein Vater die matten Augen aufschlug. Er nahm die lange, schmale Hand seines Sohnes – die so sehr Saris Hand glich – in die seine, die inzwischen kalt, bläulich und knochig geworden war, und sprach mit einer Festigkeit in der Stimme, die man lange nicht vernommen hatte: »Es ist an der Zeit, daß wir miteinander reden, mein Sohn. Es gibt Dinge, die gesagt werden müssen, solange ich noch die Kraft dazu habe. Mein Leben lang habe ich die Hoffnung genährt, daß du in meine Fußstapfen als Hofarzt und Vertrauter des regierenden Kalifen treten würdest, daß du zu Ruhm, Macht und noch größerem Reichtum gelangen würdest als ich. Und doch habe ich in dir immer eine Abneigung gegen die brutale Wirklichkeit des Lebens in den Korridoren der Macht verspürt. Als du heranwuchsest, begriff ich allmählich, daß du für ein Leben der Täuschung und Intrige nicht geschaffen bist. Du mußt einen anderen Weg einschlagen. Du hast die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit deiner Mutter geerbt und ihr tiefes Mitgefühl mit allem menschlichen Leiden. Im Verein mit deinem scharfen Intellekt wird dich dies zu einem Arzt im wahrsten Sinne des Wortes machen, zu einem Heiler um des Heilens willen.

Ich habe geduldig gewartet, bis du jetzt deine medizinischen Studien abgeschlossen hast, ehe ich dir von einer Vermutung spreche, die ich schon lange Zeit über die Eigenschaften des Großen Theriak hege. Als ich dieses Mittel zum erstenmal für Abd ar-Rahman III. zubereitete, habe ich ihm, hauptsächlich einem Impuls folgend, geraten, stets eine kleine Menge zur Vorbeugung einzunehmen, wenn er sich in akuter Gefahr eines Schlangenbisses wähnte. Er folgte meinem Rat, und nachdem er tatsächlich gebissen wurde, verspürte er keinerlei unangenehme Wirkung.«

»Gar keine?«

»Überhaupt keine.«

»Unglaublich!« rief Hai aus, wie damals vor so vielen Jahren auch Ibn Zuhr.

»Die einzige andere Person, der ich davon erzählt habe, ist unser Lehrer Ibn Zuhr. Er meinte zu Recht, die vorbeugende Wirkung des Großen Theriak sei nicht eindeutig bewiesen, da der Kalif nach dem Biß auch noch eine volle Dosis davon eingenommen habe. Und sie läßt sich auch nicht beweisen, ohne daß man jemanden der Todesgefahr aussetzt. Trotzdem bin ich nach wie vor davon überzeugt, daß meine Eingebung richtig war. Ich hinterlasse dir diese Einsicht, mache damit, was du willst. Aber gib auf keinen Fall das schwer erworbene Privileg auf, für den jeweils herrschenden Kalifen den Großen Theriak zu bereiten. So hast du stets einen Fuß im Palast, und dieser Vorteil ist nicht zu verachten.«

Mühsam verlagerte Da'ud sein Gewicht, trank einen kleinen Schluck Wasser und ruhte sich ein wenig aus, ehe er weitersprach.

»Was nun Ralambos ›Wundermittel‹ betrifft, so muß ich dich wohl kaum dazu drängen, deine unaufhaltsame Suche fortzuführen. Wenn die Expedition nicht zurückkehrt – und nach meinen Berechnungen sollte sie inzwischen längst wieder hier sein –, dann gib trotzdem nicht auf. Verwende dafür ohne Zögern das gesamte riesige Vermögen, das unsere Familie angehäuft hat, schicke noch mehr Leute zur Großen Roten Insel, um die Pflanzen aufzuspüren, und ruhe nicht eher, als bis du sie entdeckt hast. Ich habe sehr wohl gemerkt, wieviel neues Leben mir der Extrakt geschenkt hat.«

»Du …?«

»Ja, natürlich habe ich es gewußt, mein Sohn. Keine Süße kann diesen ganz besonderen bitteren Geschmack übertönen.«

»Warum dann …«, stammelte Hai.

»Man könnte sagen, ich habe mich mit dir und deiner Mutter verschworen, um euch die zusätzliche Angst zu ersparen, daß meine letzte Hoffnung auch noch schwinden könnte. Ich hatte natürlich darauf gehofft, wie das jeder Sterbliche tun würde, aber mit den Vorbehalten, die einem Wissenschaftler ziemen. Ich weiß nicht, ob der Extrakt mich letztlich hätte retten können. Ich kann nur bestätigen, daß er einen lebensspendenden Energiestrom durch meine Adern geschickt hat. Führe die Suche fort, mein Sohn, suche weiter.«

»Aber Vater«, brachte Hai unter Tränen hervor, »das Schiff müßte jeden Tag einlaufen. Der Kalif selbst hat einen ständigen Beobachter am Hafen postiert, so daß der Extrakt, sobald das Schiff angelegt hat, unverzüglich mit Sonderboten nach Córdoba gebracht wird.«

»Ich bezweifle, daß dazu noch Zeit ist«, murmelte Da'ud. »Ein Mann spürt es, wenn … wenn …«

Er umfaßte Hais Hand ein wenig fester, und seine dunklen, nun nicht mehr ruhigen Augen glänzten vor Tränen, während Hai hemmungslos schluchzte.

»Weine nicht, mein Sohn. Weder die Weisesten noch die Mächtigsten können dem entgehen, was Gott oder die Natur, je nachdem, an was man im innersten Herzen glaubt, jedem Lebewesen bestimmt hat.«

Er schloß kurz die Augen, sammelte all seine schwindenden Kräfte, um seinen Gedanken zu Ende zu bringen: »Wie ich schon gesagt habe, ich kann dich nicht dazu zwingen, am Hofe des Kalifen in meine Fußstapfen zu treten, aber ich muß dich bitten, die Leitung der jüdischen Gemeinde zu übernehmen, wie es dein Vater und dein Großvater vor dir getan haben. Mit deinem Geburtsrecht, deiner Bildung und deinem Wohlstand scheinst du für diese Aufgabe hervorragend geeignet, und ich hege keinerlei Zweifel, daß du trotz deiner Jugend mit der gleichen Hingabe das Amt zum Wohl unseres Volkes ausfüllen wirst, wie das deine Vorväter getan haben. Daß du dich so bescheiden und diskret verhalten wirst, wie das im Haus Ibn Yatom schon jeher üblich war, muß ich nicht betonen. Diese Eigenschaften sind dir angeboren.

Ebenso überflüssig ist es, dich an deine Verantwortung für deine Mutter zu erinnern, die einzige Frau, die ich je geliebt habe. Aber ich habe das Gefühl, daß ich auch von der anderen Familie reden muß.« Hier hielt Da'ud inne, wählte seine Worte sorgfältig. »Du hast nie ein Geheimnis aus deiner Zuneigung zu ihnen gemacht. Als du ein Kind warst, war dies zweifellos spontan. Es war nur natürlich, daß du dich zu deiner Halbschwester hingezogen fühltest, mit der du die ersten Jahre deines Lebens unter diesem Dach verbracht hast, nur natürlich, daß du später die Gesellschaft der jungen Leute deiner Generation gesucht hast. Aber als du älter wurdest, spürte ich, daß du dich in gewisser Weise verpflichtet zu fühlen schienst, sie irgendwie für das zu entschädigen, was du genau wie deine Mutter für eine ungerechte Behandlung meinerseits hieltest. Ich habe nie meinen Frieden mit der Situation geschlossen, die ich geschaffen hatte. Und doch, wenn ich jetzt vom Totenbett zurückblicke, bin ich nach wie vor überzeugt, daß ich unter den unwahrscheinlichen Umständen, die sich damals ergeben haben, im besten Interesse aller Beteiligten gehandelt habe. Als ich Djamila heiratete, um mir einen Erben zu sichern, konnte ich nicht ahnen, daß die Folge davon sein würde, daß Sari dich, meinen einzigen Sohn, zur Welt bringen würde. Das ist jedoch eine Angelegenheit, die nur deine Mutter ganz persönlich betrifft. Wenn sie möchte, kann sie dir eines Tages davon erzählen. Jedenfalls gab es, nachdem du zur Welt gekommen warst, keinen Platz mehr für Djamila und unsere Tochter, weder in meinem Herzen noch in meinem Haus. Es schien mir angemessener, ihnen ein Leben in bescheidener menschlicher Würde zu ermöglichen, als sie hinter einer ehrbaren Fassade ständige Demütigung erleiden zu lassen. Daß ich unrecht daran tat, sie so herabzusetzen, darüber gibt es keinen Zweifel. Aber ich hatte keine Gewalt über diesen Impuls. Verstehe und akzeptiere dies, mein Sohn, aber falls du das nicht kannst, verurteile mich nicht.

Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du ebenfalls heiraten. Wie ich bist auch du in der glücklichen Lage, bei der Wahl deiner Ehefrau nicht auf Reichtum oder Rang achten zu müssen. Folge den Neigungen deines Herzens. Dich, den Sohn der Sari und des Da'ud, werden deine Gefühle nicht trügen. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe, mein Sohn. Jetzt möchte ich mich ausruhen.«

Hai half seinem Vater, sich in die Kissen zurückzulegen. Sanft breitete er die Felldecke über ihn, während ihm die Tränen über die Wangen strömten und sich mit denen seines Vaters vermischten, dann küßte er ihn auf die Stirn und wünschte ihm eine ruhige Nacht.

Aber sie sollte ihm nicht gegönnt sein.

Gegen Morgen durchschnitt ein herzzerreißender Schmerzensschrei den dämmernden Tag. Der Anblick, der sich Sari bot, als sie zu Da'uds Bett eilte, ließ sie vor Schreck erstarren. Aus allen Körperöffnungen strömte grünlich-schwarzer Schleim, der todbringende Körpersaft, der ihn von innen ausgezehrt hatte. Hai streichelte ihm die Stirn, umfaßte sein hageres Gesicht mit Händen, die dem Vater die einzige Arznei schenkten, die er noch anbieten konnte: seine Liebe und sein unendliches Mitleid. Trotz all seines medizinischen Wissens, trotz seiner Vertrautheit mit dem Tod mußte er einfach versuchen, den schwindenden Lebensgeist seines Vaters mit zitternden Fingerspitzen aufzuhalten und für alle Ewigkeit zu bewahren. Der Schmerz darüber, daß ihm dies niemals gelingen konnte, war tief in sein Gesicht gegraben. Beim ersten Morgenlicht war der Kampf ausgestanden. Von seiner Niederlage zerschmettert, vom Schmerz überwältigt, schloß Hai seine Mutter in die Arme und weinte bitterlich mit ihr.