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30
Die rituelle Trauerwoche nach Da'uds Tod brachte einen endlosen Strom von Beileidsbesuchern ins Haus Ibn Yatom. Alle wollten dem Mann die letzte Ehre erweisen, den sie geschätzt, bewundert, geliebt – oder gefürchtet – hatten. Die Großen legten beim Eintreten Stolz und Hochmut ab. Die Bescheidenen erinnerten sich daran, wie Da'ud sie von diesem oder jenem Leiden kuriert hatte, und schlichen schüchtern über den Flur, sprachen ein wenig scheu ihr Beileid aus, wischten sich eine Träne aus dem Auge und zogen sich eilig wieder zurück. Juden aus sämtlichen Gemeinden Spaniens mischten sich mit christlichen Gesandten und moslemischen Würdenträgern, wurden ohne Ausnahme wieder einmal daran erinnert, daß angesichts des Todes alle Menschen gleich sind. Von all dem drang nur wenig zu Hai und Sari vor, die sich in ihrem grenzenlosen Schmerz zurückgezogen hatten. Erst viel später hörten sie von Da'uds Schwestern, daß ganz al-Andalus das Gedächtnis an seinen größten Juden geehrt hatte, wie man es noch nie zuvor erlebt hatte.
Der Kalif, sagte man, sei untröstlich. Tagelang hatte er sich in sein Studierzimmer eingeschlossen, jegliche Nahrung verweigert, nur ein wenig Wasser getrunken, bis seine Vertrauten schon um sein Leben bangten. Als seine Leibärzte sich ihm zu nähern versuchten, um den Reizhusten zu lindern, den er sich zugezogen hatte, verweigerte er ihnen den Zutritt. »Abu Suleiman war der einzige Arzt, zu dem ich grenzenloses Vertrauen hatte«, murmelte er verächtlich. Völlig niedergeschlagen zog er sich dann wieder in seine stummen Grübeleien zurück, und alle Angelegenheiten des Kalifats, dessen Schicksal er zu bestimmen hatte, waren ihm völlig gleichgültig.
Wie ein Gespenst bewegte sich Sari durch einen Nebel, die Arme um den Leib geschlungen, als müsse sie sich vor der Kälte der Nacktheit schützen, die sie fühlte. Von Zeit zu Zeit streckte sie die Hand aus, tastete mit ihren zarten Fingern die Leere ab, auf der Suche nach einer Gegenwart, die verschwunden war und ihre halbe Seele mitgenommen hatte. Verletzt und verletzlich, wie sie war, wollte sie gar nichts mehr, bat um nichts. Denn was sie wirklich wollte, das konnte ihr nichts und niemand wiedergeben. Nicht einmal die Zärtlichkeit ihres Sohnes konnte sie trösten. In seinem überwältigenden Schmerz über den Tod des Vaters, den Saris stumme Trauer noch vergrößerte, die herzzerreißender war als jedes Trauergeschrei, verfiel Hai in eine tiefe Melancholie, die ihn viele Wochen lang völlig handlungsunfähig machte.
Erst als die Überreste von Ralambos Expedition zurückkehrten, wachte er schlagartig aus seiner Lethargie auf. Es packte ihn eine wilde Wut gegen das grausame und ungerechte Schicksal bei dem Gedanken, daß ein so kurzer Zeitraum zwischen dem Tod seines Vaters und einer Überlebenschance gelegen hatte, und er stürzte sich mit aller Kraft auf die vor ihm liegende Herausforderung. Wie er es vorhergesehen hatte, war Ralambo nicht unter den wenigen Überlebenden der gefährlichen Reise. Der Kapitän des Schiffes, der zusammen mit dem Boten des Kalifen nach Córdoba geritten war, erklärte knapp:
»Alles ging gut, bis wir die Große Rote Insel erreichten. Dort gingen wir im Hafen vor Anker, und Ralambo verließ allein das Schiff. Am folgenden Tag kehrte er mit diesem Kästchen zurück, das fest verschlossen und versiegelt war und das er mir für die restliche Reise anvertraute, mit der strikten Auflage, es Euch zu überbringen, falls ihm etwas zustoßen sollte.«
Während er so sprach, reichte der Kapitän Hai ein grob geschnitztes Kästchen aus Rosenholz, dessen primitives Siegel noch unverletzt war.
»Aber die Pflanzen?« wollte Hai wissen.
»Leider, leider ist das eine ganz andere Geschichte. Wir folgten den Anweisungen Ralambos und segelten zur westlichen Spitze Südafrikas. Dort gingen wir in einer Bucht vor einer recht trockenen und unwirtlichen Gegend vor Anker. Als die Nacht hereinbrach, führte uns Ralambo auf nackten, leisen Sohlen ins Landesinnere, in ein Gebiet, das von den seltsamsten Pflanzen überwuchert war, die ich je zu Gesicht bekommen habe.«
»Wieso seltsam?«
»Sie wuchsen in großen Büscheln speerförmiger, spitzer Blätter mit sägezahnartigen Rändern.«
»Was ist daran so seltsam?«
Der Kapitän zögerte, wollte seine tief sitzende Angst vor allem Unbekannten nur ungern eingestehen.
»Versucht es mir zu erklären«, drängte ihn Hai.
»Nun, Meister, die Blätter waren so verdreht und gewunden wie die langen drohenden Finger einer bösen Zauberin. Aus den alten Blättern sprossen neue in Büscheln hervor. Diese Blätter waren schmaler, aber sie wanden und rollten sich auch in alle Richtungen wie die Arme eines todbringenden Kraken.«
»Ich verstehe Eure Sorge«, nickte Hai mitfühlend und ermutigte den Kapitän weiterzuerzählen.
»Ralambo bedeutete uns, dies seien die Pflanzen, nach denen man uns ausgesandt hatte, die wir mit den Wurzeln ausgraben und nach Córdoba zurückbringen sollten. Er drängte uns, schnell zu arbeiten, bevor der Mond aufging, weil wir zum Schiff zurückeilen und wieder in See stechen mußten, ehe man uns entdeckt hatte. Ich stellte Wachen rings um den Bereich auf und suchte dann in der Dunkelheit nach Ralambo, um ihm dabei zu helfen, die Büsche aus dem Boden zu reißen. Doch er war nirgends mehr zu finden. Ich suchte das gesamte Dickicht der Büsche nach ihm ab, die wie mit Klauen nach mir griffen, ebenso das ganze offene Gelände jenseits, um eine Gestalt zu finden, die sich durch die Dunkelheit bewegte. Aber er war nirgends zu sehen. Erst dann begriff ich, in welch großer Gefahr wir schwebten. Sie war so schrecklich und furchterregend, daß Ralambo um sein Leben gerannt war, trotz der Reichtümer, die ihn hier bei seiner Rückkehr erwartet hätten. In der kurzen Zeit, die uns noch blieb, stellte es sich als unmöglich heraus, die Pflanzen mit der Wurzel auszugraben, denn sie waren weit und tief in der harten und trockenen Erde verwurzelt. Also befahl ich meinen Männern, mit ihren Schwertern von den kleineren Büscheln so viele wie möglich abzuschlagen. Ich muß zugeben, daß wir die Beine in die Hand nahmen, ehe der Mond aufging, und uns mit Hilfe der Sterne – und einer glücklichen Intuition – zum Schiff zurückschlichen. Da Ralambo nicht mehr bei uns war, um sich auf der Überfahrt um die Pflanzen zu kümmern, die wir hatten abschlagen können, verdorrten viele auf der Reise. Ich habe Euch nur noch diese hier zu überbringen«, sagte der Kapitän schließlich und zog drei ziemlich dicke, ausgetrocknete Exemplare aus seinem Seesack, an denen wenige schlaffe, bräunlich-grüne Blätter gerade noch am Leben waren.
»Einen Eimer Wasser!« rief Hai sofort Yahya, dem alten Diener seines Vaters, zu. »Schnell, und ein scharfes Messer!«
Mit geübter Hand schnitt er das Holz bis zu einer Stelle zurück, an der er Saft vermutete, sah, daß im Inneren noch ein wenig Feuchtigkeit war, und tauchte die Pflanzen ins Wasser. Erst dann wandte er sich wieder dem Kapitän zu.
»Ich danke Euch von ganzem Herzen für Eure Bemühungen, auch wenn Ralambo Euch im Stich gelassen hat. Die Belohnung, die ihm zuteil werden sollte, fällt nun Euch und Euren Männern zu. Ihr mögt sie aufteilen, wie Ihr wollt.«
»Unter den wenigen, die diese Reise überlebt haben«, murmelte der Kapitän traurig. »Auf der Heimreise ist an Bord die Ruhr ausgebrochen.«
»Ich bin zutiefst betrübt, daß Menschenleben zu beklagen sind, aber ich hoffe, daß ich irgendwann beweisen kann, daß Eure Opfer nicht vergebens waren.«
Die Ankunft der Pflanzen und des Extraktes ließen nur kurz einen Funken von Interesse in Saris matten, blauen Augen aufleuchten. Für sie war alles zu spät gekommen. All das gehörte nun Hai, der sein eigenes Leben führen mußte. Ihr hatte die Welt nichts mehr zu bieten. Bei Da'ud hatte sie Sicherheit, Ruhe, Zufriedenheit und mit der Zeit auch die Leidenschaft einer großen und dauerhaften Liebe gefunden. Sie hatte nie gehofft, daß ihr ein solches Glück noch zuteil werden könnte. Wenn Da'ud nicht gewesen wäre, sie hätte niemals erfahren, daß es so etwas überhaupt gab, viel weniger noch, daß man es erleben konnte. Was mehr hätte sie sich ersehnen können? Sie hatte ihren Mann in den letzten schmerzlichen Jahren mit der gleichen Geduld unterstützt, die er ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte, als er ihr half, sich allmählich von den Schrecken ihrer Kindheit zu befreien. In der Zwischenzeit hatten sie sich geliebt und alles andere aus ihrer eigenen Welt ausgeschlossen. Nachdem diese Welt nun nicht mehr existierte, hatte sie nichts mehr zu wünschen als einen ruhigen Lebensabend und ein friedliches Ende, vielleicht noch durch Enkelkinder versüßt, die ihr Hai eines Tages bescheren würde. Genau wie Da'ud es gemacht hätte, würde sie diese Kinder an der Zypresse ihres Vaters messen, die groß und herrlich mitten auf ihrer Marmorinsel wuchs.
Teilnahmslos beobachtete sie, wie ihr Sohn mit größter Intensität, die von seiner unterdrückten Wut angetrieben wurde, die seltsamen grünen Pflanzen hegte und pflegte, die aus Afrika gekommen waren. Morgens und abends zog er sie aus dem Eimer und untersuchte an den Enden, ob sich schon neue Wurzeln bildeten. Dann tastete er die Blätter ab und konstatierte mit jedem Tag, wieviel fester sie geworden waren und wie sie sich aufzurollen begannen. Und doch spürte sie in ihm eine seltsame neue Rastlosigkeit, die seinem sanften und ruhigen Naturell bisher fremd gewesen war. Es war, als triebe er ziellos auf dem Meer, als habe er den Anker verloren, der sein Vater für ihn gewesen war, und müßte seinen eigenen festen Platz in einem sicheren Hafen erst noch wiederfinden.
Eines Freitagvormittags, nachdem er seine Pflichten für die Gemeinde erledigt hatte, trat Hai aus dem Männerflügel des Hauses und wollte gerade durch den Garten gehen, um bei seiner Mutter vorbeizuschauen, als Dalitha halb gehend, halb rennend den Flur entlang kam und in den Sonnenschein trat, die Arme gebeugt unter einem schweren Korb voller Feigen und Trauben.
»Wie freundlich von dir, an uns zu denken«, sagte er, als er ihr die Last abnahm und eine reife Feige auswählte, die er mit ihr teilte.
Sie lächelte ein wenig wehmütig, als sie die Hälfte nahm, die er ihr reichte. »Weißt du noch, wie du mir beigebracht hast, daß ich keine Angst haben sollte, Feigen zu essen?«
»Natürlich.«
»Du bist so lange nicht mehr bei uns im Haus draußen zu Gast gewesen. Wir dachten, du hättest uns vielleicht vergessen.«
»Das wiederum ist kein freundlicher Gedanke. Mutter ist jetzt sehr einsam, und mir sind so viele Pflichten zugefallen, daß ich kaum einen Augenblick für mich habe«, erwiderte Hai entschuldigend und mit ein wenig schlechtem Gewissen.
Betrübt und niedergeschlagen antwortete Dalitha: »Dann will ich dich nicht länger aufhalten. Ich muß jetzt gehen, wenn ich noch vor dem Sabbat zu Hause sein will«, fügte sie hinzu, und ihre tiefe Stimme war vor Verlegenheit ganz heiser.
»Du gehst nirgendwo hin!«
Hai packte sie fest am Handgelenk und zog sie spielerisch näher zu sich heran. »Ich schicke jemanden zu deinen Eltern, um ihnen mitzuteilen, daß du den Sabbat bei uns verbringst. Ah, wie schön es ist, dich wieder einmal zu sehen«, rief er aus und hielt seinen sanften Blick auf sie gerichtet, als sähe er sie zum ersten Mal. »Du hast dich verändert«, murmelte er, schob ihr glänzendes schwarzes Haar zurück, um die breite, wache Stirn freizulegen, ließ einen zarten Finger über die neue Fülle ihrer Wangen gleiten, trat dann einen Schritt zurück, um die Schönheit ihrer erwachsenen Gestalt zu bewundern – die festen jungen Brüste, deren Rundungen das Gewand zart formten, die schmale, biegsame Taille und den eleganten Schwung von Hüfte und Schenkeln. Zärtlich strich er ihr eine störrische Haarsträhne, die ihr in die riesengroßen dunklen Augen gefallen war, hinters Ohr und streichelte ihr dann mit dem Finger liebkosend über die Wange.
»Komm.« Er legte ihr den Arm um die Taille und spazierte gemächlich mit ihr am Wasserlauf entlang. »Wie geht es allen draußen im Haus?«
Während sie ihm vom Erfolg von Menahems Lexikon jenseits der spanischen Grenzen erzählte, von dem jungen Mann aus Sevilla, der aus unerfindlichen Gründen immer wieder bei ihnen vorbeischaute, von den Lavendel- und Senfpflanzen, die er seit dem Tod seines Vaters nicht mehr geerntet hatte, hörte er kein Wort, das sie ihm sagte. Er war wie gebannt von der Bewegung ihrer Lippen, die feiner waren als die ihrer Mutter, von der tiefen Nachdenklichkeit ihrer schwarzbraunen Augen. All das entfachte in ihm den Wunsch, sie in die Arme zu schließen und für immer und ewig eng an sich zu schmiegen. Nicht das Kind, mit dem er gespielt hatte, sondern die Frau, die sie geworden war, so frisch, so lebendig, so begehrenswert. »Und du?« fragte sie ihn jetzt mit heiserer Stimme. »Hast du schwer an deiner Trauer zu tragen?«
»Es ist ein Verlust, den nichts zu ersetzen vermag. Neben meinem persönlichen Verlust stehe ich immer wieder vor der Lücke, die der Tod eines Mannes von der Größe meines Vaters im öffentlichen Leben reißt. Er fehlt an allen Enden, hat seine Zeichen in so vielen Bereichen des menschlichen Strebens gesetzt.«
»Möchtest du die Leere füllen, die er hinterlassen hat?«
»Ganz sicher nicht! Ich habe weder seine subtile Schläue noch seinen Zynismus geerbt, Eigenschaften, die in den Kreisen, in denen er sich bewegt hat, unverzichtbar sind. Ich bin unfähig, Menschen und Situationen nach meinem Willen zu formen. Wichtiger noch, ich bin unfähig, unschuldige Menschen im Interesse irgendeiner größeren Sache zu opfern. Ich habe vor, mein Leben der Medizin zu widmen, in der bescheidenen Hoffnung, die Leiden der Menschen zu lindern, die sich hilfesuchend an mich wenden.«
Genau wie sie es als kleines Mädchen gemacht hatte, schaute Dalitha mit grenzenloser Bewunderung zu Hai auf.
»Siehst du die Holzstücke mit den seltsamen Blättern in dem Eimer da drüben?« fuhr Hai fort, eifrig bemüht, sie mit sich zu ziehen, ihr nahezubringen, welche Herausforderung diese Pflanzen für ihn bedeuteten. »Wenn Ralambo uns nicht alle an der Nase herumgeführt hat, dann liefern sie uns vielleicht ein Heilmittel, von dem wir niemals zu träumen gewagt hätten. Aber es ist noch viel zu tun; ehe wir sie genau erforschen können.«
»Was denn?« fragte sie, nachdem seine Begeisterung ihre Neugier erregt hatte.
»Erst einmal müssen wir sie hegen und pflegen, bis sie stark genug sind, um in den Boden gepflanzt zu werden und Wurzeln zu schlagen. Dann müssen wir ihnen Bedingungen schaffen, die denen ihres normalen Lebensraums so ähnlich wie möglich sind, insbesondere müssen wir sie vor der Winterkälte schützen. Wenn uns all das gelingt, müssen wir geduldig warten, bis sie genügend gesunde, fleischige Blätter bekommen haben, aus denen wir reichlich Saft gewinnen können. Erst nachdem dieser Saft zu Pulver eingedampft ist, können wir unsere Patienten mit dem Extrakt behandeln und die Ergebnisse untersuchen.«
»Was für ein langes, mühseliges Unterfangen! Ich könnte dir doch dabei helfen, nicht wahr, so wie ich dir mit dem Senf und dem Lavendel geholfen habe?« Ein Anflug ihrer alten Zaghaftigkeit kehrte zurück, als Dalitha fragend zu ihm, dem blauäugigen Helden ihrer Kindheit, aufblickte.
»Statt daß ich Gedichte schreibe, um dir zu helfen, wie ich unserer gemeinsamen Schwester geholfen habe?«
»Ich habe nicht Amiras Begabung für die Dichtkunst, aber Vater unterweist mich neuerdings in der Kunst des Übersetzens.«
»Gefällt dir das?«
»Ich bin noch nicht gut genug, um das beurteilen zu können. Aber Vaters Plan, arabische Werke ins Hebräische zu übersetzen, damit auch die Juden anderer Länder Zugang zu dem darin enthaltenen Wissen haben, scheint mir eine sehr lobenswerte Aufgabe zu sein.«
»Nun, da du eine so schwere Bürde auf deinen hübschen Schultern hast, wirst du wohl kaum noch die Zeit finden, meine jämmerlichen Pflanzen zu pflegen?« neckte sie Hai mit der jungenhaften Fröhlichkeit, die sie immer so gemocht hatte.
Sie sprachen so leichthin und so lange miteinander, daß sie gar nicht bemerkten, wie die Sonne am blassen Spätsommerhimmel immer tiefer sank. »Du liebe Güte, ich muß mich rasch baden und umkleiden, wenn ich noch rechtzeitig zum Sabbatgottesdienst kommen will«, rief Hai aus. »Mutter leistet dir sicher nur zu gern Gesellschaft, bis ich wieder zu Hause bin. Was für eine Freude, dich heute abend zum Essen zu Gast zu haben! Seit Vater gestorben ist, ist es hier so traurig und einsam geworden.«
Grenzenlose Liebe und Bewunderung strahlten aus den Augen der beiden Frauen – die eine nahe dem Ende ihres Lebensbogens, die andere zögernd am Anfang –, als Hai, der sich in sein dunkles, feierliches Gewand gekleidet hatte, sie noch beide küßte, ehe er zur Synagoge aufbrach, genau wie es bei den Ibn Yatoms immer schon Tradition gewesen war.
Von diesem Tag an war Dalitha häufig in dem großen Haus in Córdoba zu Gast. Als die ersten Winterfröste einsetzten, ließ Hai Djamilas alte Gemächer ausräumen und dort eine zusätzliche Feuerstelle einbauen, die die Wärme spendete, die seiner Meinung nach für das Überleben der Aloepflanzen notwendig war.
»Sie scheinen zu wachsen und zu gedeihen«, sagte er zu Dalitha, als sie die Eimer gemeinsam dorthin brachten. »Die Blätter sind nicht mehr bräunlich, sondern werden wunderbar grün. Aber wir halten sie doch besser bis zum Frühjahr noch in Wasser. Während ich im Hospital bin, werden meine Mutter und die Diener dafür sorgen, daß sie immer in einer angenehmen Temperatur stehen, aber ich möchte außerdem, daß du nach ihnen siehst, wenn du hier bist.«
Wenn sie bei den Aloen fertig war, setzte sich Dalitha zu Sari, bis Hai nach Hause kam, und hörte ihr zu, wie sie sich nach Art der Alten an vergangene Zeiten erinnerte. Aus ihren Erzählungen entstand vor Dalithas Augen ein Ebenbild Da'uds, das sich sehr von dem Bild unterschied, das sich Dalitha aus den Gesprächsfetzen gebildet hatte, die sie in ihrer Kindheit aufgeschnappt hatte. So lernte sie, wo die Quelle für Hais unendliches Mitgefühl war, für seine Zärtlichkeit – und seine Liebe. Wie sie sich danach sehnte, der Gegenstand dieser Liebe zu sein, von ihm so geliebt zu werden wie Sari von seinem Vater …
Sobald sie hörte, wie er das Haus betrat, loderte in ihr ein Feuer auf, ließ ihre Wangen strahlend glühen, ihre Augen vor Vergnügen und Erwartung aufblitzen. Dann zog sich Sari zurück, überließ die beiden ihren endlosen Gesprächen über die Patienten, die Hai geheilt hatte – wofür Dalitha ihn pries –, über diejenigen, die er nicht hatte heilen können – worüber sie ihn hinwegzutrösten versuchte –, oder über die Schwierigkeiten, die sie bei der Formulierung einer hebräischen Erklärung für ein einziges arabisches Wort hatte – wobei er ihr zu helfen versuchte.
»Es ist keine einfache Aufgabe, eine statische Sprache in eine dynamische zu verwandeln«, bemerkte er eines Tages, nachdem er einen besonders komplizierten Satz elegant für sie formuliert hatte. »Noch lieber würde ich die statische Liebe, die uns schon immer aneinander bindet, in eine dynamische verwandeln. Du bist so schön geworden, Dalitha, so begehrenswert, so …«
Sie fielen einander mit der Selbstverständlichkeit zweier Menschen in die Arme, die immer schon gewußt hatten, daß sie vom Schicksal füreinander bestimmt sind.
»Wir heiraten im Frühling, meine Liebste …«
»Ein großes Fest im Freien …«
»Eine fröhliche und freudige Feier …«
»Mit Blumen und Früchten …«
»Und Liedern und Tänzen …«
»Und allerlei schönen und wunderbaren Dingen …«
Zwischen den leidenschaftlichen Küssen sprudelten die Worte aus ihnen heraus.
Sari war entzückt über das Glück der jungen Leute. Sie war auch zufrieden über diese Verbindung, mit der für sie die Gerechtigkeit zwischen Djamila und ihr selbst wiederhergestellt – und somit der einzige Schatten, der sich je zwischen sie und ihren Mann gestellt hatte –, postum überwunden war. Wie würde man sich in der Gemeinde das Maul zerreißen! Sie lächelte vor sich hin. Was für eine Enttäuschung es für all die jungen Damen sein würde, die sich so aufgeputzt hatten, weil sie hofften, dem jungen Ibn Yatom aufzufallen, und für ihre Väter, die solch reiche Mitgift angehäuft hatten, um ihn zu locken! Wie schlecht sie ihn kannten. Wie wenig sie begriffen, wie genau er – zumindest in diesem Punkt – in die Fußstapfen seines Vaters trat. Sie konnte ihm kein größeres Glück wünschen als das, was sie mit Da'ud gefunden hatte. Und doch brauchte sie einige Zeit, bis sie es über sich brachte, auf Hais Vorschlag einzugehen und Menahem, Djamila und Amira zum Sabbat einzuladen, um die Eheschließung zu besprechen.
Die Einladung versetzte alle im Landhaus in hellen Aufruhr. Menahem hatte das Haus der Ibn Yatom nicht mehr betreten, seit man ihn aus der Stadt verbannt hatte, und auch Djamila war erst zu der Trauerwoche nach Da'uds Tod das erste Mal dorthin zurückgekehrt. Beide hatten schmerzliche Erinnerungen, die längst begraben waren und die keiner aufwecken wollte. Was Amira betraf, so konnte sie sich einfach ihren Halbbruder, den stets zu Neckereien bereiten Spielgefährten ihrer Kindheit, nicht als Vorstand dieses großen Hauses vorstellen, dem sie nun untergeordnet sein sollte. Denn auch ihre Hochzeit galt es zu besprechen.
Unter den Besuchern, die nach dem Tode Da'uds ihr Beileid bekundeten, waren auch der Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Sevilla und dessen Sohn Ishak gewesen. Der junge Mann hatte einen Blick auf Amira erhascht, die sich in den Frauengemächern aufhielt, und seither war er ein häufiger Gast im kleinen Landhaus gewesen, stets unter dem Vorwand, mit Menahem eine gewisse Theorie über die hebräischen Wortstämme mit drei Buchstaben zu diskutieren. Djamila hatte seine Absichten von Anfang an durchschaut und war daher nicht erstaunt gewesen, als er schließlich bei Menahem um Amiras Hand anhielt.
»Wenn ich auch Amira genauso sehr liebe wie meine eigene Tochter und sie von Kindesbeinen an aufgezogen habe, so habe ich doch nicht das Recht, über ihre Heirat zu entscheiden«, erklärte Menahem dem jungen Mann. »In Abwesenheit ihres Vaters, seligen Gedenkens, solltet Ihr diese Angelegenheit mit Hai besprechen.«
Darauf hatte Amira mit großer Empörung reagiert, und man hatte die Sache eine Weile auf sich beruhen lassen. Dalitha erinnerte sich daran, als nun die Familie über die Einladung nach Córdoba nachdachte. Sie hatte das Gefühl, es sei jetzt an ihr, ihrerseits ein wenig Saris Rolle zu übernehmen und zu verhindern, daß die Bande der Zuneigung, die Hai und Amira seit ihren Kindertagen vereinten, nun für immer zerrissen.
»Wir haben sogar zwei Eheschließungen zu besprechen«, sagte sie leichthin. »Laßt uns eine Doppelhochzeit feiern, ein großes Fest hier draußen im Garten, so fröhlich und offen, wie Mutter es mag.«
»Und was ist mit dem Glanz und Prunk der größten jüdischen Familie in ganz Spanien, in die du einheiraten willst?« erkundigte sich Menahem sachlich.
»Das hat doch nichts mit Hai und mir zu tun«, protestierte Dalitha.
»Vielleicht nicht, aber die Umstände erlegen euch gewisse Beschränkungen auf.«
»Im Gegenteil, wenn wir wirklich die größte Familie sind, dann können wir uns die Freiheit nehmen, den Lebensstil zu wählen, der unseren Neigungen am ehesten entspricht. Hai und ich haben schon längst entschieden, daß wir unsere Hochzeit hier draußen feiern möchten.«
Djamila wurde ganz warm ums Herz, als sie in ihrer jüngeren Tochter, die in so vielem anderem ihrem geduldigen, gelehrten Vater mehr ähnelte, einen Funken ihres eigenen unabhängigen Geistes aufflammen sah. Doch das Alter und die Erfahrung hatten sie gelehrt, ihre spontanen Eingebungen zu mäßigen und vorsichtig zu sein.
»Ich denke, wir sollten warten, bis wir alles mit Hai und Sari besprochen haben«, riet sie nüchtern.
»Es muß doch eine Möglichkeit geben, alle zufriedenzustellen«, beharrte Dalitha.
»Wie wäre es mit einer förmlichen Doppelhochzeit in Hais Haus für all die Würdenträger und dann einem fröhlichen Familienfest hier draußen für uns am Tag danach?«
»Ich heirate nicht unter dem Dach der Ibn Yatom!« platzte Amira heraus, und die ganze Bitterkeit über die Demütigungen ihrer Kindheit floß in diese wütende Weigerung.
Diesmal trat Menahem dazwischen. »Du kannst deine Herkunft nicht verleugnen, Kind. Im Gegenteil, du solltest stolz darauf sein. Was für Fehler dein Vater auch immer hatte, er war ein wirklich großer Mann. Es ist also nur recht und billig, daß du dich mit seinem Hause versöhnst, ehe du in Sevilla ein neues Leben beginnst.«
»Ich brauche mich nicht mit meinem kleinen Halbbruder zu versöhnen«, knurrte Amira. »Er ist vielleicht der Vorstand des Haushaltes, aber für mich bleibt er immer der kleine Junge, mit dem ich Murmeln gespielt habe.«
»Und warum willst du dann nicht in seinem – in unserem – Haus heiraten?« murmelte Dalitha, und ihre Stimme bebte vor Emotionen.
Gegen dieses Argument konnte Amira nichts vorbringen.
Schließlich stellten sich, als der Tag des Besuches gekommen war, die Sorgen, die jeder in der Familie aus ganz eigenen Gründen gehegt hatte, als völlig unbegründet heraus. Mit seiner natürlichen Schlichtheit und seiner wachen Aufmerksamkeit für die Gefühle anderer erreichte Hai, daß alle sich sofort wohl fühlten, und die Wärme und Herzlichkeit seines Willkommens vertrieb alle unguten Gefühle. Die gleiche fröhliche und lebhafte Atmosphäre, die immer bei den Familientreffen im kleinen Haus vor der Stadt geherrscht hatte, umfing sie nun auch hier am Sabbattisch im Haus der Ibn Yatom. Im Gegensatz zu Amiras Befürchtungen hatte sich Hais Einstellung ihr gegenüber in keiner Weise geändert. Nur die Umgebung war eine andere – was allen Anwesenden deutlich vor Augen führte, was weltliche Güter wirklich wert waren …
Hai begrüßte die Nachricht von Amiras bevorstehender Hochzeit und legte die Summe als Mitgift fest, die ihr Vater schon lange für sie bestimmt hatte. Dann war Menahem an der Reihe.
»Djamila und ich wünschen, daß Dalitha in aller Würde verheiratet wird.« Wie ähnlich ihnen das sieht, dachte Sari und erinnerte sich an das Geschenk zu Hais Bar Mizwa. »Wir werden älter, und die Landarbeit fällt uns zunehmend schwer. Jetzt, da unsere beiden Töchter aus dem Haus sind, haben wir beschlossen, nach Lucena zu ziehen, wo man mir an einer der religiösen Akademien eine Stelle als Lehrer für hebräische Philologie und Grammatik angeboten hat. So fällt also unser kleines Häuschen an dich zurück, Hai, und das Einkommen daraus soll die Mitgift unserer Tochter sein.«
»Aber das Haus gehört doch euch!« rief Hai in einiger Verwunderung. »Hat Vater euch nicht mitgeteilt, daß er es von den Erben der verstorbenen Witwe Tamara für euch gekauft hat?«
»Nein«, antwortete Menahem abrupt, schmerzlich berührt davon, daß sein früherer Mäzen ihn über diese Transaktion in Unwissenheit gelassen hatte, eine letzte Beleidigung noch von jenseits des Grabes.
»Ich glaube, er wünschte euch eine Sicherheit für eure alten Tage zu geben«, sagte Hai sanft.
»Um so besser also«, erwiderte Menahem mit einer Spur Ironie. »Dann ist das Landhaus also eine echte Mitgift, nicht nur eine symbolische. Was unsere Sicherheit im hohen Alter betrifft, so ist die Sorge deines verstorbenen Vaters überflüssig gewesen. Die Akademie hat uns in dieser Beziehung ausreichende Zusicherungen gemacht.«
Manch eine Stirn wurde in den jüdischen Gemeinden von Córdoba und auch Sevilla gerunzelt, als die Nachricht von der Doppelhochzeit die Runde machte. Aber Hai trat allen Beteiligten, seien sie nun erlaucht oder bescheiden, mit einer solch angeborenen Freundlichkeit und zauberhaften Leichtigkeit, mit Takt und Eleganz entgegen, daß die Gäste, die zu dem förmlichen Empfang eingeladen waren, der mit aller traditionellen Zurückhaltung des Hauses Ibn Yatom gegeben werden sollte, sogar ein wenig neidisch waren, nicht an dem Ereignis teilnehmen zu können, das Gesprächsstoff aller Klatschrunden war: an der schlichten und spontanen Freudenfeier der Familie im bescheidenen Landhaus vor der Stadt am nächsten Tag.
Der Gesandte, den der Kalif als seinen Vertreter zur Hochzeitsfeier des Vorstehers der jüdischen Gemeinde von Córdoba geschickt hatte, brachte zusätzlich zu dem traditionellen Geschenk von zwölf goldenen Tellern noch die Aufforderung für Hai mit, sich nach den Hochzeitsfeierlichkeiten beim Herrscher einzufinden. Der ignorierte diese Aufforderung, so lange er konnte, mußte ihr aber schließlich Folge leisten.
Am Tag vor der Audienz malte sich das junge Paar genau aus, welche Fragen der Kalif Hai wohl stellen könnte, und gemeinsam formulierten sie die Antworten, die sie für angemessen hielten – Antworten, die so ehrlich, geradeheraus und naiv waren wie sie selbst. Aber Hai wirkte ungewöhnlich angespannt, als er seine junge Frau an sich zog. Zum ersten Mal seit ihren Kindertagen war es nun Dalitha, die ihn beruhigte und leise ermutigte, und all die Liebe und Zuneigung, mit der Hai sie in vielen Jahren umgeben hatte, floß nun zu ihm zurück, nahm die Furcht von ihm und stärkte seinen Geist.
Der Kalif wurde von einem lästigen Reizhusten geschüttelt, als man Hai in sein Gemach bat. Er wirkte gebrechlich und bleich, lag ganz in die Seidenkissen versunken da, die müden Augen tief in den Höhlen, und ließ seinen Blick unverwandt auf dem hübschen jungen Mann ruhen, der vor ihm stand, suchte im tiefen Blau seiner Augen, in dem braunen Haar mit seinen roten Schattierungen, in dem offenen Ausdruck des hellhäutigen Gesichts eine Spur, eine Bewegung, die ihn ein wenig an den Vater erinnern würde. Er war sichtlich enttäuscht.
»Ihr seid also Hai, von dem ich schon so viel gehört habe, der Sohn des einzigen Mannes in meinem ganzen Königreich, den ich geliebt und dem ich vertraut habe.«
Hai verbeugte sich angesichts dieses königlichen Tributs an seinen verstorbenen Vater.
»Ihr ähnelt ihm überhaupt nicht.«
»Nein, Herrscher der Gläubigen. Ich habe starke Ähnlichkeit mit meiner Mutter.«
»Aber als bedeutender Arzt tretet Ihr in seine Fußstapfen. Euer Lehrer sagt mir, daß Ihr Großes für die Zukunft versprecht.«
»Ich muß mich erst noch beweisen.«
»Euer Platz unter meinen Hofärzten erwartet Euch.«
Hais Antwort auf das Angebot des Kalifen, die er sorgfältig mit seiner liebenden Gattin einstudiert hatte, floß ihm glatt von den Lippen: »Ich fühle mich zutiefst geehrt von dem Vertrauen, das Ihr in mich setzt, o Herrscher der Gläubigen, meine aber dessen noch nicht würdig zu sein. Ich habe noch sehr viel zu lernen, bis ich eine so ehrenvolle Stellung bekleiden kann.«
»Euer Vater, möge er in Frieden ruhen, war nicht viel älter als Ihr, als mein Vater, seligen Gedenkens, ihn als Hofarzt einstellte.«
»Mein Vater hat mich an Wissen und Weisheit bei weitem übertroffen.«
»Der Meinung ist Abu Sa'id nicht. Im Gegenteil. Ihr seid zu bescheiden.«
»Ich bin mir meiner Grenzen deutlich bewußt.«
»Nicht Eurer Grenzen, mein junger Gelehrter. Vielmehr der Grenzen des menschlichen Wissens.«
»Beides, o Herrscher der Gläubigen. Ich halte es für meine Pflicht, diese Grenzen zu erweitern.«
»Das war auch immer mein Ehrgeiz, wie Euer Vater sehr wohl wußte. Wie wollt Ihr dieses hehre Ziel erreichen?«
»Durch Studium, durch Experimente und durch sorgfältige Beobachtung.«
»Zweifellos unter anderem durch Beobachtung der Pflanzen, die wir aus Afrika geholt haben?«
»Unter anderem«, bestätigte Hai.
»Aber das hindert Euch nicht daran, mein Hofarzt zu werden.«
Während sich das fein gesponnene Netz des Kalifen um ihn zusammenzog, machte sich Hai bittere Vorwürfe, daß er allen Bemühungen seines Vaters getrotzt hatte, ihn in die Kunst der geschickten Verhandlung und Einflußnahme einzuweihen, die er so meisterlich beherrscht hatte. Kein getreuer Untertan, wieviel weniger ein Jude, durfte es wagen, dem Befehl des Kalifen, am Hofe zu dienen, nicht Folge zu leisten – es sei denn, er war geschickt genug, ihn vom Gegenteil zu überzeugen.
»Ich bin noch nicht erfahren genug, um das Vertrauen zu verdienen, das Ihr in mich setzt«, wiederholte Hai, und seine offensichtliche Aufrichtigkeit war das einzige Mittel, den Kalifen zu überzeugen.
»Noch nicht, sagt Ihr«, sinnierte der Kalif, scheinbar überzeugt. »Wann denn?«
Den Bruchteil einer Sekunde betrachtete Hai den Kalifen als Patienten – beobachtete ihn mit äußerster Konzentration und raschem Auge. Der beständige Husten, das bleiche, graue Gesicht, die zusammengesunkene Gestalt – Auszehrung, ohne jeden Zweifel. In einem fortgeschrittenen Stadium und unheilbar.
»In einem oder zwei Jahren, o Herrscher der Gläubigen.«
»Ein Jahr, und keinen Tag länger! Dann werdet Ihr mich von dieser Krankheit heilen, die mir jeden Tag mehr Kraft raubt und für die mir niemand ein Heilmittel zu verschreiben vermag. Bis dahin werdet Ihr das Wundermittel hergestellt haben, das wir aus Afrika geholt haben. Vielleicht kann mir das helfen?«
»Das kann ich Euch nicht versprechen. Bisher wissen wir nur sehr wenig darüber, nicht einmal, ob die Pflanzen in unserem Klima überleben werden.«
»Wir sprechen im Frühjahr darüber. Inzwischen beauftrage ich Euch, den Palast weiterhin mit dem Großen Theriak zu versorgen. Diese Aufgabe kann ich keinem anderen anvertrauen als nur dem Sohn des Abu Suleiman – oder sollte ich Abu Hai sagen?«
»Ich werde Euch nicht enttäuschen, o Herrscher der Gläubigen.«
Hais Einschätzung der Krankheit seines Herrschers sollte sich als äußerst präzise herausstellen. Bis zum Frühjahr war al-Hakam tot.
31
Wie beinahe jeden Donnerstag in den fünf Jahren seit Da'uds Tod stand Sari früh auf und ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie sich ankleidete. Ungehindert rannen sie ihr über die bleichen Wangen, die trotz ihrer Jahre noch völlig faltenlos waren. Die Zeit hatte die verzweifelte Sehnsucht nicht ausgelöscht, die sie stets überkam, wenn sie sah, wie Hai an Stelle seines Vaters seinen Beruf ausübte, die Sehnsucht nach der Zeit, als sie und ihr Mann das ganze Leben miteinander geteilt hatten, ohne Einschränkungen gegeben und genommen hatten, als jeder für den anderen sorgte, in der innigen Vertrautheit der Liebe, die sie verband. Nur die Aufgabe, die Hai ihr bei seinem allwöchentlichen Sprechtag in Córdoba zugewiesen hatte, war ihr ein geringer Halt im Leben gewesen, hatte sie gehindert, völlig in die tödliche Lethargie der Trauer zu versinken.
Sie hatte sich um die zahllosen Patienten zu kümmern, die bereits vor der Morgendämmerung vor der Tür des Hauses Ibn Yatom kauerten, ehe man die Diener anwies, sie einzulassen. Es waren so viele, daß sie alle leeren Räume des großen Hauses bis auf den letzten Platz anfüllten und Sari und die Bediensteten in ruhigem Ton darauf bestehen mußten, daß sich die Patienten in geordneter Manier niederließen. Wenn Hai von seinem kleinen Landsitz vor der Stadt eintraf, standen sie alle auf, reckten die dünnen, schmutzigen Arme flehend zu ihm hin. Mit freundlichem Lächeln schritt er durch die Menge, und schon allein seine Gegenwart beruhigte sie. Wenn er dann in seinem Zimmer – Da'uds ehemaligem Arbeitszimmer – war, achtete Sari darauf, daß sie alle wieder an ihre Plätze gingen und geduldig warteten, bis sie an der Reihe waren.
Als sie an diesem Morgen ihre Blicke über die jammervolle Schar schweifen ließ, fiel ihr eine Frau auf, deren Haltung sie trotz ihres schlichten grauen Gewandes und des dicht verschleierten Gesichts von der übrigen Menschenmenge abhob, die sich rings um sie herum seufzend und klagend regte. Irgend etwas an der stolzen Neigung ihres Kopfes, an ihrem kaum verhehlten Abscheu über die Nähe so vieler geplagter, übelriechender Körper, an ihren in den weiten Ärmeln gut sichtbaren zarten weißen Händen, die sicherlich keine harte Arbeit kannten, all das verriet eine wohlhabende Frau von Stand, die es sich wohl hätte leisten können, Hai zur Behandlung in ihr Heim zu bitten. Als Hai erschien, um seinen nächsten Patienten aufzurufen, deutete Sari mit einer diskreten Handbewegung auf die Frau, doch er gab vor, das Zeichen nicht zu bemerken. Wer immer sie war, sie mußte warten, bis sie an der Reihe war.
Mittag war schon vorüber, als die Dame schließlich in Hais Arbeitszimmer vorgelassen wurde. Mit einer raschen Handbewegung warf sie ihren Schleier ab, war sich sicher, daß der Sohn des Da'ud ibn Yatom sie erkennen würde, als sie die goldenen Locken schüttelte, die ihr über den Rücken fielen.
»Prinzessin Subh!« rief Hai aus, denn er erinnerte sich lebhaft an die Beschreibung, die sein Vater von der Schönheit des glänzenden Haares der baskischen Prinzessin gegeben hatte, das sie weich umfloß, sich mit ihr bewegte, das die Sonne zu reinem goldenem Licht aufzulösen schien. »Ich hätte nie erwartet, Euch hier zu sehen.«
»Da Ihr Euch so störrisch weigert, am Hof meines Sohnes zu erscheinen und unser Leibarzt zu sein, bleibt mir keine andere Wahl, als Euch hier aufzusuchen.«
»Was bringt Euch zu mir, geehrte Prinzessin?«
»Ihr müßt doch von der schrecklichen Wendung gehört haben, die die Dinge im Reich meines Sohnes Hisham, des rechtmäßigen Herrschers, genommen haben.«
»Es erreichen mich von Zeit zu Zeit Gerüchte, aber meine Arbeit nimmt mich so sehr in Anspruch, daß ich kaum die Muße habe, sie zu überprüfen.«
»Dann will ich Euch aus erster Hand die Wahrheit berichten. Der Regent Ibn Abi'Amir ist im Begriff, die Verwaltung des Kalifates von unseren Palästen in Córdoba und der Medina Azahara in den neuen Palast zu verlagern, den er sich errichtet hat und – mit unglaublicher Unverschämtheit – Medina Azahira genannt hat. Das ist der letzte Schritt in seinem Plan, Hisham von allen Angelegenheiten des Reiches abzuschneiden und zu demonstrieren, wer im Kalifat wirklich die Macht hat. Um diese unglaubliche, widerrechtliche Übernahme der Macht von Hisham, dem rechtmäßigen Herrscher, zu rechtfertigen, hat er das Gerücht in Umlauf gebracht, mein Sohn habe beschlossen, ein Leben in Frömmigkeit zu führen, und habe ihm die Herrschaft über das Reich übertragen.«
Puterrot vor Empörung spuckte Prinzessin Subh ohne große Zeremonie auf die Bodenkacheln – ein Ausdruck ihres glühenden Hasses auf den offiziellen Vormund ihres Sohnes. Dieses Gefühl stand der leidenschaftlichen Liebe in nichts nach, die sie für den Regenten nach al-Hakams Tod – wenn nicht, wie manche meinten, schon vorher – empfunden hatte. Während ihrer Witwenzeit hatte er sie beschützt und beraten, hatte ihren elfjährigen Sohn vor den Machenschaften von al-Hakams Bruder bewahrt, als der mit einer Verschwörung dem einzigen männlichen Erben des toten Kalifen den Thron zu entreißen versuchte.
»Wie sehr der Regent uns ausgenutzt hat, da wir so schwach und vertrauensvoll waren! Wie geschickt er das Kind verdorben hat, zu Ausschweifungen der Sinne verlockt hat, kaum daß sich der erste dunkle Flaum auf seiner Oberlippe zeigte. Jetzt, mit sechzehn Jahren, ist Hisham bereits übersättigt von allen Lockungen, die der königliche Harem bieten kann. Ihn langweilen diese profanen Vergnügungen so sehr, daß er sich nach anderer Befriedigung umsieht. Schon hat er sich Männern zugewandt, und während ich zusehen muß, wie er unaufhaltsam in schlimmste Verderbtheit hinabgleitet, fürchte ich, daß ihn schon bald nach den reinen, unschuldigen Körpern kleiner Jungen gelüsten wird …«
Während er sich den Wortschwall der Prinzessin geduldig anhörte, dankte Hai Gott für die Eingebung, sich von den herrschenden Kreisen Córdobas fernzuhalten. Der Erzintrigant und meisterliche Ränkeschmied Ibn Abi'Amir hatte sich vom Verwalter der Güter und Einnahmen des einzigen Sohnes von al-Hakam zum Posten des hajib, des Großkämmerers, des mächtigsten Würdenträgers im ganzen Reich, hochgearbeitet. Um sich die Unterstützung von Ghalib, dem mächtigsten Militär des Kalifates, zu sichern, hatte er listig dessen Tochter geheiratet. Als nächstes hatte er sich daran gemacht, die konservativen muslimischen Juristen auf seine Seite zu ziehen, eine Aufgabe, bei der ihm seine juristische Ausbildung hervorragende Dienste geleistet hatte. Mit eigener Hand hatte er den gesamten Text des Koran abgeschrieben und danach die Tat begangen, die in Hais Augen das übelste Verbrechen auf seinem skrupellosen Weg zur Macht war: Er hatte Werke, die von unbeugsamen Vertretern einer starren Auslegung der muslimischen Gesetze für gotteslästerlich erklärt wurden, aus der Bibliothek entfernt, die al-Hakam und Da'ud unter so großen Mühen zusammengetragen hatten, und sie ohne viel Federlesens verbrennen lassen. Wie viele Leichen den Weg des Ibn Abi'Amir säumten, wußte Hai nicht, wollte es auch gar nicht wissen … Aber die Prinzessin, die ihrem Zorn Luft gemacht hatte, wandte sich nun direkt an ihn.
»Ihr seid der Sohn des Mannes, der Vertrauter meines armen verstorbenen Mannes und dessen Vaters vor ihm war, Ihr seid trotz Eurer Jugend ein berühmter Arzt, und so wende ich mich nun an Euch mit der verzweifelten Bitte, meinen Sohn aus dem Zustand tiefster Lethargie und Machtlosigkeit zu befreien, zu dem ihn sein Vormund auf so zynische Weise verurteilt hat. Alles, was Hisham noch geblieben ist, sind die Segenssprüche auf ihn als den Kalifen in den Freitagsgebeten und sein Name auf den Münzen des Kalifats, dem er nur mehr zum äußeren Schein vorsteht.«
»Geehrte Prinzessin, ich würde Euch nur zu gern helfen, aber ich bin nur ein bescheidener Arzt, kein Höfling, der seinen Einfluß geltend machen kann.«
»Ich wende mich an Euch als Arzt. Ich möchte, daß Ihr Hisham einen Trank verschreibt, der ihn aus seiner Starrheit aufrüttelt, der seine Neigung zu sinnlichen Vergnügungen löscht und ihn dazu anregt, endlich gegen den Mann vorzugehen, der ihm seine Macht geraubt hat.«
Es war ein unglaubliches Ansinnen! Seit Menschengedenken hatten Herrscher Ihre Leibärzte um Liebestränke gebeten, aber das Gegenteil? Das war noch nie dagewesen. Außerdem war Hai so wenig wie eh und je gewillt, irgendeinen Kontakt zum Hof aufzunehmen, der wie nie zuvor von Intrigen und Verschwörungen heimgesucht war. Erst vor einigen Tagen hatte ihm ein christlicher Söldner im Dienst des Regenten, den er wegen eines schweren Falls von Ruhr behandelte, angedeutet, es stünde eine Konfrontation zwischen Ibn Abi'Amir und seinem Schwiegervater General Ghalib unmittelbar bevor, dem Mann, der ihm vor einigen Jahren erst zur Macht verholfen hatte. Der unrechtmäßige Machthaber hatte bereits Berbertruppen aus Afrika zur Verstärkung gerufen, und nach Meinung des Soldaten gab es keinen Zweifel über das Ergebnis dieser Konfrontation. Ibn Abi'Amir war so siegessicher, daß man ihn schon den Titel hatte aussprechen hören, den er nach triumphaler Schlacht zu führen gedachte: al-Mansur bi-Allah, ›Der, den Gott siegreich gemacht hat‹. Was konnten sich die Prinzessin und ihr verweichlichter Sohn angesichts eines so intelligenten, mächtigen, schlauen und skrupellosen Menschen erhoffen, dessen ungeheurer Ehrgeiz jegliches Hindernis aus dem Weg fegte? Trotz seiner Skepsis versuchte Hai mit professioneller Integrität zu antworten.
»Ich muß Eure Bitte überdenken, geehrte Prinzessin. In meiner kurzen Erfahrung als Arzt hat man mich bisher noch nie gebeten, ein Mittel zu verabreichen, das genau die gegenteilige Wirkung eines Aphrodisiakums hätte. Ich muß die Sache sorgfältig bedenken. Inzwischen möchte ich jedoch vorschlagen, daß man den Herrscher der Gläubigen zu regelmäßiger Bewegung anregt und ihm nahelegt, andere Interessen zu kultivieren, die seinen Neigungen entsprechen.«
»Er hat keine, außer der Befriedigung seiner Sinne.«
»Sicherlich könnt Ihr, seine Mutter, die ihn besser als jeder andere Mensch kennt, ihn zu irgendeiner anderen Beschäftigung verlocken – Falkenjagd, Schach, die Komposition eines prinzlichen Verses?«
»Den er seinem neuesten Liebhaber widmen kann, meint Ihr? Das habe ich alles bereits versucht. Ich komme heute aus purer Verzweiflung zu Euch.«
»Ich werde die Werke der großen Meister der Antike studieren, in dem aufrichtigen Wunsch, Euch zu helfen. Doch ich bezweifle, daß irgendein Mittel Wirkung zeigen kann, wenn Eurem Sohn der Wille fehlt, selbst etwas zu verändern.«
Mit einem resignierten Seufzer erhob sich die Prinzessin zum Gehen. Der einzige Mensch im Reich, an dessen Aufrichtigkeit sie keinen Zweifel hegte, hatte ihre Meinung bestätigt. Es gab nichts mehr zu sagen. Langsam legte sie ihren Schleier wieder an, ehe sie einen wohlgefüllten Beutel aus dem Ärmel zog und auf Hais niedrigen damaszener Tisch setzte. Hai nahm den Beutel sofort auf und gab ihn ihr zurück.
»Donnerstags ist mein Rat kostenlos«, sagte er. »Verteilt das Geld unter den Armen, die Euch unterwegs begegnen.«
Die Nacht war schon weit fortgeschritten, als endlich der letzte Patient das Haus verließ. Sari war noch auf, wartete darauf, mit Hai einen Spaziergang am Wasserlauf entlang zu machen, wie sie das so oft mit Da'ud getan hatte, und noch ein wenig mit ihm zu reden. Wie vorauszusehen war, erkundigte sie sich gleich nach dem heimlichen Besuch der feinen Dame. Hai mußte sie nicht erst darum bitten, niemandem etwas von all dem zu erzählen, ehe er ihr seine Unterhaltung mit Prinzessin Subh wiedergab. Die Diskretion war tief in der Familie verwurzelt.
»Wie seltsam«, meinte Sari, als Hai seinen Bericht beendet hatte, »wie seltsam, daß es ausgerechnet eine Baskin war, die al-Hakam so spät noch einen Sohn geschenkt hat.«
»Eine Vorliebe, die er vielleicht von seinem Großvater geerbt hat.«
»Ja. Die gleiche unwiderstehliche Anziehungskraft, die aus der Verschiedenheit kommt – eine blonde Schönheit in atemberaubendem Kontrast zu den glutäugigen Arabermädchen und den sinnlichen Slawinnen, die seinen Harem bevölkerten. Weißt du«, sinnierte sie, »ich habe mich oft gefragt, ob es auch dieser Unterschied war, oder vielmehr der Reiz des Neuen, der deinen Vater an jenem Tag auf dem Sklavenmarkt so magisch zu mir hingezogen hat.«
»Nicht sein Mitgefühl mit dir?«
»Das natürlich auch. Aber all das liegt in der fernen Vergangenheit, und die Erinnerung macht uns nur traurig. Wir wollen von unseren heutigen Sorgen sprechen. Sag mir, mein Sohn, in welchen Palast wirst du nun den Großen Theriak liefern?«
»In den alten Palast von Córdoba, wie immer, bis ich andere Anweisungen bekomme.«
»Anweisungen von wem? Von der Marionette, die sich Kalif nennt, oder von dem zukünftigen al-Mansur, der die Macht hat?«
»Ich glaube nicht, daß es so weit kommen wird. Der Regent ist zu schlau, um sich in Dinge einzumischen, die auf die Ausübung der Macht keinen Einfluß haben. Die Tatsache, daß er seit dem Tod des Kalifen die Jugend, Unerfahrenheit und Willensschwäche des Jungen noch nicht ausgenutzt hat, um Kalif zu werden, ist Beweis genug, welchen Weg er zu wählen gedenkt. Indem er die Macht hinter dem Thron bleibt, macht er sich nicht so viele Feinde, als wenn er das Herrscherhaus der Omaijaden offen herausforderte.«
»Ich hoffe, daß du recht behältst, und bete, daß du dich nie zwischen den beiden entscheiden mußt.«
»Das, liebe Mutter, ist genau der Grund, warum ich mich vom Hofe fernhalte.«
»Eine wahrhaft weise Entscheidung, mein Sohn. Und wie geht es deinen Aloen?«
»Sie wachsen und gedeihen besser, als wir es je erwartet hätten. Treiben eine Unmenge scharlachroter Blüten, die wie glühendrote Eisen aus dem dichten, gerollten Blätterwerk hervorwachsen. Es ist, als wäre das Haus in einen leuchtenden grünen und roten Umhang gehüllt.«
»Ich hatte befürchtet, daß die Pflanzen in dem strengen Winter letztes Jahr Schaden genommen hätten.«
»Wir auch, aber sie waren beinahe unbeschadet, wieder ein Beweis, wie zäh und lebensstark sie sind. Noch ein Jahr, und dann sollten wir genügend neue Blätter haben, um den Saft aus den älteren Blättern abzuzapfen und in der Augustsonne zu trocknen. Wenn alles gut geht, ist dann der Extrakt im Winter so weit, daß wir ihn den Patienten geben können.«
»Ich habe mich gefragt, warum du keine Versuche mit dem Extrakt gemacht hast, den der Kapitän in dem alten Holzkästchen mitgebracht hat.«
»Ich war oft in Versuchung, aber ich wollte keine Behandlung anfangen, ehe ich nicht sicher wußte, daß wir aus unserer eigenen Pflanzung ständig Nachschub bekommen würden. Die Erfahrung, die wir mit Vater gemacht haben, hat mich davon abgehalten.«
»Du brennst sicher darauf, endlich mit den Beobachtungen anzufangen.«
Hai blieb stumm. Seine langen schmalen Finger zupften nervös an einem störrischen Zweig, der aus der ansonsten sorgfältig beschnittenen Silhouette der Zypresse ragte.
»Was hast du auf dem Herzen, mein lieber Junge?«
»Was mir schon immer Sorge gemacht hat. Wir wissen nach wie vor nicht, ob die Aloe-Art, zu der Ralambo unsere Männer geführt hat, wirklich diejenige ist, aus der die ursprüngliche Probe des Extrakts gewonnen wurde, den wir Vater verabreicht haben. Selbst wenn Ralambo Wort gehalten hat, werden sich dann die Eigenschaften des Extrakts als so stark erweisen, wie wir es gern glauben möchten? Vielleicht ist alles ein makabrer Irrtum, die vergebliche Suche nach einer Wunderheilung, die es gar nicht gibt, gar nicht geben kann?«
»Wir können nur abwarten«, seufzte Sari mit der geduldigen Resignation der Älteren. Um Hais Gedanken abzulenken, fragte sie ihn nach Amram. Wie ging es ihrem Enkel Amram, diesem lebhaften, energiegeladenen Kind, das an Intelligenz, da war sie sich ganz sicher, jeden anderen Fünfjährigen in Córdoba, ja in ganz Spanien übertraf? Plapperte er nicht bereits fließend in arabischer und hebräischer Sprache sowie im örtlichen romanischen Dialekt? Und besaß seine arabische Kalligraphie nicht eine Eleganz, die man bei einer so jungen Hand selten fand? Hais Augen strahlten, als er den Namen seines Sohnes hörte, aber er fühlte sich trotzdem bemüßigt, die liebende Bewunderung seiner Mutter ein wenig zu zügeln.
»Amram hat nur das aufgenommen, was er in seiner unmittelbaren Umgebung sieht und hört. In seinem Alter ist nichts einfacher als das. Mit einer Mutter, die ihre Zeit mit der Übersetzung gelehrter Werke aus dem Arabischen ins Hebräische verbringt, mit einem Großvater, dessen schöne Schrift im ganzen Kalifat berühmt war, mit dem ständigen Kommen und Gehen von Patienten aus ganz Spanien in unserem Haus hat er sich sein Wissen spielend leicht angeeignet, es beinahe wie selbstverständlich in sich aufgenommen.«
»Nicht jedes Kind hat diese Fähigkeit«, beharrte Sari störrisch wie immer. Und wie immer umarmte Hai sie liebevoll, ehe sie sich beide ins Haus begaben und zu Bett gingen.
32
In der Dämmerung eines frühen Winterabends erschien Stella, Amrams frühere Kinderschwester, an der Tür des Landhauses. Sie war in viele wollene Schichten gehüllt und zitterte vor Fieber. Ihre Hautfarbe war von Natur aus dunkel, und sie war immer schon erschreckend dünn gewesen. Die großen braunen Augen, die ihr schmales, knochiges Gesicht beherrschten, wirkten nun um so eindringlicher. Ihre Wangen waren von der Krankheit eingefallen, und sie bot ein Bild des Jammers.
Schnell brachte Dalitha sie ins Haus, und trotz Hais eiserner Regel, daß alle Patienten warten mußten, bis sie an der Reihe waren, bestand sie darauf, daß er Stella sofort untersuchte. Mit der für ihn typischen Zartheit wickelte er die junge Frau aus den vielen Kleidungsstücken, in die sie sich gehüllt hatte, und half ihr auf den Diwan, auf dem er seine Patienten zu untersuchen pflegte. Schon seine Berührung, als er ihr die Hand auf die fieberheiße Stirn legte, schien sie zu beruhigen. Dann hustete sie, einen harten, trockenen Husten, und ihre Augen blickten ihn flehend an, fanden Trost in seiner Freundlichkeit. Als sie erneut hustete, nahm er ihr die Hand von der Stirn und übte einen leichten Druck auf ihre flache, magere Brust aus, die sich unter seinen empfindsamen Händen krampfartig hob und senkte. Plötzlich horchte er auf. Nicht wegen des Hustens oder des hohen Fiebers. Vielmehr hatte er mit den Fingerspitzen einen Knoten ertastet, einen harten Knoten, der ihr offensichtlich keine Schmerzen bereitete. Er deckte sie wieder zu, stand auf und wandte ihr den Rücken zu, um seine Bestürzung zu verbergen, bereitete die Instrumente vor, die er brauchte, um sie zur Ader zu lassen. Wegen ihrer allgemein zarten Konstitution entnahm er aus der Knievene nur die Mindestmenge Blut, die notwendig war, um sie von dem Überschuß an heißen, trockenen Körpersäften zu befreien, die ihre Adern verstopften.
»Das hat beinahe überhaupt nicht weh getan«, lächelte Stella schwach, erleichtert und unendlich dankbar. Dann verschrieb ihr Hai ein Mittel, das den Husten lockern würde – zuerst Honigwasser, und wenn das nicht half, ein Gemisch aus Honig und Butter.
»Ich möchte Euch auch empfehlen, möglichst nur Speisen zu Euch zu nehmen, die kühl und feucht sind, zum Beispiel Spinat, Melonen, Gurken, Salat, sowie Aprikosen, Pfirsiche, wenn Ihr sie in dieser Jahreszeit noch bekommen könnt. Macht Euch keine Sorgen. Es geht Euch bestimmt schon bald besser. Zieht Euch warm an, und ich schicke einen meiner Burschen mit Euch, damit Ihr sicher nach Hause kommt.«
Nachdem sie gegangen war, hielt er ein wenig inne, ehe er den nächsten Patienten hereinbat. Er brauchte Zeit zum Nachdenken. Stella hatte sich nur eine schwere Wintererkältung zugezogen. Die würde schon bald wieder vergehen. Aber was dann? Der harte Knoten in ihrer Brust, den sie offensichtlich noch nicht bemerkt hatte, mußte herausgeschnitten werden, sobald das Fieber nachließ. Hoffentlich hatte die Krankheit noch keine anderen Körperteile in Mitleidenschaft gezogen – doch das konnte er nicht sagen. Er wußte auch nicht, ob Abu'l Kasim es für nötig befinden würde, die ganze Brust zu entfernen. Die arme Frau, sie war ohnehin nicht mit übergroßen Reizen gesegnet, und nun sollte ihr auch noch ein Attribut ihrer Weiblichkeit genommen werden … Aber sie war jung, hatte ihr Leben noch vor sich. Ein entstellter Körper war besser als ein Körper mit einer tödlichen Krankheit. Und wer konnte es sagen, vielleicht würde ein aufmerksamer Mann die Schönheit ihres eindringlichen Blicks wahrnehmen, die Wärme hinter ihrem wenig attraktiven Äußeren spüren? Er mußte alles versuchen, um sie zu heilen. Aber konnte er das? Vielmehr, konnte Ralambos Extrakt sie heilen, den er nun in großen Mengen zur Verfügung hatte? Wie seltsam, daß die Frau, die Dalitha geholfen hatte, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern, die erste Patientin sein würde, an der dieses Mittel erprobt würde. Es schmerzte ihn, daß es so war, aber da das Schicksal entschieden hatte, sie mit dieser Krankheit zu schlagen, hatte er nun zumindest die Möglichkeit, einen Versuch der Heilung zu unternehmen …
Stella fühlte sich in Hais geschickten Händen so sicher, daß sie ohne Zögern seinem Vorschlag zustimmte, den Knoten in ihrer Brust unverzüglich zu entfernen. Sie fragte nicht nach dem Warum und Weshalb. Wenn Hai es sagte, war ihr das genug. Und da sie ihn nicht fragte, sah er keinen Grund, ihr zu erklären, daß das Risiko für ihre Gesundheit – ja, für ihr Leben – auch nach dem Schnitt noch bestehen würde, denn er konnte nicht sagen, wie tief die bösartige Krankheit schon in ihren Körper eingedrungen war. Warum sollte er jedoch einen so grauenerregenden Schatten auf ihr Leben werfen, ehe er alles in seiner Möglichkeit Stehende getan hatte, um sie zu heilen?
Vor der Operation ließ Hai sie selbst zur Ader, um ihren Körper von der schwarzen Galle zu befreien, und er bereitete auch den betäubenden Trank aus Opium, Baldrian und Honig in einem solchen Mischungsverhältnis zu, daß sie unter Abu'l Kasims Messer keine Schmerzen verspüren, aber auch keine Nebenwirkungen erleiden würde. Als der Chirurg in das Zimmer eintrat, das für die Operation vorbereitet war – das man auf Hais Geheiß gründlich gereinigt hatte –, lag seine Patientin schon betäubt und reglos auf dem Marmortisch, auf dem er seine Operationen vornahm.
Mit geschickten, sicheren Bewegungen schnitt Abu'l Kasim den gesamten Knoten mit dem umgebenden Gewebe heraus. Dann ließ er das Blut eine Zeitlang frei strömen und dämmte anschließend den Fluß ein, indem er die umgebenden Blutgefäße abdrückte. Während er begann, die Wunde zu versorgen, drängte ihn Hai, all seine Kunstfertigkeit zu benutzen, damit die Narbe, die dort bleiben sollte, wo sonst die sanfteste, weichste Rundung einer Frau war, so glatt wurde, wie es seine geschickten Hände nur erreichen konnten. Wenn sie bekleidet war, würde niemand bemerken, daß die Rundung fehlte, denn Stellas Brüste waren von Natur aus recht flach gewesen, und man konnte sie unter der Bekleidung kaum ausmachen. Aber was war in ihrer Hochzeitsnacht? fragte er sich, während er zusah, wie der Chirurg die klaffende Wunde kauterisierte und verband. Nach der Operation beschäftigte die gleiche, unausgesprochene Frage die Gedanken der beiden Ärzte: Hatte die bösartige Geschwulst auch andere Körperteile befallen, oder hatten sie sie entfernt, solange sie noch auf einen Ort begrenzt war?
Stella war noch immer benebelt von dem Betäubungsmittel und erschien Hai erstaunlich leicht, als er sie hochhob und zu einer bereitstehenden Trage brachte, auf der sie zu seinem kleinen Landhaus transportiert wurde. Er selbst ritt neben ihr her, um ständig über sie wachen zu können. Als sie zu Hause ankamen, brachte Dalitha die junge Frau in einem sauberen, frischen Zimmer unter. Obwohl seine Frau selbst neben der Patientin wachte, die die ganze Nacht unruhig schlief, kam auch Hai immer wieder herein, um nach ihr zu sehen und ihr wohl bemessene Mengen Opium und Baldrian zu geben, die ihr über den schlimmsten Schmerz hinweghelfen sollten. Er verband die Wunde im Lauf der nächsten Tage regelmäßig neu, versorgte sie mit frischen Galläpfeln, den Schalen von Granatäpfeln, Lakritzrinden und natürlich frischem Aloesaft, dessen heilende Wirkung bekannt war. Er achtete peinlich auf erste Anzeichen von Wundbrand, die sich als Folge der Operation zeigen könnten, doch Abu'l Kasim hatte so sorgfältig gearbeitet, daß diese Angst sich als unbegründet herausstellte.
Hais Besuche waren die Glanzpunkte in Stellas ereignislosen Tagen. Die Fürsorge, die sie aus seinen tiefblauen Augen las, die zarte Berührung seiner Hände auf ihrem Körper waren für sie das wirksamste Heilmittel, das er verschreiben konnte. Hätte sie ihn nicht mit solcher Ehrfurcht betrachtet, so hätte sie seine Hand auch auf die andere, die gesunde Brust pressen mögen, um auch dort die süße und erregende Berührung seiner Finger zu spüren. Von seiner ständigen aufmunternden Gegenwart gestärkt, konnte sie schon bald eine Weile aufsitzen und Nahrung zu sich nehmen.
Hai verschwendete keine Zeit und begann ihr sofort Ralambos Extrakt zu verabreichen, gab ihr danach gleich einen süßen Honigtrunk, um die Bitterkeit herunterzuspülen, die sie schaudern machte. Er wartete, angespannt und geduldig, und er mußte nicht lange warten. Schnell kehrten Stellas Kräfte zurück, genau wie die seines Vaters. Ralambo hatte ihn nicht betrogen. So erleichtert er auch war, diesen Verdacht nicht mehr hegen zu müssen, so war er sich zum anderen darüber im klaren, wie gefährdet seine Patientin immer noch war. Nur wenn sie den Extrakt ständig einnahm und dann eine beträchtliche Zeit gesund blieb, konnte er vermuten, daß diese Behandlung wirksam war. Aber nur vermuten, denn er würde niemals feststellen können, ob die Operation allein oder der Extrakt allein oder eine Kombination von beidem die bösartige Geschwulst eingedämmt hatte. Er würde unendliche Geduld brauchen und müßte viele ähnliche Fälle sorgfältig beobachten, um eine vorsichtige Schlußfolgerung ziehen zu können.
Als Dalitha etwa drei Wochen nach der Operation mit einem vollbeladenen Frühstückstablett und einem fröhlichen Lächeln in Stellas Zimmer trat, fand sie die Patienten auf und angekleidet. Unter unzähligen Dankesbekundungen gab Stella ihr zu verstehen, sie könne nun die Gastfreundschaft der Ibn Yatoms nicht mehr länger mißbrauchen. Sie wolle nach Hause gehen und in Kürze wieder ihre Arbeit als Kinderschwester bei anderen wohlhabenden Familien in Córdoba aufnehmen, eine Arbeit, die sie sehr liebte.
»Bist du ganz sicher, daß du gesund genug bist, uns schon zu verlassen?«
»Ich habe mich nie besser gefühlt.«
»Das freut mich sehr. Ich spreche nur kurz mit Hai. Er hat wahrscheinlich noch ein Medikament für dich.«
»Was?« rief Hai aus und fuhr sich erstaunt mit den Händen durch das Haar, als sie ihm Bericht erstattete. »Stella geht? Das ist unmöglich. Sie kann nicht gehen. Ich brauche sie hier. Ich muß sicher sein, daß sie den Extrakt genauso einnimmt, wie ich es ihr verschrieben habe, damit ich die Wirkung beobachten und die Dosis verändern kann …«
»Aber Hai, Liebster«, unterbrach ihn Dalitha, »Stella ist ein Mensch, kein lebloses Studienobjekt. Sie hat ihr eigenes Leben, eigene Bedürfnisse und Wünsche. Da du ihr nicht sagen kannst, wie lange sie noch zu leben hat, hast du auch nicht das Recht, ihr das Vergnügen vorzuenthalten, das sie in ihrem schlichten Alltagsleben findet. Solange sie sich dazu in der Lage fühlt, muß es ihr gestattet sein, ein normales Leben wie jeder andere Mensch zu führen.«
»Ich weiß, aber trotzdem …«
Schließlich einigte man sich. Stella würde genug Extrakt für eine ganze Woche nach Hause mitbekommen sowie strikte Anweisungen, wie sie ihn einzunehmen hatte. Wenn er aufgebraucht war, würde sie bei Hai mehr abholen. So konnte er überprüfen, wieviel sie von dem Pulver einnahm, und sie unter Beobachtung halten. Als Woche um Woche verging und Stella regelmäßig stark und gesund bei ihm erschien, um sich ihren Extrakt abzuholen, war Hai allmählich zufrieden. Jeder Tag, jede Woche voller Leben und Gesundheit war ein Sieg im Kampf gegen den Tod.
Hai berichtete seinen Kollegen im Hospital kaum etwas von seinem ersten Experiment. Nur Abu'l Kasim erkundigte sich ab und zu nach dem Zustand der Patientin und lächelte wie Hai mit vorsichtigem Optimismus. An dem Tag, als ihm Stella schüchtern mitteilte, sie werde bald heiraten, leuchtete Hais Gesicht vor Freude auf. Ihr zukünftiger Ehemann sei Sklave in dem Haushalt gewesen, in dem sie zuletzt angestellt war, erzählte sie ihm. Inzwischen war er frei und hatte vor, sich auf einem kleinen Stück Land niederzulassen, das ihm sein früherer Herr in Anerkennung seiner treuen Dienste überschrieben hatte. Nein, meinte sie und beantwortete die unausgesprochene Frage, die sie in Hais Augen las, ihr körperlicher Mangel machte ihm nichts aus. Er liebte sie, liebte ihre Wärme und ihr Verständnis für menschliche Schwächen. Ihr Körper sei nur eine Hülle für diese geliebte Seele. Was tat es da zur Sache, wenn er ein wenig beschädigt war?
Hai und Dalitha waren Ehrengäste bei der bescheidenen Hochzeitsfeier. Von allen Anwesenden war nur Hai bewußt, vor welchem Schicksal er die Braut bewahrt hatte. Es war einer der schönsten Augenblicke seines Lebens. Was konnte mehr Befriedigung verschaffen als die Gewißheit, ein junges Lebewesen aus den Klauen des Todes gerissen zu haben, und das große Privileg, dieses Leben aufblühen zu sehen?
Wenige Monate später kam Abu'l Kasim im Hospital zu Hai geeilt, als der gerade einen ausgemergelten alten Mann untersuchte, den man soeben eingeliefert hatte und dessen Magen so grotesk aufgedunsen war, daß er unter dem Druck kaum noch atmen konnte. Dicke blaue Adern traten unter der Haut des wie eine Trommel straff gespannten Bauches hervor, und es schien, als müsse der Leib des Ärmsten jeden Augenblick zerbersten. Den Studenten, die Hai auf seinen Rundgängen begleiteten und begierig seinen Worten lauschten, erklärte Hai:
»Dies ist ein klassischer Fall von Aszites oder Bauchwassersucht, wenn sich wegen einer Geschwulst in den Gedärmen zwischen diesen und dem Bauchfell Wasser ansammelt. Unser Bestreben muß sein, das auffälligste Symptom zuerst zu behandeln, nämlich die Wassersucht. Dieser Fall ist zu akut, als daß wir dem Patienten ein Diuretikum verabreichen könnten. Wir haben keine andere Wahl, als das Bauchfell zu punktieren, um die Flüssigkeit abfließen zu lassen und den Druck auf den gesamten Organismus des Patienten zu verringern. Geht Abu Wafid holen«, befahl er einem der Studenten. »Er besitzt großes Geschick in diesem Verfahren. Beobachtet ihn genau bei der Arbeit. Ihr könnt viel von ihm lernen.«
Abu'l Kasim, der abgewartet hatte, bis Hai mit seinen Erläuterungen zu Ende war, trat nun hinzu und nahm ihn zur Seite. »Ich bin gekommen, um mit Euch einen anderen Fall zu besprechen, aber als ich Eure Diagnose hörte, habe ich mich unweigerlich auch für diesen Fall interessiert. Würdet Ihr eine Behandlung mit dem Aloe-Extrakt in Erwägung ziehen?«
»Ich denke nicht. Die abführende Wirkung auf die Gedärme, die bereits von Krankheit befallen sind, würde den Patienten nur noch mehr schwächen.«
»Aber er könnte doch trotzdem etwas von den lebensspendenden Eigenschaften der Pflanze in sich aufnehmen? Wenn er ein wenig kräftiger würde, wäre es vielleicht möglich, die Geschwulst zu entfernen.«
»Ich bezweifle, daß die Aloe ihn dafür genügend stärken könnte.«
»Es ist einen Versuch wert. Es ist unsere einzige Hoffnung.«
»Meiner Meinung nach eine eitle Hoffnung.«
Und tatsächlich, kaum hatte sich der alte Mann von der Punktierung seines Unterleibs ein wenig erholt, da überkam ihn ein andauernder Durchfall, in dem sich auch mehr und mehr Blut zeigte. Wie immer hatte sich Hais Einschätzung bewahrheitet. Die ernsten Gesichter der beiden Männer, die auf die jammervolle Gestalt herabschauten, war eine stumme Bestätigung seines bevorstehenden, unvermeidlichen Todes.
Abu'l Kasim machte sich Sorgen um eine seiner Basen, eine Witwe, die seiner Frau beiläufig erzählt hatte, sie hätte einen Knoten in ihrer Brust ertastet.
»Ich vermute, der Fall liegt ähnlich wie bei Stella, und ich möchte gern, daß Ihr sie genauso behandelt. Würdet Ihr Euch bereit erklären, sie zu untersuchen?«
»Es überrascht mich, daß Ihr meint, fragen zu müssen«, erwiderte Hai. »Aber wie wollt Ihr sie dazu überreden, sich von mir und nicht von Euch, ihrem Verwandten, behandeln zu lassen?«
»Das überlasse ich meiner Frau.«
Und so geschah es. Wie Stella legte auch Abu'l Kasims Base ihr Schicksal vertrauensvoll in Hais erfahrene Hände und stimmte zu, daß der Chirurg den empfohlenen Schnitt durchführte. Während ihrer Genesung besuchte Hai sie jeden Tag, und allein schon seine Gegenwart, seine tiefe Menschlichkeit beruhigten, ermutigten und ermunterten sie. Wie Stella nahm auch sie den bitteren Extrakt genau nach Hais Vorschriften ein. Und zumindest für einige Zeit war auch sie vor einem Schicksal errettet, das sie nicht einmal ahnte.
Als aus Monaten Jahre wurden, wagten sich sowohl Hai als auch Abu'l Kasim zu der Annahme vor, daß das andauernde Wohlbefinden der beiden Frauen, die sie behandelt hatten, zumindest ein vorläufiger Beweis für die Wirksamkeit des Extraktes in diesen speziellen Fällen sein könnte. Aber sie vermochten sich nicht zu erklären, worin der Grund dafür bestand. Sie konnten nur vermuten, daß sie die Geschwulste der beiden Frauen in ihrem ersten Stadium entfernt hatten und daß daher die Lebenskraft, die Ralambos Aloe ihnen einflößte, das Entstehen weiterer Geschwulste verhinderte. Aber wie lange, wenn überhaupt? Dieser Zweifel blieb.
Inzwischen hatten die Frauen von Córdoba – hochwohlgeboren oder von niedrigem Stand – viel geredet und getratscht. Hais Name war in aller Munde – seine Freundlichkeit, seine Sanftheit, sein Mitgefühl – und sein Charme. Seltsamerweise wuchs der Anteil von Frauen unter seinen Patienten beträchtlich, und viele Frauen kamen nur unter fadenscheinigen Vorwänden zu ihm. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, daß sie allein um des Vergnügens willen erschienen, seine Finger auf ihren Brüsten zu spüren – denn auch davon flüsterten die Frauen … Erst als eines Donnerstags ein Ehepaar in sein Arbeitszimmer trat, der rotgesichtige Ehemann ungehobelt, die Frau ängstlich hinter ihm, dämmerte ihm die Wahrheit.
»Die Freundinnen meiner Frau haben sie so sehr in Aufregung versetzt«, begann der Mann in unverhohlen feindseligem Ton, »daß sie nun überzeugt ist, einen harten Abszeß in der Brust zu haben. Wenn ihn irgend jemand dort gespürt haben sollte, dann doch wohl ich, ihr Ehemann, aber ich habe nichts bemerkt. Das ist alles nur eine Einbildung ihrer lüsternen Phantasie, eine Entschuldigung, damit sie Eure Hände überall an ihrem Körper spüren kann, wie all die anderen, die wegen dieser skandalösen Vergnügung zu Euch gerannt kommen. Nun, ich werde dieser schändlichen Verirrung ein Ende setzen. Untersucht meine Frau, wenn es recht ist, aber in meiner Gegenwart, um diese verworrenen Gedanken ein für allemal aus ihrem Hirn zu verbannen.«
Zitternd vor Verlegenheit und unendlicher Scham, knöpfte die Frau ihr Hemd auf, ließ kaum genug Raum, daß Hai mit der Hand hineingreifen konnte. Während er ihre langen, hängenden Brüste abtastete, schaute ihm der Ehemann über die Schulter und begutachtete jede seiner Bewegungen genau. Die Frau wandte schamhaft die Augen ab. Plötzlich erstarrte Hais Gesichtsausdruck. Seine Hand kehrte noch einmal zu einer Stelle zurück, die er bereits abgetastet hatte, und obwohl er fest zudrückte, verspürte die Frau keinen Schmerz. Damit war die Untersuchung beendet. Während die Frau ihre Kleidung richtete, wandte sich Hai ihrem Mann zu und sagte mit fester Stimme: »Eure Frau hat recht. In ihrer linken Brust ist eine Geschwulst von erheblicher Größe. Ich empfehle, daß sie unverzüglich entfernt wird.«
»Unsinn«, bemerkte der Mann verächtlich.
»Ich kann Euch versichern, daß ein Irrtum ausgeschlossen ist.«
»Das ist unmöglich. Ich hätte es gespürt.«
»Nicht unbedingt. Die Geschwulst sitzt ziemlich tief.«
»Da habt Ihr sie also ordentlich betastet, Ihr elender Lüstling? Ich glaube Euch kein Wort. Und selbst wenn Ihr recht hättet, dann hat sie ihr Leben bisher mit diesem Ding gelebt und kann auch so weiterleben.«
»Nicht ohne schwerwiegendste Folgen.«
»Ihr erwartet doch nicht ernsthaft, daß ich mich an einer Frau mit nur einer einzigen Brust erfreue?«
»Besser eine Frau mit nur einer Brust als gar keine Frau«, erwiderte Hai trocken, entrüstet über die Brutalität dieses Mannes.
»Was meint Ihr damit? ›Gar keine Frau‹?«
»In einigen Fällen können solche Geschwulste, wenn man sie nicht behandelt, katastrophale Folgen haben.«
»Wenn Allah ihr Schicksal so bestimmt hat, dann soll es so sein.«
»Im Gegenteil. Allah hat sie zu mir geführt, damit ich ihr zu helfen versuche, wie ich schon anderen in ähnlichen Fällen geholfen habe.«
»Allah würde sie nicht zu einem verwerflichen Ungläubigen führen, um sie zu retten. Komm«, befahl er und zerrte seine Frau hinter sich her, »wir müssen diesem Sündenpfuhl entfliehen.«
Wenige Monate später erfuhr Hai, daß die Frau nach schrecklichen Schmerzen am ganzen Leibe angefangen hatte, Blut zu spucken, und bald darauf an einem Fieber gestorben war.
Doch Stella und Abu'l Kasims Base, die regelmäßig den Extrakt einnahmen, waren noch am Leben und bei guter Gesundheit …
War die Krankheit bereits zu tief in den Organismus der Frau vorgedrungen gewesen, als daß er sie noch hätte retten können, oder hätte er zusammen mit dem Chirurgen auch ihr helfen können? Diese Frage ließ sich nicht aus Hais Gedanken vertreiben, sie lauerte ihm im Schlaf auf und erregte in ihm eine Unruhe, die seiner ruhigen und sanften Natur völlig fremd war. Weder Dalitha mit ihrer Milde noch der aufgeweckte kleine Amram mit seinen vorwitzigen Fragen konnten ihm mehr als nur kurze Augenblicke der Ruhe schenken.
33
Monat für Monat voller Ungewißheit und Fragen waren vergangen, als eines Donnerstags Prinzessin Subh wieder bei Hai erschien. Wie beim erstenmal war sie dicht verschleiert, diesmal aber kam sie in Begleitung einer anderen Frau, die ähnlich gekleidet war. Hai war äußerst unwohl zumute, als er die beiden Frauen ins frühere Studierzimmer seines Vaters führte. Offensichtlich waren die Großen – wenn auch nicht die Mächtigen – wild entschlossen, ihn nicht aus ihren Fängen zu lassen … Die Prinzessin stellte ihre Begleiterin als Herzogin Sabina vor, ihre Tante aus dem Baskenland, deren ruhmreiche Vorfahren, wie sie ihn erinnerte, 778 in Roncesvalles Karl den Großen in die Flucht geschlagen hatten. Obwohl das schon von Natur aus schmale Gesicht der Herzogin eingefallen und grau war und sie tiefe dunkle Ringe unter den Augen hatte, trotz ihrer ausgemergelten Gestalt nahm sie all ihre Kraft zusammen, um so hochmütig aufzutreten, wie es ihrem Rang entsprach.
Mit der aufrichtigen Sorge, für die Hai von all seinen Patienten so geliebt und geachtet wurde, hörte er der Herzogin aufmerksam zu, während sie ihm erklärte, warum sie von so weit her angereist war, um ihn um Rat zu fragen. Ständige Schmerzen im Oberbauch und im Rücken raubten ihr nun schon einige Zeit den Schlaf. Sie hatte jeglichen Appetit verloren, und – dabei starrte Prinzessin Subh mit einem besonders vorwurfsvollen Blick zu Hai hinüber – es war ein seltsam harter Knoten in einer ihrer Brüste zu spüren. Angst legte sich wie ein Schleier vor ihre ruhigen grauen Augen, als sie fortfuhr: »Unser Arzt hat mir nur wenig Hoffnung gemacht. Er hat vage von einer bösartigen Krankheit gesprochen, für die es keine Heilung gibt.«
»Ich habe darauf bestanden, daß die Herzogin Euch aufsucht«, warf Prinzessin Subh ein. »Die Frauen von Córdoba behaupten, das Wundermittel, das Ihr mit Hilfe meines armen verstorbenen Gatten aus Afrika hierhergeholt habt, könne solche Geschwulste heilen.«
Hais ungutes Gefühl wuchs. Gerüchte oder Phantasie oder schlicht Wunschdenken, vielleicht angeregt durch die zweifelhaften, vielleicht auch nur zeitweiligen Erfolge, die er bei Stella und Abu'l Kasims Base erzielt hatte, hatten aus ihm eine Art Wunderheiler gemacht, dem man Kräfte zuschrieb, die er nicht besaß und die er auch nicht im Traum für sich beansprucht hätte. Ein Blick auf die eingefallene Gestalt der baskischen Adeligen reichte, um ihn davon zu überzeugen, daß es kaum noch eine Chance gab, sie zu retten. Er konnte sich jedoch nicht weigern, sie zu behandeln, und da ihre Nichte ihr Hoffnungen gemacht hatte, mußte er sich letztendlich vor ihr, der Mutter des Kalifen, verantworten, wenn seine Behandlung fehlschlug. Prinzessin Subh und ihr verderbter Sohn waren zwar der wirklichen Macht im Reich beraubt, verfügten aber zweifelsohne noch über Mittel und Wege, um seinen Ruf zu ruinieren, wenn nicht gar eine drastischere Strafe über ihn zu verhängen … Eine offene ehrliche Erklärung war also vonnöten.
»Die Frauen von Córdoba schreiben mir Kräfte zu, die jeder Arzt seit der Zeit der Antike gerne besessen hätte, aber leider habe weder ich sie, noch hat je ein anderes Mitglied unseres Berufsstandes über sie verfügt. Es gibt viele Arten von bösartigen Krankheiten. Manche Geschwulste können wir erkennen und gelegentlich durch Herausschneiden beseitigen, wenn sie noch nicht lange bestehen, wenn sie nicht nahe bei einem lebenswichtigen Organ sitzen und wenn der Patient stark genug ist, um die Operation zu überleben. Die Existenz anderer Geschwulste, die unseren Augen verborgen sind, können wir manchmal aus den Symptomen ableiten, die sie hervorrufen, aber bei diesen besteht wenig Hoffnung auf eine Heilung. Hippokrates war der Meinung, man solle einige besser unbehandelt lassen, weil die Operation, mit der man sie entfernt, gefährlicher ist als das langsame Wachstum dieser Geschwulste. In bestimmten Fällen kann unter Umständen, wenn die Geschwulst in einem frühen Stadium entfernt wurde, der Extrakt, den die Prinzessin erwähnt hat, helfen, um ein weiteres bösartiges Wachstum einzudämmen, doch wir wissen auch nicht, ob das wirklich so ist und wie lange es so bleibt. Wir werden noch über viele Jahre Versuche unternehmen und Beobachtungen machen müssen, um die Wirksamkeit des Extraktes festzustellen und die Bedingungen zu erforschen, unter denen man auf ein positives Ergebnis hoffen darf. Die Medizin, verehrte Damen, ist keine exakte Wissenschaft. Das Phänomen, mit dem wir es zu tun haben, ist so vielschichtig wie die menschliche Natur. Was einer Person hilft, kann bei einer anderen wirkungslos, wenn nicht gar schädlich sein. Ein Arzt muß ständig aus dem Schatz seiner Erfahrungen schöpfen und mit Hilfe der Intuition entscheiden, welches Heilmittel er in jedem einzelnen Fall verschreiben soll, und es dann auf die Reaktion seines Patienten abstimmen. Daher kann sehr wohl der Extrakt, den wir mit der großzügigen Hilfe des verstorbenen Gatten Eurer Nichte, des edlen Kalifen al-Hakam II., aus Afrika geholt haben, in einigen Fällen eine Heilung bewirken, in anderen jedoch vollkommen versagen. Ich habe noch keine genügende Zahl von Patienten damit behandelt, um Euch – oder sonst jemandem – verläßliche Aussichten machen zu können.«
»Ich habe meine arme, leidende Tante nicht die lange Reise von Bilbao hierher machen lassen, um einem wissenschaftlichen Vortrag zu lauschen«, erwiderte die Mutter des Kalifen heftig. »Wir suchen Heilung, keine Vorlesungen.«
»Zusammen mit Abu'l Kasim werde ich alles in meiner Macht Stehende tun, um der Herzogin zu helfen. Aber ich möchte noch einmal wiederholen und betonen, daß meine Macht begrenzt ist. Die Schmerzen, über die sie klagt, machen diesen Fall komplizierter als die anderen, die ich behandelt habe, und ich kann Euch keinen Erfolg versprechen. Nachdem ich all das gesagt habe«, fuhr Hai ernst fort und wandte sich nun direkt an die Herzogin, »seid Ihr trotzdem bereit, mich einen Versuch wagen zu lassen?«
»Eure Aufrichtigkeit gefällt mir, junger Mann. Sie flößt mir Vertrauen ein. Und da es keine andere Möglichkeit gibt, wäre ich eine Närrin, wenn ich mich ihr verweigerte.«
»Ich danke Euch, Herzogin. Wir wollen unverzüglich beginnen. Ihr nehmt zunächst eine sehr kleine Menge des Aloe-Extraktes. Wenn ihr keine üblen Nebenwirkungen verspürt, werden wir die Dosis erhöhen, um Euch soweit zu stärken, daß Ihr die Operation aushalten könnt, die Abu'l Kasim durchführen wird, um den Knoten aus Eurer Brust zu entfernen. Danach werden wir Euren Zustand wieder überprüfen und entscheiden, wie die weitere Behandlung aussehen soll.«
Als die beiden Frauen sich zum Gehen anschickten, war Hai zu sehr mit dem ernsten Gesundheitszustand der Herzogin beschäftigt, als daß er darauf geachtet hätte, ob die Prinzessin nun besänftigt war oder nicht.
Die Wirkung des Extraktes auf die Herzogin übertraf Hais Erwartungen. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit kam sie wieder zu Kräften, ihr Appetit kehrte zurück, und ihre Gesichtsfarbe war nicht mehr ganz so aschgrau. Nur die Rückenschmerzen blieben. Dafür verschrieb ihr Hai einen Trank, der genügend Opium enthielt, um die Schmerzen zu lindern und ihr Schlaf zu schenken. Sie war, wie er schon bald feststellte, eine Frau von grimmiger Entschlossenheit und einem eisernen Willen. Immer wenn er sie besuchte, hielt sie sich unter seinem musternden Blick stolz und aufrecht, versäumte es nicht, sich erst freundlich nach ihm zu erkundigen, ehe sie von sich sprach. Sie beklagte sich selten, und zu keiner Zeit gestattete sie es sich, niedergeschlagen zu sein oder die Hoffnung zu verlieren. Sie war fest entschlossen, alles Menschenmögliche zu tun, um ihre Gesundheit wiederzuerlangen, unterzog sich ohne Zögern der Operation durch Abu'l Kasim und überraschte sowohl den Chirurgen als auch Hai damit, wie schnell sie sich von dem Eingriff erholte. Der ständige Schmerz in Oberbauch und Rücken verging jedoch nicht.
Hai besuchte die Herzogin jeden Abend, betrat den alten Palast in Córdoba diskret durch eine kleine Seitentür, die direkt in die Apotheke führte. Seine Anwesenheit dort überraschte niemanden, denn er kam, genau wie zu Zeiten des Kalifs al-Hakam, regelmäßig, um die Vorräte an Großem Theriak zu überprüfen. Seine Patientin nahm den Extrakt regelmäßig ein, und er verabreichte ihr nach wie vor Opiat, wenn es nötig war, um ihre Schmerzen zu lindern und ihr einen ruhigen Nachtschlaf zu sichern. Wenn sie ausgeruht war, schien sie erstaunlich wohlauf zu sein. Sie aß mit großem Appetit, und allmählich rundeten sich ihre hohlen Wangen wieder, und auch ihr Körper wirkte weniger ausgezehrt. Es schien wahrhaftig ein Wunder zu sein.
Sabinas Augen leuchteten jedesmal auf, wenn Hai ihr Zimmer betrat. Ihren Retter nannte sie ihn, konnte nicht genug Worte finden, um ihm zu danken und ihn zu preisen. Wenn er sich nach den Schmerzen erkundigte, wischte sie diese Frage mit einer Handbewegung beiseite.
»Nichts, was ich nicht ertragen könnte«, antwortete sie dann und spielte ihre Beschwerden herunter, um sich selbst und alle Menschen in ihrer Umgebung davon zu überzeugen, daß ihr beinahe nichts fehlte. Hais Gewissen warnte ihn, er müsse ihren Optimismus dämpfen. Es war noch viel zu früh, um von einer vollständigen Heilung zu sprechen. Die Geschwulst, die Abu'l Kasim herausgeschnitten hatte, war schon weit in ihr Fleisch eingedrungen, und der ständige Schmerz, den sie verspürte, konnte sehr wohl darauf hinweisen, daß bereits andere Organe befallen waren, die zu entfernen zu gefährlich wäre. Aber seine tiefe Sympathie für diese unerschrockene Frau hielt ihn zurück, genau wie sein Mitgefühl ihn auch daran gehindert hatte, Stella und der Base von Abu'l Kasim das volle Ausmaß der Gefahr zu enthüllen, in der sie geschwebt hatten. Wenn er durch seine Bemühungen für die Patienten nur einen Aufschub erwirkte, ihnen die Möglichkeit schenkte, jeden Augenblick voll auszukosten, ohne daß eine ständige, unaussprechliche Furcht ihnen jeden Atemzug, jede Geste überschattete. Es würde später noch Zeit genug für Leiden und Schrecken sein …
Eines Tages gegen Mittag überwachte er gerade das Eindicken des Aloesaftes, da erspähte er eine Gruppe von Reitern, die von Córdoba auf sein Haus zu kamen. Als sie sich näherten, konnte er in der Mitte zwei Frauengestalten ausmachen, die von einer Schar von Wachen und unzähligen Dienern umgeben waren. Er eilte ins Haus, um sich zu waschen und frische Kleidung anzulegen, gebot einem Diener, Erfrischungen für die edlen Damen zu bereiten, die zu Besuch kamen, und trat dann auf die Schwelle seines bescheidenen Zuhauses, als sie vom Pferd stiegen.
»Ich komme, um mich von Euch zu verabschieden. Ich breche morgen früh nach Bilbao auf«, verkündete Herzogin Sabina, während sie ihn mit festen Schritten ins Haus begleitete.
Sie nahm sich reichlich von dem frischen Obst, dem Wein, den Nüssen und Süßigkeiten, die man ihr vorgesetzt hatte, ehe Hai vorsichtig fragte: »Fühlt Ihr Euch der Reise gewachsen?«
»Dank Eurer Hilfe fühle ich mich so wohl wie seit vielen Monaten nicht mehr.«
»Und doch, geehrte Herzogin, wäre es vorzuziehen, daß Ihr noch ein wenig länger hier bliebet, damit ich Euren Fortschritt beobachten kann.«
»Mein Wohlbefinden ist mir Fortschritt genug.«
Hai warf der Prinzessin einen flehenden Blick zu, in der Hoffnung, sie könnte ihm helfen, ihre Tante zu überzeugen, aber Subh wahrte ehernes Schweigen. Sie hätte auch nicht viel erreicht. Hai kannte seine Patientin gut genug, um zu wissen, daß nichts und niemand sie, wenn sie sich einmal zu etwas entschlossen hatte, davon abbringen konnte. Nicht einmal der Versuch schien angebracht.
»Wie Ihr wünscht, liebe Dame. Wenn es Euer Wille ist, in Euer Zuhause und zu Eurer Familie zurückzukehren, dann darf ich Euch nicht länger zurückhalten. Ich werde Euch eine ausreichende Menge Extrakt mitgeben, die Euch etwa zwei Monate genügen sollte. Rechtzeitig, bevor alles aufgebraucht ist, schickt Ihr mir zwei verläßliche Sendboten, denen ich einen Vorrat für zwei weitere Monate anvertrauen werde. So wie ich Euch kennengelernt habe, hege ich keinerlei Zweifel, daß Ihr das Pulver täglich nach meinen Anweisungen einnehmt.«
»Wie lange?«
»Euer Leben lang.«
»Mein Leben lang?« wiederholte die Herzogin entsetzt.
»Ich fürchte, ja.«
»Aber wenn ich reise oder aus irgendeinem Grund der Nachschub unterbrochen ist?«
»Ihr werdet gezwungen sein, Eure Reisen auf eine angemessene Entfernung von Córdoba zu beschränken. Ich meinerseits garantiere Euch, daß für Eure Kuriere immer ein großzügiger Vorrat an Extrakt bereitliegt. Wenn Euer Rückenschmerz stärker wird, so bittet Euren Arzt, Euch einen Trank nach diesem Rezept zuzubereiten.«
Rasch schrieb Hai eine Liste der Zutaten auf ein kleines Stück Papier, das er faltete, versiegelte und ihr reichte. »Sollte sich eine ungute Entwicklung ergeben, so laßt es mich wissen, und ich komme persönlich nach Bilbao und behandle Euch.«
Kurz darauf verabschiedeten sich die beiden Damen, hinterließen auf dem Diwan, auf dem sie gesessen hatten, einen Samtbeutel, der großzügig mit Golddinaren angefüllt war.
Wie vereinbart, trafen regelmäßig alle zwei Monate Sendboten aus dem Baskenland in Hais kleinem Landhaus ein – einmal, zweimal, ein drittes Mal. Hais Augen leuchteten voller Zufriedenheit auf, wenn er die staubbedeckten Gestalten sah, die sich auf der Straße von Norden näherten, denn ihre Ankunft bedeutete, daß es der Herzogin gut ging. Um ihn zu beruhigen, schickte sie immer noch eine Botschaft mit. Einmal schrieb sie von dem ungeheuren Vergnügen, das ihr die gemächlichen Ausritte am Fluß entlang bescherten, ein anderes Mal von den köstlichen unschuldigen Stunden, die sie im Kreise ihrer Enkel verbrachte. Hier schilderte sie ihm die purpurnen Sonnenuntergänge, die das Flußdelta auflodern ließen, dort den süßen, reinen Gesang der Vögel, der am Abend ihre Ohren erfreute. Wie gierig sie jeden Augenblick, jede Seite ihres Lebens genoß! Hai lächelte, wenn er ihre Zeilen las.
Als die Boten jedoch das vierte Mal hätten erscheinen müssen, blieben sie aus. Hai wartete eine Woche, dann noch eine, und von Tag zu Tag wuchs seine Sorge. Als er nach zwei Wochen noch immer kein Lebenszeichen hatte, beschloß er, den Extrakt persönlich nach Bilbao zu bringen, um sicherzustellen, daß der Vorrat der Herzogin nicht zur Neige ging. Während der ganzen Anreise plagten ihn düstere Vorahnungen. Warum waren die Sendboten nicht gekommen? Waren sie von Wegelagerern überfallen worden? Oder hatte die Herzogin das Vertrauen in seine Behandlung verloren? Wahrscheinlich hatte sie einen Rückfall erlitten und war zu krank, um die Boten auszusenden. Es war sogar möglich, daß sie gestorben war und niemand sich die Mühe gemacht hatte, ihn zu benachrichtigen. Was ihn bei seiner Ankunft in dem schmucklosen Steinpalast erwartete, war eine tragische Kombination seiner schlimmsten Befürchtungen.
Er gab sich als der Arzt der Herzogin Sabina aus Córdoba zu erkennen und wurde eilends in ihre Gemächer geleitet. Gerade wollte er in das Zimmer eintreten, in dem sie lag, als der ortsansässige Arzt, der ängstlich neben der Tür kauerte, während ihr die Sterbesakramente gespendet wurden, ihm in den Weg zu treten versuchte.
»Ihr seid also der berühmte Hai ibn Yatom«, zischte er verächtlich und musterte den Gelehrten in seinen dunklen Gewändern mit unverhohlener Abscheu. »Der unsere geliebte Herzogin mit seinem sogenannten Lebenselixier in diesen bedauernswerten Zustand versetzt hat.«
»Das möchte ich lieber selbst beurteilen«, erwiderte Hai und schob sich an der jämmerlichen Gestalt des Medicus vorbei, als der Priester aus dem Zimmer trat. Selbst die Weihrauchwolken, die ihn umwallten, konnten den Geruch der Krankheit nicht übertönen, der aus dem Zimmer drang.
Das eingesunkene Gesicht der Herzogin war kaum auszumachen unter den Pelzen, die man in dem verzweifelten Bemühen, ihrem Frösteln Einhalt zu gebieten, über sie gebreitet hatte. Wie kalt sie sich trotz allem fühlte! Hai setzte sich an ihr Bett und legte ihr sanft seine kühlende Hand auf die glühende Stirn. Obwohl ihre Augen vom Fieber glasig waren, leuchteten sie doch mit seltsamer Zufriedenheit auf, als sie ihn erkannte. Mit einer mitleiderregenden Geste – ob mit der flehentlichen Bitte um Leben oder um den Tod, er konnte es nicht sagen – streckte sie die mageren Hände zu ihm hin. Er nahm sie zwischen die seinen, und ein Strom des Mitgefühls floß von seiner Seele in die ihre. Es war das einzige, womit er ihr jetzt noch helfen konnte.
»Danke, daß Ihr gekommen seid«, murmelte sie schwach. »Eure Gegenwart ist mir ein unschätzbarer Trost.«
Das war alles. Keine Beschwerden, keine Vorwürfe, keine Forderungen. Wie typisch für diese edle Seele, dachte er, als sein erfahrenes Auge über ihre gelbliche Haut und den gelben Schimmer im Weiß ihrer Augäpfel schweifte. Er mußte gar nicht mehr sehen – nicht die dunkle Farbe ihres Urins, nicht das Blut und die schwärzliche Flüssigkeit, die sie ausgeschieden hatte. Der Körper der armen Frau war völlig zerfressen von der Krankheit, wie ihn der Rückenschmerz hatte befürchten lassen. Die bösartige Geschwulst war wohl von ihrer Brust in den gesamten Körper gewuchert, hatte ihn der Fäulnis ausgeliefert und dieses letzte, tödliche Fieber ausgelöst. Der Verfall, dem er hatte Einhalt gebieten wollen, hatte den Sieg davongetragen. Und doch, überlegte er, als er die reglosen, wächsernen Hände seiner Patientin mit festem, ermutigendem Griff umfaßte, hatte er ihr nicht einige wenige Monate Leben gewonnen, kostbare Augenblicke des Sonnenlichtes und des Glücks? Sechs ganze Monate hindurch hatte der Extrakt ihr anscheinend neues Leben geschenkt. Ein lächerlich kleiner Sieg in der ewigen Schlacht gegen den Tod? Vielleicht, aber für die Herzogin und ihre Lieben ein unschätzbar wertvolles Geschenk …
Auf Verlangen der Sterbenden blieb Hai die ganze Nacht hindurch allein bei ihr. Er benetzte ihr die trockenen, vom Fieber aufgesprungenen Lippen, legte ihr kühlende Kompressen auf die Stirn. In einem letzten Versuch, ihr Leiden zu lindern, bereitete er einen Trank vor, von dem er hoffte, er werde sie beruhigen, aber als er ihn ihr an die Lippen hielt, wies sie ihn zurück, war inzwischen nicht mehr in der Lage, ihn zu trinken.
Im Morgengrauen hörte ihr schwacher Pulsschlag ganz auf, und sie tat ihren letzten Atemzug.
In dem Augenblick, als Hai vor Schmerz gebückt und von seiner Niederlage niedergeschmettert, aus Sabinas Zimmer trat, stürzte sich der andere Arzt auf ihn.
»Euer Aloe-Extrakt allein hat ihr diese tödliche Schwäche beschert!« rief er mit der Aggressivität des Schwachen und Unwissenden. »Es ist allgemein bekannt, daß er abführende Wirkung hat. Was für ein Wahnsinn, derlei einer Patientin zu verabreichen, die schon an ständigem Durchfall leidet!«
»Leicht oder schwer?«
»Immer schwerer.«
»Wann habt Ihr die Verschlechterung bemerkt?«
»Vor etwa drei Wochen.«
»Vorher nicht?«
Ertappt zögerte der Arzt. Sabinas Zofe antwortete schluchzend: »Nein, vorher nicht.«
»Also«, fuhr Hai wütend zu dem Mann herum, »habt Ihr nicht nur verhindert, daß die Herzogin ihre Sendboten ausschickte, um weitere Vorräte des Pulvers zu holen. Ihr habt auch dafür gesorgt, daß ich nichts von der Verschlechterung ihres Zustandes erfuhr. Ich behaupte nicht, daß ich sie unter diesen weitaus schwierigeren Umständen hätte retten können. Ganz und gar nicht. Aber ich weise mit aller Macht die Anschuldigung zurück, daß der Extrakt sie geschwächt hat. Ich glaube vielmehr, daß sie die letzten wenigen Monate voller Vitalität zumindest teilweise der lebensstärkenden Wirkung des Aloe-Extraktes zu verdanken hatte. Die bösartige Krankheit hat sie so geschwächt, nicht der Extrakt.«
Hai hatte überlegt, in Bilbao zu bleiben und dieser edlen und mutigen Dame bei der Beerdigung die letzte Ehre zu erweisen, aber er sah keinen Grund, warum er durch seine Gegenwart am Grab die Feindseligkeit des ortsansässigen Medicus weiter schüren sollte. Also ging er leise und unbemerkt fort, und Tränen der Trauer verschleierten ihm den Blick, als er sich auf den Heimweg machte.
Als er sich Córdoba näherte, überfiel ihn erneut eine ungute Vorahnung. Würde Prinzessin Subh den Verleumdungen des baskischen Arztes Glauben schenken, wenn sie ihr zu Ohren kamen? Und wenn ja, welche Strafe würde sie über ihn verhängen? Würde sie so weit gehen, seine Verbannung aus Córdoba zu befehlen, ihn dazu zu zwingen, seine Aloepflanzungen im Stich zu lassen, die er mit solcher Leidenschaft gepflegt und zur Blüte gebracht hatte? Oder würde sie, da sie mit eigenen Augen gesehen hatte, auf welche Weise der Extrakt den Zustand ihrer kranken Tante gebessert hatte, die Anschuldigungen als Rachegelüste eines neidischen Berufskollegen abtun?
Hais ständige Zweifel an der Wirksamkeit des Extraktes, seine tiefe Enttäuschung über die Unfähigkeit, konkrete, unwiderlegbare Beweise für die Wirkung des Mittels zu erbringen, wurden noch verstärkt durch die Ungewißheit, wie die Mutter des Kalifen sich verhalten würde. Jeden Donnerstag musterte er die Schar der Patienten, die sich im Haus in Córdoba versammelten, war sich nicht sicher, ob er sich wünschte, daß sie darunter wäre oder nicht. Heimlichkeiten und Hinterlist waren am Hof der Omaijaden so sehr an der Tagesordnung, daß er ständig auf der Hut war, während eine Woche nach der anderen verstrich. Er wünschte sich schon beinahe, die Prinzessin würde ihm endlich offen gegenübertreten und ihn von der quälenden Ungewißheit erlösen. Nur seiner Mutter, die plötzlich alt und gebrechlich geworden war, vertraute er seine Sorge an, aber auch ihre weisen und tröstenden Worte konnten seine Furcht kaum lindern.
Sein Seelenfriede sollte ihm auf völlig unerwartete Weise und unter wesentlich dramatischeren Umständen wiedergeschenkt werden, als er es sich je hätte ausmalen können.
34
Der Befehl, vor dem Kalifen zu erscheinen, wurde ihm von einer gemeinsamen Abordnung von Würdenträgern des Kalifenhofes und aus al-Mansurs Residenz in der Medina Azahira überbracht. Flankiert von einer eindrucksvollen Schar berittener Schwertkämpfer, erschien die Abordnung kurz nach Sonnenaufgang, als Hai sich noch schlaftrunken räkelte. Das Aufschlagen der Pferdehufe, das bedrohliche Klirren der Waffen näherte sich dem kleinen Haus in der Stille des frühen Morgens und weckte in ihm erneut ungute Vorahnungen, die er mit der Zeit beinahe schon gebannt hatte. Obwohl der Morgen mild war, fröstelte ihn ein wenig, als er sein Gewand überstreifte und sich auf die bevorstehende Auseinandersetzung vorbereitete.
Die Wache, die draußen vor der Tür wartete, während die Anführer der Abordnung in Hais schlichtes Heim eintraten, wirkte bedrohlich. Die Abgeordneten waren in so dringender Mission erschienen, daß sie die höflichen Gesprächsfloskeln auf ein Mindestmaß beschränkten und sofort zum Grund ihres Besuchs kamen.
»Unser erhabener Kalif, Hisham, der Herrscher der Gläubigen, und sein getreuer Diener al-Mansur befehlen Euch, Eure medizinischen Fertigkeiten in den ausschließlichen Dienst des Hofes zu stellen. In Sevilla hat man einen Ausbruch der Pestilenz festgestellt, die anscheinend aus den nordafrikanischen Gebieten eingeschleppt wurde. Es könnten schon Überträger innerhalb unserer Mauern sein. Unser großer und mächtiger Herrscher ist nicht mehr gewillt, Eure störrische Weigerung hinzunehmen, ihm zu dienen. Als sein getreuer Untertan und als der gelehrteste und berühmteste Arzt in ganz al-Andalus ist es Eure heilige Pflicht, Euch am Hofe einzufinden.«
An welchem Hof? fragte sich Hai angstvoll. Wie sollte er, ein einzelner, schutzloser Jude in einem Königreich, in dem die Macht so offensichtlich geteilt war, sich unbeschadet aus den Fangarmen dieses zweiköpfigen Ungeheuers befreien? Sein Vater wäre vielleicht schlau genug gewesen und hätte sich zwischen den beiden einen Weg suchen können. Er selbst war es nicht.
»Wo residiert unser ruhmreicher Herrscher im Augenblick?« fragte er den in starrer Haltung dastehenden Sprecher der Abordnung.
»In der Medina Azahara.«
»Und sein Großkämmerer al-Mansur?«
»Er ist auf dem Rückweg von einem triumphalen Feldzug gegen die Grafschaft Barcelona. Wir haben Sendboten ausgeschickt und ihm dringend angeraten, seine Rückkehr zu verschieben, bis die Gefahr gebannt ist.«
»Das Glück war den Großen und Mächtigen dieses Reiches hold«, murmelte Hai feierlich. Seine Erleichterung war grenzenlos. Im Augenblick waren beide Männer in Sicherheit, da sie sich fern von den wimmelnden Menschenmassen der Stadt aufhielten, unter denen sich die Ansteckung ausbreiten konnte wie ein Lauffeuer im trockenen Farn. Da nur der Kalif sich in unmittelbarer Nähe Córdobas befand, war sein Dilemma nicht so groß.
»Ich reite unverzüglich zur Medina Azahara hinaus, um sicherzustellen, daß alle uns möglichen Maßnahmen ergriffen werden, um den Kalifen zu schützen und um zu verhindern, daß die Pestilenz in den königlichen Palast vordringt. Danach werde ich sofort ähnliche Maßnahmen auch in der Medina Azahira treffen. Es ist unbedingt erforderlich, daß beide Palastbezirke von jeglichem Kontakt mit der Stadt abgeschnitten sind.«
»Das ist möglich«, erwiderte einer der Würdenträger nach kurzer Überlegung. »In beiden Palästen sind für den Notfall stets großzügige Vorräte an Lebensmitteln und Wasser eingelagert.«
»Alles Wasser, in der Stadt und außerhalb, muß vor dem Trinken abgekocht werden«, unterwies sie Hai. »Doch bitte entschuldigt mich jetzt, meine Herren. Ich muß eiligst zum Palast des Kalifen. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«
Die Würdenträger starrten einander an, waren über diese unhöfliche Verabschiedung verblüfft, schrieben sie aber dem Ernst der Lage zu, geruhten also, sie zu ignorieren, und wandten sich zum Gehen.
Nicht der Ernst der Lage hatte Hai bewogen, sie so zu brüskieren. Er mußte dringend seine Gedanken ordnen. Gegen die Pestilenz hatte sich bisher noch kein Heilmittel als wirksam erwiesen. Ralambos Extrakt? Höchst unwahrscheinlich. Wenn die Vorväter der Antike, die viele Eigenschaften der Aloe kannten, sie nie als Heilmittel gegen die Pestilenz genannt hatten, dann hatte sie sich wahrscheinlich als wirkungslos erwiesen, um so mehr, als ihre abführende Wirkung zusätzlich dagegen sprach. Hier wurde keine Steigerung der Vitalität gebraucht, sondern etwas anderes, etwas, das als Gegenmittel gegen die von der Pestilenz hervorgerufene Vergiftung des Blutes wirken würde. Während er in seinen Truhen nach einem frischen dunklen Gewand wühlte, hielt er plötzlich wie gebannt inne. Die Worte, die ihm sein Vater auf dem Totenbett gesagt hatte, schossen ihm durch den Kopf: »… habe ich ihm, hauptsächlich einem Impuls folgend, geraten, stets eine kleine Menge zur Vorbeugung einzunehmen … Diese vorbeugende Wirkung ist nicht eindeutig bewiesen, trotzdem bin ich nach wie vor davon überzeugt … Mache damit, was du willst.«
Was war denn die Pest, wenn nicht die Ausbreitung einer giftigen Substanz im ganzen Körper? Und was war der Große Theriak, wenn nicht das stärkste Gegengift, das der Menschheit bekannt war? Daß seine Wirksamkeit gegen die Pest nirgends vermerkt und nicht mit all dem anderen Wissen der Antike überliefert war, hatte vielleicht damit zu tun, daß einige Zutaten sehr selten, andere schwer zu bekommen und wieder andere unerschwinglich teuer waren. Damals wie heute wäre es unmöglich, ein solches Gegengift der gesamten Bevölkerung eines Gebietes zur Verfügung zu stellen, in dem die Pest tobte. Einer kleinen, isolierten Gruppe von Menschen konnte man es jedoch verabreichen. Wie schon sein Vater gesagt hatte, schaden konnte es jedenfalls nicht.
Hai griff das erste Gewand, das ihm in die Hände fiel, schlüpfte hinein und knöpfte es hastig zu, während er schon in sein Apothekenzimmer eilte, wo er Medikamente, Kräuter, Gewürze und heilende Mineralien aufbewahrte. Mit einem raschen Blick auf die wohlgeordneten Tiegel und Töpfe auf den Brettern, die alle sorgfältig beschriftet waren, berechnete er, daß er – zusammen mit dem Vorrat an Großem Theriak, der ständig im Palast aufbewahrt wurde – eine Menge zubereiten könnte, die gerade eben für den engsten Familienkreis der beiden Herrscher des Kalifates ausreichen würde – und für seine eigene. Was nun aber mit den königlichen Harems, den Wesiren, den Hauptleuten der Armee? Er hatte keine andere Wahl, als für sie aus den vier Zutaten Myrrhe, Lorbeersamen, Osterluzei und gelbem Enzian, von denen er ausreichende Vorräte besaß, einen anderen Theriak anzusetzen. Diese vier mit geläutertem Honig zu einer Latwerge vermengt, stellten das erste Mittel dar, das die Ärzte der Antike gegen jegliche Art von Gift gemischt hatten. Seinen kleinen Vorrat an Bezoar würde er für unvorhergesehene Notfälle zurückbehalten. Mehr konnte er nicht tun.
Aber sollte er es machen? Indem er die Hoffnung erweckte, daß man sich gegen die gefürchtete Pestilenz schützen konnte, würde er sich wieder einmal eine Falle stellen, genau wie damals mit Ralambos Extrakt. Wenn er Erfolg hatte, würde sein Ruhm nah und fern erschallen. Wenn nicht, dann wären die Folgen nicht absehbar. Er hatte keine Zeit zum Zögern. Er mußte sich entscheiden. Es gab jedoch nur eine Entscheidung, die er, Hai ibn Yatom, treffen konnte. Seine Mission, sein überwältigender Wunsch, die Krankheiten zu besiegen, die die Menschheit heimsuchten, trieb ihn unermüdlich immer weiter, zwang ihn, es immer und immer wieder zu versuchen … Geduldig würde er den Hohen und Mächtigen erklären, den Männern der Macht, die er immer gemieden hatte, daß die Möglichkeit des Schutzes gering sein mochte, daß sie aber immer noch besser war als gar kein Schutz.
Dalitha kam zu ihm geeilt, und ihr bleiches Gesicht verriet ihre Sorge um ihn. »Was hat das zu bedeuten, daß eine so bedrohliche Delegation zu dieser ungewöhnlichen Stunde hier erschienen ist?« fragte sie, und ihre Stimme überschlug sich vor Angst. Während er die zweiundvierzig Zutaten des Großen Theriak abwog und abmaß, erklärte ihr Hai rasch den Grund, erwähnte aber nicht, daß die Krankheit zunächst in Sevilla ausgebrochen war, damit sie sich nicht noch zusätzlich Sorgen um Amira und ihre Familie machte. Dann vertraute er ihr die letzten Handreichungen in der Zubereitung des kostbaren Gegengiftes an.
»Wenn es fertig ist«, wies er sie an, »mußt du selbst zur Vorbeugung eine Menge etwa von der Größe einer Nuß einnehmen und Amram eine etwas kleinere Menge verabreichen.«
»Und was ist mit dir und Sari?«
»Wir beide werden unsere Dosis aus den Vorräten für den Palast in Córdoba nehmen. Den Rest werde ich dem Kalifen in die Medina Azahara bringen, sobald ich dafür gesorgt habe, daß man Mutter hierher schafft. Sie darf auf keinen Fall in der Stadt bleiben.«
»Für wen ist diese Portion hier?«
»Für al-Mansur, falls er zurückkehren sollte, und für seine engste Familie.«
Bei diesen Worten zuckte Dalitha zusammen. Hai schaute sie traurig an und legte ihr schützend den Arm um die Schulter, während er sagte: »Ich weiß, es ist ungerecht. Warum diese Menschen, warum nicht Stella, Amrams treusorgende Kinderfrau, oder Yahya, der getreue Diener der Familie? Du weißt, wie verzweifelt ich mich bemüht habe, nicht in den Netzen des höfischen Lebens gefangen zu werden, aber diesmal hatte ich keine andere Wahl.«
»Und wenn dein Experiment mit dem Theriak fehlschlagen sollte?«
»Dann bin ich in großer Gefahr, so als hätte ich die Befehle des Kalifen mißachtet. Noch schlimmer wird es, wenn er der Pestilenz zum Opfer fallen sollte. Was immer ich auch tue, man wird mich beschuldigen, meine Pflichten vernachlässigt zu haben, wenn ihm etwas geschieht. Indem ich, wie mein Vater, den Großen Theriak vorbeugend einsetze, könnte ich möglicherweise nicht nur für den Kalifen, sondern für die Menschheit einen Aufschub erwirken. Ich muß es versuchen, Dalitha, ich muß es versuchen.«
Machtlos angesichts des überwältigen Drangs, der ihn antrieb, zeigte sich Dalitha widerwillig einverstanden.
Hai fand den Kalifen wie immer in seine Kissen gebettet vor. Ein kaum zur Frau herangewachsenes Mädchen kauerte neben seinem Haupt und streichelte ihm die niedrige, schweiß glänzende Stirn, während ein Junge, der ihr verblüffend ähnlich sah, neben dem Kalifen ausgestreckt lag, eine Hand unter den üppigen Roben des Herrschers verborgen. Bei näherem Hinsehen bestätigte sich Hais erster Eindruck: die beiden jungen Geschöpfe, die auf ihrem Pfad von der Kindheit zum Erwachsensein in die Fänge des Kalifen geraten waren, waren tatsächlich Zwillinge, und ihre geschmeidigen, noch nicht voll ausgereiften Körper eine seltene Delikatesse, die den übersättigten Kalifen erfreuen sollte. Angesichts dieser widerwärtigen Szene tat sich für Hai ein weiteres Dilemma auf. Die Menge an Großem Theriak, die der Familie des Kalifen zur Verfügung stand, war begrenzt – gerade genug für seine Mutter, die Prinzessin Subh, den Herrscher selbst und diejenigen, die gerade seine Gunst genossen. Kinder hatte Hisham noch nicht gezeugt, aber Hai hatte keine Vorstellung davon, wie viele andere glücklose Geschöpfe neben den Zwillingen im Augenblick noch Gegenstand seiner Begierde waren. Wem würde die schicksalhafte Aufgabe zufallen, die wenigen Privilegierten auszuwählen, die zum innersten, intimsten Kreis des Kalifen gehörten? Mit einer trägen Geste deutete ihm Hisham an, er möge sich setzen.
»Also, Abu Amram, habt Ihr Euch endlich herabgelassen, mir zu dienen«, sagte er, und seine Stimme, die jugendlich fest und kraftvoll hätte sein sollen, klang schwach und müde. »Ich habe kein Auge zugetan, seit ich hörte, die Pest könnte unter uns sein«, fuhr er fort. »Ich bin starr vor Furcht, daran zu sterben. Niemand außer Euch kann mich noch retten«, flehte und wimmerte er, während er sich in seine Kissen kauerte.
»Es ist uns kein Heilmittel gegen die Pestilenz bekannt«, begann Hai vorsichtig. »Aber Ihr habt gute Aussichten, der Krankheit zu entkommen, wenn Ihr hier in der Medina Azahara bleibt, von der Stadt abgeschnitten. Kein Essen und keine Getränke dürfen von außen in den Palastbezirk hereingebracht werden. Es müssen Anweisungen ergehen, daß der Notvorrat an Nahrungsmitteln in gleichen Mengen gerecht aufgeteilt werden soll, so daß allen hier ein Mindestmaß an Nahrung zur Verfügung steht, bis die Gefahr vorüber ist. Am wichtigsten ist jedoch, daß alles Wasser vor dem Trinken abgekocht wird.«
»Erklärt das Yunus«, seufzte der Kalif müde. »Ich bin viel zu schwach, um mich mit derlei Einzelheiten abzugeben.«
»Und schließlich«, fuhr Hai fort und überging die unverzeihliche Gleichgültigkeit des Kalifen gegenüber dem Wohlergehen derer, die ihm dienten, »müßt Ihr strenge Anweisungen geben, daß niemand von außerhalb in den Palastbezirk eingelassen werden darf.«
»Außer Euch«, warf Hisham ein. »Aber wie kann ich sicher sein, daß Ihr die Ansteckung nicht einschleppt? Bei Allah, ich überlege, ob ich Euch nicht hierbehalte, falls ich Euch brauchen sollte.«
»Bei allem Respekt, o Herrscher der Gläubigen, meine Pflichten als Hofarzt verlangen auch, daß ich mich um Euren Großkämmerer und sein Gefolge in der Medina Azahira kümmere.«
»Mein Großkämmerer, immer wieder mein Großkämmerer, der meine Pläne durchkreuzt«, wimmerte der verderbte junge Herrscher. »Aber ich verbiete Euch bei Androhung der Todesstrafe, die Stadt Córdoba zu betreten, was immer auch Euer Vorwand sein mag. Ich könnte Euch jederzeit benötigen, und ich möchte daher, daß Ihr am Leben und bei guter Gesundheit seid. Warum, weiß ich allerdings nicht«, fügte er neckisch hinzu. »Ihr enttäuscht mich. Ich hatte mehr von Euch erwartet. Angenommen, ich werde von der Pest heimgesucht. Was könnt Ihr mit all Eurem Wissen und Eurer Erfahrung dann für mich tun?«
»Wie ich Euch bereits angedeutet habe, nur sehr wenig. Ich kann nur zu verhindern versuchen, daß Ihr Euch ansteckt, indem ich die notwendigen Vorkehrungen treffe.«
»Ich glaube nicht, daß sie wirksam sind«, schmollte Hisham.
»Es könnte noch eine andere Möglichkeit geben«, brachte Hai nun hervor und rieb sich die langen schmalen Hände, während er seine Worte sorgsam abwägte. »Die Ärzte der Antike haben viel Vertrauen in den Großen Theriak gesetzt, als Gegenmittel gegen Gifte aller Art. So wie ich es sehe, ist die Pestilenz auch eine Art Gift. Wenn Ihr ein wenig vom Großen Theriak zur Vorbeugung einnehmt, ehe Ihr Euch unter Umständen ansteckt, dann besteht die Möglichkeit, daß dies Euch retten könnte.«
»Die Möglichkeit, die Möglichkeit!« grollte der Kalif. »Was für eine Möglichkeit?«
»Eine geringe Möglichkeit, aber besser als gar keine.«
In Hishams Augen schien kurz ein Hoffnungsschimmer aufzuleuchten, dann verdunkelten sie sich sofort wieder bedrohlich. »Und wer sagt mir, daß meine Feinde Euch nicht angestiftet haben, ein Gift in Euer sogenanntes Heilmittel zu mischen? Wie könnte man mich besser beseitigen, als wenn man meinen Tod einem Ausbruch der Pest zuschriebe?«
Hai würgte seine Wut über diesen unerhörten Angriff auf seine ärztliche Berufsehre herunter, richtete sich zu voller Größe auf und antwortete mit tödlicher Ruhe: »Es gibt Zeiten, o Herrscher der Gläubigen, da ein Mann denjenigen, die er zu Hilfe ruft, sein Vertrauen schenken muß.«
»Mich hat die Erfahrung gelehrt, nie jemandem zu trauen«, murmelte der Kalif, und seine dicken, feuchten Lippen verzogen sich.
»Dann fürchte ich, kann ich Euch nicht weiter behilflich sein.«
Mit diesen Worten erhob sich Hai und wandte sich zum Gehen.
»Nein, nein! Wartet! Ich habe Euch noch nicht entlassen. Angenommen, ich nehme den Großen Theriak vorbeugend ein. Kann er mir schaden?«
»Überhaupt nicht.«
Der Kalif musterte Hai nun mit seinen matten, trägen Augen, als versuche er das Ausmaß von dessen Treue und Ergebenheit abzuschätzen. »Werdet Ihr dem Mann, der für mich mein Königreich regiert, den gleichen Schutz anbieten?«
»Ich bin auf seinen wie auf Euren Befehl hier.«
»Wahr, wahr«, murmelte der Kalif und wünschte al-Mansur den Tod auf den Leib, wußte jedoch gleichzeitig, daß er ohne ihn nicht fähig wäre, sein Königreich überhaupt zu halten …
»Nun gut. Ich befehle Euch, den Theriak mir, meiner Familie und allen im Palastbezirk zu verabreichen.«
»Das liegt nicht in meiner Macht. Die Seltenheit einiger Zutaten dieses Gegengifts macht es mir unmöglich, eine so große Menge in der Kürze der Zeit herzustellen. Im Augenblick ist für Euch und Eure engste Familie ausreichend Theriak vorhanden. Bis morgen ist dann der Theriak aus vier Zutaten, ebenfalls ein Gegenmittel von beträchtlicher Stärke, für alle anderen Mitglieder des Hofes fertig.«
»Für mich und meine Familie!« höhnte der Kalif. »Macht Euch nicht lustig über mich. Außer meiner Mutter zähle ich zu meiner Familie noch eine ganze Schar köstlicher junger Geschöpfe wie diese hinreißenden Zwillinge hier, denen ich allen zutiefst verbunden bin.« Während er seine Stimme zu einem Flüstern senkte, hob er eine Hand, um die knospenden nackten Brüste des jungen Mädchens zu liebkosen, und beugte sich dann herab, um die glatte, helle Stirn ihres Zwillingsbruders zu küssen. »Wenn sie mir geraubt werden, verliert mein Leben jeglichen Reiz. Ich befehle Euch, sicherzustellen, daß der Große Theriak allen, die mir lieb und wert sind, verabreicht wird.«
In diesem wichtigen Augenblick in Hais Leben tauchte wie eine Fackel, die ihn leiten sollte, ein tief verwurzelter Instinkt auf, ein kostbares Erbe seines Vaters, wie er später glauben würde.
»Die Korbflasche, die ich aus der Palastapotheke in Córdoba mitgebracht habe, enthält den gesamten Vorrat an Großem Theriak, der im Augenblick vorhanden ist. Die Menge für eine Person entspricht der Größe einer Nuß. Ich überlasse es Euch, o Herrscher der Gläubigen, erhabener Herr unseres ruhmreichen Kalifates, in Eurer großen Weisheit zu entscheiden, wer dieses Mittel erhalten soll.«
Hai stellte die kostbare Flasche auf den goldenen Tisch neben dem Kalifen ab, erhob sich und bat um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen. Er mußte fort sein, ehe der armselige Hisham begriff, welche Verantwortung nun auf ihm lastete.
35
Die Landschaft zwischen der Stadtmauer und den nördlichen Bergen glich einem trunkenen Ameisenhaufen, als sich Hai Córdoba näherte. Kolonnen von verzweifelten Menschen, denen das Gerücht von der Seuche zu Ohren gekommen war, ehe man die Stadttore verschloß, rannten hin und her auf der Suche nach einer Unterkunft außerhalb der Stadt für die Zeit, bis die Gefahr der Ansteckung vorüber war. Zu ihnen gesellten sich noch die Menschenscharen, die täglich in die Stadt drängten, um dort ihre Geschäfte abzuwickeln: An diesem Morgen hatten sie die großen Tore verschlossen und verriegelt vorgefunden. Während Hai das Bild betrachtete, das sich ihm bot, tobten in ihm widerstreitende Gefühle. Einerseits war er erleichtert, daß man rechtzeitig die notwendigen Maßnahmen ergriffen hatte, daß also die Paläste wahrscheinlich von Ansteckung verschont bleiben würden. Andererseits war er zutiefst enttäuscht, daß man ihm den Zutritt zur Stadt verwehrte und er also seinen Kollegen im Hospital nicht zur Seite stehen konnte, wenn sie die Leiden der Pestopfer zu lindern versuchten.
Er hielt sich nicht lange in seinem kleinen Landhaus auf. Nachdem er sich versichert hatte, daß Sari wohlauf war, nahm er die Menge Großen Theriak, die Dalitha bereitet hatte, füllte, einem plötzlichen Impuls folgend, ein wenig aus der Korbflasche ab und galoppierte dann zur Medina Azahira, um dort Abd al-Malik, dem ältesten Sohn des Regenten, das Gegenmittel auszuhändigen. Wie auch beim Kalifen überließ er dem Erben al-Mansurs selbst die Wahl, wem das Mittel verabreicht werden sollte. Es war früher Abend, als er endlich nach Hause zurückkehrte. Mit Dalithas Hilfe bereitete er den Theriak aus vier Zutaten, und nachdem er noch einmal nach Sari geschaut hatte, legte er sich erschöpft zu Bett und fiel augenblicklich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Einige Stunden später rüttelte ihn Dalitha wach. »Ich glaube, es ist jemand an der Tür«, sagte sie.
Sofort war Hai munter und lauschte aufmerksam. Kein Zweifel: in der Stille der Nacht war deutlich ein schwaches, unregelmäßiges Klopfen zu vernehmen. Hai rannte zur Tür, und als er sie öffnete, fiel ein benommener, fiebernder alter Mann ihm wie betrunken in die Arme. Hai legte ihn auf den Diwan in seinem Arbeitszimmer, leuchtete ihm mit einer Kerze ins Gesicht und erkannte Yahya, den Diener aus dem Haus der Familie in Córdoba. Er hielt dem alten Mann eine Tasse Wasser an die zitternden Lippen und untersuchte dann seine Leisten und Achselhöhlen nach den gefürchteten Pestbeulen. Bisher waren noch keine zu sehen. Es gab noch eine Chance … Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, eilte er ins Apothekenzimmer, auf dessen weiße Wände der Mond verzerrte Schatten der runden Tiegel und langhalsigen Flaschen zeichnete. Mit ruhiger Hand maß er eine Dosis von dem Großen Theriak ab, den er aus der Flasche für al-Mansurs Sohn abgefüllt hatte, kehrte ins Arbeitszimmer zurück und flößte dem fröstelnden alten Mann das Gegenmittel zusammen mit einem Becher Wein ein.
»Versuche, den Trank bei dir zu behalten«, drängte ihn Hai sanft. »Versuche, ihn bei dir zu behalten.« Wie durch ein Wunder erbrach sich Yahya nicht. Hai wachte den Rest der Nacht neben ihm, befeuchtete ihm die trockenen, aufgesprungenen Lippen mit einem nassen Baumwolltupfer, kühlte ihm die heiße Stirn, murmelte ermutigende Worte, überzeugt, daß der Alte überleben würde. Im Morgengrauen gab er Yahya, ehe er mit dem Gegenmittel aus vier Zutaten in die Paläste ritt, noch eine Dosis vom Großen Theriak und wie zuvor Schluck für Schluck einen Becher Wein. Obwohl der Mann noch im Fieberwahn war, verschlechterte sich sein Zustand nicht. Drei Tage und Nächte wiederholte Hai diese Behandlung, ehe das Fieber allmählich nachließ. Am vierten Tag war Yahya zwar ruhig und schwach, konnte aber doch sprechen.
Auf Hais Frage, wie er das kleine Landhaus erreicht hatte, antwortete er, als er vom Markt heimgekehrt sei und Sari nicht mehr vorgefunden habe, sei er wie die anderen, die von der Seuche gehört hatten, aus der Stadt fortgegangen. Erst im Laufe des Tages hatte er gespürt, wie das Fieber einsetzte. Sicher, daß er in Hais Haus Hilfe finden würde, hatte er seine letzten Kräfte aufgeboten, um hierherzugelangen. »Gott sei gepriesen, junger Herr, Ihr habt mir das Leben gerettet«, murmelte er unter Tränen und umklammerte voller Dankbarkeit Hais Hände.
Während der drei kritischen Tage von Yahyas Erkrankung hatte Hai seine Mutter genau im Auge behalten, aber als sich keine Anzeichen eines einsetzenden Fiebers zeigten und es Yahya besser ging, war er weniger wachsam und begann Schlüsse aus dem zu ziehen, was er beobachtet hatte. Es stimmte, Yahya war immer schon für sein ungewöhnliches Durchhaltevermögen bekannt gewesen, aber daß er in seinem hohen Alter die Pest überlebt hatte, grenzte an ein Wunder. Gleichermaßen wundersam war es, daß Sari, die Gerichte gegessen hatte, die ihr der Diener zubereitet hatte, sich diese Krankheit gar nicht erst zugezogen hatte. Man konnte all das natürlich dem Zufall zuschreiben. Bei jeder Epidemie gab es Überlebende. Warum sollten Sari und Yahya nicht zu ihnen gehören? Aber das glaubte Hai nicht. Zum anderen war noch nicht bewiesen, daß der Große Theriak eine wirksame Waffe gegen die Pest darstellte, denn bisher war nur Yahya anscheinend durch das Mittel geheilt worden, und bei Sari hatte es offenbar erfolgreich seine vorbeugende Wirkung gezeigt. Die Lage war ähnlich wie bei Ralambos Extrakt.
Die Seuche war von begrenztem Ausmaß. Sie klang recht schnell ab, und aus den beiden königlichen Palästen wurde kein einziger Todesfall gemeldet. Auch hier war es unmöglich festzustellen, ob die Rettung der Isolation oder der vorbeugenden Wirkung des Großen Theriak zu verdanken war. Manche schrieben ihr Überleben dem einen zu, manche dem anderen. Manche dankten Allah und beriefen sich auf das Schicksal, das ihnen bestimmt war, andere schworen auf eine Mischung aus Göttlichem und Menschlichem. Doch was sie auch glaubten, beinahe alle zollten Hai Dank, ihnen das Leben gerettet zu haben.
Von nun an wagte es im ganzen Reich, weder im einen noch im anderen Palast, vom Niedrigsten bis zum Höchsten, niemand mehr, ein Wort gegen ihn zu sagen. Dank seiner hartnäckigen Ausdauer bei der Suche nach Heilmitteln für die Krankheiten der Menschen hatte er sich das Recht erworben, sein abgeschiedenes Leben als Heiler und Forscher weiterzuführen.
Doch schon bald sollte seine Ruhe aufs neue gestört werden. Als sich das Leben in Sevilla mehr oder weniger normalisiert hatte und die Verbindung zwischen der Hafenstadt und Córdoba wieder aufgenommen wurde, übermittelte ihm der führende Rabbi der Stadt die Nachricht, die er befürchtet hatte: Amira und ihre ganze Familie waren der Pest zum Opfer gefallen.
Es war, als hätte jemand alle Lichter im Haus gelöscht. Ein dunkler Schleier des Schweigens senkte sich herab, und jedes Mitglied der Familie reagierte auf eigene Weise auf diese Tragödie. Hai haderte wütend mit sich, denn er wußte, daß er seine Schwester und ihre Familie vielleicht hätte retten können, wenn sie nur in seiner Nähe gewesen wären. Sari begehrte gegen die Ungerechtigkeit Gottes auf und weinte unaufhörlich. Warum war sie, die ihr Leben gelebt hatte, sie, für die die Welt jeglichen Reiz verloren hatte, gerettet worden, während eine junge Familie hatte zugrunde gehen müssen? Dalitha war niedergeschmettert, zog sich ganz in sich zurück und wütete gegen Gott selbst. Benommen vor stummem Schmerz, vergrub sie sich in ihren Übersetzungen, versuchte verzweifelt, die Tragödie aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie war so sehr mit sich beschäftigt, daß sie Hai zuerst überhaupt nicht verstand, als er ihr mitteilte, daß Sari von nun an bei ihnen im Haus bleiben sollte.
Er hatte das schon lange in Erwägung gezogen. Nachdem seine Mutter ihre gewohnte Umgebung verlassen hatte und zu ihnen auf den Landsitz gekommen war, war ihre Gebrechlichkeit in vollem Ausmaß offenbar geworden. Plötzlich bemerkte er, wie zögerlich ihre Bewegungen geworden waren, wie schwach ihr Augenlicht, wie bebend ihre Stimme. Und nun dieser letzte Schicksalsschlag. Wenn sie jetzt nicht liebevoll von ihrer Familie umhegt wurde, fürchtete er, würde sie ihn nicht überleben.
Sari nahm seine Entscheidung ohne Murren hin. Nachdem sie die erste Trauer über Amiras Tod überwunden hatte, verbrachte sie ihre Tage in der ruhigen Melancholie der Resignation, saß in der Sonne, um ihre alten Glieder zu wärmen, streichelte über den Kopf ihres Enkels, um ihn in seiner Unruhe zu besänftigen, hörte geduldig ihrem Sohn zu, wenn er zu ihr kam und ihr von den Zweifeln, den Verzögerungen und Enttäuschungen erzählte, die ihn bei seinen unermüdlichen Bemühungen plagten, seine Vermutungen zu beweisen. Immer wieder sagte er, die unendliche Vielfalt menschlichen Seins verwirre ihn bei seinen Forschungen zutiefst.
»Warum hat ein Mensch einen so starken Lebenswillen, daß er ihm die Kraft verleiht, um sein Überleben zu kämpfen, während der andere voller Verzweiflung ist und stirbt? Was ist mit dem Alter, was mit den Privilegierten, die wohlgenährt und in guten Häusern leben und umsorgt werden, was mit den anderen, die arm und unterernährt in den furchtbarsten Behausungen ihr Leben fristen? Und was ist mit der Liebe, die dem einen im Übermaß geschenkt wird, der Gleichgültigkeit, die anderen entgegengebracht wird? Das alles entzieht sich meiner Kenntnis, ganz zu schweigen von einem meßbaren Einfluß dieser Dinge auf meine Patienten, wenn ich auch überzeugt bin, daß all das mit entscheidet, ob sie überleben oder sterben.«
»Du verlangst zuviel von dir, mein Sohn«, antwortete Sari dann mit einem verzweifelten Seufzer. »Du hast schon so viele gerettet und so vielen anderen Trost geschenkt. Du solltest damit zufrieden sein.«
»Ich werde niemals zufrieden sein. Das blinde Vertrauen, das mir die Leute entgegenbringen, ängstigt mich. Jeden Tag erlebe ich, wie wirkungslos meine Bemühungen im Kampf gegen die Mächte ist, die gegen mich angetreten sind. Ich allein weiß, wie viele Patienten ich nicht heilen konnte, und ihre Gräber sind stumme Zeugen meiner Unfähigkeit, die Grausamkeit der Natur gegen den Menschen zu besiegen, und eine bittere Anklage gegen meine Anmaßung, das tun zu können. Je mehr Erfahrungen ich sammle, desto größer ist meine Verzweiflung über das Chaos der Schöpfung. Was für ein wundersames Geschöpf der Mensch doch ist, wie kompliziert, und doch wie vollkommen ist er zusammengefügt. Nur ein göttlicher Geist kann ihn so erdacht und geschaffen haben. Warum dann hat diese Höchste Macht, die ihn ins Leben gerufen hat, es zugelassen, daß Unordnung diese Vollkommenheit stören darf? Zu welchem Zweck hat der Allmächtige das menschliche Leid in seine Schöpfung eingeführt? Ich habe genug davon gesehen, um zu wissen, daß es bei der Verteilung von Krankheit und Leiden keine Gerechtigkeit gibt, daß nicht zwischen den Ehrenwerten und den Bösen unterschieden wird, zwischen den Aufrechten und den Verderbten. Wenn ein so vollkommenes Geschöpf ins Leben gerufen wurde, warum wurde dann die Unvollkommenheit geschaffen, um es zu zerstören?«
»Ruhig, mein Sohn«, flüsterte Sari und legte ihre inzwischen beinahe durchsichtige, von feinen Adern durchzogene Hand auf die Hand ihres Sohnes, um seine gequälte Seele zu beruhigen. »Jahrelang habe ich deinen Vater, möge seine Seele in Frieden ruhen, ähnliche Fragen stellen hören. Er hat sie mit Philosophen und Gelehrten aller Glaubensrichtungen und Religionen diskutiert. Aber selbst die weisesten unter ihnen wußten keine zufriedenstellende Erklärung abzugeben. Schließlich hat er die Frage außer acht gelassen, war es zufrieden, die Leiden, die in Gottes Schöpfung auftraten, zu lindern, wo er konnte.«
»Und den unergründlichen Plan Gottes zu vereiteln?«
»Nein, mein Sohn. Die Fähigkeiten zu nutzen, mit denen Gott ihn gesegnet hatte, um die Leiden seiner Mitmenschen zu lindern.«
»Aber warum gibt es überhaupt Leiden?« beharrte Hai störrisch. »Warum bleiben einige davon verschont und dürfen friedlich in ihren Betten sterben, während andere eine unendlich schwere Last tragen und unter schrecklichen Schmerzen sterben müssen?«
»Darauf habe ich keine Antwort. Ich bin eine alte Frau und habe gelernt, das Unabänderliche zu akzeptieren, anstatt mich dagegen aufzulehnen. Weisere Menschen als ich haben gesucht und nichts gefunden. Warum sollte ich es mir anmaßen? Ich bete nur, daß ich so ruhig aus dem Leben scheiden kann, wie ich habe leben dürfen.«
Und so war es auch. Eines Morgens wachte Hai auf und fand seine Mutter, die mit einem ruhigen Ausdruck auf dem Gesicht friedlich in die ewige Ruhe eingegangen war.
36
Nach dem Tod seiner Mutter war in Hai etwas zerbrochen. Sein Mitgefühl und seine Empfindsamkeit, die ihn zu einem großen Arzt hatten werden lassen, machten ihn nun so verletzlich, daß er den Verlust all jener, die ihm so lieb gewesen waren, nicht verwinden konnte. Es war, als hätte man ihm einen Teil seiner selbst fortgerissen und eine klaffende Wunde hinterlassen, die nicht heilen wollte. Er suchte Trost bei Dalitha, er brauchte sie so sehr, daß sie selbst aus ihrem stummen Schmerz gerissen wurde. So wie Hai anderen beigestanden, ihnen großzügig gegeben hatte, bis seine eigene innere Quelle versiegt war, mußte nun sie ihm beistehen. Ihre Traurigkeit band sie nur noch fester aneinander und verlieh ihrer Liebe, die sie schon seit Kindertagen vereinte, neue Tiefe und Reife.
Ein Jahr nach Saris Tod wurde ihr zweiter Sohn Natan geboren. In der Sorge um dieses neue Leben fand Hai den Balsam für seine wunde Seele.
Amram faßte sofort Abneigung gegen das schrumpelige, schreiende Geschöpf, das ihm seinen Platz als Dreh- und Angelpunkt des gesamten Haushalts strittig machte. Obwohl sie sich seiner Reaktion bewußt waren, konnten ihn weder Hai noch Dalitha ganz dafür entschädigen, daß nun ein Teil ihrer Aufmerksamkeit dem kleinen Bruder galt. Mit der Zeit wurde seine Abneigung eher größer, sie schwelte noch viele Jahre in seinem Herzen.
Als die Kinder heranwuchsen, nahm auch die Verblüffung ihrer Eltern über ihre gegensätzlichen Persönlichkeiten zu. Während Natan die Empfindsamkeit und Sanftheit seines Vaters geerbt zu haben schien, war Amram seinen Eltern so wenig ähnlich, daß sie manchmal kaum ihren Sohn in ihm erkannten. Kurz nach Natans Geburt entwickelte Amram eine Aggressivität, die die friedliche Atmosphäre im Haus empfindlich störte. Stundenlang zog er sich zurück, war völlig vertieft in die Schlachten, die er zwischen gegnerischen Armeen aus Zinnsoldaten austrug, und die markerschütternden Schreie, mit denen er die Angriffe begleitete, hallten durch das Haus und beunruhigten Hais wartende Patienten zutiefst. Natan, den die grellbunten kleinen Figuren faszinierten, näherte sich schüchtern seinem älteren Bruder und wollte gern beim Kriegsspiel mitmachen, doch der schubste ihn nur unsanft weg, schloß ihn von den triumphalen Siegen seiner aufregenden Feldzüge aus. Niedergeschlagen tippelte Natan dann zur Mutter und kuschelte sich an ihre Knie, um seinen Kummer zu verbergen. Dalithas Herz war voller Mitleid für ihn, und sie unterbrach ihre hebräische Übersetzung von Abu'l Kasims neuestem Aufsatz und nahm den Kleinen auf den Schoß, um ihn zu trösten.
Obwohl Amram sich, wie seine Vorwitzigkeit als kleines Kind hatte vermuten lassen, zu einem hervorragenden Schüler entwickelte, zeigte er wenig Eignung für die Medizin, wie es sein Vater gewünscht hätte. Der rastlose junge Mann verschwand immer öfter aus dem Elternhaus vor der Stadt, oft länger, als Hai für angebracht hielt. Wenn er ihn dann fragte, wo er gewesen sei, erklärte er, er habe bei muslimischen Freunden in Córdoba Arabisch gelernt. Aber das stimmte nur zum Teil. Die meiste Zeit verbrachte er damit, durch die Straßen und Märkte der vor Menschen wimmelnden Stadt zu streifen und aufmerksam allen Gesprächen zu lauschen, die um ihn herum brandeten.
Wenn er von seinen Streifzügen durch die Stadt zurückkehrte, wurden die Gespräche mit seinem Vater in einem Ton geführt, den man zuvor innerhalb der ruhigen Mauern des Hauses nie vernommen hatte. Warum, wollte Amram wissen, hatte sein Vater in voller Absicht dem Hof den Rücken gekehrt, wo dort doch die Quelle aller wirklichen Macht lag? Und wenn er sich schon entschlossen hatte, der Macht und dem Einfluß zu entsagen, warum waren ihm dann auch weltliche Güter gleichgültig, die einzige andere Art der Macht, die als Verteidigung und Schutz dienen konnte? Warum weigerte er sich, von den meisten Patienten jegliche Form der Bezahlung anzunehmen, und akzeptierte selbst von denen, die es sich leisten konnten, nur symbolische Honorare?
Ruhig und geduldig erklärte Hai seinem rebellischen Sohn, er habe genug Leid gesehen, um den trügerischen Wert weltlicher Güter zu kennen. Im Angesicht der Krankheit sind alle Menschen gleich, sagte er, und ihr Vermögen ist ihnen weder von Nutzen, noch tröstet es sie. Er hätte kein Recht, aus ihrem Leid Vorteil zu schlagen. Zu sehen, wie seine Patienten von ihrem Krankenbett aufstanden und wieder ein normales Leben aufnahmen, das war ihm mehr wert als ein Dutzend Truhen voller Gold.
Und wo blieb bei all dem seine Mutter? war Amram oft zu fragen versucht. Mit den Jahren hatte er beobachtet, daß sein Vater so sehr in seine Beobachtungen und Forschungen vertieft war, daß er ihre Gegenwart beinahe vergaß. Dalitha bewunderte ihren Mann wie eh und je und äußerte nie ein Wort des Protests. Sie verlor sich einfach in ihren Übersetzungen. Doch seine Vernachlässigung ließ ihre Augen immer trauriger werden und ihre Erscheinung vor der Zeit altern. Nicht einmal Amram wagte es jedoch, in diesen heiklen Bereich einzudringen, genausowenig wie Hai es gewagt hatte, die intimsten Gefühle seiner Mutter im Zusammenhang mit seiner Geburt zu erfragen.
Nach diesen unguten Gesprächen zwischen Vater und Sohn verfiel Hai stets in tiefe Melancholie, und Amram war voller bitterer Vorwürfe für die ausschließliche Hingabe seines Vaters an die Wissenschaft und die Medizin. Aus all dem, was er während seiner Streifzüge durch die Straßen von Córdoba in sich aufgenommen hatte, war ihm mehr als klar geworden, daß das Kalifat von Córdoba bei all seiner Macht und Herrlichkeit nur so lange überleben konnte, wie ein starker Herrscher, den niemand anzugreifen wagte, auf dem Thron saß. Beim kleinsten Riß, der sich in der Führung offenbarte, würde das Reich zerfallen, sich in die verschiedenen Elemente auflösen, aus denen es sich zusammensetzte und die untereinander erbittert streiten würden, um ein Stück für sich zu ergattern.
Was hatten, so fragte Amram seinen Vater, die blutrünstigen Berbersöldner, die al-Mansur aus Nordafrika zur Verstärkung seines Heeres herbeigeholt hatte, mit den Slawen aus Osteuropa gemein, früheren Sklaven, die in die oberen Ränge der Verwaltung aufgestiegen und damit mächtig geworden waren? Und wie betrachteten die Andalusier, die immer hier gelebt hatten, diese beiden Gruppen von Fremden, die sich in ihrem Lande niedergelassen hatten und dabei fett geworden waren? Wenn die Zeit reif war, würden diese drei Bevölkerungsgruppen einen unerbittlichen Kampf gegeneinander führen, in dem es um einen Teil der riesigen Territorien ging, die die Omaijaden ausgeraubt hatten, aber nun nicht mehr zu regieren vermochten. Wenn er weder Einfluß bei Hof noch ein Vermögen hatte, mit dem er sich Schutz erkaufen konnte, wie wollte sich Hai dann in den schwierigen Zeiten, die bevorstanden, verteidigen?
»Ärzte sind in solchen Zeiten noch gefragter als sonst. Ihr Beruf schützt sie«, erwiderte Hai dann unweigerlich.
»Ich kann Blut und Eiter nicht aushalten. Ich werde meine Zukunft auf andere Weise sichern.«
»Jeder Mensch muß seinen natürlichen Neigungen folgen«, murmelte Hai, »aber welchen Beruf du auch wählst, mein Sohn, übe dich in Bescheidenheit. Das ist der Preis für das Überleben.«
Niedergedrückt vom Kummer über die Revolte seines Sohnes, wandte sich Hai dann dem sanften Natan, seinem anderen Sohn, zu, von dem er spürte, daß er einmal in seine Fußstapfen treten würde.
Al-Mansur starb, wie er gelebt hatte. Er tat seinen letzten Atemzug bei der Rückkehr von einem weiteren Sieg über seine kastilischen Vasallen, einem Feldzug, dem die symbolische Schleifung des geheiligten Schreins der Christen in Santiago de Compostela vorausgegangen war. Als die Nachricht von seinem Tode Córdoba erreichte, verkündete Amram seinen Entschluß, das Elternhaus zu verlassen. Obwohl Hai von tiefer Trauer erfüllt war, war er doch überzeugt, daß sein Erstgeborener wie der Verlorene Sohn wieder zu ihm zurückkehren würde. Doch Amram wußte, das würde niemals geschehen.
Zum Abschied enthüllte Hai Amram das Geheimnis der genauen Zusammensetzung des Großen Theriak und gab ihm den Rat, dieses Mittel vorbeugend zum Schutz gegen die Pest anzuwenden. »Dieses Wissen, mein Sohn, könnte sich sehr wohl einmal als dein bester Schutz herausstellen.«
Obwohl Amram seinem Bruder so fremd war wie eh und je, mußte Natan doch weinen, als er ihn davonziehen sah.
In das unverwechselbare dunkle Gewand des Hauses Ibn Yatom gekleidet, zog Amram ben Hai ben Da'ud ibn Yatom durch die Provinzen von al-Andalus, von Sevilla im Westen nach Granada im Osten, beobachtete, nahm alles in sich auf, hörte zu und lernte. Überall wandten sich die Köpfe nach ihm um, wurden Augen fragend erhoben, wenn der große, kräftige Fremde vorbeikam, dessen Bewegungen – die Bewegungen seiner Großmutter Djamila – so ausladend und frei waren, dessen wache blaue Augen in scharfem Kontrast zu seiner dunklen Haut standen. Aber besonders seine geschliffene Aussprache und seine eleganten Sätze sicherten ihm die Bewunderung aller, die ihm begegneten, und flößten allen, die sich seiner Talente bedienten, Vertrauen ein. Hier verdingte er sich als Unterhändler, handelte Absprachen zwischen muslimischen und jüdischen Händlern mit der Finesse aus, die er sich während seiner jugendlichen Streifzüge durch die wimmelnden Gassen und Märkte seiner Heimatstadt erworben hatte. Dort stellte er seine literarischen Talente in den Dienst eines Berberprinzen, der des Lesens und Schreibens nicht mächtig war, oder eines freigelassenen slawischen Sklaven, der sich mit Waffengewalt aus den Bruchstücken des zerborstenen Kalifenreiches ein unabhängiges Reich geschmiedet hatte.
Genau wie er es vorhergesehen hatte, war das herrliche Reich, das der unfähige Hisham II. geerbt hatte, nach dem viel zu frühen Tod des 'Abd al-Malik, des fähigen Sohnes und Erben al-Mansurs, zerfallen. Das Gerücht ging um, der hajib sei von seinem eigenen jüngeren Bruder vergiftet worden. Dieser eitle, arrogante und vergnügungssüchtige Bruder mit Namen Sanchol, Sohn einer christlichen Prinzessin aus Navarra, zeigte ganz unverhohlen seine Verachtung für die Sitten des Moslems, als wolle er seine murrenden, von Steuern ausgebluteten Untertanen nun auch noch damit strafen. Sein letzter wahnsinniger Streich war jedoch, daß er den glücklosen Hisham zwang, ihn als Erben des Kalifentitels einzusetzen. Entrüstet erhoben sich die Bürger von Córdoba, stürzten das Kalifat in wildes Chaos. Nie wieder sollte es sich von diesem Schlag erholen. All seine riesigen Gebiete fielen an jene, die ein Schwert oder einen Säbel zu führen verstanden.
Amram verbannte die Turbulenzen der Zeit einen Augenblick aus seinen Gedanken und gab sich ganz der Freude hin, als er jenseits der gedrungenen Mauern Málagas, dessen mit dem Halbmond verzierte Türme hoch aufragten, am Strand entlangspazierte. Das Meer war ruhig wie kaum je, die Strahlen der Sonne ließen die Wasseroberfläche glitzern und schienen seine eigene gute Laune zu spiegeln. Soeben hatte er einen fabelhaften Handel zwischen einem nubischen Kaufmann, der eine atemberaubende Auswahl ungeschliffener Edelsteine anbot, und Joseph ibn Aukal, dem berühmtesten Juwelier von ganz al-Andalus, vermittelt. Wie viele andere Juden hatte Amram vor den Unruhen der Zeit Zuflucht in dem stillen Hafen gefunden, der Málaga geblieben war, ging seinen Geschäften nach und häufte ein Vermögen an. Geschickt eingefädelt, dachte Amram lächelnd, während die Sonne leicht über die kleinen Wellen tänzelte, geschickt eingefädelt, wie er die Sonne selbst den Handel hatte entscheiden lassen. Er hatte die Edelsteine aus der verschwitzten Pfote des stattlichen Nubiers in seine eigene feine, schmale Hand – Saris Hand, Hais Hand – gleiten lassen, war aus dem düsteren Schatten des bedestan ins Tageslicht getreten und hatte seine Hand ein wenig schräg gehalten, so daß die Sonne die glühenden Rubine und die festlich grünen Smaragde hatte aufleuchten und erstrahlen lassen. Innerhalb von Sekunden waren vor Joseph ibn Aukals Augen Bilder von Fassungen aus Gold und Perlen entstanden, in die er diese Juwelen einfügen würde, um sie am besten zur Geltung zu bringen. Sein einziger Wunsch war nur noch, sie als Schmuck einer Frau zu sehen, deren Schönheit allein sie überstrahlen konnte. Der Nubier war so entzückt gewesen, seine gesamte Ware an einen einzigen Käufer loszuwerden, der Juwelier so in die Betrachtung der Vollkommenheit dieser Steine vertieft, daß sie beide einwilligten, die völlig überzogene Vermittlungsgebühr zu zahlen, die Amram am Anfang verlangt, aber niemals zu bekommen gehofft hatte.
Mit dieser ansehnlichen Summe in der Tasche konnte er nun an den Kauf eines Hauses denken, am Fuß des Djabal Faro vielleicht, zwischen die Zypressen in der Nähe der Burgmauer geschmiegt. Gedankenverloren hob er eine ovale Muschel auf, deren zartes Muster sein Auge fesselte: Von der Mitte aus verliefen abwechselnd Streifen in braun, beige und weiß nach außen, verschmolzen die Farbnuancen harmonisch, strahlten in vollkommenen, rhythmischen Proportionen zum Rand hin aus, wie sie keine Menschenhand je hätte erschaffen können. Diese Vollkommenheit der Schöpfung hatte seinen Vater immer verwirrt, erinnerte er sich nun mit einer Zärtlichkeit, die wohl der Entfernung von seinem Zuhause zu verdanken war. Wenn derlei Vollkommenheit in der Welt war, was hatte sie dann getrübt? War Gott seiner Schöpfung müde oder überdrüssig geworden? Hatte er sein kapriziöses Vergnügen an Verirrungen, Unordnung, Konflikten und menschlichem Leid gefunden? Wenn das so war, wie konnte man Ihn dann als weisen, barmherzigen und allmächtigen Gott verehren, dem das Wohl der Menschen am Herzen lag? Amram legte die Muschel wieder in den Sand, gab seine fruchtlosen Grübeleien auf und wandte sich der praktischen Frage des Hauskaufs zu.
Es mußte einen Säulengang haben, mit schmalen Hufeisenbögen, durch die man auf das sich ständig verändernde Panorama des Himmels und des Meeres blicken konnte. Der Gedanke gefiel ihm. Hier in Málaga war er sicher, denn der slawische Gouverneur der Stadt, ein von einem von al-Hakams Höflingen freigelassener Sklave, hatte einen Pakt mit den streunenden Berberführern geschlossen, die ihm versprochen hatten, sein Gebiet in Ruhe zu lassen. Die Berber hatten diese Übereinkunft zweifellos aus purer Notwendigkeit getroffen: Eine friedliche Enklave, in der Handel ohne Störungen möglich war, war für sie lebenswichtig, um eine regelmäßige Versorgung ihrer Männer mit Nahrung, Waffen und Munition zu sichern, damit sie ihre Überfälle auf die Überreste des Kalifenreiches unternehmen konnten.
Ein Haus, vielleicht auch eine Frau, träumte Amram weiter, während er sich auf den Rückweg in die Stadt machte, in die massive Festung mit ihren quadratischen Türmen, die von der Anhöhe des Berges Djabal Faro auf sie herabblickte und ihren schützenden Schatten auf die Behausungen warf, die sich auf der Ebene in den Mauerring schmiegten. Das Klatschen der Wellen, der Duft des Geißblatts und Jasmins, der von den Palastgärten zu ihm herüberwehte, all das versetzte ihn in Hochstimmung.
Um so mehr erschrak er, als er gewahr wurde, wie Joseph ibn Aukal beinahe im Laufschritt über den sandigen Weg zwischen der Stadtmauer und dem Meer auf ihn zugeeilt kam, das makellose weiße Gewand um die Knöchel raffend, um sich schneller fortbewegen zu können.
»Unheil ist über deine große Stadt Córdoba hereingebrochen!« rief er, als er in Hörweite war. Er zog einen Brief aus der Tasche seiner Djellaba, wedelte wild damit in der Luft herum, während er atemlos fortfuhr: »Die Gerüchte, die während der letzten paar Tage im bedestan umgegangen sind, sind gar nichts verglichen mit der Wirklichkeit, die mir einer meiner Kunden in diesem Brief beschreibt. Die Belagerung der Stadt durch die Berber war erfolgreich. Sie zwangen die Einwohner durch Aushungern in die Knie, obwohl diese tapfer beteuert hatten, sie wollten lieber sterben, als unter Berberherrschaft gelangen. Beim Eindringen in die Stadt verübten die Barbaren dann Massaker, die sich jeder Beschreibung entziehen. Säuglinge wurden in den Armen ihrer Mütter dahingeschlachtet, ehrwürdige Theologen wurden beim Betreten ihrer Studienhäuser von hinten erdolcht, ihr weißes Haar färbte sich rostrot vom Blut, das aus ihren Wunden troff. Wenn sie von einer Frau wußten, daß sie ein Vermögen besaß, hängte man sie so lange an ihren Brüsten auf, bis sie das Versteck verriet. Was die Plünderungen angeht, so überlasse ich das Eurer Vorstellungsgabe. Sobald ein jeder Gegenstand von einigem Wert aus den Häusern der Reichen gestohlen war, setzten sie die Villen und Gärten in Brand. Alles, was von den herrlichen Wohnhäusern in den westlichen Vorstädten noch übrig ist, sind rauchende Ruinen, zwischen denen um Mitternacht die Schakale heulen.«
Amram erbleichte. »Wo finde ich das schnellste Roß von Málaga?« rief er und umklammerte den Arm des Händlers mit eisernem Griff.
»Überlaßt das mir.«
Amram legte den Viertagesritt nach Córdoba in weniger als drei Tagen zurück. Unermüdlich sprengte er durch die sanfte Hügellandschaft, blind für alle Schönheit – das zarte Grün, den hauchdünnen Schleier des Frühlings, auf den eine Vielzahl bunter Blüten gestreut war, die der erbarmungslose Sommer noch nicht hatte verdorren lassen. In seiner Bitterkeit hätte er wahrscheinlich sogar diese herrliche Pracht als zynische Täuschung betrachtet, die Schönheit der Natur als trügerische Maske, die ihre Grausamkeit verbergen sollte …
Nie hatte der ältere, rebellische Sohn von Hai ibn Yatom so inbrünstig gehofft, daß sich die Argumente seines Vaters bewahrheiten würden. Nur eines ersehnte er: Hai und seinen Bruder Natan vorzufinden, geschwächt vielleicht, aber doch immer noch damit beschäftigt, die Verwundeten von Córdoba in dem Haus vor der Stadt zu versorgen, das sein Heim gewesen war, ihr Arztberuf als Schutz für die ganze Familie … Hätte er noch an den Gott seiner Ahnen geglaubt, er hätte gebetet, aber die bestialische Schlächterei der Berberhorden – auch sie Gottes Schöpfung – hatte seinen Glauben an die Existenz eines Höheren Wesens für immer zerstört. Wenn Er tatsächlich das barmherzige und allmächtige Wesen war, an das die Menschen glauben wollten – glauben mußten –, wie konnte Er dann zulassen, daß an unschuldigen Menschen solche schrecklichen Greueltaten verübt wurden? Und doch, wenn Er nicht existierte, an wen oder was konnten die ganz normalen Menschen sich dann noch wenden, wenn ihnen sonst alle Hilfe verwehrt war? In Amrams scharfem Verstand standen sich blinder Glaube und abgrundtiefe Verzweiflung gegenüber. Keine von beiden Möglichkeiten bot eine Lösung. Was dann? Nur ein skrupelloser Kampf ums Überleben, jeder für sich nach den unbarmherzigen Gesetzen der Natur, ohne Tempel oder Priester, die um die Gnade jenes Allmächtigen flehten?
Die Sonne hatte schon beinahe ihren mittäglichen Höchststand erreicht, als das kleine Landhaus in Sicht kam. Der Anblick der Geier, die darüber ihre Kreise zogen, der Gestank verrottenden Menschenfleisches, der ihm in die Nase stieg, als er näher kam, töteten jede Hoffnung, die er während seiner Reise noch gehegt hatte, im Keim ab. Und doch, als er sich beim Eintreten ins Haus niederbeugte und Dutzende verstümmelter Leichen, die dort auf dem Boden lagen, mit dem Gesicht nach oben drehte, als er gegen jede Vernunft überlegte, wenn er seinen Vater, Natan und seine Mutter hier nicht entdeckte, hätten die drei vielleicht wirklich einen Beschützer gefunden … Während er sich einen Weg durch die Toten bahnte, wußte er schon, daß das nicht so gewesen sein konnte. Hai ibn Yatom hätte niemals die Verwundeten im Stich gelassen, die hilfesuchend zu seinem Haus gekrochen und gehumpelt waren, und Dalitha wäre niemals von ihm fortgegangen. Als Amram seinen Vater schließlich fand, erkannte er aus der Lage der Leiche, daß man ihn ermordet hatte, während er gerade kniete, um einen Patienten zu behandeln, dessen Körper von Messerstichen übersät war. Ihm selbst hatte man ein Schwert in den Rücken gerammt, das ihn, so hoffte Amram, auf der Stelle getötet hatte. Er war zur Seite gefallen, den Körper gekrümmt wie ein Ungeborener. Dalitha hatte man zu Boden gestreckt, als sie ihm zu Hilfe eilte. Wie viele dieser Unmenschen sie vergewaltigt hatten, ehe sie erdrosselt wurde, konnte er nicht sagen …
Blindlings stolperte er über die anderen Leichen hinweg und taumelte aus dem Haus. Benommen vor Schmerz und Grauen, angewidert vom Gestank des Gemetzels ringsum, erbrach er sich, bis er nichts mehr im Leib hatte. Dann wischte er sich den kalten Schweiß von der Stirn und versuchte, des Zitterns Herr zu werden, das ihn am ganzen Leib erfaßt hatte, suchte ringsum nach einem angemessenen Grab, in dem er die Leichname seiner Eltern zur letzten Ruhe betten konnte. Wohin er auch blickte, nichts als Verwüstung. Den Hausgarten, der immer so voller Leben gewesen war, hatten die Horden zertrampelt, den Gemüsegarten völlig ausgeräumt, die Obstbäume ihrer Zweige beraubt, die zarten Weinschößlinge in wilder Zerstörungswut niedergemacht. Die Aloepflanzung hatte man mit dem Schwert zerhackt, die breiten fleischigen Blätter in Stücke geschnitten und am Boden unter den leeren Strünken der Fäulnis überlassen. Amram stand da, betäubt von der sinnlosen, wilden Grausamkeit der Berber, als er hinter sich Schritte hörte, die zögernd vom Haus näher kamen. Noch ein verzweifelter Patient, dachte er, als er sich zum Haus umwandte. Es dauerte einen Augenblick, ehe er in der gespenstischen Gestalt, die auf ihn zugewankt kam, seinen Bruder erkannte.
Wortlos legte Amram seinen stützenden Arm um Natans Schulter, und zusammen machten sie sich mit unsicheren Schritten auf den Weg zum Gärtnerschuppen. Dort setzten sie sich auf einen Stapel alter Säcke. Amram gab Natan den letzten Schluck Wasser aus seiner Kürbisflasche und den Rest seines Proviants, den er aus Málaga mitgebracht hatte. Dann wartete er schweigend, bis Natan die Kraft zum Sprechen aufbrachte.
Mit hängenden Schultern preßte sich Natan den Daumen an die Schläfe und fuhr sich mit den Fingern über die Augen, als wolle er die Bilder auslöschen, die noch immer vor ihm standen. Aber es nutzte nichts. Schließlich murmelte er: »Es war ein unglaubliches Gemetzel. Zunächst hat man uns hier in Frieden gelassen, obwohl wir uns schon denken konnten, was für Greueltaten begangen wurden, weil der Wind das Heulen und Wehklagen aus der Stadt zu uns trug und die Flammen hoch in den Himmel loderten und über dem Leichnam der Stadt dichten Rauch wie ein schwarzes Leichentuch ausbreiteten. Die Verwundeten kamen in Scharen zu uns, Berber und Cordobaner gleichermaßen. Wir arbeiteten Tag und Nacht, um zu helfen, wo wir konnten. Doch dann, als in der Stadt niemand mehr war, den sie hätten töten können, kamen sie, immer noch blutrünstig, hierher gestürmt. Die Verwundeten haben sie ohne Ansehen der Person niedergemetzelt, ganz gleich, ob es ihre eigenen unglückseligen Soldaten oder ausgehungerte Verteidiger unserer geliebten Stadt waren.« Natan schluckte und legte eine kleine Pause ein, ehe er weitersprach.
»Als sie Vater erblickten, kreischten sie wilde Anschuldigungen, er hätte ihre Feinde behandelt, und töteten ihn auf der Stelle, wo er gerade kniete und einem Mann von unbekannter Herkunft die Todespein zu lindern versuchte. Was sie vor meinen Augen mit Mutter gemacht haben«, und hier brach ihm die Stimme, »war so grauenhaft, daß ich es nicht in Worte fassen kann.«
»Und du?«
»Mich haben sie verschont, unter der Bedingung, daß ich mit ihnen in die Stadt zurückging und dort einen ihrer Anführer behandelte, auf den aus einem brennenden Haus ein schwelender Balken herabgefallen war. Das Haus …« Natan unterbrach sich noch einmal, wurde von wildem Schluchzen geschüttelt. Nicht einmal Tränen wollten fließen, um das Grauen zu lindern. »Das Haus«, stammelte er schließlich, »war unseres. Als ich ihnen sagte, der Verwundete würde noch einen oder zwei Tage nicht im Sattel sitzen können, wurden meine Geiselnehmer ungeduldig und galoppierten auf der Suche nach weiteren Opfern davon. Ihre Blutrünstigkeit hat mir das Leben gerettet.«
Benommen vor Grauen standen die Brüder auf, vereint in ihrem Schmerz, wie sie es in ihrer Kinderzeit nie gewesen waren. Zusammen nahmen sie die Spaten, die im Schuppen lagen, und gruben am Fuß der Zypressen an der Grundstücksgrenze der Ibn Yatoms ein Doppelgrab. Sie bahrten die Leichname auf, so gut sie konnten, wickelten sie in den Gebetsschal ihres Vaters, den sie wunderbarerweise unberührt in einer kleinen Truhe fanden. Zusammen trugen sie die Leichen zu ihrem Grab und legten sie sanft in die Erde. Erst jetzt flossen Natans Tränen. Er barg den Kopf an der mächtigen Schulter seines Bruders und weinte, bis er nicht mehr konnte.
»Und jetzt?« fragte Amram schließlich. »Was jetzt?«
»Für mich gibt es keine Frage«, antwortete Natan. »Mein Platz ist hier, meine Aufgabe ist es, unser Heim wieder aufzubauen und alles neu zu pflanzen. Von der Apotheke ist nichts mehr übrig. Alle Tiegel, Töpfe und Flaschen sind zerbrochen, als die Horden durch das Haus trampelten. Wichtiger noch, ich muß Vaters wissenschaftliche Studien dort fortsetzen, wo er aufgehört hat, vielmehr versuchen, sie nachzuvollziehen, den Weg noch einmal gehen, den er so mühsam zurückgelegt hat.«
»Wieso noch einmal gehen?«
»Weil, mein lieber Bruder, seine sorgfältigen Aufzeichnungen zusammen mit unserem Haus in Córdoba in Flammen aufgegangen sind, wo er sie aufbewahrt hat – ein kleines Unglück unter unseren augenblicklichen Lebensumständen, ein ungeheurer Verlust, wenn man es aus einer weiteren Perspektive betrachtet. Und du?« fragte er seinen Bruder mit ernster Stimme.
»Ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht. Das einzige, was ich will, ist Macht, Macht, die ich ausüben will, um all die zu schützen, die mir lieb und teuer sind. Wo immer Macht ist, ich werde sie suchen und mir meinen Anteil daran sichern.«
»Aber wo liegt die Macht? Gestern bei den Slawen, die Córdoba im Namen des Kalifen regierten, heute bei den Berbern, morgen bei den alteingesessenen arabischen und muslimischen Andalusiern von Sevilla. Die dort aufstrebende Dynastie der Abbaditen wird nicht lange untätig dasitzen und zusehen, wie sich die Berber die Überreste des Kalifats einverleiben.«
»Das ist gerade mein Dilemma.«
Es war ein Dilemma, das zu lösen Amram keine Gelegenheit bekommen sollte. Am nächsten Morgen, als die beiden Brüder ausritten, um in der Umgegend nach Essen zu suchen, überholte sie auf dem Weg der Berberführer, dessen Wunden Natan behandelt hatte.
»So treffen wir uns also wieder, junger Mann. Und wer ist das?« fragte er mißtrauisch und wies mit einer knappen Kopfbewegung auf Amram.
»Mein Bruder«, erwiderte Natan und konnte seines Schreckens kaum Herr werden. Der Berber kniff drohend die Augen zusammen, eine Hand am Dolch, während er nach einer Familienähnlichkeit suchte, die Natans Worte bestätigen könnte. Sie hatten weniger ihre Gesichtszüge gemein als ihre unverwechselbare noble Haltung, das überzeugte den Berber schließlich. »Ist er ein ebenso geschickter Arzt wie Ihr?«
»Nein«, antwortete Amram an Natans Stelle. »Nur ein bescheidener Handelsmann.«
»Und doch habt Ihr eine geschickte Zunge.«
»Wie mein Bruder habe ich an den Akademien von Córdoba die beste Erziehung genossen.«
»Das ist offensichtlich. Und da Ihr der Bruder des Mannes seid, der mir das Leben gerettet hat, wäre es unehrenhaft, Euch ein Leid anzutun. Allah erinnert mich daran, Euch mit mir nach Granada zu nehmen, wo der Anführer meines Sinhaja-Stammes herrscht. Ein Jude von Eurer Bildung und ohne ehrgeizige Landgier könnte für uns von unschätzbarem Wert sein. Kommt, laßt uns zusammen fortreiten.«
37
Als die Gipfel der Sierra Nevada weiß am Horizont erschienen und einen sagenhaft schönen Hintergrund für die sanft gewellten Hügel, die ausgedehnten Olivenhaine und die üppig belaubten Weinberge boten, die sich zu beiden Seiten erstreckten, hatte Amram eine so klare Vorstellung davon, was sein Retter und Geiselnehmer von ihm erwartete, wie das in diesen unruhigen Zeiten nur möglich war. Abu Ali Hamid ibn Abi war, das wurde schon bald offensichtlich, der oberste Steuereinnehmer des Berberprinzen von Granada, Zawa ibn Ziri. Als Sprößling aus dem tunesischen Königshaus war Ibn Ziri ursprünglich an der Spitze einer Gruppe von Männern aus dem Stamme der Sinhaja nach Spanien gekommen, um im Sold von al-Mansur seinen Dienst zu leisten. Als aber das Omaijadenreich zerfiel, hatte er nicht lange gezögert und seinen Vorteil aus den Unruhen gezogen. Während kriegerische Berberstämme erbarmungslos Druck auf die Stadt Córdoba ausübten und ein Marionettenkalif den nächsten auf dem Thron ablöste, gelang es Zawa ibn Ziri, die Herrschaft über das gesetzlose Gebiet Granada an sich zu reißen. Doch trotz seiner beträchtlichen Errungenschaften zeigte er keinerlei Bestrebungen, in einem Land, das nicht sein eigenes war, Wurzeln zu schlagen. Ihn gelüstete es nach der Macht in Tunesien.
»Sobald die Zeit reif ist, kehrt unser Herrscher in sein Heimatland zurück«, vertraute Abu Ali seinem Gefährten und Gefangenen an. »Auf diesen Tag müssen wir gut vorbereitet sein. Unter all den Prinzen in Zawa ibn Ziris Gefolge ist sein Neffe Habbus ibn Maksan derjenige, der am besten zum Regieren geeignet ist. Er ist ein wilder Krieger, er ist ehrgeizig, und er scharrt schon ungeduldig mit den Füßen. Er möchte zumindest einen Anschein von Ordnung in die Verwaltung von Granada bringen, und er brennt darauf, die benachbarten Gebiete zu erobern, um unsere eigenen Ländereien zu sichern und zu vergrößern. Aber sein Endziel ist es, eine Militärmacht zu schmieden, die in der Lage wäre, die aufstrebende Macht der Abbaditen in Sevilla herauszufordern.
Einem Mann von Eurer Intelligenz muß ich nicht erklären, daß Geld, viel Geld, der Schlüssel zu diesem ehrgeizigen Plan ist. Um das zu erhalten, müssen wir ein wirksames System zum Eintreiben der Steuern einrichten. Es reicht nicht aus, daß jeder Bewohner unserer Gebiete sein Soll erfüllt. Wir müssen auch dafür sorgen, daß das eingenommene Geld wirklich in unseren Truhen landet und nicht in denen der Steuereintreiber. Diese raubgierigen Schwindler erpressen ungeheure Summen von den reichen Händlern der Stadt, wenn es sein muß mit vorgehaltenem Messer, aber sie geben dem Kämmerer nur einen Bruchteil dessen ab, was sie eingesammelt haben. Es versteht sich von selbst, daß sie zu faul sind, auch aufs Land hinauszureiten, um dort die Steuern von den Bewohnern der Außenbezirke zu fordern. Das, junger Mann, ist die Aufgabe, die ich Euch zu übertragen gedenke«, schloß Abu Ali in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.
Inzwischen näherten sich die beiden Männer den Mauern der Berberstadt mit ihren eckigen Türmen. Am Westtor trennten sich ihre Wege. Der Wesir wandte mit einem Aufstieben rötlicher Erde sein Roß in Richtung Königspalast an den oberen Hängen des Albaicin, während Amram weiter in Richtung Süden über den Darro ritt und dann über das freie Gelände zum Judenviertel.
Dunkle, neugierige und ein wenig mißtrauische Augen folgten dem Fremden, als er in die enge Hauptstraße des Viertels einbog. Er beachtete sie nicht, sondern ritt langsam weiter, besah sich aufmerksam die planlos angelegten Werkstätten und schattigen Läden, in denen Gold- und Silberschmiede, Seidenhändler, Sattler und Lederarbeiter, die die Soldaten mit Schilden und Helmen versorgten, eifrig ihrem Gewerbe nachgingen. Beim Anblick Amrams beschlich die Juden von Granada ein ungutes Gefühl. Von seiner aufrechten, kräftigen Gestalt, von der Ausstrahlung gezügelter Macht und fester Entschlossenheit ging etwas aus, das ihnen eine unbehagliche Mischung aus Furcht und Respekt einflößte.
Vor dem größten Juwelierladen stieg Amram vom Pferd. Nachdem er eingetreten war, empfahl er sich mit Grüßen des bekannten Juweliers aus Málaga, Joseph ibn Aukal, und erkundigte sich, ob im Viertel ein Haus zu mieten sei. Seine Aussprache war so elegant, seine Haltung so gebieterisch, daß der Händler, sich halb verbeugend vor Aufregung und Verlegenheit, erwiderte, ja, ja, natürlich. Wie überaus glücklich diese Fügung für beide war. Sein Vater war kürzlich verstorben, und er hatte gerade seine Mutter zu sich genommen. Also stand das frühere Zuhause seiner Eltern nun zur Verfügung. Er würde sich geehrt fühlen, es dem geschätzten Herrn zu zeigen und ihn als Mieter zu begrüßen. Die Bediensteten im Hause würde er kostenlos dazugeben, fügte er hinzu, unterwürfig, aber nicht ohne einen Hauch Schläue.
Ein zufriedenstellender Anfang, dachte Amram, während er Ibrahims wendiger Gestalt ins helle Tageslicht folgte. Es stimmte, das Herrschaftsgebiet der Berber war noch relativ klein, aber wenn Abu Ali mit seinen Voraussagen recht behielt, und er neigte dazu, dem Mann Glauben zu schenken, dann war Granada dazu bestimmt, zu großen Höhen aufzusteigen – und er mit dieser Stadt.
Der träge Diener, den er geerbt hatte, brauchte beinahe bis zum Abend, um ihm eine Mahlzeit zuzubereiten und aus dem bescheidenen Anwesen den muffigen Geruch der Verwahrlosung und des Alters zu vertreiben, der in alle Wände eingesickert war. Erst dann, als alles ringsum sauber und ruhig war, konnte Amram über das Schicksal des Hauses Ibn Yatom nachdenken. Schon vor der Zerstörung Córdobas war das Vermögen, das sein Großvater Da'ud angehäuft hatte, beträchtlich geschrumpft: sein Vater, dem nichts an weltlichen Gütern lag, hatte immer wieder großzügig Geld ausgegeben, um sicherzustellen, daß seine Familie gut lebte und seine Söhne von den besten Gelehrten Córdobas unterrichtet wurden. Was noch übrig war, hatten die Berber sich genommen, als sie das Haus vor der Stadt und das Anwesen in der Stadt plünderten, ehe sie es niederbrannten. Jetzt war er das Oberhaupt der Familie und hatte somit zwei große Verpflichtungen. Die erste war, die Familie wieder vermögend zu machen, als Vorsorge für Unruhen in der Zukunft. Mit der zweiten hatte er bereits in Málaga begonnen, aber jetzt, nach der Tragödie der Familie, war sie wesentlich dringlicher geworden. Es war an der Zeit, daß er sich eine Frau suchte, um den Fortbestand des Hauses Ibn Yatom zu sichern, das Da'ud und Hai zu solchem Ruhm geführt hatten. Wenn ihm das Schicksal hier in Granada hold war, wären vielleicht schon bald beide Ziele in greifbarer Nähe …
Als die Dämmerung hereinbrach, legte sich die ganze Anspannung der letzten Tage wie Blei auf ihn. Er befahl dem Diener, ihm das Bett zu richten, und legte sich hin, sobald es dunkel geworden war. Doch der Schlaf wollte nicht kommen. Der Anblick seiner ermordeten Eltern stand ihm vor Augen und wollte nicht weichen. Unfähig, die Bilder des Grauens zu verjagen, zündete er eine Kerze an und ging unruhig in dem ungewohnten Haus umher, betastete hier einen verbeulten goldenen Kelch, schob dort ein verschlissenes Kissen zurecht, öffnete ein völlig verklemmtes Fenster und starrte in die Nacht. Seine Gedanken jagten hin und her zwischen der Endgültigkeit des Todes und dem unverwüstlichen Drang nach Leben. Er mußte sich von diesen Gedanken befreien, mußte sie aufs Papier bannen, um endlich Ruhe zu haben. Fast wie von selbst fand er die richtigen Worte, kaum daß er die Feder ergriffen hatte.
Als er die letzten Zeilen geschrieben hatte, erbarmte sich seiner der Schlaf.
Früh am nächsten Morgen folgten die Tuchhändler, die ihre Vorräte prüften, um sich auf den Tag vorzubereiten, und die Handwerker, die ihre Werkzeuge auf den Arbeitstischen auslegten, dem Fremden mit den Augen, als er aus dem Judenviertel ausritt und sein Roß in Richtung Norden zum Albaicin lenkte. Schnell machte das Gerücht von einem zum anderen die Runde: Der Mann hatte mit dem Hof des Prinzen zu tun. Welcher Art wohl seine Geschäfte waren? Das war ein Geheimnis. Die Spekulationen überschlugen sich und nahmen noch zu, als Amram an jenem Abend nicht zurückkehrte. Und weder am nächsten Tag noch am übernächsten.
Erst Mitte der folgenden Woche tauchte er wieder auf, und inzwischen waren die Juden von Granada gründlich verwirrt. Doch niemand wagte es, den Neuankömmling zu befragen, so verschlossen schien er ihnen. Drei ganze Monate vergingen: Immer verbrachte er ein, zwei Tage in Granada, meist bei den Berbern am Albaicin, dann folgte wieder die gleiche unerklärliche tagelange Abwesenheit.
Die Verwunderung der Juden wuchs. Aber das war alles noch gar nichts verglichen mit ihrem Erstaunen, als sie eines Tages mit weit aufgerissenen Augen sahen, wie er an der Spitze eines langen Zugs von Maultieren in das Judenviertel einritt, an der Seite eine hinreißend schöne junge Frau. Jetzt, da eine Gattin in den Haushalt des Fremden eingetreten war, würden die Ehefrauen sein Geheimnis im Nu lüften, frohlockten die meisten. Die reichen Händler waren weniger entzückt. Viele von ihnen hatten Amram als möglichen Ehemann für eine ihrer heiratsfähigen Töchter beäugt. Ibrahim war der erste unter ihnen, aber zu seinem großen Kummer erkannte er auch als erster mit seinen flinken Augen die Braut, sobald sie vom Pferd stieg und ins frühere Heim seiner Eltern eintrat. Die Art, wie sie ging, eine Art wiegendes Schwanken, leicht zurückgeneigt, war unverwechselbar. Bei ihrem Anblick sank sein Herz. Es war Leonora, die älteste Tochter seines Freundes und Kollegen Joseph ibn Aukal aus Málaga. Für dieses wunderschöne Geschöpf war schon seit langer Zeit sein einziger Sohn als Gatte bestimmt gewesen. Da hatte sich also dieser schweigsame Eindringling dazwischengedrängt und sie ihm fortgenommen! Kein Wunder, daß er so verschlossen gewesen war! Allmächtiger Gott, wie naiv er gewesen war, seinen schmeichlerischen Worten Vertrauen zu schenken! Wie ahnungslos! Er hätte wahrhaftig schlauer sein müssen, hätte begreifen müssen, daß etwas im Busch war. Aber damit sollte die Sache nicht abgetan sein, das schwor er sich. Weit gefehlt! Der geschätzte Herr hatte zuviel als selbstverständlich vorausgesetzt. Dachte er wirklich, daß Ibrahim derlei einfach hinnehmen würde?
Amram widmete sich der Kunst der Liebe mit dem gleichen Anspruch auf Vollkommenheit wie allen anderen Dingen, die er in Angriff nahm. Als guter Menschenkenner hatte er sich eine Gattin ausgewählt, bei der er einen Ehrgeiz spürte, der, wie es sich für Frauen geziemte, verborgen war, dem seinen aber durchaus entsprach. So wie sie ihm darin ähnelte, war sie ihm auch bei den Freuden und Leidenschaften des Bettes an Glut und Geschick ebenbürtig. Nun betrachtete er sie, wie ihre großen eisblauen, ein wenig mandelförmigen Augen schmolzen und sich dann mit innigem Vergnügen schlossen, als er ihre kleinen, erwartungsvoll aufgerichteten Brustwarzen mit den Lippen faßte. Er hörte ihre leidenschaftlichen Seufzer und Schreie. Er spürte, wie sie sich um ihn schlang, einmal straff angespannt und dann wieder fügsam unter seinen Händen, und er freute sich an ihrer instinktiven Reaktion auf seine anfängliche Zartheit und die ungestüme Kraft, mit der er sie dann eroberte. Sie vereinigten sich in einem ungeheuren Sturm, einer Explosion, die alle Grenzen ihrer irdischen Gestalten zu sprengen schien, um sie mit dem ewigen Quell des Lebens zu verbinden. Die ganze Nacht hindurch ergötzten sie sich aneinander, einer passiv, wenn der andere aktiv war, einer ruhig und entspannt, wenn der andere erregt war. Von Zeit zu Zeit erfrischten sie sich mit einem Schluck Wein, den Amram aus einer goldenen Karaffe in die blitzenden silbernen Pokale schäumen ließ.
Es war schon beinahe Mittag, als sie strahlend von der Wärme der Liebe in den Tag hinaustraten. Leonora hielt eine üppige Traube in der einen Hand, pflückte mit der anderen eine Weinbeere ab und ließ sie in den Mund gleiten. Auf Zehenspitzen ging sie durch das Haus, in das ihr Ehemann sie gebracht hatte, betrachtete es mit leichtem Abscheu.
»Wir müssen sofort hier ausziehen«, erklärte sie und ließ prüfend den Finger über die abgeplatzte Kante einer Nische fahren, in der die goldene Karaffe stand. »Es ist ja kaum ausreichend Platz für uns beide hier, ganz zu schweigen von den Truhen mit meiner Aussteuer. Außerdem paßt ein so heruntergekommenes Anwesen nicht zu einem Mann deines Ansehens.«
»Ansehen, das ist etwas, das die Ibn Yatoms nicht gern zur Schau stellen«, antwortete Amram leise, aber bestimmt. »Wir ziehen es vor, unsere Größe in der Abgeschiedenheit und Diskretion unserer eigenen vier Wände für uns zu behalten.«
»Aber nicht in so schäbigen wie diesen hier.«
»Nein, meine Liebe«, beruhigte sie Amram, pflückte eine Traube ab, hielt sie zwischen den Zähnen und zog dann ihr Gesicht zu dem seinen, so daß sie beide gleichzeitig in die Frucht bissen und sich ihre Lippen dabei berührten. »Ich suche ein Haus, das deinen Gefallen findet, aber wir müssen jeglichen Prunk vermeiden, trotz der großzügigen Mitgift, die dein Vater dir mitgegeben hat. Als Jude im Dienst des Berberreiches, in dem die Beziehungen zwischen den Menschen wechselhaft, unberechenbar und allein von Eigeninteresse geprägt sind, müssen wir so unauffällig wie möglich bleiben, bis unsere Position durch nichts mehr zu erschüttern ist.«
Leonora schmollte, und Amram mußte sie auf ihre nach unten gezogenen Mundwinkel küssen, bis sie wieder lächelte. »Du mußt an mich glauben«, murmelte er und strich sanft mit dem Finger über ihre gerade Nase, um die breiten Nasenflügel und dann hinauf zu den elfenbeinglatten Wangen. »Unterstütze mich treulich in all meinem Handeln, und ich schwöre dir bei der Ehre des Hauses Ibn Yatom, du wirst nicht enttäuscht sein.«
Ehe er wieder zu seinem Rundritt zum Eintreiben der Steuer im Tal des Genil aufbrach, kaufte Amram ein verlassenes Haus am östlichen Rand des Judenviertels. Es stand an den unteren Hängen des Berges, über dem innerhalb der Stadtmauern die Festung Hisn Maurur thronte, von deren runden Türmen ständig die südlichen Zugänge zur Stadt bewacht wurden. So, neckte Amram seine Frau, als er ihr das Grundstück zeigte, hätten sie immer die Möglichkeit, Zuflucht in der Festung zu nehmen, falls einmal der eine oder andere Feind der Berberprinzen einen Überfall auf Granada wagen sollte.
»Jetzt«, fuhr er fort, »werden wir hinter dieser schlichten Fassade den schönsten Garten anlegen. Ringsum soll ein Säulengang verlaufen, mit Säulen so schlank wie dein Hals, mit Hufeisenbögen, die so vollkommen gerundet sind wie deine Brüste und sich dann so nach innen schwingen wie deine wunderschöne Taille. Von dort wird man in die Gemächer gelangen, deine zur Rechten, meine zur Linken.«
»Und was ist mit dem jetzigen Haus?«
»Wir werden es zu einem großen Salon umbauen, in dem wir, wenn die Zeit gekommen ist, unsere Gäste empfangen. Später verzieren wir noch die Westfassade mit einem Balkon, der genauso elegant sein soll wie der Säulengang. Von dort, meine Liebste, mein Reh, werden wir zusammen zusehen, wie die Sonne über dem Vega untergeht. Und wenn wir uns ein wenig umdrehen, wird es uns scheinen, als brauchten wir nur eine Hand auszustrecken und könnten den Berg berühren.«
Auf Leonoras leises Lächeln meinte er: »Ich wußte, daß mein Plan dir gefallen würde.« Ehe sie noch Zeit hatte, etwas zu antworten, fuhr er eilig fort: »Die Arbeiten sollen unverzüglich beginnen. Ich komme so bald wie möglich wieder, um die Arbeiter zu beaufsichtigen und um meine Geliebte in den Armen zu halten, nach der mein Herz sich in jeder Sekunde meiner Abwesenheit verzehren wird. Während ich fort bin, kommen sicherlich die Damen der Gemeinde zur dir zu Besuch. Ihre Gesellschaft wird dir die Zeit verkürzen, aber hüte dich vor ihren Versuchen, etwas über meine Tätigkeit herauszufinden. Du mußt als ein Muster an Unschuld und Unterwürfigkeit auftreten, ahnungslos über die Geschäfte, die dein Herr und Meister treibt. Wenn die Zeit reif ist, werden sie sich alle vor dir verneigen, aber noch ist es nicht so weit.«
38
Kaum hatte man Amram die Stadt verlassen sehen, da konnte sich Leonora, wie er vorausgesagt hatte, vor dem ständigen Strom von Besucherinnen kaum noch retten, die alle vorgeblich nur erschienen waren, um sie in der jüdischen Gemeinde willkommen zu heißen. Sie begrüßte sie mit untadeliger Gastfreundschaft, lächelte lieblich, hörte aufmerksam zu und ließ angemessene Bekundungen der Freude und des Mitgefühls hören, wenn sie ihr hier von einer Geburt und da von einem Todesfall berichteten. Und doch wich sie mit einem Geschick, das ihrem Ehemann Bewunderung abgenötigt hätte, allen Fragen aus, die sich auf Themen bezogen, die er ihr zu vermeiden geraten hatte. Schließlich mußten die Damen sich geschlagen geben. Ihre Verhöre fanden ein Ende, ebenso ihre Besuche. Aber ihre Neugier bestand weiter; als das neue Haus fertig war, erreichte sie erst ihren Höhepunkt. Die gleiche Frage lag auf den Lippen jedes Juden von Granada: Wie hatte dieser Neuankömmling, ein Flüchtling aus der verwüsteten Stadt Córdoba, so schnell so viel Geld verdienen können? Oft wurde Leonoras Mitgift als Quelle dieses neuen Reichtums genannt, bis Ibrahim, dessen Entrüstung noch immer schwelte, dieser Spekulation ein Ende bereitete. Obwohl es seinen Stolz verletzte, ließ er verlauten, er selbst hätte mit Joseph ibn Aukal über die Summe gesprochen, die dieser seiner Tochter mit in die Ehe geben würde, wobei die Verlobung mit seinem Sohn – wie er mit leiser Stimme hinzufügte – seit der Geburt der beiden Kinder als abgemachte Sache gegolten hatte.
»Er mag ja ein großer Künstler sein«, säuselte Ibrahim in die Ohren seiner Glaubensgenossen, »aber er ist ein elender Geizhals. Verglichen mit seinem Vermögen hat er nur eine jämmerliche Summe angeboten. Als ich dagegen Einspruch erhob, hat er mich mit vagen Versprechungen zu trösten versucht, zu gegebener Zeit würde seine geliebte Tochter gleichberechtigt mit seinen Söhnen erben. Meine Ablehnung eines solch wertlosen Versprechens, ganz zu schweigen von meinem Zorn darüber, daß er mich für so naiv hielt, all das hat mich vor seinen zynischen Machenschaften bewahrt«, erklärte Ibrahim dann noch, um seine angeschlagene Ehre zu retten. »Glaubt mir, Freunde, mit Joseph ibn Aukals Geld ist das Haus des Ibn Yatom bestimmt nicht gebaut worden.«
Obwohl Ibrahim es schaffte, in einigen Köpfen Zweifel an Amrams Rechtschaffenheit zu säen, gelang es ihm doch nicht, den Großteil der Gemeinde gegen ihn aufzubringen. Und so wurde seine Mißgunst nur noch größer, als seine Frau und seine Töchter von ihren Besuchen im Hause Leonoras mit neidvollen Erzählungen über die Eleganz seiner Säulengänge und die Schönheit seines Gartens zurückkehrten. Aber erst als er an einem Sabbatabend aus der Synagoge trat und dort die gesamte Gemeinde um seinen Feind versammelt stehen sah, als wäre er ein Prinz, wurde sein Zorn grenzenlos.
»Schau sie dir an!« zischte er zwischen den Zähnen hervor, als er, nur von seinem verschmähten Sohn begleitet, nach Hause eilte. »Geblendet von seinen schönen Reden, seinen höfischen Manieren und seinem berühmten Namen. Aber was wissen sie schon von ihm und seinen finsteren Machenschaften? Ich schwöre, ich bekomme alles heraus und räche die Schande, die man unserer Familienehre angetan hat.«
»Wie denn, Vater?«
Während des Sabbatessens brütete Ibrahim vor sich hin, und obwohl der ganze Haushalt wußte, was an ihm nagte, wagte niemand, seine Gedanken auch nur mit einem einzigen Wort zu stören. Als der Sabbat vorüber war, hatte sich seine Miene jedoch aufgehellt. Er hatte einen Entschluß gefaßt. Wenn die Juden nicht zu ihrem geschmähten Glaubensbruder standen, dann würde er seine Verbündeten eben anderswo suchen …
Als Ibrahim früh am nächsten Morgen sein Geschäft betrat, entfernte er vorsichtig eine lose Kachel aus der Vertäfelung im düsteren rückwärtigen Teil des Ladens und zog aus dem Versteck dahinter ein kleines Kästchen aus Ebenholz, in dem er die kostbarsten seiner Juwelen aufbewahrte. Er streichelte es, wie man einen geliebten Menschen liebkost, öffnete es, neigte es dann ein wenig zur Tür, so daß das Tageslicht das Feuer der Steine aufleuchten ließ. Er nahm sie sorgfältig einen nach dem anderen in die Hand, überlegte, aus welchem er den Ring machen würde, den er dem Mann an den Finger stecken wollte, dessen Gunst er zu gewinnen hoffte. Schließlich fiel seine Wahl auf einen Cabochon-Saphir, dunkel wie das samtige Blau der Nacht. Für den breiten goldenen Reif der Fassung wählte er ein Muster aus Lotusblüten inmitten geteilter, elegant gebogener Blätter. Er würde diese Verzierung mit der feinen Eleganz ausführen, für die er weithin bekannt war. Es war nicht das erste Geschenk dieser Art, das er angefertigt hatte, würde aber bei weitem das schönste werden. Den ganzen Tag und den größten Teil des nächsten verbrachte er über die Werkbank gekauert, und am Abend war der Ring fertig. Liebevoll polierte er ihn, bis es beinahe schien, als schimmerte aus ihm ein inneres Licht. Dann legte er ihn auf ein Samtkissen und barg ihn wieder in dem Kästchen. Nun mußte er nur noch auf die Person warten, für die er bestimmt war.
Die Tage und Wochen schlichen vorüber. Von Ungeduld verzehrt, holte Ibrahim immer wieder, wenn er allein war, das Ebenholzkästchen hervor, wickelte den Ring aus und bewunderte das feierliche, doch lebenssprühende Feuer des Edelsteins und die untadelige Kunstfertigkeit der Ziselierung. Wäre ihm die Gunst, die er sich mit diesem Geschenk zu erkaufen hoffte, nicht so wichtig gewesen, er wäre versucht gewesen, den Ring für sich zu behalten …
Er besserte gerade ein Paar spinnwebfeine Filigranohrringe aus, die er für die neueste Favoritin des Abu Ali angefertigt hatte, als Abu'l Hasan endlich in seinem Laden erschien.
»So, mein guter und getreuer Freund«, dröhnte er und tätschelte sich gemütlich den prallen Bauch, »sind die Truhen bis zum Überlaufen gefüllt?«
»Leider, Abu'l Hasan, sind die Zeiten nicht mehr, wie sie einmal waren.«
»Ich habe Euch nie etwas anderes sagen hören, und doch gibt es keinen Wesir am Hofe der Siriden, der nicht mit Juwelen protzt, die von Eurer Kunstfertigkeit zeugen, ganz zu schweigen von den ›kleinen Geschenken‹, die Ihr für ihre Geliebten anfertigt.«
»Aber zu einem lächerlichen Preis, glaubt mir, wirklich lächerlich.«
»Ich weine mit Euch, mein Freund, wirklich, ich weine. Also, wieviel habt Ihr für mich?«
Ibrahim verschwand für einen Augenblick im düsteren hinteren Teil seines Ladens und kehrte dann mit einem prall gefüllten Lederbeutel zurück. Sorgfältig setzte er ihn auf Abu'l Hasans ausgestreckte Handfläche, und die Hand des Berbers senkte und hob sich, als er mit Kennermiene das Gewicht abschätzte.
»Weniger als letztes Mal«, murmelte er, die blutunterlaufenen Augen von trägen Lidern beschattet.
»Genau gleichviel, trotz der schlechten Zeiten.«
»Unser Prinz wird gar nicht erfreut sein.«
»Das ist das Äußerste, was ich erübrigen kann. Es ist nicht weise, einen Händler bis zum Ruin auszubluten, denn damit entgehen Euch die erheblichen Summen, die er mit einem gutgehenden Geschäft zur Schatzkammer unseres Herrschers leisten könnte. Aber ich glaube, ich kann heute einen Beitrag ganz besonderer Art machen. Wir haben in unserer Mitte einen Neuankömmling, einen gewissen Abu Musa Amram ben Hai ibn Yatom, der in sehr kurzer Zeit ein beträchtliches Vermögen angehäuft zu haben scheint. Wir stellen fest, daß er um seine Tätigkeit große Heimlichkeit wahrt. Einige eindringliche Fragen könnten sich lohnen.«
Abu'l Hasan platzte mit einem lauten, kollernden Lachen heraus, hielt sich den Bauch, der vor Vergnügen wackelte. »Ihr seid wirklich unverbesserlich! Ihr macht vor gar nichts halt, um Euch meinem Griff zu entwinden, nicht wahr? Aber diesmal habt Ihr kein Glück, mein Freund. Zufällig ist Abu Musa einer meiner Kollegen. Abu Ali hat ihn damit beauftragt, die Steuern in den Provinzen einzutreiben, und er erledigt diese Aufgabe wirklich hervorragend.«
Ibrahim spürte, wie ihm der Boden unter den Füßen schwankte. Das war das letzte, was er vermutet hätte. Seine Eingeweide bebten vor Angst, und er ruderte wild, um die Situation wieder in den Griff zu bekommen. Um seine Verwirrung zu überspielen, verschwand er noch einmal hinten im Laden und kehrte diesmal mit dem Saphirring zurück. Er nahm die rechte Hand des Steuereintreibers in die seine, ließ den Ring auf den kleinen Finger gleiten, schob ihn ganz leicht über die plumpen Gelenke. »Untersucht ihn trotzdem ganz genau«, flüsterte er und drehte Abu'l Hasans Hand zum Licht, so daß der Stein sich in seiner ganzen Schönheit zeigte. »Wieviel er auch der Schatzkammer eingebracht hat, er hat sicher daneben einen beträchtlichen Anteil für sich abgezweigt.«
»Höchst unwahrscheinlich«, murmelte der Steuereintreiber gedankenverloren, entzog seine Hand dem Griff des Händlers, bog die Finger in die Handfläche und streckte den kleinen Finger aus, um den schönen Stein besser bewundern zu können.
»Höchst unwahrscheinlich«, wiederholte er, die Augen starr auf seine Hand gerichtet.
Verzweifelt nahm Ibrahim einen Anhänger mit einer Perle auf, der neben seiner Hand lag. »Ein kleines Mitbringsel für Eure Frau«, flehte er.
»Danke, mein Freund, aber meine Frau findet Perlen schrecklich. Sie hat als Kind einmal eine verschluckt, müßt Ihr wissen.«
Damit wandte er sich zum Gehen.
»Aber Ihr werdet Euch doch umhören …« Die Worte erstarben Ibrahim auf den Lippen. Abu'l Hasan, der sich trotz seiner Leibesfülle schnell bewegte, war schon außer Hörweite …
Wie es seine Gewohnheit war, wenn er von den Rundreisen durch die westlichen und nördlichen Provinzen von Granada zurückkehrte, ging Amram nach Hause, um zu baden und ein sauberes, dunkles Gewand anzulegen, ehe er zum Palast hinaufritt, um die eingetriebenen Gelder dort abzuliefern. Sobald Leonora das Hufgetrappel seines Pferdes hörte, wie es sich dem Haus näherte, eilte sie ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Wie immer warf sie sich in seine Arme, sobald er die Schwelle überschritten hatte. Wie weich und warm und tröstlich es doch war, sie nach den Anstrengungen der Reise in den Armen zu halten, wie sicher und geborgen sie sich in seiner festen, starken Umarmung fühlte. So standen sie einen langen Augenblick schweigend vereint. Schließlich löste sich Amram aus der Umarmung seiner Frau.
»Schon?«
»Nur noch ein kleines Weilchen, meine Taube, mein Reh, und dann können wir uns ohne Einschränkungen aneinander ergötzen. Es ist nicht klug, so große Summen in einem Haus aufzubewahren, das praktisch unbewacht ist.«
»Und doch zögerst du nicht, sie auf der Reise über die von Räubern heimgesuchten Straßen bei dir zu tragen«, wandte Leonora ein.
»Dieses Risiko ist unvermeidlich. Das Geld zu Hause aufzubewahren ist ein vermeidliches.«
»Hat es nicht Zeit bis nach der Siesta?«
»Lieber nicht. Bis du gebadet und dich fertig gemacht hast, bin ich wieder bei dir, das verspreche ich.«
Sobald ihr Mann gegangen war, befahl Leonora ihrer Dienerin, ihr alles Haar vom Körper zu entfernen, selbst an den intimsten Stellen. Dann badete sie und ließ sich von der Frau mit Moschus und Jasmin parfümiertes Öl in alle Poren ihrer glatten, makellosen Haut einmassieren. Jetzt war sie bereit. Sie schlüpfte in ein weißes, mit goldenen Borten verziertes Gewand aus Seidenmusselin, das die Umrisse ihres Körpers zart ahnen ließ – schattengleich und ungeheuer verführerisch –, und legte sich – geschmeidig, groß und sinnlich – auf einen üppigen Diwan. Ständig wanderte ihr Blick zu der Sonnenuhr auf dem Patio, und als eine Stunde vergangen war, wurde sie ungeduldig. Nach der zweiten Stunde fing sie an, sich Sorgen zu machen. Aber als noch einmal eine Stunde ohne ein Lebenszeichen von Amram verstrichen war, ergriff sie nackte Panik. Sie stand auf, warf sich einen Leinenumhang über und ging unruhig im Haus auf und ab. Hin und wieder blieb sie stehen und starrte ängstlich auf den Weg, der durch das Judenviertel und über den Fluß zum Albaicin führte, hoffte ihn dort auf dem Nachhauseweg zu erspähen. Aber es war immer noch Siesta. Bleiern und erbarmungslos brannte die Sonne auf die eng gedrängten Häuser der Juden unten und auf die weite, ausgetrocknete Ebene dahinter nieder. Nichts regte sich.
Was mochte ihn aufhalten? Sie konnte sich nur zwei Möglichkeiten vorstellen, und eine war so unwahrscheinlich wie die andere. Die erste war, daß Abu Ali ihn hatte ehren wollen und ihn zu einer ausgedehnten Mahlzeit eingeladen hatte. Vielleicht lag er gerade jetzt auf seidenen Kissen, einen Kelch mit Wein in der einen Hand, und liebkoste mit der anderen die Brüste einer üppigen Kurtisane, die ihm sein Gastgeber als Teil seiner Gastfreundschaft angeboten hatte …
Die andere Möglichkeit war, daß ihm, Gott bewahre, Räuber auf dem Weg zum Palast aufgelauert hatten, ihn brutal ermordet und ihm das Vermögen geraubt hatten, das er mit sich führte. Vielleicht lag gerade jetzt seine Leiche verlassen auf den Wiesen zwischen dem Judenviertel und dem Albaicin, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Aber es kreisten keine Geier in der Luft. Hatten seine Mörder den Leichnam in den Fluß geworfen, um alle Spuren zu tilgen?
In der Abenddämmerung senkte sich gerade ein zartvioletter Schleier über die Ebene unten, und Leonora überlegte, ob sie Diener ausschicken sollte, um nach ihm zu suchen. Aber wohin? Wenn er irgendwo in der Umgegend tot am Wegesrand lag, dann hätten ihn schon längst die Raubtiere gefunden und weggeschleppt. An den Fluß? Die Strömung hätte ihn schon längst viel zu weit mitgerissen. In den Palast? Es wäre zumindest unhöflich, schlimmstenfalls ungehörig, ihn dort zu belästigen. Sie suchte verzweifelt nach einer Lösung, wie sie ihn finden könnte, als sie einen Boten aus dem Palast erspähte, der auf das Haus zugeritten kam. Sie schrieb alle Anstandsregeln in den Wind und rannte ihm entgegen, aber auf die Nachricht, die er ihr überbrachte, war sie völlig unvorbereitet.
Ihr Gatte, berichtete ihr der junge Mann, saß im Kerker der Festung Albaicin gefangen. Gegen ihn sei die Anschuldigung erhoben worden, er habe Gelder unterschlagen, die dem Kämmerer Zawa ibn Ziri zugestanden hätten.
»Das kann nicht wahr sein!« rief Leonora. »Das kann nicht sein!«
»Mein Herr Abu Ali glaubt auch nicht daran, aber bei Hofe sind üble Gerüchte über Euren Mann in Umlauf gebracht worden.«
»Von wem?«
»Das kann ich Euch nicht sagen.«
Der Bote begleitete Leonora zurück zum Haus, und da nun seine Aufgabe erfüllt war, wollte er aufbrechen. Sie hielt ihn aber zurück und bat ihn hinein. Mit einer Kaltblütigkeit, die ihn sprachlos machte, ging sie durch den Salon und den Garten, verschwand in einem der Gemächer ihres Gatten und kehrte wenige Augenblicke später mit einem prall gefüllten Lederbeutel zurück. Sie entnahm ihm fünf Golddinare, die sie dem jungen Mann in die Hand drückte. »Das ist für Euch. Die Börse ist für meinen Mann. Wenn Ihr wiederkehrt und mir einen Beweis dafür bringt, daß er sie erhalten hat, bekommt Ihr noch einmal den gleichen Betrag. Nun geht!«
Leonora folgte ihm mit Blicken, wie er durch das Judenviertel ritt, über die Felder zum Fluß und weiter, über die Brücke. Seine Gestalt war nur noch so groß wie ein Stecknadelkopf, verschwand dann an den Hängen des Albaicin, auf dessen Gipfel die Festung lauerte, nur einige Schritte vom Palast entfernt. Erst jetzt gestattete sie sich Tränen.
Doch Tränen, ermahnte sie sich, als ihre Schluchzer verklungen waren, Tränen würden die Gitter von Amrams Gefängnis nicht sprengen. Das Geld, das sie ihm geschickt hatte, könnte ihm vielleicht ein wenig Rücksicht von Seiten seiner Wärter erkaufen, aber nicht die Freiheit. Dazu mußten andere Mittel eingesetzt, andere Menschen beeinflußt werden. Aber wie? Abu Ali hatte Amram stets überschwenglich gepriesen, wenn er von seinen Rundritten nach Granada zurückkehrte. Waren das nur hohle Phrasen gewesen? Oder hatte ein Rivale im Palast, irgendein schlauer Andalusier, der Bitterkeit über das Eindringen des Juden in seine Domäne verspürte, ihn bei Berbern in Mißkredit bringen wollen? Als Frau hatte sie keine Möglichkeit, in das trügerische Gewirr von Intrigen einzudringen, in dem die Männer im Gefolge des Prinzen ihren Weg fanden. Sie hatte keine Menschenseele, die sie um Rat fragen, niemanden in der Stadt, dem sie sich anvertrauen konnte. Also nahm sie Feder und Papier und schrieb eine kurze Botschaft an ihren Vater. Darin teilte sie ihm mit, was geschehen war, und bat ihn, ihr unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Nach wenigen Stunden unruhigen Schlafes stand sie in der Morgenröte auf und schickte einen Boten nach Málaga.
Mit einer Fassung, die allen Menschen ihrer Umgebung große Bewunderung abverlangte, wartete Leonora die Woche ab, bis ihr Vater sie erreichte. Aber in dem Augenblick, als er ins Haus trat, brachen all ihre aufgestauten Gefühle aus ihr heraus. »Du mußt mir helfen, ihn zu befreien, du mußt!« kreischte sie hysterisch und warf sich ihrem Vater an den Hals. »Irgend jemand im Palast hat gegen ihn intrigiert. Wer es auch ist, wir müssen einen Gegenplan schmieden, der ihn ruiniert.«
»Beruhige dich, mein Kind. Beruhige dich«, flüsterte Joseph ibn Aukal und streichelte seiner Tochter über den Kopf, ehe er sich aus ihrer heftigen Umklammerung löste. »Nun, du hast mir noch nicht einmal Zeit gelassen, dein wunderschönes Zuhause zu bewundern«, bemerkte er entspannt und anscheinend völlig ungerührt, während er seine Blicke schweifen ließ.
»Später, Vater, später!«
»Es besteht kein Grund zur Panik, mein kleines Mädchen. Ich habe die Angelegenheit gründlich bedacht und meine eigenen Schlüsse gezogen. Meiner Meinung nach liegt der Ursprung des Gerüchts überhaupt nicht im Palast.«
»Unsinn!« rief Leonora und tat seine Worte ungeduldig ab. »Weder Amram noch ich selbst haben je irgendeiner Seele hier ein Sterbenswörtchen über Amrams Tätigkeit gesagt. Alle halten ihn für einen Händler, der viel in Geschäften unterwegs ist.«
»Das mag sein«, antwortete Joseph, weigerte sich aber, darauf einzugehen. »Und jetzt, wärst du so freundlich und würdest für deinen Vater, der von der Reise ermüdet ist, ein Bad vorbereiten lassen?«
Erfrischt streckte sich Joseph im kühlen Schatten des geräumigen Salons auf einem Diwan aus und nippte an seinem Wein, während seine Tochter ihm gegenüber nervös am Rand eines Stapels von Kissen saß. Unermüdlich knabberte sie Süßigkeiten, die man ihnen vorgesetzt hatte, und ihre eisblauen Augen blickten ihn durchdringend an. Schließlich brach er sein Schweigen.
»Wo bewahrt dein Mann seine Dokumente auf?«
»Ich nehme an, in der Zedernholzdose in seinem Arbeitszimmer.«
»Ich muß sie durchsehen. Wenn mein Verdacht über den Ausgangspunkt dieser Verschwörung gegen ihn stimmt, dann muß ich ein bestimmtes Papier finden, um meinen Standpunkt unwiderlegbar zu beweisen.«
»Nur Amram hat einen Schlüssel dafür.«
»Dann breche ich das Schloß auf«, sagte Joseph ganz ruhig.
»Aber Vater …«
»Komm, komm, mein Kind, wir haben jetzt keine Zeit mehr für Nettigkeiten. Dein Mann sitzt im Gefängnis, ist ein Gefangener in den Händen von Menschen, denen an einem Menschenleben nicht besonders viel liegt. In einem solchen Fall sind alle Mittel heilig. Bringe mir sofort das Kästchen.«
Der Juweliermeister war nicht unvorbereitet gekommen. Aus der robusten Reisetasche, die neben ihm am Boden stand, zog er ein Stück feinen Kupferdraht hervor, und mit der Geschicklichkeit seines Berufsstandes öffnete er rasch das Schloß. Ruhig und methodisch ging er die Dokumente durch, die das Kästchen enthielt, und legte sie dann zur Seite. Leonora stand ganz nah bei ihm, und ihr Herz sank, als er ein nutzloses Dokument nach dem anderen weglegte.
»Es ist nicht dabei«, sagte er schließlich, schlug das Kästchen zu und zeigte damit erste Anzeichen schlechter Laune. »Wo könnte er es sonst noch aufbewahrt haben?«
»Irgendwo in seinem Zimmer vielleicht?«
»Führe mich dorthin.«
Zusammen gingen sie durch den schattigen Säulengang in Amrams Arbeitszimmer, wo überall Papiere lagen. Zunächst mit großer Sorgfalt, dann mit wachsender Erregung rollte Joseph Pergamente auf, blätterte Bücher durch, suchte in Papierstapeln, auf denen unzählige Gedichtentwürfe geschrieben standen, bis er endlich fand, was er gesucht hatte, mit einem Seidenband an ein herrliches Liebesgedicht gebunden. Er ließ die Papiere in die Innentasche seines Gewandes gleiten, nahm seine Tochter beim Arm und führte sie in den Salon zurück. »Morgen früh werde ich im Palast vorstellig werden. Mit ein bißchen Glück ist Amram am Abend schon wieder zu Hause.«
Abu Ali Hamid ibn Abi geleitete Joseph ibn Aukal voller vorsichtiger Erwartung in seine schäbige Gewölbekammer. Obwohl er selbst höchst erpicht war, die Unschuld des besten Steuereintreibers von Granada zu beweisen, befürchtete er doch, daß Joseph kaum einen konkreten Beweis zur Unterstützung Amrams beibringen würde. Geduldig schaute er zu, wie sich Joseph mit erstaunlicher Gelassenheit hinunterbeugte, um die feinen damaszener Intarsien an einem Buchpult in einer Zimmerecke zu untersuchen. Mit geübtem Schwung zog der Juwelier einen Samtbeutel aus einer Tasche seines Gewandes und legte ihn auf das Pult, während er seiner Bewunderung für die schöne Handwerksarbeit Ausdruck verlieh. Dann richtete er sich auf und trat seinem Gesprächspartner gegenüber.
»Erlaubt mir, Abu Ali, Euch über eine Angelegenheit ins Bild zu setzen, von der Ihr, wie ich glaube, keine Kenntnis besitzt. Die Frau des Abu Musa, meine Tochter Leonora, war dem Sohn des Ibrahim, des führenden Goldschmieds in Granada, beinahe von Geburt unserer Kinder an versprochen. Als sie beide im heiratsfähigen Alter waren, kam Ibrahim zu mir nach Málaga, um mit mir die Mitgift Leonoras zu besprechen. Unzufrieden mit meinem ersten Angebot, kehrte er nach Granada zurück, aber da dies nun einmal die Art von Verhandlungen ist, erwartete ich, daß er einen angemessenen Anlaß finden würde, um die Gespräche wieder aufzunehmen. Doch die Zeit verging, und er machte keinerlei Anstalten dazu. In der Zwischenzeit lernte ich Abu Musa kennen, einen Mann, der Ibrahims Sohn in allen Dingen so unendlich überlegen ist, daß ich schon bald mein Bedauern darüber vergaß, daß sein Vater mein Angebot ausgeschlagen hatte. Als nun Abu Musa nach einiger Zeit bei mir um Leonoras Hand anhielt, war ich nur zu gerne bereit, ihm meine Zustimmung zu geben. In Anbetracht des Ruhms des Hauses Ibn Yatom, der Gelehrsamkeit Amrams und seiner außergewöhnlichen Geschäftstüchtigkeit bot ich als Mitgift für meine Tochter eine Summe an, die weit höher war als die, die ich seinem ehemaligen Mitbewerber angeboten hatte.«
Abu Alis Gesichtsausdruck erhellte sich ein wenig, aber er ließ seine Vorsicht noch immer nicht fahren. »Eure Erklärung wirft ein neues Licht auf die Angelegenheit. Doch wenn ihr keine konkreten Beweise erbringen könnt, bleibt sie wertlos.«
»Ich habe den Beweis hier«, erwiderte Joseph unverzüglich und zog den Ehevertrag hervor, an dem immer noch Amrams Gedicht hing.
Abu Ali überflog ihn, legte ihn neben sich auf die Truhe und musterte Joseph aus halb geschlossenen Augen. »Wie könnt Ihr beweisen, daß dies keine Fälschung ist?«
»Hiermit«, antwortete Joseph und reichte ihm eine Urkunde, die er aus Málaga mitgebracht hatte. »Dies ist die Verkaufsurkunde des Anwesens, das laut Ehevertrag Amram und seiner Frau überschrieben wurde. Sie ist von Amram ben Hai ibn Yatom als Verkäufer und von Ahmad ibn Nasr als Käufer unterzeichnet und dann mit dem Siegel des Landregisters von Málaga versehen. Ein solches Siegel läßt sich unmöglich fälschen. Diese Urkunde beweist ohne jeden Zweifel, daß Amram ausreichende Geldmittel zur Verfügung hatte, um meiner Tochter ein Wohnhaus einzurichten, das ihrem Stand gemäß ist, und sie so zu halten, wie sie es seit jeher gewöhnt ist. Es bestand für ihn keine Notwendigkeit, für diese Zwecke öffentliche Gelder zu ›unterschlagen‹. Ich bin sicher, Ihr seid meiner Meinung, daß er viel zu intelligent ist, um ein solches Risiko einzugehen.«
Erst jetzt ließ Abu Alis Wachsamkeit nach. »Mein Freund, Ihr habt nicht nur Eurer Familie einen unschätzbaren Dienst erwiesen, sondern auch mir und meinem Prinzen. Jetzt müssen wir Ibrahim dafür bezahlen lassen, daß er solche frevelhaften Verleumdungen über einen Mann meines Vertrauens verbreitet hat.«
»Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich habe auf dem Weg hierher kurz bei ihm vorgesprochen. Wenn ich mich nicht irre, ist er bereits aus der Stadt geflohen und hat sein ganzes Vermögen zurückgelassen, das Eure Truhen füllen wird.«
Als Leonora ihren Mann erspähte, der den Hang zum Haus hinaufgeritten kam, rannte sie ihm entgegen. Er sprang vom Pferd und warf sich in ihre Arme, ungeachtet der neugierigen Blicke, die er auf sich spürte. Fieberhaft ließ sie die Hände über sein Gesicht und seine Schultern wandern, über seinen Rücken, wollte sich verzweifelt versichern, daß ihm kein Unheil geschehen war.
»Ich wußte, daß ich mich auf dich verlassen kann«, flüsterte Amram und barg seinen Kopf im seidigen Wasserfall ihres Haares, das sie heute offen trug. »Wir sind verwandte Seelen, du und ich, beide Kämpfer für das, was wir wollen. Wir werden noch viel zusammen erreichen, meine gescheite, mutige und entschlossene kleine Rehfrau.«
In jener Nacht liebten sie einander mit einer Hingabe, die sie nicht einmal in den ersten Tagen ihrer Liebe gekannt hatten. Ihre Leidenschaft war um so stärker, als sie einander wiedergefunden hatten, nachdem sie schon gefürchtet hatten, sich verloren zu haben.
39
Von jenem Tag an hörte das Gerede der Juden über Amram auf. Sie waren ängstlich darum bemüht, das Unrecht wiedergutzumachen, das einer der Ihren Amram angetan hatte, und nun stand die Gemeinde wie ein Mann zu ihm, erkannte in ihm nicht nur ihren Anführer, sondern auch eine wertvolle Informationsquelle – wenn nicht gar einen Fürsprecher beim Herrscher, sollte je ein Einschreiten dieser Art notwendig werden. Die Frauen folgten dem Beispiel ihrer Ehemänner und behandelten Leonora mit neuem Respekt, erkannten sie als die erste Dame in ihren Kreisen an. Sie sonnte sich in dieser Ehre, die man ihr zukommen ließ, spielte ihre Rolle mit Selbstvertrauen und Stil – als Vorbereitung für jene größeren Dinge, die Amram ihr versprochen hatte …
Wie Abu Ali es vorausgesehen hatte, machte sich kurz darauf Zawa ibn Ziri in sein Heimatland auf. Sein Neffe Habbus ibn Maksan ibn Ziri al-Sinhaji brachte sich unverzüglich in eine Machtstellung, und sobald ihn die Kunde vom Tod seines Onkels erreichte, beanspruchte er den Rang eines Königs und legte sich den zusätzlichen Herrschernamen Saif ad-daula – ›Schwert des Königtums‹ – zu. Von Kopf bis Fuß ein Krieger, ein Mann von großer Autorität und schnellen Entscheidungen, machte sich Granadas selbsternannter Herrscher an die Durchführung der Pläne, die er schon so lange erwogen hatte. Er setzte unverzüglich eine Verwaltung nach dem Muster des Omaijadenreiches ein, deren Ränge er mit gebildeten Andalusiern füllte. Abu Ali wurde zum Wesir ernannt, der sich um die Finanzen des Reiches zu kümmern hatte, erhielt den Befehl, das Geld aufzutreiben, mit dem man Söldner aus anderen Berberstämmen bezahlen konnte, die Habbus' Sinhaji-Truppen verstärken sollten. Abu Ali nahm Amram mit auf seinem Weg nach oben, überließ ihm seinen eigenen vormaligen Posten als obersten Steuereintreiber. Amram wiederum versammelte bei seinem eigenen Aufstieg eine Gruppe jüdischer Kollegen um sich, die treu zu ihm standen. So schnell sie das Geld in die königlichen Truhen schütten konnten, so schnell gab Habbus es wieder aus, unternahm Feldzüge, die sein Reich im Norden bis an den Guadalquivir und im Westen bis Cabra ausdehnten. All seine Wesire waren überzeugt davon, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis er sich endlich entschloß, im Kampf um die Vorherrschaft in al-Andalus auch seine Erzrivalen, die arabischen Abbaditen in Sevilla, herauszufordern.
Aber die Sevillaner kamen ihm darin zuvor, unternahmen blutige Überfälle auf das reiche, Seide produzierende Fürstentum Almeria, dessen riesige Gebiete im Norden, Osten und Süden an Granada grenzten. Obwohl er nur höchst ungern dem Eunuchen Zuhair, dem slawischen Herrscher von Almeria, zu Hilfe eilte, hatte Habbus keine andere Wahl, als sich mit ihm gegen den gemeinsamen Feind zu verbünden. Erst nachdem die Sevillaner völlig zurückgedrängt waren, konnte man sich wieder an die Vorbereitungen für einen massiven Gegenangriff machen. Doch während Amram seine Bemühungen verdoppelte, um die notwendigen Geldmittel zu beschaffen, mit denen man noch mehr Berbersöldner anwerben wollte, war er von tiefer Unruhe über den Ausgang des bevorstehenden Feldzuges erfüllt. An dem Tag, als ihm Abu Ali übermittelte, wieviel Geld man schätzungsweise für die notwendigsten Bedürfnisse des Heeres benötigen würde, lenkte er allmählich das Gespräch in die gewünschte Richtung.
»Mir scheint«, begann er, »daß wir keine Vorkehrungen für eine Verstärkung unserer Verteidigung im Osten getroffen haben.«
»Warum sollte das notwendig sein?«
»Wenn die meisten Truppen gegen Sevilla gerichtet sind, droht uns möglicherweise ein Angriff durch Zuhair.«
»Aber Almeria und Granada sind Verbündete im Kampf gegen Sevilla.«
»Das waren wir gestern und sind es heute. Aber wenn wir morgen nicht auf der Hut sind, kommt Zuhair vielleicht wirklich in Versuchung, uns an der östlichen Flanke anzugreifen. Wir müssen mehr tun, um sicher zu sein, daß Almeria unerschütterlich hinter uns steht.«
»Und unseren Sieg mit diesem Eunuchen teilen?«
»Eunuch oder nicht, er hat sich ein schönes Königreich geschaffen. Es ist besser, ihn auf unserer Seite als gegen uns zu haben. Wir sind zwar stark, haben aber nicht die Kraft, gleichzeitig an zwei Fronten zu kämpfen. Wenn wir nun auch noch Málaga in unser Bündnis einladen, wären wir in der Lage, einen vernichtenden Schlag gegen die Abbaditen zu führen und all ihre Hoffnungen zu zerschmettern, je die uneingeschränkten Herrscher von ganz al-Andalus zu werden.«
Abu Ali schaute seinen jüdischen Mitarbeiter lange und durchdringend an, wog in Gedanken die Logik seiner Argumente gegen das ab, was seiner Meinung nach der Herrscher dazu sagen würde. Amram, der gewußt hatte, daß sein Vorgesetzter zurückhaltend reagieren würde, fuhr unbeirrt fort. »Ich hätte das Gefühl, mich meinem Herrscher gegenüber nicht loyal zu verhalten, täte ich nicht mein Möglichstes, um sicherzustellen, daß ihm solche Erwägungen vorgetragen werden.«
»Von wem?«
»Von Euch, als dem Wesir und geehrten Mitglied seines Gefolges.«
»Mir fehlt die Überredungsgabe«, antwortete Abu Ali schlau, unwillig, die Verantwortung – und das Risiko – auf sich zu nehmen, seinem König eine so weitreichende Strategie vorzuschlagen. »Aber wenn Ihr darauf besteht, könnte ich vielleicht eine Audienz für Euch erwirken.«
»Ich sehe es als meine Pflicht an, König Habbus auf meine Gedanken aufmerksam zu machen«, antwortete Amram gleichmütig, entzückt, wie leicht er sein Ziel erreicht hatte: eine Gelegenheit, seine Talente vor dem König selbst unter Beweis zu stellen.
Abu Ali ließ ihm keine Zeit, lange über die Folgen seiner Initiative nachzudenken oder seine Meinung zu ändern. Beinahe unverzüglich wurde er vor Habbus zitiert, zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht. Im Gegensatz zu den meisten seiner Stammesgenossen war der Berberkönig von Granada weder groß noch hager. Seine ungeheure Körperkraft war in den schwellenden Muskeln seines Rückens, seiner Schultern und Arme konzentriert, und wenn er wie jetzt stand und seinem Gesprächspartner geradewegs in die Augen schaute, strahlte er absolute Autorität aus.
Nach den üblichen Floskeln und Segenssprüchen gab Habbus Amram einen Wink, er solle sprechen, und hörte mit äußerster Konzentration zu. Amram brachte seine Argumente so knapp und präzise vor, daß der König ihre Logik einfach einsehen mußte. Aber er zögerte nicht, seine eigenen Argumente dagegen zu stellen.
»Man braucht zwei, um ein Bündnis zu schließen, mein gelehrter Freund. Zuhair wird für seine Teilnahme an diesem Feldzug einen hohen Preis fordern.«
»Seine aktive Unterstützung ist nicht notwendig. Wir brauchen lediglich eine Garantie, daß er uns nicht angreift, während wir gegen einen gemeinsamen Feind in den Kampf ziehen. Sind wir ihm nicht zu Hilfe geeilt, als er uns brauchte, um den Angriff der Sevillaner zurückzuschlagen? Wer sagt uns, daß er diese Unterstützung nicht noch einmal brauchen wird? Nur wenn wir zusammenhalten, können wir Sevilla in die Schranken verweisen.«
»Mich habt Ihr überzeugt«, erklärte Habbus mit militärischer Schroffheit. »Aber wer soll Zuhair überzeugen? Meine andalusischen Beamten hegen einen ewigen Haß gegen ihn, einen ehemaligen Sklaven, der ihr Heimatland regiert.«
»Ich empfinde dergleichen Feindseligkeit nicht«, antwortete Amram glattzüngig, griff nach der Gelegenheit, für seinen Herrscher Verhandlungen zu führen. »Und da der Kalif von Málaga zu schwach ist, um sich allein gegen Sevilla zu stellen, kann er auch nur gewinnen, wenn er sich mit uns zusammentut.«
Habbus zögerte nicht. Die Entscheidungsgewalt lag allein in seiner Hand. »So soll es sein, Abu Musa. Wenn Ihr dieses Bündnis mit unseren Nachbarn aushandeln und sicherstellen könnt, daß beide seine Bestimmungen getreulich einhalten …« Habbus hielt einen Augenblick inne, richtete den Blick fest auf Amram, klatschte sich dann mit beiden Händen auf die mächtigen Oberschenkel und erklärte mit der kräftigen Stimme des Soldaten: »Bei Allah! Dann mache ich Euch zum Wesir!«
Amram war wie vom Donner gerührt. Bei all seinem ungeheuren Ehrgeiz hätte er sich dergleichen nie erhofft. Nicht einmal sein Großvater, der große Da'ud, war so erhöht worden. Doch die Belohnung entsprach dem Risiko. Habbus hatte nicht gesagt, welches Schicksal ihn erwarten würde, wenn er versagte.
Doch Amram versagte nicht. Die Sache konnte gar nicht fehlschlagen. Keiner der kleinen, ungebildeten Kriegsherren, die sich die Überreste des todwunden Kalifates angeeignet hatten, war diesem wachen, gebildeten und ehrgeizigen jungen Mann gewachsen, der von seinem Großvater die Kunst geerbt hatte, wie man Gesprächspartner in seinem Sinne lenkte. Er wußte genau, wann er am besten schmeichelte und wann er besser drohte, wann er nachgeben mußte und wann er keinen Fingerbreit zurückweichen durfte, wie er seinen Zuhörern in leicht verständlichen Worten deutlich machte, welche tieferen Gründe es für Streitereien, Verrat und Intrigen gab. Sevilla gegen Granada, erklärte er unermüdlich, Westen gegen Osten, Einheit statt Teilung. Wie Habbus waren sie bald überzeugt. Nun riet Amram seinem Herrscher, sofort zuzuschlagen, solange das Bündnis hielt.
»Ihr werdet mich auf dem Feldzug begleiten«, befahl der König seinem Unterhändler, als er marschbereit war. »Eure Gegenwart wird meine Verbündeten daran hindern, mich zu verraten.«
So eilte Amram mit Riesenschritten auf die Macht zu, nach der es ihn verlangte. Während des Feldzugs erstaunte er Habbus nicht nur mit seinem detaillierten Wissen über das Gelände zwischen Granada und Sevilla – Wissen, das er sich in seinen frühen Jahren als reisender Händler erworben hatte –, sondern auch mit seinem tiefen Einblick in die militärische Taktik – er fand Hinterhalte, die er sich in den langen Stunden ausgedacht hatte, als er noch als Kind auf dem Boden des Landhauses seine Spielzeugsoldaten antreten ließ. Während der Schlacht war er ständig an der Seite des Herrschers, schlug eifrig Stellen vor, wo man dem Feind auflauern konnte, Marschrouten, auf denen man die feindlichen Truppen umzingeln konnte, Ablenkungsmanöver, mit denen man sie zu täuschen vermochte.
Das Ergebnis war ein triumphaler Sieg. Habbus führte seine Truppen ins Herz von Sevilla, gab ihnen freie Hand, nach Herzenslust zu plündern, zu rauben und alles in Schutt und Asche zu legen. Als letzten spektakulären Beweis ihrer Überlegenheit ließen sie die Vorstadt Triana in Flammen aufgehen, die glühend rot in den Nachthimmel loderten und den Guadalquivir in einen Höllenfluß verwandelten, als die brennenden Trümmer in die finsteren Wasser stürzten.
Nach Granada zurückgekehrt, hielt Habbus sein Versprechen. Mit allem nötigen Pomp verlieh er Abu Musa – Amram ben Hai ibn Yatom – den ruhmreichen Titel eines Wesirs. Seine Bewunderung für den jüdischen Berater stand ihm auf das ledrige, sonnenverbrannte Gesicht geschrieben, als er ihm den juwelengeschmückten Turban auf den Kopf setzte und den Brokatumhang mit der Goldborte, die Insignien seines hohen Ranges, um die Schultern legte.
Leonora war entzückt. Liebevoll streichelte sie den Turban, hielt das goldene Tuch zart an die Wange, bedeckte dann den Mann, der zu solchem Ruhm aufgestiegen war, mit unzähligen Küssen und liebte ihn leidenschaftlich bis zum frühen Morgen.
Doch bei dem großen Bankett, das im Palast zur Feier des Sieges gegeben wurde, überraschte Amram die in üppige Gewänder gekleidete versammelte Gesellschaft damit, daß er wieder in dem schlichten dunklen Gewand erschien, das er immer getragen hatte. Sobald Habbus ihn erblickte, kam er mit großen Schritten auf ihn zu.
»Warum tragt Ihr nicht den Umhang und den Turban, den ich Euch als Zeichen für Euren ehrenwerten Status und für meine persönliche Wertschätzung verliehen habe?« feuerte er seine Frage auf den jüdischen Wesir ab.
»Es ist eine alte Familientradition, o Schwert des Königtums«, erwiderte Amram bescheiden und um Entschuldigung heischend. »Mein erhabener Großvater Abu Da'ud ben Ya'kub ibn Yatom hat meine Familie zu einer gewissen Bescheidenheit im Auftreten verpflichtet, die wir über die Generationen hinweg treu bewahrt haben.«
»Sehr seltsam, aber für mich völlig unwichtig«, murmelte Habbus und tat die Erklärung mit einer Handbewegung ab. »Ich befehle Euch, bei derlei offiziellen Anlässen und wann immer Ihr dazu berufen seid, mich zu vertreten, das vollständige Gewand Eures Amtes zu tragen.«
Amram warf sich zum Zeichen des Gehorsams vor seinem Herrscher zu Boden und verspürte eine leichte Unruhe im Herzen. Das Gefühl war ihm neu, aber als Habbus fortfuhr, seine Wertschätzung auch noch mit einer weiteren fürstlichen Geste auszudrücken, wuchs sein Unbehagen.
»Unter den Frauen meines Harems«, sagte der König, »ist eine Verwandte des Kalifen, der in Málaga regiert, ein süßes, liebes Mädchen, rührend in seiner Unschuld. Im Namen des Hauses der Hammudiden hat sie den Wunsch geäußert, Euch ein persönliches Zeichen ihrer Wertschätzung gewähren zu dürfen, als Dank für Euren ungeheuren Beitrag zu unserem gemeinsamen Sieg. Sie hat ihre Bitte so leidenschaftlich vorgetragen, daß ich ihr diesen Wunsch erfüllen mußte. Sie erwartet Euch nach dem Empfang. Die Eunuchen haben die Anweisung, Euch zu ihrem Gemach zu geleiten.«
Amrams ungutes Gefühl verwandelte sich in beinahe panische Angst. Solch große Ehre … solche fürstlichen Gesten … es war schwindelerregend, und Schwindelgefühle waren gefährlich. Je steiler der Aufstieg, desto plötzlicher konnte der Fall sein … Das Wesen der Männer barg keine Geheimnisse mehr für ihn, aber über das Wesen der Kurtisanen wußte er nur sehr wenig. Und wenn solche Frauen noch mit Herrscherhäusern verwandt waren, so konnte derlei Unwissenheit gefährlich werden. Sein ständiger Kampf, sich einen Weg durch die wechselnden Bündnisse der rivalisierenden kleinen Taifa-Königreiche zu suchen, war ohnehin schon gefährlich genug, auch ohne die komplizierten Machenschaften von Frauen. Heute waren Granada und Málaga Verbündete. Aber morgen? Ein in der köstlichen Wärme und Intimität des Bettes in aller Unschuld gesprochenes Wort, das instinktive Verlangen, sich einer Frau anzuvertrauen, bei der man alle Hemmungen abgelegt und mit der man sich vereinigt hatte, das konnte ihn letztlich zu Fall bringen. Doch würde er den Stolz der Dame empfindlich verletzen, wenn er ihr Angebot verschmähte, würde sich ihren ewigen Zorn zuziehen, was schließlich genau auf das gleiche hinauslief. Wie sollte er durch die trügerischen Untiefen steuern, in die ihn die steigende Flut seines Erfolges geschwemmt hatte? fragte er sich, als er sich zum Dank für die königliche Gunst, die man ihm gewährt hatte, vor Habbus verneigte.
So schlicht auch die Gewölbekammer war, in der ihn Rasmia erwartete, sie hatte es geschafft, ihr eine Atmosphäre zu verleihen, die keinen Zweifel an ihren Absichten ließ. Aus einem schwelenden, matt bronzenen Weihrauchgefäß strömte Moschusduft, Unmengen frischer Blumen standen überall, um das Auge zu erfreuen und die Luft mit süßem Duft zu erfüllen. Durch das offene Fenster drangen die pochenden Rhythmen eines klagenden, mit sinnlicher Trägheit gespielten andalusischen Liebesliedes. Obwohl er sich diesem schönen Schein auf jeden Fall entziehen wollte, regte sich Amrams Blut, als sich Rasmia von ihrem Diwan erhob und mit einem Rascheln der Robe aus Seidenmusselin, in den ihre winzige Gestalt gehüllt war, mit ausgestreckten Armen auf ihn zukam.
»Endlich!« rief sie, und ihre großen goldenen Augen strahlten vor Bewunderung, als sie den Kopf hob und ihn ansah. »Man sagt, Ihr seid der klügste Stratege, der beste Dichter und der größte Geldeintreiber in ganz al-Andalus. Aber niemand spricht von der gewaltigen Kraft, die Ihr ausstrahlt, von der unerschrockenen Zielstrebigkeit, auf die Euer festes Kinn deutet, von dem wachen Blick, der unter Eurer klaren, breiten Stirn leuchtet. Eure Lippen sind vielleicht ein wenig schmal«, flüsterte sie, während sie mit dem Finger darüber strich, »aber wenn sie erst einmal andere Lippen berührt haben, werden sie sich sicherlich entspannen.«
Galant nahm Amram die Hand, die so leicht und verführerisch über seinen Mund streichelte, küßte die Handfläche, umfaßte sie dann mit seinen beiden starken Händen. »Ich fühle mich von der Ehre, die Ihr mir erweist, außerordentlich geschmeichelt. Aber es ziemt sich nicht, daß eine Frau von Eurem hohen Stand ihre Gunst einem Mann meines bescheidenen Ranges schenkt.«
Rasmia begann silberhell zu lachen, und ihre kleine, wohlgerundete Gestalt, die ihm kaum bis zur Schulter reichte, streifte ihn verführerisch. »Laßt das nur meine Sorge sein.«
»Nein, geehrte Dame, ich, ein Mann mit Erfahrung, muß es beurteilen. Ihr gehört der königlichen Familie der Hammudiden an, einem Zweiggeschlecht der Omaijaden, dem der Titel, wenn auch nicht die Macht der Kalifen vererbt wurde. Aber sie bleibt eine muslimische Dynastie, ob sie sich nun entscheidet, diesen Glauben zu achten oder zu verachten. Ich bin nur ein einfacher Mann, kein Sprößling einer Dynastie, kein Prinz mit Ländereien, sondern ein Mitglied der jüdischen Glaubensgemeinschaft. Wenn Ihr es mit dem Lob, das Ihr auf mein Haupt häuft, ernst meint, so müßt Ihr Euch von dem einzigen Gut leiten lassen, das ich mein eigen nennen kann, von meiner Weisheit und meiner Menschenkenntnis. So wie Öl und Wasser sich nicht vermischen, so wäre eine intime Verbindung zwischen Euch und mir eine fatale mésalliance, dazu verdammt, uns beiden Unglück zu bringen. Ihr seid ein zu wunderbares Geschöpf, als daß ich es mir erlauben dürfte, Euch Schmerzen und Leid zuzufügen.«
»Aber meine Sehnsucht nach Euch, jetzt, da ich Euch zu Gesicht bekommen habe und habe reden hören, wird mir auch eine Quelle unendlichen Schmerzes sein.«
»Wenn Eure Gefühle aufrichtig sind, so werdet Ihr Trost im Verzicht finden. Stellt Euch vor, wieviel größer Euer Leiden wäre, wenn Ihr mir durch die Befriedigung dieser Sehnsucht Schaden zugefügt hättet.«
»Ich werde Euch beschützen.«
»Wenn ich heute den Titel eines Wesirs trage, so nur deshalb, weil ich mich stets nur auf mich selbst verlassen habe, was meinen Schutz angeht.«
»Wie streng und unnachgiebig Ihr doch gegen mich – und Euch selbst – seid.«
»Es ist eine Einstellung, die sich bewährt hat. Wie sonst könnte ich heute bei Euch sein?«
Dieses Argument konnte Rasmia nicht entkräften. Still senkte sie den Kopf und wußte, daß sie geschlagen war – zumindest für den Augenblick.
»Es war ein seltenes Vergnügen, einige wenige Augenblicke in Eurer Gesellschaft zu verbringen«, sagte Amram, und ein kaum merklicher Hauch des Bedauerns blitzte in seinen Augen auf, als er auf ihre kleine, zarte Gestalt schaute. »Wäre ich nicht in das Haus Ibn Yatom geboren und Ihr nicht in das der Hammudiden, unser Schicksal hätte anders verlaufen können.«
Rasmia stiegen Tränen in die Augen, als sie ihm nachsah, Tränen der Enttäuschung, des Bedauerns, der Enttäuschung und des Selbstmitleids. Und doch, dachte sie, als sie traurig auf das schöne Gewand blickte, in das sie sich gehüllt hatte, und doch fühlte sie sich nicht in ihrem Stolz verletzt. Seine letzten Worte hatten etwas angedeutet, unter anderen Umständen hätte er sehr wohl auf ihre Liebe eingehen können. Mit der Zeit, vielleicht mit der Zeit …
Nachdenklich ritt Amram die Flanke des Albaicin hinab und über den Fluß in das schlummernde Judenviertel, vor den Augen das Bild von Rasmias kleiner, zarter Gestalt, die sich in seine Armbeuge schmiegte, die er streichelte und schützte wie ein verletzliches Kätzchen. Wie ungeheuer begehrenswert sie in ihrer kindlichen Art war, wie anders als seine zielstrebige, ehrgeizige Leonora, auf die er nun zuritt. Entschlossen vertrieb er das quälende Bild aus seinem Kopf und wandte seine Gedanken wieder der Freude zu, die er in den großen Augen seiner Frau würde aufleuchten sehen, wenn er die Säle der Mächtigen beschrieb, durch die er geschritten war, in getreuer Erfüllung des Versprechens, das er ihr gegeben hatte: ihr Ruhm und Herrlichkeit zu bringen. Zusammen würden sie über die Veränderungen reden, die seiner Erhebung in diesen hohen Stand folgen mußten. Man würde den Salon üppig mit goldenen und silbernen Gegenständen ausstatten, die Wände mit schimmernden Seidenteppichen behängen, damit er der erhabenen Besucher würdig wäre, die ihn nun mit ihrer Anwesenheit beehren würden. Der längst versprochene Balkon würde endlich gebaut werden. Und er würde seiner Frau kostbare Kleider kaufen, als Symbol ihres hohen Ranges. Als erster Jude, der in den Stand eines Wesirs erhoben wurde, mußte er trotz aller Familientradition diese Würde mit dem gebührenden Glanz und Pomp tragen. Wie glücklich würde Leonora darüber sein, wie verzückt würde sie in ihrer Leidenschaft sein, wenn sie sich liebten und sich ihr langer, schmaler Körper wollüstig um ihn schlang.
40
Ein Jahr war vergangen, und äußerst widerwillig verließ Amram Leonora, die inzwischen hochschwanger war. Er mußte an einer Versammlung der Würdenträger Granadas teilnehmen, die im Hause des Abu Ali stattfand. Viel lieber wollte er die kühlen, stillen Abende nur noch mit seiner Frau verbringen, sie dann, wenn sie müde war, zu Bett bringen, sich versichern, daß ihr Rücken gut abgestützt war, und die fruchtbare Wölbung ihres Leibes streicheln, ehe er sie zärtlich zur guten Nacht küßte.
Seit er in den Rang eines Wesirs erhoben war, hatte er viele solche Einladungen von den Berberprinzen und den andalusischen Beamten bekommen, die wie er eine gewisse Macht im wachsenden Königreich hatten. Zunächst war er ungeheuer stolz gewesen, daß ihm Gleichgestellte ihn akzeptierten, aber schon bald war der Reiz des Neuen verflogen. Obwohl sein Einfluß bei Hofe täglich wuchs und ihn seinen ehrgeizigen Zielen immer näher brachte, überfiel ihn doch, wenn er sich in diesen Kreisen bewegte, wieder das gleiche ungute Gefühl, das ihn beschlichen hatte, als Habbus ihm den Umhang des Wesirs um die Schultern legte. »Übe dich in Bescheidenheit, mein Sohn, übe dich in Bescheidenheit. Das ist der Preis für das Überleben.« Immer wieder erinnerte er sich an diese letzten Worte seines Vaters, immer wieder machten sie ihm deutlich, daß er mit der Tradition des Hauses Ibn Yatom gebrochen hatte. Zu Leonora sagte er davon kein Wort. Sie konnte ihm nicht helfen, denn es gab keinen Weg zurück. Als Wesir konnte er es sich nicht leisten, die Salons und Säulengänge der großen Häuser Granadas zu meiden, denn in deren Schatten wurden Intrigen geschmiedet, vertrauliche Gespräche belauscht. Auch das war ein Preis, den er zahlen mußte, um zu überleben.
Zu Leonoras Kummer – sie liebte es, ihn im vollen Ornat seines Amtes zu sehen – hatte er an diesem Abend nicht seinen golddurchwirkten Umhang umgelegt, denn es war kein offizieller Anlaß. Schlicht gekleidet bewegte er sich durch die glänzende Versammlung, hörte zu, stellte manchmal Fragen, ließ aber selten selbst etwas verlauten … Hinter einem feinen, durchbrochenen Wandschirm zupften Musiker in scharlachroten und gelben Roben mit Adlerfedern an ihren fünfsaitigen Harfen, doch heute klang ihm die Musik mit ihren starren Rhythmen schrill im Ohr. Er war erleichtert, als sie endlich verstummte, mußte dann aber einem der Gäste lauschen, der ein mittelmäßiges Gedicht zum Lob und Preis des ›Schwertes des Königtums‹ rezitierte. Als die Musiker erneut die Instrumente aufnahmen, spazierte Amram in den Garten hinaus, den die anderen Gäste verlassen hatten, sobald die Nacht kühl geworden war. Lustlos zerrieb er einen Zweig Jasminblüten zwischen den Handflächen und atmete den Duft tief ein. Das einzige Vergnügen für die Sinne am ganzen Abend, dachte er gerade übellaunig, als er Abu Alis vertraute Schritte hörte, die vom Haus her auf ihn zukamen.
»Ihr enthaltet uns heute abend Eure glänzende Gesellschaft vor«, bemerkte sein Gastgeber. »Bedrückt Euch etwas?«
»Eine zeitweilige Müdigkeit, mehr nicht. Meine Frau Leonora ist ihrer Zeit nahe, und ich sorge mich um sie.«
»Wie gut, daß Ihr trotzdem gekommen seid. Wie überaus wichtig, möchte ich sogar sagen.«
Amram verbarg das Gesicht in den zerdrückten Jasminblüten, während er darauf wartete, daß Abu Ali fortfuhr.
»Mein getreuer Freund, König Habbus hat gerade einen unerhörten Brief von Abu Dja'far Ahmad ibn Abbas, dem Wesir von Almeria, diesem eingebildeten jungen Emporkömmling, erhalten.«
»Ein großer Gelehrter und Literat«, bemerkte Amram und hob den Kopf.
»Darin stimme ich Euch gern zu, aber von einer maßlosen Selbstbezogenheit. Er mag mit seiner Abstammung von den Gefolgsleuten Mohammeds prahlen, aber das verleiht ihm noch lange nicht das Recht, diejenigen zu verachten, deren Mut auf dem Schlachtfeld ihnen die Oberhand über die Araber geschenkt hat, die sich als unfähig erwiesen haben, das eroberte Land in ihrer Gewalt zu halten. Es schmerzt ihn zutiefst, daß er einem ehemaligen Sklaven und Söldner dienen muß, und einem Eunuchen noch dazu. Und für uns Barbaren, die er als wilde Krieger ohne jegliche Bildung, Kultur und verfeinerte Sitten sieht, hat er nichts als offene Verachtung übrig. All das mag einmal wahr gewesen sein, aber die Zeiten ändern sich, und schon bald werden unsere Paläste es mit dem Glanz und Prunk der Omaijaden aus vergangenen Zeiten aufnehmen können. Da er weiß, daß er uns die Macht nicht entreißen kann, sucht er nun andere Opfer, an denen er sein Mütchen kühlen kann.«
Amram, äußerlich gefaßt, bereitete sich innerlich auf das vor, was nun folgen mußte.
»Sein jüngster Schachzug besteht darin, daß er sich als Verfechter des Islam ausgibt. In diesem Sinne hat er an uns geschrieben und verlangt, daß Euch, mein Freund, der Titel eines Wesirs aberkannt wird, da es gegen die Gesetze des Islam verstoße, wenn ein Jude Macht über Moslems ausübt.«
»Wenn dies der Wunsch unseres Herrschers ist …«, murmelte Amram, dem Hais Worte im Kopf widerhallten.
»Na, na«, lächelte Abu Ali und gab Amram einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »Könnt Ihr Euch vorstellen, daß sich die Berber von Granada einem solchen Pfau beugen? Wer ist denn Almeria zu Hilfe geeilt, als die Abbaditen aus Sevilla angriffen? Und wer hat den Gegenangriff gegen die geführt, die ebenso unsere Feinde wie die Almerias sind? Ihr habt unserem König mit unverrückbarer Treue und ungewöhnlich brillantem Geschick gedient. Warum sollte er Granada Eurer Dienste berauben? Euch zu entlassen würde ihm einen größeren Schaden zufügen als Euch.«
Mit einer bescheidenen Verbeugung nahm Amram diese schöne Lobrede entgegen und erkundete vorsichtig das Terrain. »Wie, meint Ihr, wird Abu Dja'far auf Habbus' Weigerung reagieren?«
»Wenn Zuhair selbst sich stark genug fühlt, dann könnte sein Wesir ihn leicht überreden, sie als einen Vorwand für einen Angriff zu nehmen, in der Hoffnung, sein Reich auf Kosten des unseren zu vergrößern.«
»Almeria ist eine Macht, mit der man rechnen muß. Wie würde sich Eurer Meinung nach Málaga in einem solchen Falle verhalten?«
»Ihr wißt, wie milde und friedliebend der Kalif ist. Er würde zögern, sich einzumischen.«
»Aber vielleicht könnte man ihn überreden, Euch seine Söldner zur Verfügung zu stellen?«
»Die sind ebenfalls Berber und würden wahrscheinlich nur zu gerne die Gelegenheit ergreifen, Abu Dja'far einen Dämpfer zu geben. Und da Ihr eine diskrete, aber einflußreiche Verbündete im Hause der Hammudiden habt«, fügte Abu Ali mit einem wissenden Lächeln hinzu, »sollte es nicht schwierig sein, ihn zu überreden.«
Sofort war Amram hellwach. Nichts konnte trügerischer sein als ein solches unerbetenes Bündnis. Dafür würde er vielleicht eines Tages teuer bezahlen müssen, zu teuer. Doch dieses Angebot auszuschlagen, das könnte über Sieg oder Niederlage für den König entscheiden, der wiederum sein zerbrechliches Schicksal in der Hand hielt …
»Bereitet unsere Truppen deutlich sichtbar auf einen Kampf vor«, fuhr Abu Ali fort. »Wenn diese Drohung nicht ausreicht, um die Almerianer abzuschrecken, dann kämpfen wir für die Ehre der Berber und der Juden.«
Als Abu Ali sich wieder zu seinen anderen Gästen gesellte, ging Amram leise fort, überließ seine Kollegen ihrem Wein und ihren Sinnenfreuden. Er galoppierte rasch nach Hause, als könnte die Geschwindigkeit seine widerstrebenden Gefühle besänftigen: Wut und Zorn über Abu Dja'fars Arroganz, ungeheure Erleichterung über Habbus' Entschlossenheit, sich dessen unverschämten Forderungen zu widersetzen, wenn er sich auch keinerlei Illusionen über dessen Motive machte. Eindeutig lagen Stolz und reines Selbstinteresse dem Handeln des Königs zugrunde, keineswegs der glühende Wunsch, die Ehre seines jüdischen Wesirs zu verteidigen. Doch all diese Überlegungen wurden von der Sorge überschattet, wie er als Jude sich wohl in Zukunft in dem Morast von al-Andalus behaupten könnte. Wenn Habbus einmal nicht mehr war, würden seine Nachfolger mit ihm auch so freundlich umspringen? fragte er sich, als er zu Leonora hineinschaute. Welche Zukunft konnte er dem Kind bieten, von dem sie schon bald entbunden werden sollte?
Als Amram am nächsten Morgen den Albaicin hinaufritt, war er so in seine Pläne für den Feldzug gegen Abu Dja'far vertieft, daß er kein Auge für die Veränderungen hatte, die an den Berghängen vonstatten gingen. Umsichtige Männer, die es in die blühende Berberstadt gezogen hatte und die mit ihr zu Wohlstand gekommen waren, bauten sich im Schatten der uralten Festung herrliche Villen. Und der König, dem klar wurde, daß der verfallene Palast der Omaijaden, mit dem sein Onkel sich zwar noch zufriedengegeben hatte, nun nicht mehr mit seinem neu gewonnenen Ansehen vereinbar war, war schon bald ihrem Beispiel gefolgt. Aus Nordafrika hatte er Steinmetze herbeigerufen, aus Damaskus Handwerksmeister, die aus schlichtem Gips spitzenfeine Gitterwerke zu zaubern vermochten, aus Byzanz die erlesensten Mosaikkünstler, die den Fassaden des herrlichen Baus, der ihm vorschwebte, Glanz und Leben verleihen sollten. Obwohl es Amrams Hauptaufgabe war, die Gelder für dieses ruhmreiche Unterfangen aufzutreiben, zog man ihn als kultivierten Mann auch immer wieder zu Rate, wollte seine Meinung über die Bearbeitung eines Marmorblocks, über die höchst eleganten Proportionen einer Säule erfahren oder einfach nur bewundernde Worte über das komplizierte Gitterwerk eines Stuckpaneels hören, in dem Lotosblumen und Palmetten, dreiblättrige Blüten und Pinienzapfen kunstreich miteinander verschlungen waren. Als Amram sich einen Weg durch die aufgehäuften Baumaterialien und die Handwerker bahnte, die sich überall an der Bergflanke zu schaffen machten, betete er, es mögen nicht wieder derlei triviale Dinge sein, mit denen man ihn heute morgen belästigte.
Diese Hoffnung wurde enttäuscht. Als er sein Gemach im verfallenen alten Palast betrat, wartete dort schon ein Eunuch auf ihn. Man teilte ihm mit, das ›Schwert des Königtums‹ wünsche, seinen Rat über den Entwurf für ein Mosaik zu hören, das den Haupteingang zum neuen Palast zieren sollte. Zutiefst verärgert folgte Amram dem Eunuchen zur Baustelle. Habbus war bereits ins Gespräch mit den Griechen vertieft, die er nach Damaskus geschickt hatte, um dort die Flüsse und Brücken, die Bäume und Paläste zu studieren, die auf den herrlichen Mosaiken in der großartigen Moschee dieser Stadt abgebildet waren. Über einen improvisierten Tisch gebeugt, lauschte er aufmerksam ihren Erklärungen. Sobald sich Amram dazugesellte, unterbrach er die Künstler mitten im Satz. Ein Blick genügte, und der Eunuch, der Amram begleitet hatte, scheuchte die Griechen wieder an die Arbeit, gab ihnen kaum Zeit, ihre Zeichnungen zusammenzurollen und ihre bunten Steinchen einzusammeln. Während sie davoneilten, führte Habbus Amram von der Baustelle weg, ging mit ihm ein Stück den Berghang hinunter auf einen kleinen Zypressenhain zu, wo er manchmal die Abgeschiedenheit suchte und über die Staatsgeschäfte nachdachte.
»Ihr habt zweifellos von der unerhörten Forderung des Abu Dja'far gehört«, begann er, als sie sich dem Wäldchen näherten.
»Abu Ali hat mir davon erzählt.«
»Da Ihr der Vorwand dafür zu sein scheint, bin ich ganz sicher, daß Ihr Euch nach besten Kräften bemühen werdet, damit wir sicher sein können, siegreich aus dieser Konfrontation hervorzugehen.«
»Wie immer, o Schwert des Königtums, ist Euer Vertrauen gerechtfertigt. Aber um unseren Sieg garantieren zu können, wären wir meiner Meinung nach gut beraten, wenn wir die Söldner Málagas in unsere Reihen aufnähmen.«
»Ich habe diese Möglichkeit bereits in Betracht gezogen, doch ich möchte die Verhandlungen Euch überlassen. Wie Ihr wißt, habt Ihr im Herrscherhaus von Málaga eine getreue Verbündete, die Euch behilflich sein wird.«
Wieder die gleiche Anspielung … Inzwischen waren sie im Hain angelangt. Dort saß auf einer Steinbank, in Wolken aus Seide gehüllt, eine winzige Gestalt: Rasmia.
Darauf war Amram überhaupt nicht vorbereitet. Überrascht und verwirrt wandte er sich, eine Erklärung heischend, an Habbus, doch der König hatte sich bereits wortlos umgewandt und ging mit großen Schritten wieder auf den Palast zu. Dies war einer der seltenen Augenblicke in Amrams Leben, in denen er völlig unschlüssig war, wie er sich verhalten sollte. Diese Situation hatte er nicht voraussehen können. Sie war so ungewöhnlich, daß Rasmia allen guten Sitten trotzte und als erste das Schweigen brach.
»Als Ihr das letzte Mal mit mir zu sprechen geruhtet«, sagte sie und zog die seidenen Tücher fort, die ihr kindliches Erröten verborgen hatten, »versprach ich, daß ich wegen meiner Zuneigung zu Euch stets alle mir zur Verfügung stehenden Mittel zu Eurem Schutz einsetzen würde. Nun hat sich unerwartet eine Möglichkeit dazu ergeben, und ich habe Wort gehalten. Auf mein Beharren hat sich meine Familie in Málaga bereit erklärt, die Truppen Granadas im Kampf gegen Abu Dja'far zu unterstützen.«
Amram war schreckensbleich. Welchen Preis würde sie für ein derart unerbetenes – wenn auch bitter notwendiges – Einschreiten fordern?
Rasmia war bestürzt über seine kühle Reaktion, verfolgte ihr Ziel aber unbeirrt weiter. »Nun? Wollt Ihr mir nicht danken?«
»Auf … auf … welche Weise?« stammelte Amram, völlig verwirrt, weil einmal die Initiative nicht mehr in seiner Hand lag, sondern in den Händen dieses unschuldigen, aber eigensinnigen Kindes.
»Wie Ihr es für richtig erachtet.«
»Vielleicht habe ich mich nicht deutlich ausgedrückt«, entschuldigte sich Amram in onkelhaftem, ja väterlichem Ton, während er um Fassung rang. »Was erwartet Málaga im Gegenzug für seine Unterstützung?«
»Auf mein Verlangen hin nichts.«
»Und Ihr?«
»Auch nichts. Eine Liebe wie die meine kann man nicht durch Feilschen gewinnen. Im Augenblick ist es mir genug, daß Ihr unversehrt und im Triumph des Sieges aus diesem unerhörten Angriff auf Eure Ehre hervorgeht. Wenn eine Frau liebt, so schenkt sie ohne Einschränkungen. Ich glaube jedoch nicht, daß ein Mann Eurer Umsichtigkeit einer so seltenen Liebe gegenüber auf immer gleichgültig bleiben kann oder ihren unschätzbaren Wert nicht erkennt. Eure Wertschätzung dieser Liebe soll mein Lohn sein.«
Wertschätzung? Oder Erwiderung? Wenn er sie nun wertschätzte, überlegte Amram, während er ihr kleines Gesicht mit beiden Händen sanft umfaßte, das sie in flehentlicher Erwartung eines Kusses zu ihm erhoben hatte. Aber er liebkoste es nur zärtlich. Seltsam gerührt von ihrer kindlichen Unschuld, dankte er ihr, machte dann abrupt kehrt und eilte, flüchtete beinahe den Hang zum Palast hinauf. Traurig folgte sie ihm mit den Blicken, bis er zwischen den Baugerüsten verschwunden war.
Blind vor Wut über die Verachtung, mit der der Herrscher von Granada seiner Forderung begegnet war, rief Abu Dja'far seine Truppen mit erstaunlicher Eile zusammen und schickte sie im wilden Galopp auf die Paßstraße zu, die über die Berge der Sierra Nevada in die Ebene von Granada führte. Als die Almerianer jedoch die Brücke über den reißenden Bergbach erreichten, den sie zuvor überqueren mußten, fanden sie nur noch ein paar zerborstene Bretter vor, die aus dem schäumenden Wasser ragten. Amram war schon vor ihnen dort gewesen. Abu Dja'far verfluchte den Juden mit einer Flut von Schimpfworten und jagte dann seine erschöpften Truppen den schmalen steinigen Ziegenpfad hinauf, der hoch über dem Bach in die Bergflanke eingegraben war. Sobald der größte Teil seiner Leute hintereinander auf dem Pfad aufgereiht war, ertönte schrilles Schlachtgeschrei, hallte rings um den schmalen Pfad furchterregend laut wider, als käme es vom Himmel selbst. Auf ein Zeichen Amrams stürzten sich Schwärme von Berbern mit gezücktem Schwert von oben den Hang herab auf die Almerianer und warfen sie von ihrem schmalen Weg in die tosenden Wasser. Ihre Schreie vermengten sich mit denen der Angreifer, wenn ihre Körper auf die dicht unter der Wasseroberfläche verborgenen Felsen prallten. Es war ein schreckliches Gemetzel. Neue Truppen, von Habbus angeführt, verstärkten nun den Vorteil Granadas, bis Abu Dja'fars Niederlage vollkommen war. All sein Flehen, all seine Angebote hoher Summen von Lösegeldern konnten ihn nicht vor dem Zorn des Siegers schützen. Habbus selbst, das ›Schwert des Königtums‹, durchbohrte ihn.
»Seit Ihr an meinen Hof gekommen seid, hat mich das Glück stets aus vollen Händen beschenkt«, erklärte Habbus und klatschte sich schallend auf den Oberschenkel, als er Amram nach der Rückkehr aus der Schlacht zu sich gerufen hatte. »Dank Abu Dja'fars Unverfrorenheit haben wir unverhofften Gewinn gemacht, nicht zuletzt jenen wichtigen Zugang zum Meer südlich der Sierra Nevada unweit Almuñécar. Es war ein Triumph für Granada, aber auch für das jüdische Volk.«
»Ich, o Schwert des Königtums, sehe es als einen Sieg der Toleranz über den Fanatismus, der Offenheit über die Scheinheiligkeit.«
»Ja, natürlich, Ihr formuliert es soviel eleganter als ich, ein ungebildeter Mann des Schwertes.«
»Das hat hier keine Bedeutung. Wichtig ist, daß wir einander verstehen, trotz aller Unterschiede.«
»Ich bedaure, daß Rasmia nicht hier ist und unseren Triumph mit uns teilen kann. Sie wurde nach Málaga gerufen, um dort den Tod eines Vetters zu beweinen, den sie sehr liebte und der darauf bestanden hatte, sich an Eurem Hinterhalt zu beteiligen. Als er sich auf einen Anführer der Almerianer stürzte, verlor er das Gleichgewicht und fiel zusammen mit seinem Gegner in den Tod.«
»Sie muß zutiefst betrübt sein«, erwiderte Amram, unbeschreiblich erleichtert, daß man ihn nicht aufforderte, ihr die Belohnung zu gewähren – noch nicht …
Nachdem die Schlacht gegen Almeria vorüber war, alterte König Habbus zusehends. Er war der Staatsgeschäfte müde, übertrug seinem jüdischen Wesir nun immer mehr Verantwortung, nicht nur für die Verhandlungen über Bündnisse mit anderen Berberreichen, sondern auch in der Führung anderer Feldzüge gegen Sevilla und die kleinen Fürstentümer, die es unterstützten. Dies war jedoch nicht Amrams einzige Sorge. In den eleganten Säulenhallen und blumenduftenden Gärten der großen Häuser der Stadt wurden bereits Intrigen gesponnen, die verschiedene Rivalen um die Nachfolge König Habbus' unterstützten. Wohin er auch blickte, im Königreich oder außerhalb, er sah nichts als Verrat und Betrug; in der blinden Jagd nach dem eigenen Vorteil waren alle Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge, Treue und Verrat gefallen.
Bei seiner Rückkehr von einer blutigen Schlacht, die er mit den Verbündeten des Tages – vielleicht den Feinden des nächsten? – geschlagen hatte, fand er ein wenig Trost in der vertrauensvollen Unschuld seines erstgeborenen Sohnes Musa, der auf ihn zugerannt kam, um von den starken Armen seines Vaters emporgehoben zu werden. Das Streicheln seiner sanften Patschhände im Nacken, seine Freude über die Rückkehr des Vaters, all das konnte einen Augenblick lang die Sorgen aus seinen Gedanken verbannen. Amrams andere Quelle des Trostes waren die Gedichte, die er verfaßte, Zeilen, in die er all die Bitterkeit fließen ließ, die an ihm nagte.
Soll ich für immer, einem Beduinen gleich, im Zelte leben?
All meine Tage hinter dieser Zeltbahn nun verbringen?
Zeit und Wildnis haben mich die Freunde längst vergessen lassen.
Nachdem er Zeuge geworden war, wie in einer Schlacht am Genil unzählige tapfere Männer niedergemetzelt wurden, wie der Kopf des Sohnes seines Erzfeindes, des Kadi Abbad von Sevilla, mit einem einzigen Hieb abgetrennt und im Triumph nach Granada getragen wurde, schrieb er:
Am Anfang gleicht der Krieg der schönen Jungfer, mit der zu
kosen alle Männer Sehnsucht hegen,
Doch stellt er sich heraus als eine garst'ge Metze, deren
Freier alle unter Schmerzen weinen.
Als er eines Abends die Feder niederlegte, nahm Amram noch einmal den Brief in die Hand, der ihn bei der Rückkehr von einem Gefecht an der Grenze erwartete hatte:
Mein geliebter Bruder,
mit großem Stolz und tiefem Ehrgefühl grüße ich Dich, zunächst als Dein Bruder, aber auch in hohem Maße im Namen unserer jüdischen Glaubensbrüder auf dem Boden von al-Andalus. Deine Serie militärischer Triumphe, Deine hohe Stellung als Wesir am Hofe von Granada, all das schenkt uns Juden ein neues Gefühl der Würde und stärkt uns in dem uneingeschränkten Vertrauen, daß wir, sollte unser Volk wieder einmal von schweren Nöten heimgesucht werden, in Dir einen mächtigen Fürsprecher unserer Sache finden werden. Ach, stünden doch Deine Begabung als Heerführer und Dein Geschick bei Verhandlungen, wie es seinesgleichen seit den Tagen unseres verehrten Großvaters Da'ud nicht gegeben hat, im Dienste eines Landes, das wir unser eigen nennen können, eines Königreiches wie Chasarien, das auf unseren Ahnen Da'ud eine solche Faszination ausübte. Müssen wir ewig auf die Ankunft des Messias warten, ehe dieser Traum Wirklichkeit wird? Ist die Zeit noch nicht gekommen, daß wir unser Schicksal in die eigene Hand nehmen?
Das Leben hier im Landhaus geht seinen ruhigen Gang. Ralambos Pflanzen haben ihre Kraft bewiesen, die gleiche unzerstörbare Vitalität, die meiner Meinung nach auch die Quelle ihrer heilenden Wirkung ist. Sie gedeihen wieder, aber wie Du weißt, muß ich meine Beobachtungen über die therapeutischen Eigenschaften des Extraktes beinahe ganz von Anfang an neu beginnen. Es ist eine mühevolle Aufgabe, die mich manchmal völlig entmutigt, um so mehr, als mir das Talent zur unfehlbaren Diagnose fehlt, mit dem unser Vater gesegnet war.
Wie Du in deinem letzten kurzen Brief geschrieben hast, ist es wirklich höchste Zeit, daß ich mir eine Frau suche, aber weißt Du, lieber Bruder, nur sehr wenige Frauen wären bereit, hier draußen im Schatten der Aloepflanzen inmitten ihrer stacheligen Klauenblätter zu leben, während ihr Zuhause täglich von einem nicht abreißenden Strom von Jammergestalten heimgesucht wird, die sich Linderung ihrer Leiden erhoffen. Unsere Mutter war darin einmalig. Die Bildung, die ihr Menahem vermittelte, schenkte ihr die Fähigkeit, sich unabhängig von ihrer Umgebung eine reiche innere Welt zu schaffen, sich von jenen eitlen Dingen zu befreien, die wir Gesellschaft nennen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf und tröste mich inzwischen mit dem Wissen, daß die Zukunft des Hauses Ibn Yatom durch Dich und Leonora in so würdiger Weise gesichert ist, wie ich es für mich nie zu erhoffen wagen würde.
Möge der Schild Israels Dich bei all Deinen Unternehmungen beschützen, und mögt Ihr, Du und die Deinen, noch viele Jahre mit Gesundheit und Stärke gesegnet sein.
Dein Dich liebender Bruder
Natan
Amram ließ den Brief aus der Hand gleiten und schloß müde die Augen. Wie er sich nach dem Frieden und der Ruhe des Lebens zurücksehnte, das er in seiner Kindheit im Landhaus gekannt hatte, nach einem Leben, das nicht dem Streben nach Macht gewidmet war, sondern der Suche nach Wissen. Hatte er sich in seiner Entscheidung geirrt? Über diese Frage grübelte er oft in Augenblicken der Niedergeschlagenheit nach, wenn er auch die Antwort nur zu gut kannte. Richtig oder falsch, dies war das Leben, für das er geschaffen war, und er mußte seinem Weg folgen, wo immer er ihn hinführte. Seltsam, dachte er nun, und wandte sich wieder Natans Brief zu, seltsam, daß sein Bruder Gedanken ausgedrückt hatte, die seit einiger Zeit Leonora und bei seinen häufigen Besuchen auch ihr Vater angesprochen hatten. Wenn er zu den oberflächlichen Schlußfolgerungen, die sie aus dem äußeren Anschein seines Lebens gezogen hatten, noch seine eigenen intimen Kenntnisse der militärischen und politischen Wirklichkeit seiner Zeit hinzufügte, mußte er notgedrungen ihrer Meinung sein.
Solange Habbus in Granada regierte, war seine Stellung gesichert, seine Treue unerschütterlich. Sobald der König aber starb – und dieser Tag war nicht mehr fern –, würde Chaos entstehen, denn alle Söhne und Neffen würden sich auf Leben und Tod in den Kampf um seine Nachfolge stürzen. In jenen unruhigen Gewässern müßte er dann aufs neue seinen Weg finden, und all das nur um das Recht, wieder einem anderen Prinzen dienen zu dürfen. Heute stand er auf dem Gipfel seiner Macht, einer Macht, die er tapfer erkämpft und behauptet hatte. Wenn Habbus nicht mehr war, würden ihm an jeder Wegbiegung Feinde auflauern und die nächste Gelegenheit abwarten, um ihn zu Fall zu bringen. Welchen Thronanwärter er auch unterstützte, jedes gegnerische Lager würde mit aller Macht versuchen, ihm zu schaden. Vielleicht hatten Natan und Leonora und ihr Vater Joseph recht, wenn sie ihn drängten, seine Talente im eigenen Interesse zu nutzen, im Interesse seines eigenen Volkes und nicht im Dienste kleiner Prinzen, für die er kaum mehr als ein nützliches Werkzeug war.
Jedesmal, wenn er aus den Schlachten und von den Gefechten heimkehrte, von den Städten, die er belagert oder gegen Belagerer verteidigt hatte, von den Hinterhalten, denen er mit knapper Not entronnen war, dann sah er, wie Leonoras Gesicht von Angst zerfurcht war. Wenn sie in der köstlichen Ruhe nach leidenschaftlicher Vereinigung beieinanderlagen, flehte sie ihn an, seinen Ehrgeiz dem zuzuwenden, was in ihren Augen die natürliche Schlußfolgerung war.
»Warum solltest du den Rest deiner Tage damit verbringen, für immer andere Kriegsherren zu kämpfen und Ränke zu schmieden? Was du so erfolgreich für sie errungen hast, könntest du doch auch für dich selbst erringen. Wenn jeder jämmerliche Kriegsherr, Berber, ehemalige Sklave oder Eunuch, von denen keiner auch nur einen Bruchteil deiner Fähigkeiten besitzt, sich selbst als unabhängigen Herrscher einsetzen kann, warum dann nicht du? Vater würde dir nur zu gern sein ganzes Vermögen zur Verfügung stellen und damit ein Heer aus Söldnern finanzieren, das einzige, was dir noch fehlt, um einen Teil des Landes an dich zu reißen, das du so gut kennst. Und wenn du dein Königreich gewonnen hast, dann werden die Juden aus allen Ecken von al-Andalus in hellen Scharen herbeiströmen. Handel und Gewerbe werden blühen, die Kultur wird gedeihen, und unser Hof wird in seinem Glanz dem von Córdoba zu seinen besten Zeiten in nichts nachstehen.«
Es war eine verlockende Vision, und sie deckte sich mit den ehrgeizigen Plänen seiner Jugend. Aber auf wen konnte er sich verlassen, um sie in die Wirklichkeit umzusetzen, in dieser Zeit, in der das Wort Treue jegliche Bedeutung verloren hatte und Eigeninteresse das einzige Motiv für die Handlungen der Menschen war? Eigeninteresse, grübelte er. Einem möglichen Verbündeten mehr bieten, als er, Amram, im Gegenzug bekommen würde. Eines nach dem anderen ging er die Fürstentümer durch, mit denen er irgendwann einmal Bündnisse abgeschlossen hatte: Carmona, Almeria, Málaga. Von allen hatte sich allein Málaga, dessen Herrscher aus dem Hause der Hammudiden nur dem Namen nach Kalif war, als halbwegs verläßlicher Verbündeter erwiesen, wenn auch eher aus Schwäche denn aus Treue. Ein Kalif ohne Kalifat … ein Kalif, der ein Kalifat brauchte … ein Kalifat im Austausch gegen …
Allmählich reifte in seinen Gedanken ein Plan heran und nahm Stück für Stück konkrete Formen an.
41
Wie alle Wesire des Reiches rief man Amram allein an Habbus' Sterbebett, das nur von seinen getreuen Eunuchengarden bewacht wurde. Das Herz zog sich ihm zusammen, als er die ehemals kraftvolle Gestalt des unerschrockenen Berberkriegers erblickte. Er war so in sich zusammengesunken, daß man seine Umrisse kaum noch unter den Felldecken ausmachen konnte, die man in vergeblichem Bemühen als Schutz gegen die Kälte des Todes über ihn gebreitet hatte. Es hatte in den vergangenen Wochen Augenblicke gegeben, da Amram erwogen hatte, Natan zu rufen, damit er den Herrscher vielleicht mit Ralambos Extrakt behandelte. Als er jedoch die möglichen Folgen bedachte, hatte er sich dagegen entschieden. Wenn Habbus sich erholen sollte, würden alle Rivalen um den Thron, die das Ableben des Königs ungeduldig erwarteten, sich gegen ihn, Amram, verschwören. Wenn er starb, dann würde, wer auch immer in dem Kampf um die Vorherrschaft gewann, Amram beschuldigen, ihn ermordet zu haben. Also mischte er sich nicht ein und ließ der Natur ihren Lauf.
Habbus schlug die Augen auf, als er hörte, wie Amram die üblichen Wünsche für eine baldige Genesung aussprach.
»Wie gut es ist, meine letzten Augenblicke mit dem einzigen Mann in meinem Königreich zu verbringen, dem ich je vollständig vertraut habe«, murmelte er schwach. »Sie glauben, ich sei zu krank, um ihre Scheinheiligkeit zu durchschauen, auch die meiner eigenen Söhne, wenn sie kommen und Allah bitten, mich wieder genesen zu lassen. Hinter ihrem maskenhaften Lächeln schmieden sie Ränke und spinnen Intrigen, bestechen und machen Versprechungen, um ihren Rivalen mein Königreich zu entreißen. Wie müßig mir das alles jetzt erscheint. Eitelkeit der Eitelkeiten, wie Euer Prediger es so weise gesagt hat.«
»Alles ist eitel«, flüsterte Amram als Antwort.
Habbus schloß eine Weile die Augen und sammelte dann seine Kräfte, um weiterzusprechen.
»Unter den dreien, die vor meinem Gemach auf und ab gehen und darauf warten, daß ich endlich meinen letzten Atemzug tue, ist mein Sohn Badis am besten geeignet, den Thron zu erben. Er ist stark und aufrecht, verläßt sich nur auf sich selbst und besitzt genug Autorität, um die Kriegsherrn und Wesire in Schach zu halten. Boluggin ist ein jämmerlicher Schwächling, und mein Neffe Yaddair mag gelehrt sein, aber er ist so vom Ehrgeiz zerfressen, daß er Granada in Abenteuer verwickeln könnte, die vielleicht seine Kräfte übersteigen. Ich hoffe, daß die Prinzen meines Reiches und Ihr selbst, mein getreuer Freund, meinen letzten Willen erfüllen und dem von mir bestimmten Nachfolger Treue schwören werden. Aber dann seid auf der Hut! Yaddair wird sich zur tödlichen Gefahr entwickeln. Er wird vor nichts zurückschrecken, um sich zu rächen und das Königreich zu Fall zu bringen.«
»Nicht einmal davor, Granada an Sevilla zu verraten?«
»Nicht einmal davor. Aber diese Probleme kann ich nun nicht mehr lösen«, seufzte Habbus, bedeutete seinem Eunuchen mit einer Handbewegung, er solle ihm die Lippen befeuchten, damit er fortfahren könne. »Ich bitte Euch nur um eines: Kümmert Euch nach meinem Tod um Rasmia. Sie liebt Euch mit einer so starken Leidenschaft, daß ich ihr nichts entgegensetzen, viel weniger noch sie unterdrücken konnte. Sie ist ein vertrauensvolles, aufrichtiges Geschöpf. Es wäre unfreundlich, ihre Gefühle zu verletzen, und unklug, ihren Stolz zu verwunden. Sie erwartet Euch jetzt in dem Wäldchen, wo Ihr sie schon einmal getroffen habt. Ehe Ihr zu ihr geht, rezitiert mir jedoch noch einmal das Gedicht, das Ihr am Vorabend der Schlacht gegen Abu Dja'far geschrieben habt.«
»Es gehört nicht zu meinen besten Werken.«
»Das macht nichts. Aber es ist den Umständen angemessen. Sprecht, mein Freund, sprecht«, flüsterte Habbus, faltete die Hände auf der Brust und schloß die trübe gewordenen Augen, während er sich zum Hören bereit machte.
Der stete Rhythmus der Zeilen ließ Habbus in einen friedlichen Dämmerschlaf sinken, und nachdem die letzten Worte in der Stille des Gemachs verklungen waren, ging Amram auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Er spürte, wie eine Trauer, die er nicht erwartet hatte, in ihm aufstieg und ihn zu ersticken drohte.
Wie benommen trat er in die Marmorflure des großartigen neuen Palastes. Doch als er bemerkte, wie Gruppen von intrigierenden Würdenträgern verstummten und sich zerstreuten, sobald er sich näherte, wurde ihm klar, daß es dringlichere Dinge gab als seinen Schmerz. Jetzt, da Granada sich kopfüber in den Kampf um die Nachfolge des Habbus stürzen würde, war die Zeit gekommen, den Plan umzusetzen, den er so fein erdacht hatte. Alle Elemente waren nun vorhanden, er war bereit zur Tat. Er bedachte sorgfältig die Schritte, die es unverzüglich auszuführen galt, war also wenig geneigt, auf die liebevollen Gesten einer Frau einzugehen, als er in das abgelegene Wäldchen schritt. Beim Anblick von Rasmia, die zerbrechlich und verloren auf der Bank saß, konnte er aber Habbus' letzten Wunsch nicht vergessen, weniger noch seine Warnung: es sei unfreundlich, ihre Gefühle zu verletzen, und unklug, ihren Stolz zu verwunden … Also nahm er die Hände, die sie ihm zum Willkommen entgegenstreckte, in die seinen und küßte ihr mit einer rührenden Mischung aus Galanterie und verführerischem Zauber die Handflächen.
»Ich wußte, daß Ihr kommen würdet. Ich wußte, daß mein Vertrauen in Euch gerechtfertigt war«, sagte sie mit bebender Stimme. »Mein Onkel hat mir Euren Plan unterbreitet, und ich habe ihm und anderen Mitgliedern meiner Familie, die noch zögern und in deren Macht es läge, Eure Pläne zu durchkreuzen, zu verstehen gegeben, daß sie Euch volles Vertrauen schenken können. Aber nun müßt Ihr mich vor den Risiken beschützen. Bleibe ich in Granada, so ist mein Leben in Gefahr, ob Ihr nun gewinnt oder verliert. In jedem Falle wird man mich verdächtigen, und Eure Feinde werden versuchen, mich zu töten. Auch in Málaga bin ich nicht mehr sicher, sollten sich die Dinge gegen Euch entwickeln.«
Bei all seiner weisen Voraussicht, bei all seinen klugen Plänen hätte Amram diese Entwicklung nicht vorausahnen können. Was war bloß in den Kalifen von Málaga gefahren, daß er dieses Kind in ihren gemeinsamen Plan eingeweiht hatte? Zweifellos das Bedürfnis des Schwächlings, der stets nach Zustimmung heischt, gleich von welcher Seite. Aber mit dieser Indiskretion hatte der Hammudide genau die Situation geschaffen, die Amram hatte vermeiden wollen, seit ihm Rasmia ihre Liebe erklärt hatte. Nun stand er nicht nur in ihrer Schuld für eine Hilfe, die er nicht verlangt hatte. Der Erfolg – oder Mißerfolg – der wichtigsten Unternehmung seines Leben hing jetzt von ihr ab. So wie sie ihren Verwandten geraten hatte, ihm zu vertrauen, genauso konnte sie ihnen auch zum Gegenteil raten und damit die Erfüllung seines kühnsten, ehrgeizigsten Traums zunichte machen: oberster Herrscher über ein Gebiet zu werden, in dem nur sein Wort galt. Aber jetzt war keine Zeit für Vorwürfe. Ihm blieb keine andere Wahl, als Rasmias Bitte zu erfüllen. Er konnte ihr nur dort Zuflucht bieten, wohin er auch schon Leonora und den kleinen Musa geschickt hatte, sobald sich die Nachricht von Habbus' bevorstehendem Tod verbreitet hatte.
»Aber natürlich«, versicherte er ihr. »Sobald ihr die Nachricht erhaltet, daß Habbus verschieden ist, legt Ihr Euer schlichtestes Gewand an und kommt unter dem Vorwand, mit Eurer Trauer allein sein zu wollen, hierher. Es wird Euch jemand hier abholen und auf Eurem Weg begleiten.«
»Wohin?«
»In Sicherheit. Mehr braucht Ihr nicht zu wissen.«
»Und diese Person wird bei mir bleiben und mich beschützen und mich zu Euch bringen, wenn Ihr nach mir schickt?«
»Wenn das Euer Wunsch ist.«
Rasmia zog ihn nah an sich, preßte ihren kleinen, wohlgerundeten Körper an den seinen, hob die Hände und fuhr ihm mit den Fingern übers Gesicht, verschlang ihn mit Augen. »Wenn sich die Dinge schlecht für Euch entwickeln sollten, mein Liebster, dann sehe ich Euch vielleicht niemals wieder. Wollt Ihr mich nicht einmal lieben, hier und jetzt, nur einmal, damit ich eine Erinnerung an Euch behalte, an der ich mich erfreuen kann? Ist das zuviel verlangt als Lohn für die Gefahren, die ich für Euch auf mich genommen habe?«
Amram kochte vor Wut, in ihm tobte ein teuflisches Gemisch aus Zorn und Verlangen. Er saß in einer Falle, in die er um alles in der Welt nicht hatte geraten wollen. Jetzt hatten Habbus' letzte Worte eine neue Bedeutung für ihn bekommen: »Es wäre unklug, ihren Stolz zu verwunden.« Aber Habbus wußte nichts von seinen Plänen. Die entscheidende Frage war jedoch: Wieviel wußte sie? Wieviel hatte ihr Onkel ihr enthüllt? Kannte sie Einzelheiten oder nur die allgemeinen Ziele? Wieviel konnte sie verraten, wenn ihr Stolz verletzt war? Und wieviel mehr könnte sie noch von ihm zu erfahren suchen, in jenem ekstatischen Höhepunkt der Liebe, wenn ein Mann für Augenblicke völlig schutzlos ist? Viele Große und Mächtige waren in der sinnlichen Atmosphäre des Harems dieser Versuchung schon erlegen. Diese Gefahr mußte er um jeden Preis vermeiden. In einem verzweifelten Versuch, sich aus diesem Dilemma zu befreien, raffte er all seine Überzeugungsgabe zusammen und legte in seine Stimme die zärtliche Sorge, für die sein Vater so bekannt gewesen war.
»Bisher habt Ihr mir doch vertraut, nicht wahr?«
»Blind.«
»Dann vertraut mir bis zum Ende, mein Täubchen. Mein Leben lang folge ich schon einer eisernen Regel: niemals am Vorabend einer entscheidenden Konfrontation eine Frau zu berühren. Die Liebe verwirrt mir die Sinne, umwölkt meinen Verstand und schwächt meine Wahrnehmung. Der Erfolg, mit dem meine Unternehmungen bisher gekrönt waren, beweist, wie klug dies ist. Ich schwöre Euch nun bei dem unverbrüchlichen Band, das uns beide in diesem Augenblick vereint, daß ich Euch, sobald ich siegreich aus diesem Kampf, meinem größten, hervorgehe, lieben will, wie Ihr es Euch niemals erträumt hättet. Denn auch in dieser Kunst, wie in allem, was ich tue, erstrebe ich höchste Vollendung. Eure Liebe, für die Ihr mir so überzeugende Beweise gegeben habt, wird in den kommenden Tagen mein Schutz und Schild sein. Im Triumph, das schwöre ich Euch, soll dann meine Leidenschaft die Eure noch übertreffen.«
Einen kurzen Augenblick nahm er sie in die Arme, küßte sie zart auf die Stirn und verabschiedete sich. Während er sich entfernte, war er sich nicht sicher, ob er ihre kindlichen Gefühle verletzt oder ihren weiblichen Stolz – den Stolz der Liebenden – verwundet hatte. Er wußte nur, daß diese von allen Gefahren, denen er bald ins Auge sehen mußte, die ernsteste war. Diesmal hatte nicht er die Initiative ergriffen und diese Wendung daher auch nicht in seine Pläne einbezogen. Sein Leben lang hatte ihm seine Beredsamkeit gute Dienste geleistet. Gebe Gott, daß sie ihn auch diesmal nicht im Stich gelassen hatte …
Amram versuchte, seine nagenden Zweifel zu verdrängen, während er mit raschen Schritten über den Grat zwischen dem Palast und der Festung ging. Dort versammelte er seine obersten Heerführer um sich und erklärte ihnen knapp, um einen Angriff der Sevillaner zu vereiteln, die vielleicht die Verwirrung nach Habbus' Tod ausnutzen würden, müßten sie sich unverzüglich mit dem größten Teil des Heeres an den verletzlichsten Grenzen des Reiches in Verteidigungsstellung begeben. Er selbst wolle die Garnison befehligen, die zum Schutz der Hauptstadt zurückblieb. Man pries seine Weitsicht, und als die Heerführer auseinandergingen, um seine Befehle auszuführen, setzte er sich nieder, um einen Brief an Joseph ibn Aukal zu verfassen. Er versicherte seinem Schwiegervater, seine geliebte Tochter Leonora und sein Enkel Musa seien wohlauf, und lud ihn ein, bald einmal zur Feier des Sabbats nach Granada zu kommen. Er schickte das Schreiben mit einem zuverlässigen Boten fort. Nachdem er wenige Stunden später die Truppen vor dem Abmarsch aus der Stadt inspiziert hatte, blieb ihm nichts mehr zu tun als abzuwarten.
Habbus' Todeskampf zog sich noch eine ganze Woche hin, und seine Schmerzen waren so groß und andauernd, daß sogar die, die ihn liebten, beteten, er möge bald von seinen Leiden erlöst werden. Sobald die Nachricht von seinem Tode verkündet wurde, schickte man in alle benachbarten Reiche Kuriere aus, um von dort Vertreter zu seiner Beerdigung einzuladen. Inzwischen stellten sich die Würdenträger Granadas hinter ihre jeweiligen Kandidaten für die Thronfolge. Alle außer Amram, der sich zu keinem bekannte. In der Abgeschiedenheit der beinahe völlig verlassenen Festung hielt er sich von allen Ränken und Intrigen fern, als sei es seine einzige Sorge, das Königreich gegen die Feinde zu beschützen, bis man dem Nachfolger des Habbus den Treueschwur geleistet hatte.
Es gab immer noch nichts zu tun als abzuwarten. Geduldig darauf zu harren, daß der Plan, den er so gut eingefädelt hatte, glücken würde. Während die Tage verstrichen, ging er ständig die Einzelheiten der Operation durch, berechnete immer und immer wieder, wann er die Berbersöldner erwarten konnte, die der Kalif von Málaga angeheuert hatte. Sobald sein Schwiegervater den Brief erhalten hatte, sollte er den Kalifen benachrichtigen, er möge die Truppen auf den Weg bringen, die er, Joseph, mitfinanziert hatte. Sie sollten unverzüglich marschbereit sein, wenn die Nachricht von Habbus' Tod eintraf. Amram selbst hatte darauf geachtet, daß der Kurier, der die Nachricht nach Málaga brachte, der schnellste Bote des Königreichs war, und hatte ihm strenge Anweisungen gegeben, Tag und Nacht zu reiten. Er hätte also sein Ziel innerhalb von zwei Tagen erreichen müssen. Noch drei, höchstens vier Tage, und die Truppen aus Málaga müßten zu sehen sein, wie sie von Westen her über die große Ebene auf Granada zumarschierten. Sechs Tage insgesamt, im höchsten Fall sieben, und dann stand nichts mehr zwischen dem Herrscher der Hammudiden und dem verwaisten Thron von Granada, denn das gewaltige Heer, das Amram einmal befehligt hatte, war an den Grenzen des Berberreiches aufgestellt. Und wenn erst einmal der Kalif im Triumph in die Stadt Granada eingezogen war und sein Kalifat errungen hatte, würde im Gegenzug er, Amram, sein Königreich bekommen. Málaga wäre sein Lohn, er dort unangefochtener Herrscher.
Die Woche verging, und täglich unterstützten mehr Gefolgsleute den Thronanspruch des Badis. Jeden Augenblick könnte man nun Amram herbeibefehlen, ihm den Treueschwur zu leisten. Wenn die Truppen aus Málaga nicht eintrafen, ehe er sich vor Habbus' ältestem Sohn zu Boden warf, dann wäre nicht nur sein Traum vom Königreich zerschellt. Er hätte auch sein Leben verwirkt, weil man ihn des Hochverrats bezichtigen würde.
Am siebten Tag stieg er auf die Befestigungswälle, stand von morgens bis abends dort und beobachtete ohne Unterlaß die Ebene, bis ihm die Augen schmerzten. Bei Einbruch der Nacht war immer noch nichts zu sehen. Dann der achte Tag, die gleiche ununterbrochene Wache. Nichts. In zwei Tagen sollte Badis vereidigt werden. Die ganze Nacht über wälzte sich Amram auf dem Strohlager. Hatte Joseph die Nachricht nicht weitergegeben? Waren die Truppen nicht bereit gewesen, zur verabredeten Zeit loszumarschieren? Oder – und bei diesem Gedanken wallte unbändiger Zorn in ihm auf – hatte Rasmia ihn verraten, weil er sich geweigert hatte, sie zu lieben, wie sie geliebt werden wollte?
Der neunte Tag. Keine Bewegung am Horizont. Wenn am Abend des zehnten Tages noch keine Truppen aus Málaga aufgetaucht waren, bliebe ihm keine andere Wahl, als aus dem Königreich zu fliehen, dem er so wertvolle Dienste geleistet hatte. Er mochte Ränke schmieden und Pläne machen wie jeder andere, wenn nicht besser, aber einen Herrscher zu verraten, dem er die Treue geschworen hatte, dazu konnte er sich doch nicht überwinden. Habbus war tot, Badis noch nicht gekrönt. Während dieses Machtvakuums mußte er verschwinden, ehe Badis von der Verschwörung zwischen ihm und dem Kalifen von Málaga erfuhr. Der zehnte Tag. Wieder postierte sich Amram auf den Verteidigungswällen, wenn er sich inzwischen auch beinahe sicher war, daß sein Plan gescheitert war. Als die Sonne unterging und die Ebene mit ihrem tiefroten Schein überzog, kletterte er von seinem Aussichtsturm, stieg die rauhe, schmale Treppe zur Festung hinunter und weckte seinen Stellvertreter auf.
»Es scheint alles ruhig zu sein, ich schlafe heute nacht zu Hause«, erklärte er ihm. »Morgen reite ich aus und inspiziere die Verteidigungsstellungen an den Grenzen, ehe unsere Truppen zurückkehren. Laßt ein Pferd für mich satteln«, befahl er und entließ den schlaftrunkenen jungen Mann.
Er packte gerade einige wenige Habseligkeiten zusammen, als man einen Kurier zu ihm führte. Er erkannte sofort das Siegel auf dem Schreiben, das der Mann ihm brachte.
»Danke … Ihr könnt gehen«, sagte er und drückte dem Boten eine Münze in die feuchte Hand.
Als er allein war, riß er den Brief auf, die Hände kalt vor Angstschweiß. Man konnte die Nachricht kaum lesen, so hastig hatte Joseph sie verfaßt. Der Inhalt jedoch war sonnenklar.
Die Berbersöldner des Kalifen hatten sich geweigert zu marschieren. Niemals würden sie ihre Schwerter gegen andere Berber erheben, hatten sie geschworen. Verzweifelt hatte der Kalif ihnen entdeckt, daß sie das auch nicht tun müßten, da die Truppen von Granada in alle Winde verstreut wären und die Stadt schutzlos vor ihnen läge. Vergebens. Wer konnte ihnen garantieren, daß dies nicht eine Falle war, die Abu Musa gestellt hatte, eine Hinterlist, wie sie von ihm schon viele gesehen hatten, als sie unter seinem unbesiegbaren Befehl gekämpft hatten? Er würde sie nach Granada locken, dann bis auf den letzten Mann niedermetzeln und damit nicht nur über Granada, sondern auch noch über Málaga herrschen. Nein. Ganz bestimmt nicht. Sie würden nicht marschieren. Alles Gold des Kalifen könnte sie nicht umstimmen.
Amram zündete eine Kerze an und hielt den Brief in die Flammen, bis die Asche, zart wie verbrannte Falter, zu Boden schwebte. Dann verließ er in der hereinziehenden Dunkelheit die Stadt.
Die ganze Nacht hindurch, während er seinem Pferd auf der Straße nach Córdoba die Sporen gab, gestattete er sich keinen Gedanken. Er ritt vier Tage und vier Nächte, trieb sein Roß erbarmungslos an, legte nur ab und zu eine kurze Rast am Wegesrand ein, wenn ihn die Müdigkeit übermannte. Als die vertrauten Umrisse seines Zuhauses vor ihm in der bleichen Morgendämmerung auftauchten, begann sein Herz zu klopfen wie nie zuvor, so hatte es nicht einmal am Vorabend der entscheidenden Schlachten geklopft, die er geschlagen hatte. Leonora und der kleine Musa waren sicher dort geborgen, das wußte er. Aber Rasmia? War sie auch da? Oder hatte sie den Wachtposten, den er ihr mitgegeben hatte, bestochen, mit ihr nach Málaga zu reisen, so daß sie dort ihren verletzten Stolz an ihm rächen konnte? Joseph hatte sie in seinem Brief nicht erwähnt, aber das bewies nichts, denn er wußte ja nichts von ihrer Rolle in dieser Angelegenheit. Hatten sich die Berber wirklich aus eigenem Antrieb geweigert, die Waffen gegen andere Berber zu erheben? Oder hatte Rasmia heimtückisch Gerüchte verbreitet, Amram liege im Hinterhalt und wolle sie alle niedermetzeln?
Völlig erschöpft klopfte er an die Tür des Landhauses, wie es vor ihm schon zwei Generationen leidender Menschen, die Hilfe suchten, getan hatten. Natan brauchte eine Weile, ehe er in der hageren, staubverkrusteten Gestalt, die da beinahe auf seiner Schwelle zusammensackte, den erhabenen Wesir von Granada, seinen Bruder Amram, erkannte.
»Was in Gottes Namen …?« stammelte er.
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Sag mir nur, ist Rasmia, die Prinzessin aus Málaga, hier bei euch?«
»Eine Prinzessin aus Málaga?« fragte Natan ein wenig bestürzt, und sein Ton verriet die Sorge, daß der Bruder den Verstand verloren hatte.
Erst jetzt geriet der unerschrockene Heerführer ins Taumeln, war nur noch ein verzweifelter, am Boden zerstörter Mann, der vor Müdigkeit, Enttäuschung und dem galligen Geschmack des Mißerfolgs bittere Tränen vergoß.
42
Natan stand still neben seinem Bruder, bis die krampfhaften Schluchzer abebbten. Als Amram schließlich den Kopf hob und ihn anblickte, zeichneten sich auf seinem Gesicht nur Hilflosigkeit und Scham ab. Erst jetzt half ihm Natan – mit dem tiefen Mitgefühl, das er von seinem Vater Hai geerbt hatte – wieder auf die Beine. Er legte ihm den Arm fest um die Schulter, führte ihn ins Haus und brachte ihn in das Zimmer, wo er als Kind so viele Stunden mit seinen Zinnsoldaten gespielt hatte. Der Raum war jetzt beinahe kahl und leer, die Verwüstung Córdobas hatte auch hier alle Spuren jener glücklicheren Zeit ausgelöscht. Nur die Wände standen noch, die Natan weiß getüncht hatte, als er dem Haus wieder den Anschein eines normalen Alltags zu geben versuchte. Sanft breitete er eine leichte Decke über den erschöpften Bruder, eilte dann in die Apothekenkammer und holte Wein, der Amrams Erschöpfung lindern sollte. Zwischendurch weckte er seinen freundlichen, aber faulen Hausdiener, der noch in der Morgenwärme döste, und bat ihn, ein Bad vorzubereiten. Bis das Wasser warm war, war Amram allerdings fest eingeschlafen.
Als Leonora aufwachte, überbrachte ihr Natan vorsichtig die Neuigkeiten und fuhr dann fort: »Ich weiß nicht, warum er dich hierhergeschickt hat und was geschehen ist. Aber er ist offensichtlich einer Todesgefahr entronnen. Am besten bleibst du mit dem kleinen Musa heute im Haus, falls seine Feinde ihn verfolgen. Wenn nötig, kann ich dich immer noch unter meinen Patienten verbergen.«
»Und Amram?«
»Ich hoffe, es wird gar nicht so weit kommen.«
Den ganzen Tag über ging Leonora in fieberhafter Unruhe im Haus auf und ab, schaute in Amrams Zimmer nach, ob er schon wieder wach war, spähte dann auf den Zugangswegen zum Landhaus nach Reitern, die sich näherten, um ihn hier aufzustöbern. Bei Einbruch der Nacht war weder das eine noch das andere geschehen. Erschöpft sank sie in einen unruhigen Schlaf, in dem immer wieder Pferde vor ihr aufstiegen, ihre großen gelben Zähne bleckten und sie mit ihren blutigen Hufen zu Tode trampelten. Natan hörte ihr leises Stöhnen, ging zu ihr und weckte sie aus ihren Alpträumen.
Amram schlief beinahe vierundzwanzig Stunden. Als er im Morgengrauen des nächsten Tages erwachte, brauchte er eine Weile, ehe er begriff, wo er war und warum er sich hier aufhielt. Kaum war er jedoch wieder ganz bei Sinnen, da sprang er schon mit der im Augenblick gewonnenen Wachheit des kampferfahrenen Kriegers auf und suchte seine Frau und seinen Bruder. Er weckte sie mit militärischer Schroffheit und begann, nachdem er der verängstigten Leonora einen kleinen Kuß gegeben hatte, unverzüglich kurz und knapp von seinem Fehlschlag zu berichten. Dann hielt er einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen, ehe er seinen Lieben seine Schlußfolgerungen unterbreitete. »Mit einem Wort, ich bin Opfer meiner eigenen Intrigen geworden. Die Männer, die ich in der Vergangenheit mit solchem Erfolg geführt habe, kannten meine Vorgehensweise zu gut, als daß sie mir noch vertraut hätten. Das hatte ich nicht in Betracht gezogen. Und das hat all unsere Träume zunichte gemacht: Träume von einem unabhängigen Reich, das von einem Juden für Juden regiert wird. Mein zweiter Fehler war, daß ich den Prinzipien untreu geworden bin, auf denen unser großes Haus aufbaut – Diskretion, bescheidenes Auftreten und ruhige Würde. Jedesmal, wenn ich den goldenen Umhang umlegte, fühlte ich mich unwohl, als spräche unser Großvater, der große Da'ud, eine Warnung gegen eine so offensichtliche Zurschaustellung meiner Macht aus. Wann immer ich in Granada das Haus eines Würdenträgers betrat und so stolz war, daß sie mich als einen der Ihren akzeptierten, mußte ich ein kleines Unwohlsein unterdrücken, eine tiefsitzende Furcht, mein Stolz könne einem Verrat an unseren angestammten, geerbten Werten gleichkommen. Mein Stolz und mein übermäßiger Ehrgeiz. Und doch bereue ich nicht, daß ich versucht habe, ein unabhängiges Gebiet für mein Volk zu erobern. Hätte ich es nicht getan, ich hätte mir den Rest meines Lebens Vorwürfe gemacht, daß ich eine solch hervorragende Gelegenheit hätte verstreichen lassen, Da'uds Traum zu verwirklichen.
So wie die Dinge jetzt liegen, habe ich den einzigen Vorteil verwirkt, den ich meinen Feinden voraus hatte: das Vertrauen meines Herrschers. Doch seltsam genug, ich bedaure auch das nicht. Nur wenige kennen so gut wie ich die tief verwurzelte Schwäche dieses Landes, dem unsere Familie seit drei Generationen ehrenvoll dient. Diese Schwäche werden die Feinde letztendlich ausnutzen, wenn nicht heute, so doch in den kommenden Jahren. Aasgeier werden über dem Reich kreisen und auf den richtigen Augenblick lauern, um sich herabzustürzen. Von Süden werfen die Moslems Nordafrikas begehrliche Blicke. Im Norden lauern die Christen von Kastilien, Leon und Barcelona. Für uns, die Familie Ibn Yatom ist die Zeit gekommen, unsere Zukunft anderswo zu suchen und wie immer unserem Volk den Weg zu bereiten, das im Laufe der Zeit durch die Umstände gezwungen sein wird, in unsere Fußstapfen zu treten.
Natan, in dir soll die medizinische Tradition der Familie fortleben. Ich verzichte von nun an auf das Streben nach Macht und gebe mich mit anderen Tätigkeiten zufrieden, die zum Erbe unserer Familie gehörten und die ich bisher vernachlässigt habe. Es ist viel zu tun, wenn wir das Wissen unserer Vorväter und seine Vervollkommnung durch muslimische Gelehrte sichern und mit uns in die finsteren Länder des Christentums tragen wollen. Da'ud hat damit angefangen, wurde dann aber von anderen Dingen abgelenkt. Unsere Mutter hat diese Aufgabe, soweit es ihr möglich war, mit ihren sorgfältigen Übersetzungen fortgeführt. Ich möchte das Unterfangen wieder aufnehmen und mit Hilfe unserer jüdischen Glaubensbrüder allerorten das Wissen der Menschheit all denen zugänglich machen, die es danach verlangt.«
Inzwischen war die Sonne aufgegangen und erfüllte das Haus mit einer strahlenden Helligkeit, die in Amrams müden Augen schmerzte. Er schirmte das grelle Licht ab und fuhr schnell fort: »Der Tag bricht an. Ich habe zu lange geschlafen und zu viel geredet, und es zählt jetzt jede Minute. Wir müssen sofort aufbrechen, ehe meine Verfolger mich einholen. Kommt, macht euch bereit«, drängte er sie.
»Ich kann nicht so einfach von hier fortgehen«, protestierte Natan ein wenig. »Ich kann die Aloen, die ich mit so viel Mühen wieder zum Wachsen gebracht habe, nicht ohne weiteres zurücklassen. Zumindest muß ich den Saft abzapfen und den Extrakt zubereiten, damit ich ihn mitnehmen kann.«
»Du sprichst wie jemand, der in seiner eigenen, abgeschlossenen Welt lebt, ganz gleich, was ringsum auch geschieht. Darin warst du schon immer besonders gut. Doch die brutale Wirklichkeit des Lebens drängt sich wieder einmal in deine Welt. Wenn sie mich suchen kommen, zerstören sie alles, was sie auf dem Weg vorfinden. Du hast es doch schon einmal miterlebt. Nichts wird mehr von deinen Aloen übrig sein, wenn sie erst einmal über das Haus und das Land hergefallen sind. Sie werden alles in blinder Wut ausreißen, zerhacken, zertrampeln und zerstören. Und das Schicksal, das sie für dich als meinen Bruder bereithalten, wage ich mir nicht einmal auszumalen. Wir werden ein, zwei Pflanzen sorgsam ausgraben und mitnehmen. Ralambos Erfahrung lehrt uns, daß sie robust genug sind, um zu überleben, bis wir unser Ziel erreicht haben. Sobald wir uns in einem gastlichen Land niederlassen, kannst du sie wieder einpflanzen und neu züchten.
Doch jetzt kommt, wir müssen uns beeilen. Es ist Zeit, anderen Herren zu dienen, denjenigen, die morgen ganz Spanien regieren werden.«
Amram führte die kleine Gruppe auf dem Weg nach Norden an. Der kleine Musa folgte mit Leonora, die wie benommen ritt, unfähig, die volle Bedeutung der Schicksalswendung zu begreifen. Natan bildete die Nachhut. Eine Satteltasche war prall gefüllt mit kostbaren medizinischen Abhandlungen und Aufzeichnungen, die andere mit einem kleinen Apothekenkästchen, in das er seinen ganzen restlichen Bestand von Ralambos Extrakt getan hatte, dazu noch seinen Vorrat an Großem Theriak und einige andere wichtige Heilmittel. Die Aloepflanzen lagen, an seinem Sattel festgezurrt, vor ihm. Er bewachte sie auf Schritt und Tritt wie seinen Augapfel.
Als Amram den Boden seines heimatlichen al-Andalus verließ, bedauerte er nur eines: Jetzt würde er wahrscheinlich nie mehr herausfinden, ob ihn Rasmia wirklich verraten hatte …