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Ich war unterwegs zu Pat. Es war das erstemal, daß ich sie besuchte. Bisher war sie immer nur bei mir gewesen, oder ich hatte sie vor ihrem Haus abgeholt, und wir waren irgendwohin gegangen. Aber das war stets so gewesen, als ob sie nur zu Besuch da war. Ich wollte mehr von ihr wissen. Ich wollte wissen, wie sie lebte.
Mir fiel ein, daß ich ihr Blumen mitbringen könnte. Das war leicht; die städtischen Anlagen hinter dem Rummelplatz standen in voller Blüte. Ich sprang über das Gitter und begann einen weißen Fliederbusch zu plündern.
»Was machen Sie da?«erscholl plötzlich eine markige Stimme. Ich sah auf. Ein Mann mit einem Burgundergesicht und aufgezwirbeltem weißen Schnurrbart starrte mich entrüstet an. Kein Polizist und kein Parkwächter. Höheres pensioniertes Militär, das erkannte man sofort.
»Das ist doch nicht schwer festzustellen«, erwiderte ich höflich.»Ich breche hier Fliederzweige ab.«
Dem Mann verschlug es einen Moment die Sprache.»Wissen Sie nicht, daß das städtische Anlagen sind?«knurrte er dann empört.
Ich lachte.»Natürlich weiß ich das! Oder glauben Sie, ich hielte das hier für die Kanarischen Inseln?«
Der Mann wurde blau. Ich fürchtete, der Schlag würde ihn treffen.»Sofort 'raus da, Kerl!«schrie er mit erstklassiger Kasernenhofstimme.»Sie vergreifen sich an städtischem Gut! Ich lasse Sie abführen!«
Ich hatte inzwischen genug Flieder.»Dann fang mich mal, Großvater!«forderte ich den Alten auf, sprang nach der andern Seite übers Gitter und entschwand.
Vor dem Hause Pats musterte ich noch einmal meinen Anzug. Dann stieg ich die Treppe hinauf und sah mich um. Das Haus war neu und modern gebaut – ein starker Gegensatz zu meiner verwohnten, pompösen Baracke. Die Treppen waren mit einem roten Läufer belegt; das gab es bei Mutter Zalewski auch nicht. Vom Fahrstuhl gar nicht zu reden.
Pat wohnte im zweiten Stock. An der Tür war ein selbstbewußtes Messingschild angebracht: Egbert von Hake, Oberstleutnant. Ich starrte es lange an. Unwillkürlich rückte ich dann meinen Schlips zurecht, bevor ich klingelte.
Ein Mädchen mit weißem Häubchen und blütenweißer Tändelschürze öffnete – nicht in einem Atem zu nennen mit unserm schielenden Trampel Frida. Mir wurde plötzlich unbehaglich zumute.»Herr Lohkamp?«fragte sie.
Ich nickte.
Sie führte mich über einen kleinen Vorplatz und öffnete dann eine Zimmertür. Ich wäre nicht besonders erstaunt gewesen, wenn dort zunächst einmal Oberstleutnant Egbert von Hake in voller Uniform gestanden und mich einem Verhör unterzogen hätte – so seriös wirkten die Bilder von einer Anzahl Generälen, die, ordenbedeckt, grimmig von den Wänden des Vorzimmers mir Zivilisten nachsahen. Aber da kam Pat mir schon entgegen mit ihren schönen, langen Schritten, und das Zimmer war plötzlich nichts als eine Insel von Wärme und Heiterkeit. Ich schloß die Tür und nahm sie zuerst einmal vorsichtig in die Arme. Dann übergab ich ihr den gestohlenen Flieder.»Hier«, sagte ich.»Mit einem Gruß von der Stadtverwaltung!«
Sie stellte die Zweige in eine große, helle Tonvase, die auf dem Boden vor dem Fenster stand. Ich sah mich unterdessen in ihrem Zimmer um. Weiche gedämpfte Farben, wenige alte schöne Möbel, ein mattblauer Teppich, pastellfarbene Vorhänge, bequeme kleine Sessel, mit verblichenem Samt gepolstert. -»Mein Gott, wie hast du nur so ein Zimmer gefunden, Pat?«fragte ich.»Die Leute stellen doch sonst nur ihre ausrangierten Brocken und die unbrauchbaren Geburtstagsgeschenke in Zimmer, die sie vermieten.«
Sie schob die Vase mit den Blumen behutsam zur Seite an die Wand.
Ich sah ihren schmalen, gebogenen Nacken, die geraden Schultern und die etwas zu dünnen Arme. Sie sah aus wie ein Kind, während sie kniete, ein Kind, das man beschützen mußte. Aber sie hatte die Bewegungen eines geschmeidigen Tieres, und als sie sich dann aufrichtete und sich an mich lehnte, da war sie kein Kind mehr, da hatten ihre Augen und ihr Mund wieder etwas von der fragenden Erwartung und dem Geheimnis, das mich verwirrte und von dem ich geglaubt hatte, daß es das nicht mehr gäbe in dieser dreckigen Welt.
Ich legte die Hand um ihre Schulter. Es war schön, sie so zu fühlen.»Es sind alles meine eigenen Sachen, Robby. Die Wohnung hat früher meiner Mutter gehört. Als sie starb, habe ich sie abgegeben und zwei Zimmer für mich behalten.«
»Dann gehört sie also dir?«fragte ich erleichtert.»Und der Oberstleutnant Egbert von Hake wohnt nur bei dir zur Miete?«
Sie schüttelte den Kopf.»Nicht mehr. Ich konnte sie nicht behalten. Ich habe die übrigen Möbel verkauft und die Wohnung ganz abgegeben. Ich wohne jetzt hier zur Miete.
Aber was hast du mit dem alten Egbert?«
»Nichts. Ich habe nur eine natürliche Scheu vor Polizisten und Stabsoffizieren. Das stammt noch aus meiner Militärzeit.«
Sie lachte.»Mein Vater war auch Major.«
»Major ist gerade die Grenze«, erwiderte ich.
»Kennst du denn den alten Hake?«fragte sie.
Ich wurde plötzlich von einer bösen Ahnung erfaßt.»Ist es so ein Kleiner, Strammer, mit einem roten Gesicht, einem weißen Schnauzbart und einer mächtigen Stimme? Einer, der viel in den städtischen Anlagen spazierengeht?«
»Aha!«Sie blickte auf den Flieder und sah mich dann lachend an.
»Nein, es ist ein Großer, Blasser mit einer Hornbrille!«
»Dann kenne ich ihn nicht.«
»Willst du ihn kennenlernen? Er ist sehr nett.«
»Da sei Gott vor! Ich gehöre einstweilen mehr auf die Monteur- und die Zalewskiseite.«
Es klopfte. Das Mädchen von vorhin schob einen niedrigen, fahrbaren Tisch herein. Dünnes, weißes Porzellan, eine Silberplatte mit Kuchen, eine andere mit belegten, unwahrscheinlich kleinen Brötchen, Servietten, Zigaretten und was weiß ich sonst noch – wie geblendet starrte ich darauf nieder.»Erbarme dich, Pat!«sagte ich dann.»Das ist ja wie im Film! Ich habe schon auf der Treppe gemerkt, daß wir auf verschiedenen sozialen Stufen stehen. Bedenke, daß ich gewöhnt bin, aus fettigem Papier auf der Zalewskischen Fensterbank zu essen, den braven Spirituskocher treu neben mir. Erbarme dich über den Bewohner liebloser Pensionen, wenn er in seiner Verwirrung vielleicht eine Tasse umschmeißt!«
Sie lachte.»Das darfst du nicht. Deine Ehre als Motorenfachmann erlaubt das nicht. Du mußt geschickt sein.«Sie ergriff den Henkel einer Kanne.»Willst du Tee oder Kaffee?«
»Tee oder Kaffee? Gibt es denn beides?«
»Ja. Sieh hier!«
»Herrlich! Wie in den besten Lokalen! Jetzt fehlt nur noch Musik.«Sie beugte sich zur Seite und knipste ein kleines Kofferradio an, das ich gar nicht gesehen hatte.»Also, was willst du nun, Tee oder Kaffee?«
»Kaffee, einfach Kaffee, Pat. Ich bin vom Lande. Und du?«
»Ich trinke mit dir Kaffee.«
»Aber sonst trinkst du Tee?«
»Ja.«
»Da haben wir es.«
»Ich fange schon an, mich an Kaffee zu gewöhnen. Willst du Kuchen dazu? Oder Brötchen?«
»Beides, Pat. Man muß solche Gelegenheiten ausnutzen. Ich werde nachher auch noch Tee trinken. Ich muß alles versuchen, was es hier bei dir gibt.«
Sie lachte und packte meinen Teller voll. Ich wehrte ab.»Genug, genug! Bedenke, daß wir in der Nähe eines Oberstleutnants sind! Das Militär liebt Mäßigkeit bei den niederen Chargen.«
»Nur im Trinken, Robby. Der alte Egbert ißt selbst leidenschaftlich gern Kuchen mit Schlagsahne.«
»Im Komfort auch«, erwiderte ich.»Den haben sie uns seinerzeit gründlich abgewöhnt.«Ich schob den Tisch auf seinen Gummirädern hin und her. Er reizte dazu. Lautlos rollte er über den Teppich. Ich sah mich um. Alles paßte zueinander.»Ja, Pat«, sagte ich,»so haben unsere Vorfahren nun gelebt!«
Sie lachte.»Was erzählst du da für Geschichten!«
»Das sind keine Geschichten. Das sind Zeitereignisse.«
»Es ist doch nur ein Zufall, daß ich die paar Sachen habe, Robby.«
Ich schüttelte den Kopf.»Es ist kein Zufall. Und es sind auch nicht die Sachen. Es ist das, was dahintersteht. Die Sicherheit. Das verstehst du nicht. Das versteht nur jemand, der nicht mehr dazugehört.«
Sie sah mich an.»Du könntest es doch ebenso haben, wenn du wirklich wolltest.«
Ich nahm ihre Hand.»Ich will aber nicht, Pat, das ist es. Ich würde mir dann vorkommen wie ein Hochstapler. Unsereins lebt am besten immer auf Abbruch. Das ist man nun mal so gewöhnt. Es liegt in der Zeit.«
»Es ist auch sehr bequem.«
Ich lachte.»Vielleicht. Und nun gib mir etwas Tee. Ich möchte ihn mal probieren.«
»Nein«, sagte sie,»wir bleiben beim Kaffee. Aber iß noch etwas. Auch auf Abbruch.«
»Eine gute Idee. Aber rechnet Egbert, der leidenschaftliche Kuchenesser, nicht damit, daß noch etwas zurückkommt?«
»Vielleicht. Aber er soll auch mit der Rache der niederen Chargen rechnen. Das liegt ebenfalls in der Zeit. Iß ihm ruhig alles weg.«
Ihre Augen strahlten, und sie sah herrlich aus.»Du«, sagte ich,»weißt du, wo der Abbruch aber ohne Gnade aufhört?«
Sie antwortete nicht; aber sie sah mich an.
»Bei dir!«sagte ich.»Und jetzt ohne Reue an die Gewehre gegen Egbert!«
Ich hatte mittags nur eine Tasse Bouillon in der Chauffeurkneipe getrunken. Es war deshalb nicht besonders schwer, alles aufzuessen, was da war. Dazu trank ich, ermuntert von Pat, auch die ganze Kanne Kaffee leer.
Wir saßen am Fenster und rauchten. Der Abend stand rot über den Dächern.»Es ist schön bei dir, Pat«, sagte ich.»Ich könnte verstehen, daß man wochenlang keinen Schritt hinaustäte – bis man den ganzen Kram da draußen vergessen hätte.«
Sie lächelte.»Es gab eine Zeit, da konnte ich gar nicht erwarten, hier herauszukommen.«
»Wann denn?«
»Als ich krank war.«
»Das ist was anderes. Was hast du denn gehabt?«
»Nichts sehr Schlimmes. Ich mußte nur liegen. Ich war wohl zu schnell gewachsen und hatte zuwenig zu essen bekommen. Im Krieg und nach dem Krieg gab's ja nicht viel.«
Ich nickte.»Wie lange hast du denn gelegen?«
Sie zögerte einen Augenblick.»Ungefähr ein Jahr.«
»Das ist aber sehr lange.«Ich sah sie aufmerksam an.
»Es ist jetzt längst vorbei. Aber damals erschien es mir wie ein ganzes Leben. Du hast mir in der Bar einmal von deinem Freunde Valentin erzählt. Daß er nie vergessen konnte nach dem Kriege, welch ein Glück es sei, zu leben. Und daß ihm alles andere gleichgültig wurde darüber.«
»Das hast du gut behalten«, sagte ich.
»Weil ich es gut verstehe. Ich kann mich seit damals auch so leicht freuen. Ich glaube, ich bin sehr oberflächlich.«
»Oberflächlich sind nur Leute, die glauben, daß sie es nicht sind.«
»Ich bin es aber bestimmt. Ich habe nicht viel Verständnis für die großen Dinge des Lebens. Nur für die schönen. Dieser Flieder hier macht mich schon glücklich.«
»Das ist keine Oberflächlichkeit – das ist letzte Philosophie.«
»Bei mir nicht. Ich bin oberflächlich und leichtsinnig.«
»Ich auch.«
»Nicht so wie ich. Du hast vorhin etwas von Hochstapelei gesagt. Ich bin ein richtiger Hochstapler.«
»Das habe ich mir gedacht«, sagte ich.
»Ja. Ich müßte schon längst eine andere Wohnung und einen Beruf haben und Geld verdienen. Aber ich habe es immer wieder hinausgeschoben. Ich wollte einmal eine Zeitlang so leben, wie ich es mir dachte. Ganz gleich, ob es vernünftig war. Und das habe ich getan.«
Ich lachte.»Warum machst du denn so ein trotziges Gesicht dabei?«
»Weil jeder mir gesagt hat, es wäre grenzenlos leichtsinnig – ich solle mein bißchen Geld lieber sparen und mir Arbeit und Stellung suchen. Aber ich wollte einmal leicht und froh und nicht bedrückt sein und tun, was ich wollte. Es war nach dem Tode meiner Mutter und nachdem ich so lange gelegen hatte.«
»Hast du Geschwister?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Könnte ich mir auch nicht denken«, sagte ich.
»Findest du auch, daß ich leichtsinnig war?«
»Nein, mutig.«
»Ach, Mut – ich bin nicht sehr mutig. Ich habe manchmal Angst genug dabei gehabt. So wie jemand, der im Theater auf dem falschen Platz sitzt und sich doch nicht wegrührt.«
»Also warst du mutig«, sagte ich.»Mut hat man nur, wenn man auch Angst hat. Außerdem war es vernünftig. Du hättest dein Geld sonst nur verloren. So hast du wenigstens was davon gehabt. Was hast du denn gemacht?«
»Eigentlich nichts. Nur so für mich gelebt.«
»Alle Achtung! Das ist das Exklusivste, was es gibt.«
Sie lächelte.»Es ist jetzt bald vorbei damit. Ich werde nächstens anfangen zu arbeiten.«
»Was denn? War das etwa damals deine geschäftliche Besprechung mit Binding?«
Sie nickte.»Mit Binding und Doktor Max Matuscheit, Direktor der Elektro-Grammophonläden. Verkäuferin mit Musikkenntnissen.«
»Na«, sagte ich,»was anderes konnte dem Binding wohl nicht einfallen.«.
»Doch«, erwiderte sie,»aber das wollte ich nicht.«
»Das möchte ich ihm auch nicht raten. Wann soll das denn losgehen?«
»Am ersten August.«
»Na, bis dahin ist ja noch viel Zeit. Vielleicht finden wir da noch etwas anderes. Auf jeden Fall: unsere Kundschaft ist dir sicher.«
»Hast du denn ein Grammophon?«
»Nein, aber ich werde mir selbstverständlich sofort eins anschaffen. Vorläufig gefällt mir die Geschichte allerdings noch nicht.«
»Mir schon«, sagte sie.»Ich kann ja nichts Rechtes. Und so was ist alles viel einfacher für mich, seit du da bist. Aber ich hätte dir gar nichts davon erzählen sollen.«
»Doch. Du mußt mir immer alles erzählen.«
Sie sah mich einen Augenblick an.»Gut, Robby«, sagte sie. Dann stand sie auf und ging zu einem Schränkchen.»Weißt du, was ich hier habe? Rum für dich. Guten Rum, glaube ich.«
Sie stellte ein Glas auf den Tisch und sah mich erwartungsvoll an.
»Der Rum ist gut, das rieche ich schon von weitem«, sagte ich.»Aber eigentlich, Pat – solltest du nicht lieber ein bißchen sparen, jetzt? Um die Grammophonplatten noch etwas hinauszuschieben?«
»Nein«, erwiderte sie. -»Auch richtig«, sagte ich.
Der Rum war, das sah ich schon an der Farbe, Verschnitt. Der Händler hatte Pat bestimmt betrogen. Ich trank das Glas aus.»Höchste Klasse«, sagte ich,»gib mir noch einen.
Wo hast du ihn her?«
»Aus dem Geschäft an der Ecke.«
Aha, dachte ich, natürlich so ein verdammter Delikatessenladen. Ich nahm mir vor, gelegentlich mal 'reinzusehen und dem Mann Bescheid zu sagen.
»Jetzt muß ich wohl gehen, Pat, was?«fragte ich.
Sie sah mich an.»Noch nicht…«
Wir standen am Fenster. Unten flammten die Lichter auf.»Zeig mir einmal dein Schlafzimmer«, sagte ich.
Sie machte die Tür auf und knipste das Licht an. Ich blieb an der Tür stehen und sah hinein. Mir ging allerlei durch den Kopf.»Das ist also dein Bett, Pat…«, sagte ich schließlich.
Sie lächelte.»Wem soll es denn sonst gehören, Robby?«
»Wahrhaftig!«Ich blickte auf.»Und, da ist ja auch das Telefon. Nun weiß ich das auch. Jetzt werde ich gehen. Leb wohl, Pat.«
Sie legte ihre Hände um meine Schläfen. Es wäre wunderbar gewesen, jetzt dazubleiben, im hereinbrechenden Abend, dicht beieinander, unter der weichen, blauen Decke im Schlafzimmer – aber es war etwas da, was mich abhielt. Es war keine Hemmung, auch keine Angst und keine Vorsicht – es war einfach nur eine sehr große Zärtlichkeit, eine Zärtlichkeit, die das Begehren überschwemmte.
»Leb wohl, Pat«, sagte ich.»Es war schön bei dir. Viel schöner für mich, als du dir vielleicht denken kannst. Und das mit dem Rum – daß du daran gedacht hast…«
»Aber das war doch so einfach…«
»Für mich nicht. Bin es nicht so gewöhnt.«
Die Zalewskische Bude. Ich saß eine Weile herum. Es gefiel mir nicht, daß Pat Binding etwas verdanken sollte. Schließlich ging ich über den Korridor zu Erna Bönig.
»Ich komme seriös«, sagte ich.»Wie steht's mit dem weiblichen Arbeitsmarkt, Erna?«
»Nanu«, erwiderte sie,»was für eine Frage so kalt vor die nüchterne Brust! Im übrigen: oberfaul.«
»Nichts zu machen?«fragte ich.
»Worin denn?«
»Sekretärin, Assistentin…«
Sie winkte ab.»Hunderttausend ohne Stellung. Kann die Dame irgendwas Besonderes?«
»Sie sieht großartig aus«, sagte ich.
»Wieviel Silben?«fragte Erna.
»Was?«
»Wieviel Silben schreibt sie in der Minute? In wieviel Sprachen?«
»Keine Ahnung«, sagte ich,»aber wissen Sie, so zur Repräsentation…«
»Mein lieber Junge«, erwiderte Erna,»ich höre schon – Dame aus guter Familie, früher bessere Tage gesehen, ist gezwungen, und so weiter. Hoffnungslos, sage ich Ihnen. Höchstens, daß jemand sich besonders dafür interessiert und sie deshalb irgendwo hineinschiebt. Sie wissen ja, warum. Aber das wollen Sie doch nicht?«
»Komische Frage«, sagte ich.
»Weniger komisch, als Sie ahnen«, erwiderte Erna etwas bitter.»Ich kenne andere Fälle.«Mir fiel die Sache mit ihrem Chef ein.»Aber ich will Ihnen einen Rat geben«, fuhr sie fort.»Sehen Sie zu, daß Sie für zwei verdienen. Das ist die einfachste Lösung. Heiraten.«
»Das wäre so was«, sagte ich und lachte.»So viel Zutrauen möchte ich mal zu mir haben.«
Erna sah mich sonderbar an. Sie erschien bei aller Lebendigkeit plötzlich älter und fast etwas welk.»Ich will Ihnen mal was erzählen«, sagte sie.»Ich lebe gut und habe allerhand, das ich gar nicht brauche. Aber glauben Sie mir – wenn einer käme und mir vorschlüge, zusammen zu leben, so richtig, ehrlich, ich ließe den ganzen Kram hier und zöge mit ihm in eine Dachkammer, wenn's sein müßte.«Ihr Gesicht bekam den früheren Ausdruck wieder.»Na, Schwamm drüber – jeder Mensch hat seine Ecke Sentimentalität.«Sie blinzelte mir durch den Rauch ihrer Zigarette zu.»Sogar Sie anscheinend?«
»Ach wo…«, sagte ich.
»Na, na…«, meinte Erna.»Wenn man's gar nicht erwartet, erwischt's einen am leichtesten…«
»Mich nicht«, erwiderte ich.
Bis acht Uhr hielt ich es in meiner Bude noch aus – dann hatte ich genug davon, allein herumzusitzen, und ging in die Bar, um irgend jemand zu treffen.
Valentin war da.»Setz dich«, sagte er.»Was willst du trinken?«
»Rum«, erwiderte ich.»Habe zu Rum seit heute ein besonderes Verhältnis.«
»Rum ist die Milch des Soldaten«, sagte Valentin.»Siehst übrigens gut aus, Robby.«
»So?«
»Ja, jünger.«
»Auch was«, sagte ich.»Prost, Valentin.«
»Prost, Robby.«
Wir stellten die Gläser auf den Tisch und sahen uns an. Dann mußten wir gleichzeitig lachen.»Alter Junge«, sagte Valentin.
»Verfluchter Salzknabe«, erwiderte ich.»Was trinken wir jetzt?«
»Dasselbe noch mal.«
»Schön.«
Fred schenkte ein.»Also prost, Valentin.«
»Prost, Robby.«
»Herrliches Wort – prost, was?«
»Das Wort der Wörter.«
Wir sagten es noch einigemal. Dann brach Valentin auf.
Ich blieb sitzen. Es war außer Fred niemand mehr da. Ich betrachtete die alten beleuchteten Landkarten, die Schiffe mit ihren vergilbten Segeln und dachte an Pat. Ich hätte sie gern angerufen, aber ich zwang mich, es nicht zu tun. Ich wollte auch nicht soviel an sie denken. Ich wollte sie nehmen als ein unerwartetes, beglückendes Geschenk, das gekommen war und wieder gehen würde – nicht mehr. Ich wollte nie dem Gedanken Raum geben, daß es mehr sein könnte. Ich wußte zu sehr, daß alle Liebe den Wunsch nach Ewigkeit hatte und daß darin ihre ewige Qual lag. Es gab nichts, was blieb. Nichts.»Gib mir noch ein Glas, Fred«, sagte ich.
Ein Mann und eine Frau kamen herein. Sie tranken einen Cobbler an der Bar. Die Frau sah müde aus, der Mann gierig. Sie gingen bald wieder.
Ich trank das Glas aus. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich nachmittags nicht zu Pat gegangen wäre. Ich wurde das Bild nicht mehr los – das im Dämmerlicht verschwindende Zimmer, die weichen blauen Schatten des Abends und das zusammengekauerte schöne Mädchen, das mit seiner dunklen, rauhen Stimme von seinem Leben und seinem Wunsch nach dem Leben sprach. Verdammt, ich wurde sentimental! Aber zerrann nicht das, was bisher ein atemloses, überraschendes Abenteuer gewesen war, schon in den Nebel der Zärtlichkeit, hatte es mich nicht schon tiefer ergriffen, als ich wußte und wollte, hatte ich es nicht heute gespürt, gerade heute, wie sehr ich mich schon verändert hatte? Warum war ich fortgegangen, warum war ich nicht bei ihr geblieben, wie ich es eigentlich gewollt hatte? Ach, verflucht, ich wollte nicht mehr daran denken, nicht an das eine und an das andere. Sollte kommen, was wollte, sollte ich meinetwegen verrückt werden vor Unglück, wenn ich sie verlor, sie war da, jetzt war sie da, und alles andere war egal und sollte zum Teufel gehen! Was lag schon daran, das bißchen Leben zu sichern! Eines Tages kam doch die große Flutwelle und riß alles weg.
»Wollen wir einen zusammen trinken, Fred?«fragte ich.
»Immer«, sagte er.
Wir tranken zwei Absinthe. Dann knobelten wir zwei weitere aus. Ich gewann. Es war mir nicht recht. Wir knobelten deshalb weiter. Aber ich verlor erst beim fünften. Da allerdings drei hintereinander.»Bin ich besoffen oder donnert es draußen?«fragte ich.
Fred lauschte.»Es donnert tatsächlich. Das erste Gewitter in diesem Jahr.«
Wir gingen unter die Tür und sahen zum Himmel auf. Es war nichts zu sehen. Es war nur warm, und ab und zu donnerte es.
»Darauf könnten wir eigentlich noch einen nehmen«, schlug ich vor. Fred war auch dafür.
»Ein verdammtes Lakritzenwasser«, sagte ich und stellte das leere Glas wieder auf die Theke. Fred meinte auch, wir könnten nun mal was Herzhaftes trinken. Er meinte, am besten Kirsch – ich sagte Rum. Um uns nicht zu streiten, tranken wir abwechselnd beides. Damit Fred nicht soviel Arbeit mit dem Eingießen hatte, nahmen wir ziemlich große Gläser. Wir waren jetzt in glänzender Stimmung. Ab und zu sahen wir draußen nach, ob es auch blitzte. Wir hätten es ganz gern blitzen sehen, aber wir hatten kein Glück. Es blitzte immer gerade dann, wenn wir drin waren. Fred sagte, daß er eine Braut hätte, die Tochter eines Automatenrestaurantbesitzers. Aber er wollte mit dem Heiraten noch warten, bis der Alte tot wäre, damit er ganz genau wüßte, daß sie das Restaurant mitbekäme. Ich fand ihn etwas vorsichtig, aber er bewies mir, daß der Alte ein unberechenbares Aas sei, das es fertigbrächte, im letzten Augenblick das Restaurant der Methodistengemeinde zu vermachen. Da gab ich nach. Fred war übrigens ziemlich optimistisch. Der Alte hatte sich erkältet, und Fred meinte, vielleicht sei es Grippe, und die wäre doch sehr gefährlich. Ich mußte ihm leider sagen, daß Grippe für Alkoholiker nichts bedeute, im Gegenteil, daß klapprige Säufer manchmal darunter geradezu aufblühten und Speck ansetzten. Fred meinte, es wäre auch egal, vielleicht käme er dann unter irgendein Auto. Ich gab zu, daß besonders auf nassem Asphalt die Möglichkeit bestünde. Fred ging darauf hin und sah nach, ob es schon regnete. Aber es war noch trocken. Es donnerte nur stärker. Ich gab ihm ein Glas Zitronensaft zu trinken und ging zum Telefon. Im letzten Augenblick besann ich mich, daß ich ja nicht telefonieren wollte. Ich winkte dem Apparat zu und wollte meinen Hut vor ihm ziehen. Aber dann merkte ich, daß ich ihn gar nicht aufhatte.
Als ich zurückkam, waren Köster und Lenz da.»Hauch mich mal an«, sagte Gottfried.
Ich hauchte.»Rum, Kirsch und Absinth«, sagte er.
»Absinth, du Ferkel.«
»Wenn du meinst, ich wäre besoffen, irrst du dich«, sagte ich.»Wo kommt ihr her?«
»Aus einer politischen Versammlung. Aber es war Otto zu blöd. Was trinkt Fred denn da?«
»Zitronensaft.«
»Trink auch mal ein Glas.«
»Morgen«, erwiderte ich.»Jetzt werde ich zunächst mal was essen.«Köster hatte mich die ganze Zeit besorgt angesehen.»Sieh mich nicht so an, Otto«, sagte ich,»ich habe mich aus lauter Lebenslust etwas beschwipst. Nicht aus Kummer.«
»Dann ist's gut«, sagte er.»Aber komm trotzdem mit essen.«
Um elf Uhr war ich wieder nüchtern wie ein Knochen. Köster schlug vor, nach Fred zu sehen. Wir gingen hin und fanden ihn wie tot hinter dem Bartisch.
»Bringt ihn nach nebenan«, sagte Lenz,»ich werde solange die Bedienung übernehmen.«
Köster und ich machten Fred wieder munter. Wir gaben ihm warme Milch zu trinken. Die Wirkung war prompt. Wir setzten ihn hinterher auf einen Stuhl und sagten ihm, er solle sich noch eine halbe Stunde ausruhen, Lenz würde vorn schon alles machen.
Gottfried machte es auch. Er kannte sämtliche Preise und die gängigen Cocktailrezepte. Er schwang den Mixbecher, als ob er nie etwas anderes getan hätte.
Nach einer Stunde war Fred wieder da. Er hatte einen ausgepichten Magen und erholte sich schnell.»Tut mir leid, Fred«, sagte ich,»wir hätten vorher etwas essen sollen.«
»Ich bin schon wieder in Ordnung«, erwiderte er.»Tut mal ganz gut.«
»Das auf jeden Fall.«Ich ging zum Telefon und rief Pat an. Es war mir völlig gleichgültig, was ich vorher alles zusammengedacht hatte. Sie meldete sich.»In einer Viertelstunde bin ich vor der Haustür«, rief ich und hängte rasch ab. Ich fürchtete, sie könnte müde sein. Ich wollte nichts davon hören, wollte sie sehen.
Sie kam. Als sie die Haustür aufschloß, küßte ich das Glas da, wo ihr Kopf war. Sie wollte etwas sagen, aber ich ließ sie gar nicht zu Worte kommen. Ich küßte sie, und wir liefen zusammen die Straße hinunter, bis wir ein Taxi fanden. Es donnerte und blitzte.»Rasch, sonst gibt's Regen«, rief ich.
Wir stiegen ein. Die ersten Tropfen klatschten auf das Dach der Droschke. Der Wagen rüttelte auf dem schlechten Pflaster. Es war alles wunderbar, denn bei jedem Rütteln spürte ich Pat. Alles war wunderbar, der Regen, die Stadt, das Trinken, es war alles weit und herrlich. Ich war in der überwachen, hellen Stimmung, in die man kommt, wenn man getrunken und es schon wieder überwunden hat. Die Hemmungen waren fort, die Nacht war voll tiefer Kraft und voll Glanz, nichts konnte mehr geschehen, nichts war mehr falsch.
Der Regen begann, als wir ausstiegen. Während ich zahlte, war das Pflaster noch dunkel gesprenkelt von Tropfen wie ein Panther – aber schon bevor wir die Tür erreichten, war es schwarz und silbern sprühend, so schoß das Wasser herab. Ich machte kein Licht. Die Blitze erleuchteten das Zimmer. Das Gewitter war mitten über der Stadt. Donner rollte in Donner.»Jetzt können wir hier wenigstens einmal schreien«, rief ich Pat zu,»ohne Sorge, daß uns jemand hört!«Das Fenster flammte. Sekundenschnell flog die schwarze Silhouette der Friedhofsbäume vor dem weißblauen Himmel auf und wurde krachend sofort wieder von der Nacht erschlagen – sekundenlang schwebte zwischen Dunkel und Dunkel die biegsame Gestalt Pats phosphoreszierend vor den Scheiben -, ich legte den Arm um ihre Schultern, sie drängte sich an mich, ich fühlte ihren Mund, ihren Atem, ich dachte nichts mehr.