37860.fb2 Drei Kameraden - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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XII

Unsere Werkstatt stand immer noch leer wie eine Scheune vor der Ernte. Wir hatten deshalb beschlossen, das Taxi, das wir auf der Auktion gekauft hatten, nicht weiterzuverkaufen, sondern es einstweilen selbst als Taxi zu fahren. Lenz und ich sollten es abwechselnd machen. Köster konnte mit Jupp die Werkstatt ganz gut allein besorgen, bis wieder Arbeit kam.

Lenz und ich würfelten, wer als erster fahren sollte. Ich gewann, steckte mir die Tasche voller Kleingeld, nahm meine Papiere und strich dann mit dem Taxi langsam durch die Straßen, um mir zunächst einmal einen guten Standplatz auszusuchen. Es war etwas merkwürdig, so das erstemal. Jeder Idiot konnte mich anhalten und mir einen Auftrag geben. Das war kein besonders großartiges Gefühl.

Ich suchte mir einen Halteplatz aus, an dem nur fünf Wagen standen. Er war gegenüber dem Hotel Waldecker Hof, mitten im Geschäftsviertel. Das ließ auf raschen Betrieb hoffen. Ich stellte die Zündung ab und stieg aus. Von einem der vorderen Wagen kam ein großer Kerl in einem Ledermantel auf mich zu.»Scher dich hier weg«, knurrte er.

Ich sah ihn ruhig an und rechnete mir aus, daß ich ihn am besten von unten mit einem Uppercut umlegen würde, wenn es sein müßte. Er konnte wegen seines Mantels nicht schnell genug die Arme hochkriegen.

»Nicht kapiert?«forschte der Ledermantel und spuckte mir seine Zigarette vor die Füße.»Sollst dich wegscheren! Sind genug hier! Brauchen keinen mehr!«

Er war ärgerlich über den Zuzug, das war klar; aber es war mein Recht, mich herzustellen.»Ich schmeiße ein paar Runden Einstand«, sagte ich.

Damit wäre die Sache für mich erledigt gewesen. Es war die übliche Art, wenn man neu herankam. Ein junger Chauffeur trat hinzu.

»Schön, Kollege. Laß ihn doch, Gustav…«

Aber Gustav gefiel etwas an mir nicht. Ich wußte, was es war. Er spürte, daß ich neu im Beruf war.»Ich zähle bis drei…«, erklärte er. Er war einen Kopf größer als ich, darauf vertraute er.

Ich merkte, daß mit Reden nicht mehr viel zu machen war.

Ich mußte abfahren oder schlagen. Es war zu deutlich.

»Eins…«, zählte Gustav und knöpfte seinen Mantel auf.

»Mach keinen Unsinn«, sagte ich, um es noch einmal zu versuchen.»Wollen lieber einen Schnaps in die Kehle zischen lassen.«

»Zwei…«, knurrte Gustav.

Ich sah, daß er mich regulär hinschlachten wollte.»Und eins ist…«Er schob seine Mütze zurück.

»Halt's Maul, Idiot!«schnauzte ich plötzlich scharf. Gustav klappte vor Überraschung den Mund auf und trat einen Schritt näher. Genau dahin, wohin ich ihn haben wollte. Ich schlug sofort zu. Es war ein Schlag wie mit einem Hammer, mit dem ganzen Körperschwung. Köster hatte ihn mir beigebracht. Ich konnte nicht besonders boxen; ich hielt es für unnötig – es kam meistens nur auf den ersten Schlag an. Dieser war gut. Gustav sackte weg.»Schadet ihm nichts«, sagte der junge Chauffeur.»Alter Radaubruder.«Wir packten ihn auf den Bock seiner Droschke.»Wird schon wieder zu sich kommen.«

Ich war etwas beunruhigt. In der Eile hatte ich den Daumen beim Schlagen falsch gehalten und ihn mir verstaucht. Wenn Gustav wieder aufwachte, konnte er mit mir machen, was er wollte. Ich sagte es dem jungen Chauffeur und fragte, ob ich nicht lieber abhauen sollte.»Unsinn«, sagte er,»die Sache ist erledigt. Komm jetzt in die Kneipe und schmeiß deinen Einstand. Du bist kein gelernter Chauffeur, was?«

»Nein…«

»Ich auch nicht. Ich bin Schauspieler.«

»Und?«

»Man lebt«, erwiderte er lachend.»Theater ist auch so genug.«

Wir waren zu fünf, zwei ältere und drei junge. Nach einer Weile erschien auch Gustav im Lokal. Er glotzte stier zu unserm Tisch herüber und kam 'ran. Ich faßte mit der linken Hand mein Schlüsselbund in der Tasche und nahm mir vor, mich auf jeden Fall zu wehren, bis ich mich nicht mehr rühren konnte.

Doch es kam nicht dazu. Gustav schob mit dem Fuß einen Stuhl heran und ließ sich mißmutig darauffallen. Der Wirt stellte ein Glas vor ihn hin. Die Runde kam. Gustav schluckte weg. Eine zweite Runde wurde geschmettert. Gustav sah mich schief an. Er hob das Glas.

»Prost«, sagte er zu mir, aber mit einem Gesicht wie Dreck.

»Prost«, erwiderte ich und kippte.

Gustav zog eine Schachtel Zigaretten heraus. Er hielt sie mir hin, ohne mich anzusehen. Ich nahm eine und gab ihm dafür Feuer. Dann bestellte ich eine Lage doppelten Kümmel. Wir tranken sie. Gustav sah mich wieder von der Seite an.»Kaffer«, sagte er, aber im richtigen Ton.

»Mondkalb«, erwiderte ich ebenso.

Er wendete sich mir voll zu.»Der Schlag war gut…«

»Zufall…«Ich zeigte ihm meinen Daumen.»Pech«, erwiderte er grinsend.»Ich heiße übrigens Gustav.«

»Ich Robert.«

»Schön. Also in Ordnung, Robert was? Dachte, du wärst so 'n Bubi von Mamas Schürze.«

»In Ordnung, Gustav.«Von dieser Zeit an waren wir Freunde.

Die Wagen rückten langsam vor. Der Schauspieler, der Tommy genannt wurde, bekam eine glänzende Fuhre zum Bahnhof. Gustav eine zum nächsten Restaurant für dreißig Pfennig. Er platzte fast vor Wut darüber, denn er mußte sich für zehn Pfennig Verdienst nun wieder hinten anstellen. Ich erwischte etwas ganz Seltenes – eine alte Engländerin, die sich die Stadt ansehen wollte. Ich war fast eine Stunde mit ihr unterwegs. Auf der Rückkehr schnappte ich noch ein paar kleinere Sachen. Mittags, als wir alle wieder in der Kneipe saßen und unsere Butterbrote aßen, kam ich mir schon vor wie ein gedienter Chauffeur. Die Sache hatte etwas von der Brüderschaft alter Soldaten an sich. Leute aus allen möglichen Berufen kamen da zusammen. Höchstens die Hälfte war immer dabeigewesen, die andern waren auf irgendeine Weise hineingerutscht.

Ziemlich aufgekratzt fuhr ich nachmittags in den Hof unserer Werkstatt ein. Lenz und Köster erwarteten mich schon.

»Brüder, was habt ihr verdient?«fragte ich.

»Siebzig Liter Benzin«, meldete Jupp.

»Sonst nichts?«

Lenz schaute mit wildem Gesicht zum Himmel auf.»Regnen müßte es! Und dann ein kleiner Zusammenstoß auf dem Rutschasphalt direkt vor der Tür! Keine Verletzten! Nur eine nette, runde Reparatur.«

»Schaut her!«Ich zeigte fünfunddreißig Mark auf der flachen Hand.

»Großartig«, sagte Köster.»Davon sind zwanzig Mark verdient. Die werden wir heute auf den Kopf hauen. Müssen die Jungfernfahrt doch feiern!«

»Wir wollen eine Waldmeisterbowle trinken«, erklärte Lenz.

»Bowle?«fragte ich.»Wozu denn Bowle?«

»Weil Pat mitkommt.«

»Pat?«

»Sperr den Schnabel nicht soweit auf«, sagte der letzte Romantiker,»wir haben alles längst abgemacht. Um sieben holen wir sie ab. Sie weiß Bescheid. Wenn du nicht daran denkst, müssen wir uns eben selbst helfen. Schließlich hast du sie doch durch uns kennengelernt.«

»Otto«, sagte ich,»hast du je etwas Unverfroreneres gesehen als diesen Rekruten?«

Köster lachte.»Was hast du denn an der Hand, Robby? Du hältst sie ja so schief.«

»Verstaucht, glaube ich.«Ich erzählte die Geschichte mit Gustav.

Lenz sah sie sich an.»Natürlich! Als Christ und Student der Medizin im Ruhestand werde ich sie dir massieren, trotz deiner Rüpeleien. Komm mit, du Meisterboxer.«

Wir gingen in die Werkstatt, und Gottfried machte sich mit etwas Öl über meine Hand her.»Hast du Pat gesagt, daß wir unser eintägiges Jubiläum als Taxichauffeure feiern?«fragte ich ihn.

Er pfiff durch die Zähne.»Genierst du dich deswegen, Bursche?«

»Halt den Schnabel!«erwiderte ich. Besonders weil er recht hatte.»Hast du es gesagt?«

»Die Liebe«, erklärte Gottfried ungerührt,»ist etwas Herrliches. Aber sie verdirbt den Charakter.«

»Dafür macht Alleinsein taktlos, du trüber Solist.«

»Takt ist eine stillschweigende Vereinbarung, über gemeinsame Fehler hinwegzusehen, anstatt sich zu läutern. Also eine elende Kompromißhandlung. Dazu gibt sich ein deutscher Veteran nicht her, Baby.«

»Was würdest du denn an meiner Stelle machen«, fragte ich,»wenn jemand dich zu einer Taxifahrt anriefe und du sähest dann, daß es Pat wäre?«

Er schmunzelte.»Ich würde auf keinen Fall Fahrgeld von ihr verlangen, mein Sohn.«

Ich gab ihm einen Stoß, daß er von seinem dreibeinigen Bock fiel.»Du Heuschrecke! Weißt du, was ich tun werde? Ich werde sie heute abend einfach mit dem Taxi abholen.«

»Recht so!«Gottfried hob segnend die Hand.»Nur die Freiheit nicht verlieren! Sie ist kostbarer als die Liebe. Das weiß man aber immer erst hinterher. Das Taxi kriegst du trotzdem nicht. Das brauchen wir für Ferdinand Grau und Valentin. Es wird ein seriöser, aber großer Abend.«

Wir saßen im Garten eines kleinen Wirtshauses vor der Stadt. Der feuchte Mond hing wie eine rote Fackel tief über den Wäldern. Die bleichen Blütenkandelaber der Kastanien schimmerten, der Flieder roch betäubend, und vor uns auf dem Tisch das große Glasgefäß mit dem nach Waldmeister duftenden Wein sah im Ungewissen Licht der frühen Nacht aus wie ein heller Opal, in dem sich bläulich und perlmuttern der letzte Schein des Abends sammelte. Wir hatten es schon zum viertenmal füllen lassen.

Ferdinand Grau führte den Vorsitz. Pat saß neben ihm. Sie trug eine blaßrosa Orchidee, die er ihr mitgebracht hatte.

Ferdinand fischte eine Mücke aus seinem Wein und streifte sie vorsichtig auf den Tisch.»Seht euch das an«, sagte er.»Diese Flügel! Dagegen ist jeder Brokat ein Scheuerlappen! Und so was lebt einen Tag, dann ist es vorbei.«Er schaute uns der Reihe nach an.»Wißt ihr, was das unheimlichste auf der Welt ist, Brüder?«

»Ein leeres Glas«, erwiderte Lenz.

Ferdinand wischte ihn mit einer Handbewegung weg.»Das entehrendste auf der Welt, Gottfried, ist für einen Mann, ein Witzbold zu sein.«Dann wandte er sich uns wieder zu.»Das unheimlichste, Brüder, ist die Zeit. Die Zeit. Der Augenblick, durch den wir leben und den wir doch nie besitzen.«

Er zog seine Uhr aus der Tasche und hielt sie Lenz vor die Augen.»Das hier, du Papierromantiker! Die Höllenmaschine, die tickt und tickt, dem Nichts unaufhaltsam entgegentickt! Du kannst eine Lawine aufhalten, einen Bergrutsch – aber das da nicht.«

»Will ich auch gar nicht«, erklärte Lenz.»Ich will friedlich altern. Und außerdem liebe ich die Abwechslung.«

»Der Mensch erträgt es nicht«, sagte Grau, ohne ihn zu beachten.»Der Mensch kann es auch nicht ertragen. Deshalb hat er sich einen Traum zurechtgemacht. Den alten, rührenden, hoffnungslosen Menschheitstraum Ewigkeit.«

Gottfried lachte.»Die schlimmste Krankheit der Welt, Ferdinand, ist Denken! Sie ist unheilbar.«

»Wenn es die einzige wäre, wärest du unsterblich«, erwiderte Grau.»Du Zusammenballung von Kohlehydraten, Kalk, Phosphor und ein bißchen Eisen, für eine flüchtige Zeit auf Erden Gottfried Lenz genannt.«

Gottfried schmunzelte wohlgefällig. Ferdinand schüttelte den Löwenschädel.»Brüder, das Leben ist eine Krankheit, und der Tod beginnt schon mit der Geburt. Jeder Atemzug und jeder Herzschlag ist schon ein bißchen Sterben – ein kleiner Ruck dem Ende zu.«

»Jeder Schluck auch«, erwiderte Lenz.»Prost, Ferdinand! Manchmal ist das Sterben verdammt leicht.«

Grau hob sein Glas. Über sein großes Gesicht zog ein Lächeln wie ein lautloses Gewitter.»Prost, Gottfried, du munterer Floh auf dem rieselnden Geröll der Zeit. Was mag sich die geisterhafte Kraft, die uns bewegt, gedacht haben, als sie dich schuf?«

»Das soll sie mit sich selbst abmachen. Im übrigen solltest gerade du nicht so abfällig über solche Dinge reden, Ferdinand. Wenn die Menschen ewig wären, würdest du arbeitslos, alter guter Parasit des Todes.«

Graus Schultern begannen zu beben. Er lachte. Dann wandte er sich an Pat.»Was sagen Sie zu uns Schwätzern, kleine Blüte auf den tanzenden Wassern?«

Später ging ich mit Pat allein durch den Garten. Der Mond war höher gestiegen, und die Wiesen schwammen in grauem Silber. Die Schatten der Bäume lagen lang und schwarz darüber wie dunkle Wegweiser ins Ungewisse. Wir gingen bis zum See hinunter und kehrten dann um. Unterwegs trafen wir Gottfried Lenz, der sich einen Gartenstuhl mitgenommen und ihn tief in ein Gebüsch von Fliedersträuchern geschoben hatte. Da saß er nun, und nur sein blonder Schöpf und seine Zigarette leuchteten heraus. Neben sich auf der Erde hatte er ein Glas und den Rest der Maibowle stehen.

»Das ist ein Platz!«sagte Pat.»Mitten im Flieder.«

»Es läßt sich aushalten.«Gottfried stand auf.»Versuchen Sie es mal.«Pat setzte sich auf den Stuhl. Ihr Gesicht schimmerte zwischen den Blüten.»Ich bin verrückt mit Flieder«, sagte der letzte Romantiker.»Heimweh bedeutet für mich Flieder. Im Frühjahr 1924 bin ich einmal Hals über Kopf aus Rio de Janeiro abgereist, nur weil mir einfiel, daß hier der Flieder blühen müsse. Als ich dann ankam, war es natürlich schon viel zu spät.«Er lachte.»So geht es immer.«

»Rio de Janeiro?«Pat zog einen Zweig mit Blüten zu sich herunter.»Waren Sie zusammen da?«

Gottfried stutzte. Mir lief es plötzlich kalt über den Rücken.»Seht mal den Mond!«sagte ich rasch. Gleichzeitig trat ich Lenz beschwörend auf den Fuß.

Im Aufflammen seiner Zigarette sah ich ein schwaches Lächeln und ein Augenblinzeln. Ich war gerettet.»Nein, wir waren nicht zusammen da«, erklärte Gottfried.»Ich war damals allein. Aber wie wäre es mit noch einem letzten Schluck von diesem Waldmeistertrank?«

»Nicht mehr.«Pat schüttelte den Kopf.»Ich kann nicht soviel Wein trinken.«

Wir hörten Ferdinand nach uns rufen und gingen hinüber.

Er stand massig unter der Tür.»Kommt herein, Kinder«, sagte er.»Nachts haben Menschen wie wir nichts in der Natur zu suchen. Nachts will sie allein sein. Ein Bauer oder ein Fischer, das ist was anderes; aber wir nicht, wir Bewohner von Städten mit unsern abgesäbelten Instinkten.«Er legte Gottfried die Hand auf die Schulter.»Die Nacht ist der Protest der Natur gegen den Aussatz der Zivilisation, Gottfried! Ein anständiger Mensch hält das nicht lange aus. Er merkt, daß er ausgestoßen ist aus dem schweigenden Ring der Bäume, der Tiere, der Sterne und des unbewußten Lebens.«Er lächelte das sonderbare Lächeln, von dem man nie wußte, ob es nicht traurig war.»Kommt herein, Kinder! Wir wollen uns die Hände an Erinnerungen wärmen. Ach, die herrliche Zeit, als wir noch Schachtelhalme und Molche waren, so vor fünfzig-, sechzigtausend Jahren, Gott, wie sind wir seitdem heruntergekommen…«

Er nahm Pat an der Hand.»Wenn wir nicht das bißchen Sinn für Schönheit noch hätten – dann wäre alles verloren.«Mit einer zarten Bewegung seiner riesigen Pranken legte er ihre Hand auf seinen Arm.»Silberne Sternschnuppe über dem sausenden Abgrund – wollen Sie mit einem uralten Manne ein Glas trinken?«

Pat nickte.»Ja«, sagte sie.»Alles, was Sie wollen.«

Beide gingen hinein. So nebeneinander sahen sie aus, als wäre Pat Ferdinands Tochter. Die schlanke, kühne und junge Tochter eines müden Riesen, der aus der Vorzeit übriggeblieben war.

Um elf Uhr fuhren wir zurück. Valentin und Ferdinand hatten das Taxi, das Valentin steuerte. Wir andern fuhren mit Karl. Die Nacht war warm, und Köster machte noch einen Umweg durch ein paar Dörfer, die verschlafen an der Straße lagen mit wenigen Lichtern und vereinzeltem Hundegebell. Lenz saß vorne neben Otto und sang, Pat und ich hockten hinten im Wagen.

Köster fuhr wunderbar. Er nahm die Kurven wie ein Vogel. Es wirkte spielerisch, so sicher war es. Er fuhr nicht hart, wie die meisten Rennfahrer. Man hätte schlafen können, wenn er Serpentinen nahm, so ruhig fuhr er den Wagen. Man merkte nie die Geschwindigkeit.

Wir hörten am veränderten Ton der Reifen, wenn das Pflaster wechselte. Auf Teerstraßen pfiffen sie, auf Steinpflaster donnerten sie dumpf. Die Scheinwerfer jagten wie fahle Hetzhunde langgestreckt vor uns her und zerrten aus dem Dunkel eine zitternde Birkenallee heran, eine Pappelreihe, vorüberstürzende Telegrafenstangen, geduckte Häuser und die stumme Parade der Waldränder. Ungeheuer zog über uns, begleitet von tausend Sternen, der helle Rauch der Milchstraße mit.

Das Tempo nahm zu. Ich deckte unsere Mäntel über Pat. Sie lächelte mir zu.»Liebst du mich eigentlich?«fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf.»Du mich?«

»Nein. Ein Glück, was?«

»Ein großes Glück.«

»Dann kann uns ja nichts passieren, wie?«

»Gar nichts -«, erwiderte sie und faßte unter den Mänteln nach meiner Hand.

Die Straße führte in einem Bogen an den Bahndamm herunter. Die Schienen schimmerten. Weit vor uns schwankte ein rotes Licht. Karl brüllte auf und schoß los. Es war ein Schnellzug mit Schlafwagen und einem hellerleuchteten Speisewagen. Wir holten auf und waren bald auf gleicher Höhe. Aus den Fenstern winkten Leute. Wir winkten nicht zurück. Wir fuhren vorbei. Ich sah mich um. Die Lokomotive sprühte Rauch und Funken. Sie stampfte schwarz in der blauen Nacht. Wir hatten sie überholt – aber wir fuhren in die Stadt, zu Taxis, Reparaturwerkstätten und möblierten Zimmern. Sie jedoch stampfte an den Flanken der Wälder und Felder und Flüsse vorüber in die Ferne und das Abenteuer der Weite.

Straßen und Häuser schwankten heran. Karl wurde leiser, aber sein Röhren war immer noch das eines wilden Tieres.

Köster hielt in der Nähe des Friedhofs. Er fuhr weder zu Pat noch zu mir, hielt einfach irgendwo in der Nähe, er dachte wahrscheinlich, wir wollten allein sein. Wir stiegen aus. Die beiden sausten sofort weiter, ohne sich umzusehen. Ich blickte ihnen nach. Einen Augenblick war das sonderbar. Sie fuhren ab, meine Kameraden fuhren ab, und ich blieb zurück, blieb zurück.

Ich schüttelte es ab.»Komm«, sagte ich zu Pat, die mich ansah, als hätte sie etwas gespürt.

»Fahr mit«, sagte sie.

»Nein«, erwiderte ich.

»Du möchtest doch mitfahren…«

»Ach wo -«, sagte ich und wußte, daß es stimmte.»Komm…«

Wir gingen am Friedhof entlang, noch etwas schwankend vom Wind und vom Fahren.»Robby«, sagte Pat,»ich möchte lieber nach Hause.«

»Warum?«

»Ich will nicht, daß du meinetwegen etwas aufgibst.«

»Was fällt dir ein«, fragte ich,»was gebe ich denn auf?«

»Deine Kameraden…«

»Die gebe ich doch gar nicht auf – die treffe ich ja morgen früh schon wieder.«

»Du weißt schon, was ich meine«, sagte sie.»Du warst früher viel mehr mit ihnen zusammen.«

»Weil du nicht da warst«, erwiderte ich und schloß die Tür auf.

Sie schüttelte den Kopf.»Das ist etwas ganz anderes.«

»Natürlich ist es anders. Gott sei Dank.«

Ich nahm sie hoch und trug sie den Korridor entlang in mein Zimmer.»Du brauchst Kameraden«, sagte sie dicht an meinem Gesicht.

»Dich brauche ich auch«, erwiderte ich.

»Aber nicht so nötig…«

»Das werden wir ja noch sehen…«

Ich stieß die Tür auf und ließ sie zu Boden gleiten. Sie hielt mich fest.»Ich bin nur ein sehr schlechter Kamerad, Robby.«

»Das will ich hoffen«, sagte ich.»Ich will auch keine Frau als Kameraden. Ich will eine Geliebte.«

»Bin ich auch nicht«, murmelte sie.

»Was bist du denn?«

»Nichts Halbes und nichts Ganzes. Ein Fragment…«

»Das ist das Beste«, sagte ich.»Das regt die Phantasie an. Solche Frauen liebt man ewig. Fertige Frauen kriegt man leicht über. Wertvolle auch. Fragmente nie.«

Es war vier Uhr nachts. Ich hatte Pat nach Hause gebracht und ging zurück. Der Himmel war schon etwas hell geworden. Es roch nach Morgen.

Ich ging den Friedhof entlang, am Café International vorbei, nach Hause. Da öffnete sich die Tür einer Chauffeurkneipe neben dem Gewerkschaftshaus, und ein Mädchen kam heraus. Eine kleine Kappe, ein schäbiges rotes Mäntelchen, hohe Lackstiefel – ich war schon fast vorbei, da erkannte ich sie -»Lisa…«

»Sieht man dich auch mal wieder?«sagte sie.

»Wo kommst du denn her?«fragte ich.

Sie machte eine Bewegung.»Habe da gewartet. Dachte, du kämst vorbei. Ist ja so die Zeit, wo du nach Hause kommst.«»Ja, richtig…«»Kommst du mit?«fragte sie. Ich zögerte.»Es geht nicht…«»Du brauchst kein Geld«, sagte sie rasch.»Nicht deshalb«, antwortete ich unbedacht,»ich habe Geld.«»Ach so -«, sagte sie bitter und trat einen Schritt zurück. Ich griff nach ihrer Hand.»Nein, Lisa…«Schmal und blaß stand sie auf der leeren, grauen Straße. So hatte ich sie getroffen, vor Jahren, als ich stumpf und allein dahinlebte, ohne Gedanken und ohne Hoffnung. Sie war erst mißtrauisch gewesen, wie alle diese Mädchen, aber dann, als wir ein paarmal miteinander gesprochen hatten, zutraulich und anhänglich. Es war ein sonderbares Verhältnis gewesen – manchmal sah ich sie wochenlang nicht, und dann stand sie plötzlich irgendwo und wartete. Wir hatten beide nichts und niemand um diese Zeit – da war das bißchen Wärme und Beieinandersein, das wir uns geben konnten, für jeden wohl mehr gewesen als sonst. Ich hatte sie lange nicht mehr gesehen – seit ich Pat kannte, nicht mehr.

»Wo warst du denn so lange, Lisa?«

Sie zuckte die Achseln.»Ist ja egal. Wollte dich nur mal wiedersehen. Na, dann kann ich ja losziehen.«

»Wie geht's dir denn?«

»Laß man -«, sagte sie.»Streng dich nicht an.«

Ihr Mund zitterte. Sie sah verhungert aus.»Ich komme doch noch ein bißchen mit dir«, sagte ich.

Ihr armes, gleichgültiges Hurengesicht belebte sich und wurde kindlich. Ich kaufte unterwegs in einer der Chauffeurkneipen, die die ganze Nacht offen waren, ein paar Kleinigkeiten, damit sie etwas zu essen hatte. Sie wollte anfangs nicht; erst als ich sagte, ich hätte selbst Hunger, gab sie nach. Aber sie achtete darauf, daß ich nicht betrogen wurde und schlechte Stücke erhielt.

Sie wollte auch kein halbes Pfund Schinken; sie meinte, ein viertel wäre genug, wenn wir noch Frankfurter Würstchen nähmen. Aber ich blieb bei dem halben und zwei Büchsen Würstchen.

Sie wohnte in einer Dachkammer, die sie sich etwas eingerichtet hatte. Eine Petroleumlampe stand auf dem Tisch und neben dem Bett, auf einer Flasche, eine Kerze. An den Wänden hingen Bilder, die aus Zeitschriften ausgeschnitten und mit Reißnägeln befestigt waren. Auf der Kommode lagen ein paar Detektivromane; daneben ein Päckchen schweinischer Fotografien. Manche Besucher, besonders verheiratete, wollten so was sehen. Lisa fegte sie in die Schublade und holte ein zerschlissenes, aber sauberes Tischtuch heraus.

Ich packte die Sachen aus. Lisa zog sich inzwischen um. Zuerst zog sie das Kleid aus, obschon ich wußte, daß ihr die Füße am meisten weh taten. Sie mußte ja so viel laufen. Sie stand da, in ihren hohen Lackstiefeln bis zum Knie und in schwarzer Wäsche.

»Wie findest du meine Beine?«fragte sie.

»Klasse, wie immer.«

Sie war zufrieden und setzte sich erleichtert auf das Bett, um die Schuhe loszuschnüren.»Hundertzwanzig Mark kosten die«, sagte sie und hielt sie mir hin.»Bis man das mal verdient hat, sind sie schon wieder in Bruch.«

Sie nahm einen Kimono aus dem Schrank und ein Paar verblichene Brokathalbschuhe aus besseren Tagen. Dabei lächelte sie fast schuldbewußt. Sie wollte gefallen. Es würgte mich plötzlich etwas, so hier oben in der kleinen Bude, als wäre mir jemand gestorben.

Wir saßen, und ich sprach behutsam mit ihr. Aber sie merkte trotzdem, daß sich etwas verändert hatte. Ihre Augen wurden ängstlich. Es war nie mehr zwischen uns gewesen als das, was der Zufall gebracht hatte. Aber vielleicht verpflichtete und band das mehr als vieles andere.»Du gehst?«fragte sie, als ich aufstand – als hätte sie es schon lange gefürchtet.

»Ich habe noch eine Verabredung…«

Sie sah mich an.»So spät?«

»Geschäftlich. Wichtig für mich, Lisa. Muß versuchen, jemand noch zu treffen. Sitzt um diese Zeit gewöhnlich im Astoria.«

Keine Frauen sind verständiger für so was als Mädchen wie Lisa. Aber keiner Frau kann man auch so wenig vorlügen wie ihnen. Lisas Gesicht wurde leer.»Du hast eine andere Frau…«

»Aber Lisa – wir haben uns doch so wenig gesehen – jetzt fast ein Jahr nicht – du kannst dir doch denken…«

»Nein, nein, das meine ich nicht. Du hast eine Frau, die du liebst! Du hast dich verändert. Ich spüre es.«

»Ach, Lisa…«

»Doch, doch. Sag's!«

»Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht…«

Sie stand eine Weile. Dann nickte sie.»Jaja – natürlich – ich bin ja auch dumm – wir haben ja auch gar nichts miteinander…«Sie strich sich über die Stirn.»Ich weiß nicht, wie ich dazu komme…«Ihre schmale Gestalt stand dürftig und zerbrechlich vor mir. Die Brokatschuhe – der Kimono – die langen, leeren Abende, die Erinnerung -»Auf Wiedersehen, Lisa…«

»Du gehst – du bleibst nicht noch etwas? Du gehst – schon?«

Ich wußte, was sie meinte. Aber ich konnte es nicht. Es war merkwürdig, aber ich konnte es nicht, ich spürte das sehr stark. Früher war das nie so gewesen. Ich hatte keine übertriebenen Vorstellungen von Treue. Aber es ging einfach nicht mehr. Ich fühlte plötzlich, wie weit ich von all dem schon weg war.

Sie stand im Türrahmen.»Du gehst…«Sie lief zurück.»Hier, ich weiß, du hast mir Geld hingelegt – unter die Zeitung – ich will es nicht haben – Da – da – ja, geh nur…«

»Ich muß, Lisa.«

»Du kommst nicht wieder…«

»Doch, Lisa…«

»Nein, nein, du kommst nicht wieder – ich weiß es! Du sollst auch nicht wiederkommen! Geh nur, so geh doch…«Sie weinte. Ich ging die Treppe hinunter und sah mich nicht um.

Ich ging noch lange durch die Straßen. Es war eine sonderbare Nacht. Ich war sehr wach und konnte nicht schlafen. Ich ging am International vorbei, ich dachte an Lisa und an die Jahre von früher, an vieles, was ich schon lange vergessen hatte, aber es war weit weg und schien nicht mehr zu mir zu gehören. Dann wanderte ich durch die Straße, wo Pat wohnte. Der Wind wurde stärker, alle Fenster in ihrem Hause waren dunkel, der Morgen schlich auf grauen Füßen die Türen entlang, und ich ging endlich nach Hause. Mein Gott, dachte ich, ich glaube, ich bin glücklich.