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»Die Dame, die Sie immer verstecken«, sagte Frau Zalewski,»brauchen Sie nicht zu verstecken. Sie kann ruhig offen zu Ihnen kommen. Sie gefällt mir…«
»Sie haben sie ja noch gar nicht gesehen«, erwiderte ich.
»Beruhigen Sie sich nur, ich habe sie gesehen«, erklärte Frau Zalewski mit Nachdruck.»Ich habe sie gesehen und sie gefällt mir – sehr gut sogar -, aber das ist keine Frau für Sie!«
»So?«
»Nein. Ich hab' mich schon gewundert, wie Sie die in Ihren Kneipen aufgestöbert haben. Aber natürlich, die verbummeltsten…«
»Wir kommen vom Thema«, unterbrach ich sie.
»Das«, sagte sie und stemmte die Arme auf die Hüften,»ist eine Frau für einen Mann in guten, sicheren Verhältnissen. Für einen reichen Mann, mit einem Wort!«
Rums, dachte ich, da hast du ein Ding weg! Genau das, was dir gefehlt hat.»Das können Sie von jeder Frau behaupten«, erklärte ich gereizt.
Sie schüttelte die grauen Löckchen.»Warten Sie ab! Die Zukunft wird mir recht geben.«
»Ach, Zukunft!«Ich warf meine Manschettenknöpfe ärgerlich auf den Tisch.»Wer rechnet heute noch mit Zukunft! Wozu soll man sich darüber jetzt schon Gedanken machen!«
Frau Zalewski wiegte bekümmert das majestätische Haupt.»Merkwürdige Menschen seid ihr jungen Leute alle miteinander. Die Vergangenheit haßt ihr, die Gegenwart verachtet ihr, und die Zukunft ist euch gleichgültig. Wie soll das nur ein gutes Ende nehmen!«
»Was nennen Sie eigentlich ein gutes Ende?«fragte ich.»Ein Ende kann doch nur gut sein, wenn alles vorher schlecht war. Da ist ein schlechtes Ende viel besser.«
»Das sind jüdische Verdrehungen«, erwiderte Frau Zalewski mit Würde und wandte sich entschlossen zur Tür. Aber als sie die Klinke schon in der Hand hatte, blieb sie wie angenagelt noch einmal stehen.
»Smoking?«hauchte sie erstaunt,»Sie?«
Mit großen Augen betrachtete sie den Anzug Otto Kösters, der an der Schranktür hing. Ich hatte ihn mir geliehen, weil ich abends mit Pat ins Theater wollte.»Jawohl, ich!«sagte ich giftig.»Ihre Kombinationsgabe ist unübertrefflich, gnädige Frau…«
Sie sah mich an. Ein ganzes Gewitter von Gedanken ging über ihr dickes Gesicht. Es endete in einem breiten, mitwisserischen Schmunzeln.»Aha!«sagte sie. Und dann noch einmal:»Aha!«Und, schon draußen, über die Schulter hinweg, genießerisch und pfiffig, ganz verklärt, von der ewigen Freude der Frau bei solchen Entdeckungen:»So steht's also!«
»Ja, so steht's, verdammte Hebamme«, knurrte ich hinter ihr her, als ich sicher war, daß sie mich nicht mehr hörte. Dann schmiß ich wütend meine neuen Lackschuhe mitsamt dem Karton auf den Boden. Reicher Mann – als ob ich das nicht wüßte!
Ich holte Pat ab. Sie stand in ihrem Zimmer, fertig angezogen, und wartete schon. Es verschlug mir fast den Atem, als ich sie erblickte. Sie trug zum erstenmal, seit ich sie kannte, ein Abendkleid.
Es war ein Kleid aus silbernem Brokat, das von den geraden Schultern schlank und weich herunterfiel. Es schien eng zu sein und war doch so weit, daß es die schönen langen Schritte Pats nicht hinderte. Vorne war es hochgeschlossen, aber der Rücken war tief in einem spitzen Winkel ausgeschnitten. In der matten blauen Dämmerung wirkte Pat darin wie eine silberne Fackel, jäh und überraschend verändert, festlich und sehr entfernt. Wie ein Schatten tauchte hinter ihr der Geist Frau Zalewskis mit hocherhobenem Finger auf.
»Gut, daß ich dich in dem Kleide nicht kennengelernt habe«, sagte ich.»Nie hätte ich mich an dich herangetraut.«
»Das glaube ich nicht so ohne weiteres, Robby.«Sie lächelte.»Gefällt es dir?«
»Es ist geradezu unheimlich! Du bist eine ganz neue Frau darin.«
»Das ist doch nicht unheimlich. Dazu sind Kleider doch da.«
»Mag sein. Mich schmettert es etwas nieder. Du müßtest dazu einen andern Mann haben. Einen Mann mit viel Geld.«
Sie lachte.»Männer mit viel Geld sind meistens scheußlich, Robby.«
»Aber Geld nicht, was?«
»Nein«, sagte sie,»Geld nicht.«
»Das dachte ich mir.«
»Findest du das denn nicht?«
»Doch«, sagte ich.»Geld macht zwar nicht glücklich – aber es beruhigt außerordentlich.«
»Es macht unabhängig, Liebling, das ist noch mehr. Aber wenn du willst, kann ich auch ein anderes Kleid anziehen.«
»Ausgeschlossen. Es ist prachtvoll. Von heute ab setze ich die Schneider über die Philosophen! Die Leute bringen Schönheit ins Leben. Das ist hundertmal mehr wert als klaftertiefe Gedanken! Paß auf, ich werde mich noch in dich verlieben!«
Sie lachte. Vorsichtig sah ich an mir herunter. Köster war etwas größer als ich, und ich hatte bei der Hose oben mit Sicherheitsnadeln arbeiten müssen, damit sie einigermaßen saß. Gottlob, sie saß.
Wir fuhren in einem Taxi zum Theater. Ich war unterwegs ziemlich schweigsam, ohne recht zu wissen, warum. Als wir ausstiegen und ich bezahlte, sah ich wie unter einem Zwang den Chauffeur an. Er hatte überwachte, rotgeränderte Augen, war unrasiert und sah sehr müde aus. Gleichgültig nahm er das Geld.»Gute Kasse heute gehabt?«fragte ich leise.
Er blickte auf.»Es geht«, sagte er abweisend. Er hielt mich für irgendeinen Neugierigen.
Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, ich müßte mich zu ihm auf den Bock setzen und losfahren – dann drehte ich mich um. Da stand Pat, schmal und biegsam, über dem silbernen Kleid eine kurze silberne Jacke mit weiten Ärmeln, schön und erwartungsvoll.»Komm rasch, Robby, es fängt gleich an!«
Vor dem Eingang stauten sich die Leute. Es war eine große Premiere, das Theater war mit Scheinwerfern bestrahlt, Auto auf Auto glitt heran, Frauen in Abendkleidern stiegen aus, glitzernd von Schmuck, Männer in Fräcken, mit rosig ausgepolsterten Gesichtern, lachend, fröhlich, überlegen, unbedenklich – und knarrend und ächzend rumpelte dazwischen die Droschke mit dem müden Chauffeur davon.
»So komm doch, Robby!«rief Pat und sah mich strahlend und aufgeregt an.»Hast du etwas vergessen?«
Ich warf einen feindseligen Blick auf die Leute ringsum.»Nein -«, sagte ich,»ich habe nichts vergessen.«
Dann ging ich zur Kasse und tauschte die Billetts um. Ich nahm zwei Logenplätze, obschon sie ein Vermögen kosteten. Ich wollte nicht, daß Pat mitten unter diesen sicheren Leuten saß, denen alles selbstverständlich war. Ich wollte nicht, daß sie zu ihnen gehörte. Ich wollte mit ihr allein sein.
Es war lange her, daß ich in einem Theater gewesen war. Ich wäre auch nicht hingegangen, wenn Pat es nicht gewollt hätte. Theater, Konzerte, Bücher – alle diese bürgerlichen Gewohnheiten hatte ich fast verloren. Es war nicht die Zeit danach. Die Politik machte genug Theater – die Schießereien jeden Abend gaben ein anderes Konzert -, und das riesenhafte Buch der Not war eindringlicher als alle Bibliotheken.
Die Ränge und das Parkett waren ganz besetzt. Es wurde sofort dunkel, als wir unsere Plätze gefunden hatten. Nur der Widerschein der Rampenlichter wehte durch den Raum. Voll begann die Musik und hob alles auf, daß es schwebte.
Ich schob meinen Stuhl in die Ecke der Loge zurück. So brauchte ich weder die Bühne noch die bleichen Köpfe der Zuschauer zu sehen. Ich hörte nur die Musik und sah Pats Gesicht.
Die Musik verzauberte den Raum. Sie war wie Südwind, wie eine warme Nacht, wie ein gebauschtes Segel unter Sternen, ganz und gar unwirklich, diese Musik zu»Hoffmanns Erzählungen«. Sie machte alles weit und farbig, der dunkle Strom des Lebens schien in ihr zu rauschen, es gab keine Schwere mehr, keine Grenzen, es gab nur noch Glanz und Melodie und Liebe, und man konnte einfach nicht begreifen, daß draußen Not und Qual und Verzweiflung herrschten, zur gleichen Zeit, wo es diese Musik gab.
Pats Gesicht war geheimnisvoll vom Licht der Bühne beschienen. Sie war ganz hingegeben, und ich liebte sie, weil sie sich nicht an mich lehnte und nicht nach meiner Hand griff, ja, mich nicht einmal ansah, sondern gar nicht an mich zu denken und mich ganz vergessen zu haben schien. Ich haßte es, wenn man die Dinge vermischte, ich haßte dieses kuhhafte Zueinanderstreben, wenn die Schönheit und die Gewalt eines großen Werkes über einen hereinbrach, ich haßte die schwimmenden Blicke der Liebespaare, dieses stumpfselige Sichanschmiegen, dieses unanständige Schafsglück, das nie über sich hinaus ergriffen werden konnte, ich haßte dieses ganze Gerede vom Einswerden in der Liebe, denn ich fand, man konnte gar nicht genug zwei sein und sich gar nicht oft genug voneinander entfernen, um sich wieder zu begegnen. Nur wer immer wieder allein war, kannte das Glück des Beieinanderseins. Alles andere zerstörte das Geheimnis der Spannung. Und was riß stärker in die magischen Bezirke der Einsamkeit als der Aufruhr des Gefühls, die Hingabe an eine Erschütterung, die Gewalt der Elemente, der Sturm, die Nacht, die Musik? Und die Liebe.
Das Licht flammte auf. Ich schloß einen Augenblick die Augen. Woran hatte ich da nur gedacht? Pat wandte sich um. Ich sah, daß die Leute zu den Türen drängten. Es war große Pause.
»Willst du nicht hinausgehen?«fragte ich.
Pat schüttelte den Kopf.
»Gott sei Dank! Ich hasse es, sich da draußen gegenseitig zu beglotzen.«
Ich machte mich auf, um ihr ein Glas Orangensaft zu holen. Das Büfett war stark belagert. Musik macht viele Leute merkwürdig hungrig. Die warmen Würstchen verschwanden, als wäre der Hungertyphus ausgebrochen.
Als ich mit meinem Glas in der Loge ankam, stand jemand hinter Pats Stuhl. Sie hatte den Kopf zurückgewendet und sprach lebhaft mit ihm.»Das ist Herr Breuer, Robert«, sagte sie. Herr Ochse, dachte ich, und sah ihn mißvergnügt an. Robert hatte sie gesagt, nicht Robby. Ich stellte das Glas auf die Brüstung und wartete darauf, daß der Mann ging. Er hatte einen fabelhaft geschnittenen Smoking an. Aber er schwätzte von der Regie und der Besetzung und blieb. Pat wandte sich mir zu.»Herr Breuer hat gefragt, ob wir nachher nicht in die Kaskade gehen wollen.«
»Wenn du gern möchtest«, sagte ich.
Herr Breuer erklärte, man könne vielleicht etwas tanzen. Er war sehr höflich und gefiel mir eigentlich ganz gut. Er hatte nur diese unangenehme Eleganz und Leichtigkeit, von der ich glaubte, daß sie auf Pat wirken müsse, und die ich selbst nicht besaß. Plötzlich – ich traute meinen Ohren nicht – hörte ich, daß er Pat mit du ansprach. Obschon es hundert belanglose Gründe dafür gab, hätte ich den Mann am liebsten in den Orchesterraum geworfen.
Es klingelte. Die Musiker stimmten die Instrumente. Die Geigen huschten Flageolettläufe.»Also abgemacht, wir treffen uns am Ausgang«, sagte Breuer und ging endlich.
»Was ist das für ein Strolch?«fragte ich.»Das ist kein Strolch, das ist ein netter Mensch. Ein alter Bekannter.«
»Gegen alte Bekannte habe ich was«, sagte ich.
»Liebling«, erwiderte Pat,»hör lieber zu.«
Kaskade, dachte ich und überschlug mein Geld, verfluchte Neppbude! – Ich ging in einer finsteren Neugier mit. Dieser Breuer hatte mir zu Frau Zalewskis Unkenrufen noch gefehlt. Er wartete schon auf uns am Eingang.
Ich rief ein Taxi an.»Lassen Sie doch«, sagte Breuer,»mein Wagen hat Platz genug.«
»Gut«, sagte ich. Es wäre lächerlich gewesen, etwas anderes zu machen. Aber es ärgerte mich trotzdem.
Pat kannte Breuers Wagen. Es war ein großer Packard. Er stand schräg gegenüber auf dem Parkplatz. Sie ging geradewegs darauf zu.
»Er ist ja anders lackiert«, sagte sie und blieb vor ihm stehen.
»Ja, grau«, erwiderte Breuer.»Gefällt er dir so besser?«
»Viel besser.«
Breuer wandte sich an mich.»Und Ihnen? Mögen Sie die Farbe?«
»Ich weiß ja nicht, wie er früher war«, sagte ich.
»Schwarz.«
»Schwarz sieht sehr gut aus.«
»Gewiß. Aber Abwechslung muß auch mal sein! Na, zum Herbst gibt's einen neuen.«
Wir fuhren zur Kaskade. Das war ein sehr elegantes Tanzlokal mit einer ausgezeichneten Kapelle.»Scheint ganz besetzt zu sein«, sagte ich erfreut, als wir am Eingang standen.
»Schade«, sagte Pat.
»Ach, das machen wir schon«, erklärte Breuer und verhandelte mit dem Geschäftsführer. Er schien hier gut bekannt zu sein, denn tatsächlich bekamen wir einen Tisch herangebracht, ein paar Stühle dazu, und ein paar Minuten später saßen wir an der besten Stelle des ganzen Raumes, von der man die Tanzfläche voll übersehen konnte. Die Kapelle spielte einen Tango. Pat lehnte sich über die Brüstung.
»Ach, ich habe schon lange nicht getanzt.«
Breuer stand auf.»Wollen wir?«
Sie sah mich strahlend an.»Ich werde inzwischen was bestellen«, sagte ich.
»Gut.«
Der Tango dauerte lange. Pat sah beim Tanzen ab und zu herüber und lächelte mir zu. Ich nickte zurück, fühlte mich aber nicht besonders. Sie sah wunderbar aus und tanzte großartig. Leider tanzte Breuer ebenfalls gut, und beide sahen ausgezeichnet zusammen aus. Sie tanzten, als ob sie schon oft miteinander getanzt hätten. Ich bestellte mir einen großen Rum. Die beiden kamen zurück. Breuer begrüßte ein paar Leute, und ich war einen Augenblick mit Pat allein.
»Wie lange kennst du den Knaben schon?«fragte ich.
»Schon lange. Warum?«
»Ach, nur so. Warst du oft mit ihm hier?«
Sie sah mich an.»Ich weiß es nicht mehr, Robby.«
»Das weiß man doch«, sagte ich hartnäckig, obschon ich wußte, was sie damit meinte.
Sie schüttelte den Kopf und lächelte. Ich liebte sie sehr in diesem Augenblick. Sie wollte mir zeigen, daß alles vergessen sei, was gewesen war. Aber in mir bohrte etwas, das ich selbst lächerlich fand und das ich trotzdem nicht los wurde. Ich stellte mein Glas auf den Tisch.
»Kannst es ruhig sagen. Ist ja nichts dabei.«
Sie sah mich wieder an.»Glaubst du, daß wir sonst hier wären?«fragte sie.
»Nein«, sagte ich beschämt.
Die Kapelle begann wieder zu spielen. Breuer kam heran.
»Ein Blues«, sagte er zu mir.»Wunderbar. Wollen Sie ihn nicht tanzen?«
»Nein!«erwiderte ich. -»Schade.«
»Du solltest es einmal versuchen, Robby«, sagte Pat.
»Lieber nicht.«
»Aber warum denn nicht?«fragte Breuer.
»Ich mache mir nichts draus«, erwiderte ich unfreundlich.»Habe es auch nie gelernt. Keine Zeit dafür gehabt. Aber tanzen Sie doch ruhig, ich unterhalte mich hier schon.«
Pat zögerte.»Aber Pat -«, sagte ich,»es macht dir doch so viel Spaß.«
»Das schon – aber unterhältst du dich auch wirklich?«
»Und wie!«Ich zeigte auf mein Glas.»Das ist auch eine Art von Tanzen.«
Sie gingen. Ich winkte dem Kellner und trank mein Glas aus. Dann saß ich am Tisch herum und zählte die Salzmandeln. Neben mir saß der Schatten Frau Zalewskis.
Breuer brachte ein paar Leute mit an den Tisch. Zwei hübsche Frauen und einen jüngeren Mann, der einen ganz kahlen, kleinen Kopf hatte. Nachher kam noch ein vierter dazu. Alle leicht wie Kork, geschmeidig und sicher. Pat kannte sie alle vier.
Ich fühlte mich schwer wie ein Klotz. Bisher war ich mit Pat immer allein gewesen. Zum erstenmal sah ich jetzt Leute, die sie von früher her kannte. Ich konnte nichts mit ihnen anfangen. Sie bewegten sich leicht und ungezwungen, sie kamen aus einem Leben, in dem alles glattging, in dem man nichts sah, was man nicht sehen wollte, sie kamen aus einer anderen Welt. Wäre ich allein dagewesen, oder mit Lenz oder Köster, ich hätte mich gar nicht darum gekümmert und es wäre mir egal gewesen. Aber Pat war dabei, Pat kannte sie, und dadurch wurde alles schief, es legte mich lahm und zwang mich zu vergleichen.
Breuer schlug vor, in ein anderes Lokal zu gehen.»Robby«, sagte Pat im Hinausgehen,»wollen wir nicht lieber nach Hause gehen?«
»Nein«, sagte ich,»wozu?«
»Es ist doch langweilig für dich.«
»Nicht die Spur. Warum sollte es langweilig sein? Im Gegenteil! Und dir macht es doch Spaß.«
Sie sah mich an, sagte aber nichts.
Ich fing an zu trinken. Nicht, wie vorher, sondern richtig. Der Mann mit dem kahlen Kopf wurde aufmerksam. Er fragte, was ich denn tränke.»Rum«, sagte ich.»Grog?«fragte er.»Nein, Rum«, sagte ich. Er probierte es auch und verschluckte sich.»Donnerwetter«, sagte er anerkennend,»das muß man gewohnt sein.«Auch die beiden Frauen wurden jetzt aufmerksam. Pat und Breuer tanzten. Pat sah oft herüber. Ich sah nicht mehr hin. Ich wußte, daß es unrecht war, aber es war plötzlich über mich gekommen. Es ärgerte mich auch, daß die andern auf mein Trinken aufmerksam wurden. Ich hatte keine Lust, ihnen damit zu imponieren wie ein Gymnasiast. Ich stand auf und ging an die Bar. Pat erschien mir ganz fremd. Sollte sie zum Teufel gehen mit ihren Leuten! Sie gehörte dazu. Nein, sie gehörte nicht dazu. Doch!
Der Kahlkopf kam mir nach. Wir tranken mit dem Mixer einen Wodka. Mixer sind immer ein Trost. Man versteht sich in der ganzen Welt mit ihnen, ohne reden zu müssen. Auch dieser war gut. Nur der Kahlkopf war schwach. Er wollte sich aussprechen. Eine gewisse Fifi lag ihm auf der Seele. Aber das gab sich bald. Er erzählte mir, Breuer sei in Pat seit Jahren verliebt.»So?«sagte ich. Er kicherte. Ich brachte ihn mit einer Prärie Oyster zum Schweigen. Aber mir blieb im Schädel, was er gesagt hatte. Ich ärgerte mich, daß es mir etwas machte. Und ich ärgerte mich, daß ich nicht mit der Faust auf den Tisch schlug. Aber irgendwo spürte ich eine kalte Lust zum Zerstören in mir, die sich nicht gegen andere wendete. Nur gegen mich.
Der Kahlkopf lallte bald und verschwand. Ich blieb sitzen. Plötzlich spürte ich eine harte, feste Brust an meinem Arm. Es war eine der Frauen, die Breuer herangebracht hatte. Sie setzte sich dicht neben mich. Ihre schrägen, graugrünen Augen streiften mich langsam. Es war ein Blick, nach dem eigentlich nichts mehr zu sagen war – nur etwas zu tun.»Wunderbar, so trinken zu können«, sagte sie nach einer Weile. Ich schwieg. Sie streckte eine Hand nach meinem Glase aus. Die Hand war wie eine Eidechse, glitzernd von Schmuck, trocken und sehnig. Sie bewegte sich sehr langsam, als kröche sie. Ich wußte, was los war. Mit dir werde ich rasch fertig, dachte ich. Du unterschätzt mich, weil du siehst, daß ich ärgerlich bin. Aber du irrst dich. Mit Frauen werde ich schon fertig – es ist die Liebe, mit der ich nicht fertig werde. Es ist das Unerfüllbare, das mich traurig macht.
Die Frau begann zu sprechen. Sie hatte eine brüchige, etwas gläserne Stimme. Ich merkte, wie Pat herübersah. Ich kümmerte mich nicht darum. Aber ich kümmerte mich auch nicht um die Frau neben mir. Ich hatte das Gefühl, durch einen glatten, bodenlosen Schacht zu gleiten. Es hatte nichts mit Breuer und den Leuten zu tun. Es hatte nicht einmal etwas mit Pat zu tun. Es war das finstere Geheimnis, daß die Wirklichkeit die Wünsche weckt, aber sie nie befriedigen kann; daß die Liebe in einem Menschen beginnt, aber nie in ihm endet; und daß alles dasein kann: ein Mensch, die Liebe, das Glück, das Leben – und daß es auf eine furchtbare Weise immer zuwenig ist und immer weniger wird, je mehr es scheint. Ich blickte verstohlen zu Pat hinüber. Da ging sie in ihrem silbernen Kleid, jung und schön, eine helle Flamme Leben, ich liebte sie, und wenn ich zu ihr sagte: Komm, so kam sie, nichts stand zwischen uns, wir konnten uns so nahe sein, wie es Menschen nur können – aber dennoch war alles manchmal auf eine rätselhafte Weise verschattet und qualvoll, ich konnte sie nicht lösen aus dem Ring der Dinge, nicht herausreißen aus dem Kreise des Daseins, der über uns und in uns war und uns seine Gesetze aufzwang, den Atem und das Vergehen, den fragwürdigen Glanz der immerfort ins Nichts abstürzenden Gegenwart, die schimmernde Illusion des Gefühls, das im Besitzen schon wieder Verlieren war. Nie war es aufzuhalten, nie! Nie war sie zu lösen, die klirrende Kette der Zeit, nie wurde aus Rastlosigkeit Rast, aus Suchen Stille, aus Fallen Halt. Nicht einmal vom Zufall konnte ich sie lösen, von dem, was vorher war, ehe ich sie kannte, von tausend Gedanken, Erinnerungen, von dem, was sie geformt hatte, bevor ich da war, nicht einmal von diesen Leuten hier konnte ich sie lösen – Neben mir sprach die Frau mit ihrer brüchigen Stimme. Sie suchte einen Gefährten für eine Nacht, ein Stück fremdes Leben, um sich aufzupeitschen, um zu vergessen, sich und die allzu schmerzhafte Klarheit, daß nie etwas bleibt, kein Ich und kein Du und am wenigsten ein Wir. Suchte sie im Grunde nicht dasselbe wie ich? Einen Gefährten, um die Einsamkeit des Lebens zu vergessen, einen Kameraden, um die Sinnlosigkeit des Daseins zu bestechen?
»Kommen Sie«, sagte ich,»wir wollen zurückgehen. Es ist hoffnungslos – das was Sie wollen – und auch das, was ich will.«
Sie sah mich einen Augenblick an. Dann warf sie den Kopf in den Nacken und lachte.
Wir gingen noch in ein paar andere Lokale. Breuer war erhitzt, redselig und hoffnungsvoll. Pat war stiller geworden. Sie fragte mich nicht, sie machte mir keine Vorwürfe, sie versuchte nichts aufzuklären, sie war einfach da, manchmal tanzte sie, dann schien es, als glitte sie durch einen Schwarm von Marionetten und Karikaturen wie ein stilles, schönes, schmales Schiff, und manchmal lächelte sie mir zu.
Die Dösigkeit der Nachtlokale wischte mit graugelben Händen über die Wände und die Gesichter. Die Musik schien unter einem gläsernen Katafalk zu spielen. Der Kahlkopf trank Kaffee. Die Frau mit den Eidechsenhänden sah starr vor sich hin. Breuer kaufte von einem übermüdeten Blumenmädchen Rosen und verteilte sie an Pat und die beiden Frauen. Auf den halboffenen Knospen standen kleine, klare Wasserperlen.»Wir wollen einmal miteinander tanzen«, sagte Pat zu mir.
»Nein«, sagte ich und dachte an die Hände, die sie heute schon berührt hatten,»nein«, und fühlte mich ziemlich lächerlich und elend.
»Doch«, sagte sie, und ihre Augen wurden dunkel.
»Nein«, erwiderte ich,»nein, Pat.«
Dann gingen wir endlich.»Ich fahre Sie nach Hause«, sagte Breuer zu mir.
»Gut.«
Er hatte eine Decke im Wagen, die er Pat über die Knie legte. Sie sah auf einmal sehr blaß und müde aus. Die Frau von der Bar schob mir beim Abschied einen Zettel in die Hand. Ich tat, als sei nichts gewesen, und stieg ein. Unterwegs sah ich aus dem Fenster. Pat saß in der Ecke und regte sich nicht. Ich hörte sie nicht einmal atmen. Breuer fuhr zuerst zu ihr. Er wußte ihre Wohnung, ohne zu fragen. Sie stieg aus. Breuer küßte ihr die Hand.»Gute Nacht«, sagte ich und sah sie nicht an.
»Wo kann ich Sie absetzen?«fragte Breuer mich.
»An der nächsten Ecke«, sagte ich.
»Ich fahre Sie gern nach Hause«, erwiderte er etwas zu rasch und zu höflich.
Er wollte verhindern, daß ich zurückging. Ich überlegte, ob ich ihm eine herunterhauen sollte. Aber er war mir zu gleichgültig.»Schön, dann fahren Sie mich zur Bar Freddy«, sagte ich.
»Kommen Sie da denn um die Zeit noch 'rein?«fragte er.
»Nett, daß Sie so besorgt sind«, sagte ich,»aber seien Sie versichert, ich komme überall noch 'rein.«
Als ich es gesagt hatte, tat er mir leid. Er war sich sicher sehr großartig und gerissen vorgekommen den ganzen Abend. Man sollte so was nicht zerstören.
Ich verabschiedete mich freundlicher von ihm als von Pat.
In der Bar war es noch ziemlich voll. Lenz und Ferdinand Grau pokerten mit dem Konfektionär Bollwies und ein paar anderen.»Setz dich 'ran«, sagte Gottfried,»heute ist Pokerwetter.«
»Nein«, erwiderte ich.
»Sieh dir das an«, sagte er und zeigte auf einen Packen Geld.»Ohne Bluff. Die flushs liegen in der Luft.«
»Schön«, sagte ich,»gib her.«
Ich bluffte mit zwei Königen vier Mann zum Fenster 'raus.
»So was!«sagte ich.»Scheint auch Bluffwetter zu sein.«
»Das immer«, erwiderte Ferdinand und schob mir eine Zigarette 'rüber.
Ich hatte nicht lange bleiben wollen. Doch jetzt spürte ich etwas Boden unter den Füßen. Es ging mir nicht besonders; aber hier war die alte, ehrliche Heimat.»Stell mir eine halbe Flasche Rum her«, rief ich Fred zu.
»Tu mal Portwein 'rein«, sagte Lenz.
»Nein«, erwiderte ich.»Hab' keine Zeit für Experimente.
Will mich besaufen.«
»Dann nimm süße Liköre. Krach gehabt?«
»Unsinn.«
»Red nicht, Baby. Quatsch deinem alten Vater Lenz nichts vor, der in den Schluchten des Herzens zu Hause ist. Sag ja und sauf.«
»Mit einer Frau kann man keinen Krach haben. Man kann sich höchstens über sie ärgern.«
»Das sind zu feine Unterschiede für drei Uhr nachts. Ich habe übrigens mit jeder Krach gehabt. Wenn man keinen Krach mehr hat, ist's bald aus.«
»Schön«, sagte ich,»wer gibt?«
»Du«, sagte Ferdinand Grau.»Schätze, du hast Weltschmerz, Robby. Laß dich's nicht anfechten. Das Leben ist bunt, aber unvollkommen. Übrigens, für Weltschmerz bluffst du fabelhaft. Zwei Könige sind schon 'ne Frechheit.«
»Ich hab' mal 'ne Partie gesehen, da standen siebentausend Francs gegen zwei Könige«, sagte Fred vom Bartisch her.
»Schweizer oder französische?«fragte Lenz.
»Schweizer.«
»Dein Glück«, erwiderte Gottfried.»Mit französischen hättest du das Spiel nicht unterbrechen dürfen.«
Wir spielten eine Stunde weiter. Ich gewann ziemlich viel. Bollwies verlor dauernd. Ich trank, aber ich kriegte nur Kopfschmerzen. Die braunen, wehenden Tücher blieben aus. Es wurde alles nur schärfer. Mein Magen brannte.
»So, jetzt hör auf und iß was«, sagte Lenz.»Fred, gib ihm ein Sandwich und ein paar Sardinen. Steck das Geld ein, Robby.«
»Eine Runde noch.«
»Gut. Letzte Runde. Doppelt?«
»Doppelt«, sagten die andern.
Ich kaufte ziemlich sinnlos auf Kreuz zehn und König drei Karten. Es waren Bube, Dame und As. Ich gewann damit gegen Bollwies, der einen Achter-Vierling in der Hand hatte und bis zum Mond hoch reizte. Fluchend zahlte er mir einen Haufen Geld aus.»Siehst du«, sagte Lenz,»Flushwetter.«
Wir setzten uns an die Bar. Bollwies fragte nach Karl. Er konnte nicht vergessen, daß Köster seinen Sportwagen geschlagen hatte. Er wollte Karl immer noch kaufen.»Frag Otto«, sagte Lenz.»Aber ich glaube, er verkauft dir lieber eine Hand.«
»Na, na«, sagte Bollwies.
»Das verstehst du nicht«, erwiderte Lenz,»du kommerzieller Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts.«Ferdinand Grau lachte.
Fred auch. Schließlich lachten wir alle. Wenn man über das zwanzigste Jahrhundert nicht lachte, mußte man sich erschießen. Aber man konnte nicht lange darüber lachen. Es war ja eigentlich zum Heulen.
»Kannst du tanzen, Gottfried?«fragte ich.
»Natürlich. Ich war doch mal Tanzlehrer. Hast du das schon vergessen?«
»Vergessen – laß ihn doch vergessen«, sagte Ferdinand Grau.»Vergessen ist das Geheimnis ewiger Jugend. Man altert nur durch das Gedächtnis. Es wird viel zuwenig vergessen.«
»Nein«, sagte Lenz.»Es wird nur immer das Falsche vergessen.«
»Kannst du mir's beibringen?«fragte ich.
»Tanzen? An einem Abend, Baby. Ist das dein ganzer Kummer?«
»Hab' keinen Kummer«, sagte ich.»Kopfschmerzen.«
»Die Krankheit unserer Zeit, Robby«, sagte Ferdinand.
»Am besten wäre es, ohne Kopf geboren zu werden.«
Ich ging noch ins Café International. Alois wollte gerade die Läden 'runtermachen.»Noch wer da?«fragte ich.
»Rosa.«
»Komm, wir nehmen alle drei noch einen.«
»Gemacht.«
Rosa saß neben der Theke und strickte kleine Wollstrümpfe für ihre Tochter. Sie zeigte mir die Muster. Sie hatte auch schon ein Jäckchen fertig.»Wie war's Geschäft?«fragte ich.
»Schlecht. Kein Mensch hat mehr Geld.«
»Soll ich dir was leihen? Hier – hab' beim Pokern gewonnen.«
»Spielgeld bringt Handgeld«, sagte Rosa, spuckte darauf und steckte es ein.
Alois brachte drei Gläser. Nachher, als Fritzi kam, noch eins.
»Feierabend«, sagte er dann.»Bin todmüde.«
Er drehte das Licht aus. Wir gingen. Rosa verabschiedete sich an der Tür. Fritzi hängte sich bei Alois ein. Sie ging frisch und leicht neben ihm her. Er schlurfte mit seinen Plattfüßen über das Pflaster. Ich blieb stehen und sah ihnen nach. Ich sah, wie Fritzi sich zu dem schmutzigen, krummen Kellner niederbeugte und ihn küßte. Er wehrte sie gleichgültig ab. Und plötzlich, ich wußte nicht, wie es kam, während ich mich umdrehte und über die leere Straße und die Häuser mit den dunklen Fenstern und den kalten Nachthimmel hinwegblickte, schlug wie mit Fäusten eine so irrsinnige Sehnsucht nach Pat auf mich ein, daß ich glaubte zu taumeln. Ich verstand nichts mehr – mich nicht und mein Verhalten nicht und den ganzen Abend nicht, nichts mehr.
Ich lehnte mich an eine Hauswand und starrte vor mich hin. Ich begriff nicht, weshalb ich das alles getan hatte. Ich war da in etwas hineingeraten, das mich durcheinanderriß, das mich unvernünftig und ungerecht machte, das mich hin und her warf und mir zerschlug, was ich mühsam geordnet hatte. Ziemlich hilflos stand ich da und wußte nicht, was ich tun sollte. Nach Hause wollte ich nicht – dann wurde es ganz schlimm. Schließlich erinnerte ich mich, daß Alfons noch offen haben mußte. Ich ging hin. Ich wollte da bleiben bis zum Morgen.
Alfons sagte nicht viel, als ich kam. Er sah mich kurz an und las seine Zeitung weiter. Ich setzte mich an einen Tisch und döste. Es war niemand sonst da. Ich dachte an Pat. Immer wieder an Pat. Ich dachte daran, wie ich mich benommen hatte. Jede Einzelheit fiel mir auf einmal ein. Alles drehte sich gegen mich. Ich allein war schuld. Ich war verrückt gewesen. Ich starrte auf den Tisch. Das Blut toste in meinem Schädel. Ich war erbittert und wütend auf mich und ganz ratlos. Ich war es, ich allein, der alles kaputtmachte.
Es klirrte und knackte plötzlich. Ich hatte mit aller Kraft mein Glas zerschlagen.»Auch 'ne Unterhaltung«, sagte Alfons und stand auf.
Er zog mir die Splitter aus der Hand.»Tut mir leid«, sagte ich.»Habe es im Moment nicht überlegt.«
Er holte Watte und Heftpflaster.»Geh ins Puff«, sagte er,»das ist besser.«
»Schön«, erwiderte ich.»Ist schon vorbei. War nur so ein Wutanfall.«
»Wut muß man wegamüsieren, nicht wegärgern«, erklärte Alfons.
»Stimmt«, sagte ich,»aber können muß man's, auch.«
»Alles Training. Ihr wollt bloß alle mit dem Kopp durch die Wand. Gibt sich aber mit den Jahren.«
Er legte das»Miserere«aus dem»Troubadour«auf das Grammophon. Es wurde schnell hell.
Ich ging nach Hause. Alfons hatte mir noch ein großes Glas Fernet-Branca zu trinken gegeben. Ich merkte, daß jetzt weiche Beile hinter meiner Stirn klopften. Die Straße war nicht mehr glatt. In meinen Schultern saß Blei. Ich hatte genug.
Langsam ging ich die Treppe hinauf und suchte in der Tasche nach meinem Schlüssel. Da hörte ich im Halbdunkel jemand atmen. Etwas Bleiches, Undeutliches hockte auf der oberen Treppenstufe. Ich machte zwei Schritte.»Pat -«, sagte ich verständnislos -»Pat – was machst du denn hier?«
Sie bewegte sich.»Ich glaube, ich habe etwas geschlafen…«
»Ja aber, wie kommst du denn hierher?«
»Ich habe doch deinen Hausschlüssel…«
»Das meine ich nicht. Ich meine…«Die Trunkenheit wich, ich sah die abgetretenen Stufen der Treppe, die abgeblätterte Wand und das silberne Kleid, die schmalen, leuchtenden Schuhe -»ich meine, daß du überhaupt hier bist…«
»Das frage ich mich auch schon die ganze Zeit…«
Sie stand auf und dehnte sich, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, daß sie in der späten Nacht hier auf der Treppe gesessen hatte. Dann schnupperte sie.»Lenz würde jetzt sagen – Kognak, Rum, Kirsch, Absinth…«
»Sogar Fernet-Branca«, bekannte ich und faßte erst jetzt alles richtig.
»Gottverdammt, du bist ein großartiges Mädchen, Pat, und ich bin ein scheußlicher Idiot!«
Ich nahm sie mit einem Ruck hoch, schloß die Tür auf und trug sie durch den Korridor. Sie lag an meiner Brust, ein silberner Reiher, ein müder Vogel, ich wandte den Kopf zur Seite, damit sie meinen Schnapsatem nicht spürte, und ich fühlte, daß sie zitterte, obwohl sie lächelte.
Ich setzte sie in einen Sessel, machte Licht und holte eine Decke.
»Hätte ich doch nur eine Ahnung gehabt, Pat – statt herumzulungern und herumzusitzen, hätte ich – ach, ich elender Schafskopf – angerufen habe ich von Alfons aus bei dir, und gepfiffen vor deinem Hause – und ich dachte, du wolltest nicht, weil du dich nicht meldetest…«
»Weshalb bist du denn nicht zurückgekommen, als du mich nach Hause gebracht hast?«
»Ja, das möchte ich auch wissen…«
»Es ist besser, wenn du mir nächstens den Wohnungsschlüssel auch noch gibst«, sagte sie,»dann brauche ich nicht draußen zu warten.«
Sie lächelte, aber ihre Lippen zitterten, und ich wußte plötzlich, was das für sie war – dies Zurückkommen, dies Warten und dieser tapfere, burschikose Ton jetzt…
»Pat«, sagte ich rasch, völlig verwirrt,»Pat, du frierst sicher, du mußt was trinken, ich habe bei dem Orlow draußen Licht gesehen, ich gehe rasch mal hin, diese Russen haben immer Tee, ich bin sofort zurück -«, ich spürte, wie es heiß in mir hochstieg -»ich vergesse dir das im Leben nicht«, sagte ich von der Tür her und ging rasch den Korridor hinunter.
Orlow war noch auf. Er saß vor seinem Muttergottesbild in der Ecke des Zimmers, vor dem ein Lämpchen brannte, seine Augen waren rot, und auf dem Tisch dampfte ein kleiner Samowar.
»Bitte, entschuldigen Sie«, sagte ich,»ein unvorhergesehener Zufall – können Sie mir etwas heißen Tee geben?«
Russen sind an Zufälle gewöhnt. Er gab mir zwei Gläser, Zucker und füllte einen Teller mit kleinen Kuchen.»Ich bin Ihnen sehr gern behilflich«, sagte er,»darf ich Ihnen auch – ich war oft in ähnlicher – ein paar Kaffeebohnen – zum Kauen…«
»Danke«, sagte ich,»wirklich, ich danke Ihnen. Ich nehme sie gern…«
»Wenn Sie noch etwas brauchen«, sagte er und war in diesem Augenblick von einer wunderschönen Haltung,»ich bleibe noch eine Zeitlang auf; es wird mir eine Freude sein…«
Ich zermalmte die Kaffeebohnen auf dem Korridor im Munde. Sie nahmen den Schnapsgeruch weg. Pat saß neben der Lampe und puderte sich. Ich blieb einen Augenblick an der Tür stehen. Es rührte mich sehr, daß sie so dasaß und aufmerksam in ihren kleinen Spiegel sah und mit der Puderquaste über die Schläfen wischte.
»Trink ein bißchen Tee«, sagte ich,»er ist ganz heiß.«
Sie nahm die Tasse. Ich sah zu, wie sie trank.»Weiß der Teufel, was heute abend los war, Pat.«
»Ich weiß es schon«, erwiderte sie.
»So? Ich nicht.«
»Ist auch nicht nötig, Robby. Du weißt sowieso schon ein bißchen zuviel, um richtig glücklich zu sein.«
»Mag sein«, sagte ich.»Aber es geht doch nicht, daß ich immer kindischer werde, seit ich dich kenne.«
»Doch! Besser, als wenn du immer vernünftiger würdest.«
»Auch eine Begründung«, sagte ich.»Du hast eine gute Art, einem aus der Klemme zu helfen. Aber ich glaube, es kam da so allerhand zusammen.«
Sie stellte die Tasse auf den Tisch. Ich lehnte am Bett. Ich hatte ein Gefühl, als wenn ich von einer langen, schwierigen Reise nach Hause gekommen wäre.
Die Vögel begannen zu zwitschern. Draußen klappte eine Tür. Das war Frau Bender, die Säuglingsschwester. Ich sah auf die Uhr. In einer halben Stunde war Frida in der Küche, dann konnten wir nicht mehr ungesehen hinaus. Pat schlief noch. Sie atmete tief und regelmäßig. Es war eine Schande, sie zu wecken. Aber es mußte sein.»Pat…«
Sie murmelte etwas im Schlaf.»Pat -«, ich verfluchte alle möblierten Zimmer der Welt -»Pat, es wird Zeit. Wir müssen dich anziehen.«
Sie schlug die Augen auf und lächelte, noch ganz warm vom Schlaf, wie ein Kind. Ich war immer wieder überrascht über diese Heiterkeit beim Erwachen und liebte das sehr an ihr. Ich war nie heiter, wenn ich erwachte.»Pat – Frau Zalewski bürstet bereits ihr Gebiß.«
»Ich bleibe heute bei dir…«
»Hier?«
»Ja…«
Ich richtete mich auf.»Glänzende Idee – aber deine Sachen – das sind doch Schuhe und Kleider für abends…«»Dann bleibe ich eben bis abends…«»Und zu Hause?«»Da telefonieren wir, daß ich irgendwo über Nacht geblieben bin.«»Das werden wir schon machen. Hast du Hunger?«»Noch nicht.«»Auf alle Fälle werde ich mal rasch ein paar frische Brötchen klauen. Die hängen draußen an der Korridortür. Jetzt ist's grade noch Zeit dafür.«
Als ich zurückkam, stand Pat am Fenster. Sie trug nur ihre silbernen Schuhe. Das weiche Licht des frühen Tages fiel wie ein Schleier über ihre Schultern.»Das von gestern haben wir vergessen, was, Pat?«sagte ich.
Sie nickte, ohne sich umzudrehen.»Wir werden einfach nicht mehr mit anderen Leuten zusammen sein. Richtige Liebe verträgt keine Leute. Dann kriegen wir auch keinen Krach und keine Eifersuchtsanfälle. Dieser Breuer und die ganze andere Gesellschaft soll zum Teufel gehen, was?«»Ja«, sagte sie,»und die Markowitz auch.«»Markowitz? Wer ist denn das?«»Die, mit der du an der Bar gesessen hast in der Kaskade.«»Aha«, sagte ich, plötzlich ziemlich vergnügt,»aha, die.«Ich kramte meine Taschen aus.»Sieh dir das an. Etwas hat die Geschichte wenigstens genützt. Ich habe einen Haufen Geld im Poker gewonnen. Dafür gehen wir heute abend noch einmal aus, was? Aber richtig, ohne andere Leute. Die sind für uns vergessen, wie?«- Sie nickte.
Die Sonne ging hinter den Dächern des Gewerkschaftshauses auf. Die Fenster begannen zu blitzen. Pats Haar war voll Licht, und ihre Schultern waren golden.»Was sagtest du eigentlich, was macht dieser Breuer? Als Beruf, meine ich?«
»Architekt.«
»Architekt«, sagte ich etwas betroffen, denn ich hätte lieber gehört, er wäre gar nichts,»na, Architekt, was ist das schon, was, Pat?«
»Ja, Liebling.«
»Nichts Besonderes, wie?«
»Gar nichts«, sagte Pat überzeugt und drehte sich um und lachte,»gar nichts ist das, überhaupt nichts. Ein Dreck ist es!«
»Und diese Bude, die ist nicht zu jämmerlich, was, Pat? Andere Leute haben natürlich bess…«
»Sie ist wunderbar, diese Bude«, unterbrach mich Pat,»es ist eine ganz herrliche Bude, ich weiß wirklich keine schönere, Liebling!«
»Und ich, Pat, ich hab' ja meine Fehler und bin nur ein Taxifahrer, aber…«
»Du bist ein ganz Geliebter, ein Brötchenklauer und Rumsäufer, ein Liebling bist du!«
Mit einem Schwung warf sie sich mir an den Hals.»Ach, du Dummer, wie schön ist es zu leben!«
»Nur mit dir, Pat. Wahrhaftig!«
Der Morgen stieg wunderbar und strahlend herauf. Über den Grabsteinen unten lag ein feiner Nebel und zog hin und her. Die Wipfel der Bäume waren schon voll im Licht. Aus den Schornsteinen der Häuser stieg wirbelnd der Rauch. Die ersten Zeitungen wurden ausgerufen. Wir legten uns zu einem Morgenschlaf nieder, einem Schlafwachen, einem Schlafträumen an der Grenze, einer im Arm des andern, einem wunderlichen Verschweben, Atem in Atem. Dann, um neun Uhr, telefonierte ich zunächst als Geheimrat Burkhard mit Oberstleutnant Egbert von Hake persönlich und darauf an Lenz, damit er meine Morgenfuhre mit der Droschke übernahm.
Er unterbrach mich gleich.»Laß nur, Kindchen, dein Gottfried ist nicht umsonst ein Kenner der Variationen des menschlichen Herzens. Hab' schon damit gerechnet. Viel Spaß, Goldbaby.«
»Halt den Schnabel«, sagte ich glücklich und erklärte in der Küche, ich sei krank, ich würde bis Mittag zu Bett bleiben. Dreimal mußte ich noch den besorgten Angriff Frau Zalewskis abschlagen, die mir Kamillentee, Aspirin und Umschläge offerierte. Dann konnte ich Pat ins Badezimmer schmuggeln, und wir hatten Ruhe.