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Der Morgen stand hell und funkelnd über den Wiesen. Pat und ich saßen am Rande einer Waldlichtung und frühstückten. Ich hatte mir zwei Wochen Urlaub genommen und war mit Pat unterwegs. Wir wollten ans Meer.
Vor uns auf der Straße stand ein kleiner, alter Citroen. Wir hatten ihn in Zahlung genommen gegen den Ford des Bäckermeisters, und Köster hatte ihn mir mitgegeben für die Zeit des Urlaubs. Er sah aus wie ein geduldiger Packesel, so beladen war er mit Koffern.
»Hoffentlich bricht er unterwegs nicht zusammen«, sagte ich.
»Er bricht nicht zusammen«, erwiderte Pat.
»Woher weißt du das?«
»Das weiß man. Weil es unser Urlaub ist, Robby.«
»Mag sein«, sagte ich.»Aber ich kenne außerdem seine Hinterachse. Die sieht traurig aus. Besonders bei der Belastung.«
»Er ist ein Bruder von Karl. Er wird durchhalten.«
»Ein mächtig rachitischer Bruder.«
»Laß das Lästern, Robby. Er ist augenblicklich der schönste Wagen, den ich kenne.«
Wir lagen eine Zeitlang nebeneinander in der Wiese. Der Wind kam warm und weich vom Walde her. Es roch nach Harz und Kräutern.
»Sag mal, Robby«, fragte Pat nach einer Weile,»was sind das eigentlich für Blumen, drüben am Bach?«
»Anemonen«, erwiderte ich, ohne hinzusehen.
»Aber Liebling! Das sind keine Anemonen, Anemonen sind viel kleiner; außerdem blühen sie nur im Frühjahr.«
»Richtig«, sagte ich.»Es ist Wiesenschaumkraut.«
Sie schüttelte den Kopf.»Wiesenschaumkraut kenne ich.
Das sieht ganz anders aus.«-»Dann ist es Schierling.«
»Aber Robby! Schierling ist weiß, nicht rot.«
»Dann weiß ich es nicht. Bis jetzt bin ich mit diesen drei Blumennamen immer ausgekommen, wenn ich gefragt wurde. Einen hat man mir stets geglaubt.«
Sie lachte.»Schade. Hätte ich das geahnt, wäre ich schon mit den Anemonen zufrieden gewesen.«
»Schierling«, sagte ich,»mit Schierling hatte ich immer die meisten Erfolge.«
Sie richtete sich auf.»Das ist ja heiter! Bist du oft so gefragt worden?«
»Nicht zu oft. Und bei ganz anderen Gelegenheiten.«
Sie stützte die Hände auf den Boden.»Eigentlich ist es doch eine Schande, daß man auf der Erde herumläuft und fast gar nichts von ihr weiß. Nicht einmal ein paar Namen.«
»Gräm dich nicht«, sagte ich,»es ist eine viel größere Schande, daß man überhaupt nicht weiß, weshalb man auf der Erde herumläuft. Da machen ein paar Namen mehr oder weniger auch nichts aus.«
»Das sagst du! Aber ich glaube, du sagst es nur aus Faulheit.«
Ich drehte mich um.»Natürlich. Aber über die Faulheit ist noch lange nicht genug nachgedacht worden. Sie ist der Ursprung allen Glückes und das Ende aller Philosophie. Komm, leg dich wieder hierher. Der Mensch liegt viel zuwenig. Er steht und sitzt dauernd herum. Das ist ungesund für das animalische Wohlbehagen. Nur wenn man liegt, ist man völlig mit sich ausgesöhnt.«
Ein Auto summte heran und fuhr vorüber.»Kleiner Mercedes«, sagte ich, ohne mich aufzurichten.»Der Vierzylinder.«
»Da kommt noch einer«, erwiderte Pat.
»Ja, ich höre es schon. Ein Renault. Hat er einen Kühler wie eine Schweineschnauze?«
»Ja.«
»Dann ist es ein Renault. Aber hör mal, jetzt kommt was Richtiges! Ein Lancia! Der jagt bestimmt die andern beiden wie ein Wolf zwei Schaflämmer! Hör nur den Motor! Wie eine Orgel!«
Der Wagen fegte vorüber.»Davon weißt du wohl mehr als drei Namen, was?«fragte Pat.
»Natürlich. Sie stimmen sogar.«
Sie lachte.»Ist das nun eigentlich traurig oder nicht?«
»Gar nicht traurig. Nur natürlich. Ein gutes Auto ist mir manchmal lieber als zwanzig Wiesen mit Blumen.«
»Verstockter Sohn des zwanzigsten Jahrhunderts! Sentimental bist du wohl gar nicht…«
»Doch, du hörst es ja, mit Autos.«
Sie sah mich an.»Ich auch«, sagte sie.
Aus den Tannen rief ein Kuckuck. Pat fing an, mitzuzählen.»Wozu machst du das?«fragte ich.
»Weißt du das nicht? Sooft er ruft, so viele Jahre lebt man noch.«
»Ach so, ja. Aber da gibt es noch etwas anderes. Wenn ein Kuckuck ruft, muß man sein Geld schütteln. Dann vermehrt es sich.«
Ich holte mein Kleingeld aus der Tasche und schüttelte es kräftig zwischen den hohlen Händen.
»Das bist du«, sagte Pat und lachte.»Ich will Leben und du willst Geld.«
»Um zu leben«, erwiderte ich.»Ein echter Idealist strebt nach Geld. Geld ist gemünzte Freiheit. Und Freiheit ist Leben.«
»Vierzehn«, zählte Pat.»Du hast schon mal anders darüber gesprochen.«
»Das war in meiner dunklen Zeit. Man sollte über Geld nicht verächtlich reden. Geld macht viele Frauen sogar verliebt. Die Liebe dagegen macht viele Männer geldgierig. Geld fördert also die Ideale – Liebe dagegen den Materialismus.«
»Du hast heute einen guten Tag«, erwiderte Pat.»Fünfunddreißig.«
»Der Mann«, erklärte ich weiter,»wird nur geldgierig durch die Wünsche der Frauen. Wenn es keine Frauen gäbe, würde es auch kein Geld geben, und die Männer wären ein heroisches Geschlecht. Im Schützengraben gab es keine Frauen – da spielte es auch keine große Rolle, was jemand irgendwo an Besitz hatte -, es kam nur darauf an, was er als Mann war. Das soll nicht für den Schützengraben sprechen – es soll nur die Liebe richtig beleuchten. Sie weckt die schlechten Instinkte des Mannes – den Drang nach Besitz, nach Geltung, nach Verdienen, nach Ruhe. Nicht umsonst sehen Diktatoren es gern, wenn ihre Mitarbeiter verheiratet sind – sie sind so weniger gefährlich. Und nicht umsonst haben die katholischen Priester keine Frauen – sie wären sonst nie so kühne Missionare geworden.«
»Du hast heute sogar einen fabelhaften Tag«, sagte Pat anerkennend.»Zweiundfünfzig.«
Ich steckte mein Geld wieder in die Tasche und zündete mir eine Zigarette an.»Willst du noch nicht bald mit dem Zählen aufhören?«fragte ich.»Du kommst schon weit über siebzig Jahre.«
»Hundert, Robby! Hundert ist eine gute Zahl. So weit möchte ich kommen.«
»Alle Achtung, das ist Mut! Aber was willst du nur damit anfangen?«
Sie streifte mich mit einem raschen Blick.»Das werde ich schon sehen. Ich habe ja andere Ansichten darüber als du.«
»Das sicher. Übrigens sollen nur die ersten siebzig die schwierigsten sein. Nachher soll's einfacher werden.«
»Hundert!«verkündete Pat, und wir brachen auf.
Das Meer kam uns entgegen wie ein ungeheures silbernes Segel. Schon lange vorher spürten wir seinen salzigen Hauch – der Horizont wurde immer weiter und heller, und plötzlich lag es vor uns, unruhig, mächtig und ohne Ende.
Die Straße führte in einem Bogen bis dicht heran. Dann kam ein Wald und hinter ihm ein Dorf. Wir erkundigten uns nach dem Hause, wo wir wohnen sollten. Es lag ein Stück außerhalb des Dorfes. Köster hatte uns die Adresse gegeben. Er war nach dem Kriege ein Jahr lang dort gewesen.
Es war eine kleine, alleinstehende Villa. Ich fuhr den Citroen in elegantem Bogen vor und gab Signal. Ein breites Gesicht erschien hinter einem der Fenster, glotzte bleich einen Augenblick und verschwand.»Hoffentlich ist das nicht Fräulein Müller«, sagte ich.
»Ganz egal, wie sie aussieht«, erwiderte Pat.
Die Tür öffnete sich. Gottlob, es war nicht Fräulein Müller. Es war das Dienstmädchen. Fräulein Müller, die Besitzerin des Hauses, erschien eine Minute später. Eine altjüngferliche, zierliche Dame mit grauen Haaren. Sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid und ein goldenes Kreuz als Brosche.
»Zieh zur Vorsicht die Strümpfe wieder 'rauf, Pat«, flüsterte ich nach einem Blick auf die Brosche und stieg aus.
»Ich glaube, Herr Köster hat uns schon angemeldet«, sagte ich.
»Ja, er hat mir telegrafiert, daß Sie kommen.«Sie musterte mich eingehend.»Wie geht es Herrn Köster denn?«
»Ach, ganz gut – soweit man das heute sagen kann.«
Sie nickte und musterte mich weiter.»Kennen Sie ihn schon lange?«Das wird ja ein Examen, dachte ich und gab Auskunft, wie lange ich Otto schon kannte. Sie schien zufrieden zu sein. Pat kam heran. Sie hatte die Strümpfe heraufgezogen. Fräulein Müllers Blick wurde milder. Pat schien mehr Gnade vor ihr zu finden als ich.»Haben Sie noch Zimmer für uns?«fragte ich.
»Wenn Herr Köster telegrafiert, bekommen Sie immer ein Zimmer«, erklärte Fräulein Müller und sah mich etwas abfällig an.»Sie bekommen sogar mein schönstes«, sagte sie zu Pat.
Pat lächelte. Fräulein Müller lächelte auch.»Ich werde es Ihnen zeigen«, sagte sie.
Beide gingen nebeneinander einen schmalen Weg entlang, der durch einen kleinen Garten führte. Ich trottete hinterher und schien ziemlich überflüssig zu sein, denn Fräulein Müller wandte sich nur an Pat.
Das Zimmer, das sie uns zeigte, lag im unteren Stock. Es hatte einen eigenen Eingang vom Garten her. Das gefiel mir sehr. Es war ziemlich groß, hell und freundlich. An einer Seite, in einer Art von Nische, standen zwei Betten.
»Nun?«fragte Fräulein Müller.
»Sehr schön«, sagte Pat.»Prachtvoll sogar«, fügte ich hinzu, um mich einzuschmeicheln.»Und wo ist das andere?«
Fräulein Müller drehte sich langsam zu mir herum.»Das andere? Was für ein anderes? Wollen Sie denn ein anderes? Gefällt Ihnen dieses nicht?«
»Es ist einfach herrlich«, erwiderte ich,»aber…«
»Aber?«sagte Fräulein Müller etwas spitz -»leider habe ich kein besseres als dieses.«
Ich wollte ihr gerade erklären, daß wir zwei Einzelzimmer brauchten, da fügte sie schon hinzu:»Ihre Frau findet es doch sehr schön.«
Ihre Frau – ich hatte das Gefühl, als wäre ich einen Schritt zurückgetreten. Aber ich hatte mich nicht von der Stelle gerührt. Vorsichtig warf ich einen Blick auf Pat, die am Fenster lehnte und ein Lachen unterdrückte, als sie mich so dastehen sah.»Meine Frau, gewiß…«, sagte ich und starrte auf das goldene Kreuz an Fräulein Müllers Hals. Es war nichts zu machen, ich durfte sie nicht aufklären. Sie wäre mit einem Schrei in Ohnmacht gefallen.»Wir sind nur gewohnt, in zwei Zimmern zu schlafen«, sagte ich.»Jeder in einem, meine ich.«
Mißbilligend schüttelte Fräulein Müller den Kopf,»Zwei Schlafzimmer, wenn man verheiratet ist – das sind so neue Moden…«
»Gar nicht«, sagte ich, bevor sie mißtrauisch werden konnte.»Meine Frau hat nur einen sehr leisen Schlaf. Und ich schnarche leider ziemlich laut.«
»Ach so, Sie schnarchen!«erwiderte Fräulein Müller, als hätte sie sich das längst denken können.
Ich fürchtete, sie würde mir jetzt ein Zimmer oben im zweiten Stock geben wollen, aber die Ehe schien ihr heilig zu sein. Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer nebenan, in dem nicht viel mehr als ein Bett stand.
»Großartig«, sagte ich,»das genügt vollkommen. Aber störe ich auch niemanden sonst?«Ich wollte wissen, ob wir hier unten für uns allein waren.
»Sie stören niemand«, erklärte Fräulein Müller, und die Würde fiel plötzlich von ihr ab.»Außer Ihnen wohnt niemand hier. Die anderen Zimmer sind alle leer.«Sie stand einen Augenblick, dann raffte sie sich zusammen.»Wollen Sie hier im Zimmer essen oder im Speisezimmer?«
»Hier«, sagte ich.
Sie nickte und ging.
»Na, Frau Lohkamp«, sagte ich zu Pat.»Da sitzen wir drin. Aber ich habe mich nicht getraut, der alte Teufel hatte so was Kirchliches an sich. Ich schien ihm auch nicht zu gefallen. Komisch, dabei habe ich sonst bei alten Damen immer Glück.«
»Das war keine alte Dame, Robby. Das war ein sehr nettes, altes Fräulein.«
»Nett?«Ich hob die Achseln.»Aber immerhin, Haltung hatte sie. Kein Mensch im Hause und dieses hoheitsvolle Benehmen!«
»So hoheitsvoll war sie gar nicht…«
»Gegen dich nicht.«
Pat lachte.»Mir hat sie gut gefallen. Aber jetzt wollen wir die Koffer holen und die Badesachen auspacken.«
Ich hatte eine Stunde geschwommen und lag am Strande in der Sonne. Pat war noch im Wasser. Ihre weiße Badekappe tauchte ab und zu zwischen dem blauen Schwall der Wellen auf. Ein paar Möwen kreischten. Am Horizont zog langsam ein Dampfer mit wehender Rauchfahne vorüber.
Die Sonne brannte. Sie zerschmolz jeden Widerstand zu schläfrig gedankenloser Hingabe. Ich schloß die Augen und streckte mich lang aus. Der heiße Sand knisterte. Das Geräusch der schwachen Brandung rauschte mir in den Ohren. Es erinnerte mich an etwas, an einen heißen Tag, wo ich ebenso gelegen hatte – Es war im Sommer 1917 gewesen. Unsere Kompanie lag damals in Flandern, und wir hatten unverhofft ein paar Tage Urlaub nach Ostende bekommen, Meyer, Holthoff, Breyer, Lütgens, ich und noch einige andere. Die meisten von uns waren noch nie am Meere gewesen, und diese wenigen Tage, diese fast unbegreifliche Pause zwischen Tod und Tod, wurden zu einer wilden Hingabe an Sonne, Sand und Meer. Wir blieben den ganzen Tag am Strande, wir dehnten unsere nackten Körper in der Sonne – denn Nacktsein, nicht Bepacktsein mit den Waffen und der Uniform, das hieß schon soviel wie Frieden -, wir tobten am Strande herum und stürmten immer wieder in das Meer hinein, wir spürten unsere Glieder, unseren Atem, unsere Bewegungen mit der ganzen Stärke, die die Dinge des Lebens in dieser Zeit hatten, wir vergaßen alles in diesen Stunden und wollten auch alles vergessen. Aber abends, in der Dämmerung, wenn die Sonne fort war und die grauen Schatten vom Horizont her über das erblassende Meer liefen, dann mischte sich langsam in das Brausen der Brandung ein anderer Ton, er wurde stärker und übertönte es schließlich wie eine dumpfe Drohung: der Kanonendonner der Front. Dann kam es vor, daß plötzlich ein fahles Schweigen die Gespräche unterbrach, daß die Köpfe sich lauschend hoben und daß aus den fröhlichen Gesichtern müde gespielter Knaben jäh wieder das harte Antlitz der Soldaten hervorsprang, ergreifend überweht für einen Augenblick noch von einem Erstaunen, einer Schwermut, in der alles war, was nie ausgesprochen wurde: Mut und Bitterkeit und Lebensgier, der Wille zur Pflicht, die Verzweiflung, die Hoffnung und die rätselhafte Trauer der früh Gezeichneten. Ein paar Tage später begann die große Offensive, und schon am dritten Juli hatte die Kompanie nur noch zweiunddreißig Mann, und Meyer, Holthoff und Lütgens waren tot. -»Robby!«rief Pat.
Ich öffnete die Augen. Einen Moment mußte ich mich besinnen, wo ich war. Immer, wenn Erinnerungen aus dem Kriege kamen, war man gleich weit weg. Bei andern nicht.
Ich richtete mich auf. Pat kam aus dem Wasser. Sie ging gerade vor der Bahn der Sonne auf dem Meer, breiter Glanz floß über ihre Schultern, und sie war so umflutet von Licht, daß sie fast dunkel davor wirkte. Mit jedem Schritt den Strand hinauf wuchs sie höher in den starken Schein, bis die Sonne des späten Nachmittags hinter ihrem Kopfe stand wie eine Gloriole.
Ich sprang auf, so unwirklich, so wie aus einer anderen Welt erschien mir gerade jetzt dieses Bild – der weite blaue Himmel, die weißen Schaumreihen des Meeres und die schöne, schmale Gestalt davor -, als wäre ich allein auf der Welt und aus dem Wasser schritte die erste Frau herauf. Einen Augenblick lang empfand ich die ungeheure, stille Gewalt der Schönheit und spürte, daß sie stärker war als alle blutige Vergangenheit, daß sie stärker sein mußte, daß die Welt sonst zusammenbrechen würde, daß sie sonst ersticken müßte in ihrer furchtbaren Verwirrung. Und mehr als das noch empfand ich, daß ich da war, einfach da war, und daß Pat da war, daß ich lebte, daß ich herausgekommen war aus dem Grauen, daß ich Augen hatte und Hände und Gedanken und die heißen Wellen des Blutes und daß alles das ein unbegreifliches Wunder war.
»Robby!«rief Pat noch einmal und winkte.
Ich griff ihren Bademantel vom Boden auf und ging ihr rasch entgegen.»Du bist viel zu lange im Wasser gewesen«, sagte ich.
»Ich bin ganz warm«, erwiderte sie atemlos.
Ich küßte sie auf die feuchte Schulter.»Anfangs mußt du etwas vernünftiger sein.«
Sie schüttelte den Kopf und sah mich strahlend an.»Ich bin lange genug vernünftig gewesen.«
»So?«
»Natürlich. Viel zu lange! Ich will endlich einmal unvernünftig sein!«Sie lachte und legte ihre Wange an mein Gesicht.»Wir wollen unvernünftig sein, Robby! An nichts denken, an überhaupt nichts denken, nur an uns und die Sonne und die Ferien und das Meer!«
»Gut«, sagte ich und nahm das Frottiertuch.»Zunächst will ich dich mal trockenreiben. Woher bist du eigentlich schon so braun?«
Sie zog den Bademantel an.»Das stammt noch aus meinem vernünftigen Jahr. Da mußte ich jeden Tag auf dem Balkon eine Stunde in der Sonne liegen. Und abends um acht Uhr schlafen gehen. Heute abend gehe ich um acht Uhr noch einmal baden.«
»Das werden wir sehen«, sagte ich.»In Vorsätzen ist der Mensch immer groß. Im Ausführen nicht. Darin liegt sein Scharm.«
Mit dem Baden abends wurde es nichts. Wir machten noch einen Gang zum Dorf und eine Fahrt mit dem Citroen durch die Dämmerung – dann wurde Pat plötzlich sehr müde und verlangte nach Hause. Ich hatte das schon oft bei ihr gesehen – dieses rasche Abfallen von strahlender Lebendigkeit zu jäher Müdigkeit. Sie hatte nicht viel Kraft und gar keine Reserven – dabei wirkte sie gar nicht so. Sie verbrauchte immer alles, was sie an Lebenskraft in sich hatte, und schien dann unerschöpflich zu sein in ihrer geschmeidigen Jugend – aber auf einmal kam dann der Augenblick, wo ihr Gesicht blaß wurde und ihre Augen sich tief verschatteten -, dann war es zu Ende. Sie wurde nicht langsam müde, sie wurde es von einer Sekunde zur andern.
»Fahren wir nach Hause, Robby«, sagte sie, und ihre dunkle Stimme war noch tiefer als sonst.
»Nach Hause? Zu Fräulein Elfriede Müller mit dem goldenen Kreuz auf der Brust? Wer weiß, was sich der Teufel inzwischen wieder ausgedacht hat.«
»Nach Hause, Robby«, sagte Pat und lehnte sich müde an meine Schulter.»Es ist unser Zuhause.«
Ich nahm eine Hand vom Steuerrad und legte sie um ihre Schultern. So fuhren wir langsam durch die blaue, neblige Dämmerung, und als wir schließlich die erleuchteten Fenster des kleinen Hauses erblickten, das sich in die flache Talmulde einschmiegte wie ein dunkles Tier, war wirklich etwas wie Nachhausekommen dabei.
Fräulein Müller erwartete uns bereits. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt statt des schwarzen Wollkleides ein schwarzes Seidenkleid von gleichem, puritanischem Schnitt. Dazu statt des Kreuzes ein Emblem von Herz, Anker und Kreuz gleichzeitig – das kirchliche Symbol für Glaube, Hoffnung und Liebe.
Sie war bedeutend freundlicher als nachmittags und fragte, ob es recht sei, daß sie als Abendessen Eier, kaltes Fleisch und geräucherten Fisch vorbereitet habe.
»Na ja«, sagte ich.
»Gefällt es Ihnen nicht? Es sind ganz frisch geräucherte Flundern.«Sie schaute mich etwas ängstlich an.
»Gewiß«, sagte ich kühl.
»Frisch geräucherte Flundern müssen herrlich schmecken«, erklärte Pat und blickte vorwurfsvoll zu mir herüber.»Ein richtiges Nachtessen, wie man es sich nur wünschen kann am ersten Tag an der See, Fräulein Müller. Wenn es noch ordentlich heißen Tee dazu gäbe…«
»Doch, doch! Ganz heißen Tee! Gern! Ich lasse alles gleich bringen.«Fräulein Müller raschelte erleichtert eilig in ihrem Seidenkleid davon.
»Magst du wirklich keinen Fisch?«fragte Pat.
»Und wie! Flundern! Davon habe ich schon seit Tagen geträumt.«
»Und dann tust du so erhaben? Das ist aber stark!«
»Ich mußte ihr doch den Empfang von heute nachmittag heimzahlen.«»Ach du lieber Gott!«Pat lachte.»Daß du auch ja nichts ausläßt! Ich hatte das schon längst vergessen.«»Ich nicht«, sagte ich.»Ich vergesse nicht so leicht.«»Das solltest du aber.«Das Dienstmädchen kam mit dem Tablett. Die Flundern hatten eine Haut wie Goldtopas und rochen wunderbar nach See und Rauch. Es waren auch noch frische Garnelen dabei.»Ich fange an zu vergessen«, sagte ich schwärmerisch.»Außerdem merke ich, daß ich einen Riesenhunger habe.«
»Ich auch. Aber gib mir erst rasch etwas heißen Tee. Es ist merkwürdig, aber mich friert. Dabei ist es doch ganz warm draußen.«
Ich sah sie an. Sie war blaß, obschon sie lächelte.»Kein Wort jetzt über zu langes Baden«, sagte ich und fragte das Dienstmädchen:»Haben Sie etwas Rum?«
»Was?«
»Rum. Ein Getränk in Flaschen.«
»Rum?«
»Ja.«
»Nee.«
Sie glotzte ausdruckslos mit ihrem Vollmondsgesicht aus Kuchenteig.»Nee«, sagte sie noch einmal.»Gut«, erwiderte ich.»Macht auch nichts. Leben Sie wohl. Gott mit Ihnen.«Sie verschwand.»Welch ein Glück, Pat, daß wir weitsichtige Freunde haben«, sagte ich.»Lenz hat mir da heute morgen noch rasch beim Wegfahren ein ziemlich schweres Paket in den Wagen gestopft. Wollen mal nachsehen, was drin ist.«
Ich holte das Paket aus dem Wagen. Es war eine kleine Kiste mit zwei Flaschen Rum, einer Flasche Kognak und einer Flasche Portwein. Ich hob sie hoch.»St.-James-Rum sogar! Auf die Jungens kann man sich verlassen!«
Ich korkte die Flasche auf und goß Pat einen guten Schuß in den Tee. Dabei sah ich, daß ihre Hand etwas zitterte.»Friert dich wirklich so?«fragte ich.
»Nur einen Augenblick. Jetzt ist es schon besser. Der Rum ist gut. Aber ich geh' bald zu Bett.«
»Tu das gleich, Pat«, sagte ich,»wir schieben den Tisch dann heran und essen so.«
Sie ließ sich überreden. Ich holte ihr noch eine Decke von meinem Bett und rückte den Tisch zurecht.»Willst du vielleicht einen ordentlichen Grog haben, Pat? Das ist noch besser. Ich kann rasch einen machen.«
Sie schüttelte den Kopf.»Ich fühle mich schon wieder wohl.«
Ich blickte sie an. Sie sah wirklich schon besser aus. Ihre Augen hatten wieder Glanz, der Mund war sehr rot, und die Haut schimmerte matt.»Fabelhaft, wie schnell das geht«, sagte ich.»Das ist sicher der Rum.«
Sie lächelte.»Es ist auch das Bett, Robby. Ich erhole mich am besten im Bett. Das ist meine Zuflucht.«
»Merkwürdig. Ich würde verrückt, wenn ich so früh im Bett liegen müßte. Allein, meine ich.«
Sie lachte.»Für eine Frau ist das etwas anderes.«
»Sag nicht für eine Frau. Du bist keine Frau.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht. Aber keine Frau. Wenn du eine richtige, normale Frau wärest, könnte ich dich nicht lieben.«
Sie sah mich an.»Kannst du überhaupt lieben?«
»Na«, sagte ich,»das ist allerhand beim Abendessen. Hast du noch mehr solcher Fragen?«
»Vielleicht. Aber wie ist es mit dieser?«
Ich schenkte mir ein Glas Rum ein.»Prost, Pat! Kann sein, daß du recht hast. Vielleicht können wir es alle nicht. So wie früher, meine ich. Aber es ist darum nicht schlechter. Nur anders. Man sieht es nicht so.«
Es klopfte. Fräulein Müller kam herein. Sie hatte einen winzigen Glaskrug in der Hand, in dem ein bißchen Flüssigkeit hin und her schaukelte.»Hier bringe ich Ihnen den Rum.«
»Danke«, sagte ich und betrachtete gerührt den gläsernen Fingerhut.
»Es ist sehr freundlich von Ihnen, aber wir haben uns schon geholfen.«
»O Gott!«Sie beschaute erschreckt die vier Flaschen auf dem Tisch.»Trinken Sie so viel?«
»Nur als Medizin«, erwiderte ich sanft und vermied es, Pat anzusehen.»Vom Arzt verschrieben. Ich habe eine zu trockene Leber, Fräulein Müller. Aber wollen Sie uns nicht die Ehre geben?«
Ich machte die Portweinflasche auf.»Auf Ihr Wohl! Daß das Haus bald voller Gäste ist.«
»Danke vielmals!«Sie seufzte, machte eine kleine Verbeugung und nippte wie ein Vogel.»Auf gute Ferien!«Dann lächelte sie mir verschmitzt zu.»Der ist aber stark. Und gut.«
Mir fiel vor Erstaunen über diese Wandlung fast das Glas aus der Hand. Fräulein Müller bekam rote Bäckchen und blitzende Augen und fing an zu reden von allerlei Dingen, die uns nicht interessierten. Pat hatte eine Engelsgeduld mit ihr. Schließlich wandte sie sich an mich.»Herrn Köster geht es also gut?«
Ich nickte.
»Er war immer so ruhig damals«, sagte sie.»Oft sprach er tagelang kein Wort. Tut er das jetzt auch noch?«
»Na, jetzt redet er schon manchmal.«
»Er war fast ein Jahr hier. Immer allein…«
»Ja«, sagte ich.»Dann redet man immer weniger.«
Sie nickte ernsthaft und sah zu Pat hinüber.»Sie sind sicher müde.«
»Etwas«, sagte Pat.
»Sehr«, fügte ich hinzu.
»Dann will ich nur gehen«, erwiderte sie erschreckt.»Gute Nacht also! Schlafen Sie gut!«
Sie ging zögernd.
»Ich glaube, die wäre am liebsten noch länger geblieben«, sagte ich.
»Komisch, auf einmal, was?«
»Das arme Geschöpf«, erwiderte Pat.»Sitzt sicher jeden Abend allein in ihrem Zimmer und hat Sorgen.«
»Ach so, ja…«, sagte ich.»Aber ich denke, daß ich mich alles in allem doch ganz nett zu ihr benommen habe.«
»Das hast du.«Sie strich mir über die Hand.»Mach die Tür ein bißchen auf, Robby.«
Ich ging hin und öffnete die Tür. Draußen war es klarer geworden, und ein Streifen Mondlicht fiel über den Weg hinweg bis in das Zimmer. Es war, als hätte der Garten nur darauf gewartet, daß die Tür geöffnet würde – so stark drang sofort der Nachtduft der Blumen herein, der süße Geruch von Goldlack, Reseda und Rosen. Er erfüllte das ganze Zimmer.
»Sieh nur«, sagte ich und zeigte hinaus.
Man konnte im voller werdenden Mondlicht den ganzen Gartenweg entlang sehen. Die Blumen standen mit geneigten Stengeln am Rande, die Blätter hatten die Farbe oxydierten Silbers, und die Blüten, die am Tage bunt geleuchtet hatten, schimmerten jetzt in matten Pastelltönen geisterhaft und zart. Das Mondlicht und die Nacht hatten ihren Farben die Kraft genommen – dafür aber war ihr Duft voller und süßer als jemals am Tage.
Ich sah zu Pat hinüber. Zart und schmal und zerbrechlich lag ihr Kopf mit dem dunklen Haar auf den weißen Kissen. Sie hatte nicht viel Kraft – aber auch sie hatte das Geheimnis des Zerbrechlichen, das Geheimnis der Blumen in der Dämmerung und im schwebenden Licht des Mondes.
Sie richtete sich ein wenig auf.»Ich bin wirklich sehr müde, Robby. Ist das schlimm?«
Ich setzte mich zu ihr an das Bett.»Gar nicht. Du wirst gut schlafen.«
»Aber du willst doch noch nicht schlafen.«
»Ich gehe dann noch etwas an den Strand.«
Sie nickte und legte sich zurück. Ich blieb noch eine Weile sitzen.»Laß die Tür über Nacht offen«, sagte sie schlaftrunken.»Das ist, als ob man im Garten schläft…«
Sie begann tiefer zu atmen, und ich stand leise auf und ging in den Garten hinaus. Neben dem Holzzaun blieb ich stehen und rauchte eine Zigarette. Ich konnte von hier in das Zimmer hineinsehen. Pats Bademantel hing über einem Stuhl, ihr Kleid und ein bißchen Wäsche waren darübergeworfen, und auf dem Boden, vor dem Stuhl, standen ihre Schuhe. Einer war umgekippt. Ich hatte ein merkwürdiges Gefühl von Heimat, als ich das so sah, und ich dachte daran, daß nun jemand da war und dasein würde, daß ich nur wenige Schritte zu machen brauchte, um ihn zu sehen und bei ihm zu sein, heute, morgen und auf lange Zeit vielleicht…
Vielleicht, dachte ich, vielleicht – immer dieses Wort, ohne das man nicht mehr auskam! Es war die Sicherheit, die einem fehlte – es war die Sicherheit, die allem und allen fehlte.
Ich ging zum Strand hinunter, zum Meer und zum Wind, zu dem dumpfen Brausen, das wie ferner Kanonendonner heraufscholl.