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Ich saß am Strande und sah zu, wie die Sonne unterging. Pat war nicht mitgekommen. Sie hatte sich den Tag über nicht wohl gefühlt. Als es dunkel wurde, stand ich auf, um nach Hause zu gehen. Da sah ich hinter dem Walde das Dienstmädchen herankommen. Es winkte und rief etwas. Ich verstand es nicht; der Wind und das Meer waren zu laut. Ich winkte zurück, sie solle stehenbleiben, ich käme schon. Aber sie lief weiter und hob die Hände zum Mund.»Frau…«, verstand ich -»rasch…«
Ich lief.»Was ist los?«
Sie jappte nach Luft.»Rasch – Frau – Unglück…«
Ich rannte den Sandweg entlang, durch den Wald, dem Hause zu. Das hölzerne Gartentor verhedderte sich, ich sprang hinüber und stürzte ins Zimmer. Da lag Pat auf dem Bett, mit blutiger Brust und gekrampften Händen, und Blut lief ihr aus dem Munde. Neben ihr stand Fräulein Müller mit Tüchern und einer Schale Wasser.
»Was ist los?«rief ich und schob sie beiseite.
Sie sagte etwas.»Bringen Sie Verbandzeug!«rief ich.»Wo ist die Wunde?«
Sie sah mich mit zitternden Lippen an.»Es ist keine Wunde -«
Ich richtete mich auf.»Ein Blutsturz«, sagte sie.
Mir war, als hätte ich einen Hammerschlag erhalten.»Ein Blutsturz?«Ich sprang auf und nahm ihr die Schüssel mit Wasser aus der Hand.»Holen Sie Eis, holen Sie rasch etwas Eis.«
Ich tauchte das Handtuch in die Schüssel und legte es Pat auf die Brust.»Wir haben kein Eis im Hause«, sagte Fräulein Müller.
Ich drehte mich um. Sie wich zurück.»Holen Sie Eis, um Gottes willen, schicken Sie zur nächsten Kneipe, und telefonieren Sie sofort dem Arzt!«
»Wir haben doch kein Telefon…«
»Verflucht! Wo ist das nächste Telefon?«
»Bei Maßmann.«
»Laufen Sie hin. Schnell. Telefonieren Sie sofort an den nächsten Arzt. Wie heißt er? Wo wohnt er?«Ehe sie einen Namen nannte, schob ich sie hinaus.
»Schnell, schnell, laufen Sie rasch! Wie weit ist es?«
»Drei Minuten«, sagte die Frau und hastete los.
»Bringen Sie Eis mit!«rief ich ihr nach.
Sie nickte und lief.
Ich holte Wasser und tauchte das Handtuch wieder ein. Ich wagte nicht, Pat anzurühren. Ich wußte nicht, ob sie richtig lag, ich war verzweifelt, weil ich es nicht wußte, das einzige, was ich wissen mußte: ob ich ihr das Kissen unter den Kopf schieben oder sie flach hinlegen sollte.
Sie röchelte, dann bäumte sie sich, und ein Schuß Blut quoll aus ihrem Munde. Sie atmete hoch und jammernd ein, ihre Augen waren unmenschlich entsetzt, sie verschluckte sich und hustete, und wieder spritzte das Blut, ich hielt sie fest und gab nach, die Hand unter ihrer Schulter, ich spürte die Erschütterungen ihres armen gequälten Rückens, es schien endlos zu dauern, dann fiel sie schlapp zurück…
Fräulein Müller trat ein. Sie sah mich an wie ein Gespenst.
»Was sollen wir machen?«rief ich.
»Der Arzt kommt sofort«, flüsterte sie,»Eis – auf die Brust, und wenn es geht, in den Mund…«
»Tief oder hoch legen, so reden sie doch, himmelverflucht, rasch.«
»So lassen – er kommt sofort…«
Ich packte Pat die Eisstücke auf die Brust, erlöst, daß ich etwas tun konnte, ich schlug Eis klein für Kompressen und legte sie auf und sah immer nur diesen süßen, geliebten, verzerrten Mund, diesen einzigen Mund, diesen blutenden Mund…
Da rasselte ein Fahrrad. Ich sprang hoch. Der Arzt.»Kann ich helfen?«fragte ich. Er schüttelte den Kopf und packte seine Tasche aus. Ich stand dicht bei ihm am Bett und umklammerte die Pfosten. Er sah auf. Ich ging einen Schritt zurück und behielt ihn fest im Auge. Er betrachtete die Rippen Pats. Pat stöhnte.
»Ist es gefährlich?«fragte ich.
»Wo war Ihre Frau in Behandlung?«fragte er zurück.
»Was? In Behandlung?«stotterte ich.
»Bei welchem Arzt?«fragte er ungeduldig.
»Ich weiß nicht -«, antwortete ich -»nein, ich weiß nichts – ich glaube nicht…«Er sah mich an.»Das müssen Sie doch wissen…«»Ich weiß es aber nicht. Sie hat mir nie etwas davon gesagt.«Er beugte sich zu Pat hinunter und fragte. Sie wollte antworten. Aber wieder brach der Husten rot durch. Der Arzt fing sie auf. Sie biß in die Luft und holte pfeifend Atem.»Jaffé«, stieß sie gurgelnd hervor.»Felix Jaffé? Professor Felix Jaffé?«fragte der Arzt. Sie nickte mit den Augen. Er wendete sich zu mir.»Können Sie ihm telefonieren? Es ist besser, ihn zu fragen.«
»Jaja«, antwortete ich,»ich werde sofort. Ich hole Sie dann! Jaffé?«
»Felix Jaffé«, sagte der Arzt,»verlangen Sie bei der Auskunft die Nummer.«
»Kommt sie durch?«fragte ich.
»Sie muß aufhören zu bluten«, sagte der Arzt.
Ich faßte das Mädchen und rannte los, den Weg entlang. Sie zeigte mir das Haus mit dem Telefon. Ich klingelte. Eine kleine Gesellschaft saß bei Kaffee und Bier. Ich umfaßte sie mit einem kreisenden Blick und begriff nicht: daß Menschen Bier tranken, während Pat blutete. Ich verlangte ein dringendes Gespräch und wartete am Apparat. Während ich in die surrende Dunkelheit hineinhorchte, sah ich durch die Portieren den Ausschnitt des anderen Zimmers wolkig und überdeutlich. Ich sah eine Glatze hin und her schwanken, gelb vom Licht bespiegelt, ich sah eine Brosche auf dem schwarzen Taft eines geschnürten Kleides und ein Doppelkinn mit einem Kneifer und aufgetürmter Frisur darüber – eine knochige, alte Hand mit dicken Adern, die auf den Tisch trommelte -, ich wollte es nicht sehen, aber es war, als ob ich wehrlos sei: Es drang in meine Augen wie überstarkes Licht.
Endlich meldete sich die Nummer. Ich fragte nach dem Professor.
»Bedaure«, sagte die Schwester,»Professor Jaffé ist ausgegangen.«
Mein Herz hörte auf zu schlagen und haute dann wie ein Schmiedehammer los.»Wo ist er denn? Ich muß ihn sofort sprechen.«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist er noch einmal in die Klinik gegangen.«
»Bitte, rufen Sie die Klinik an. Ich warte hier. Sie haben doch noch einen zweiten Apparat.«
»Einen Moment.«Das Sausen setzte wieder ein, die bodenlose Dunkelheit, über der hur der dünne Metallfaden schwebte. Ich zuckte zusammen. Neben mir, in einem verhängten Bauer fing ein Kanarienvogel an zu zirpen. Die Stimme der Schwester kam wieder.»Professor Jaffé ist aus der Klinik schon fortgegangen.«
»Wohin?«
»Ich kann es Ihnen wirklich nicht sagen, mein Herr.«
Aus. Ich lehnte mich an die Wand.»Hallo!«sagte die Schwester,»sind Sie noch da?«»Ja – hören Sie, Schwester, Sie wissen nicht, wann er zurückkommt?«
»Das ist ganz unbestimmt.«
»Hinterläßt er das denn nicht? Das muß er doch. Wenn mal was passiert, muß er doch zu erreichen sein.«
»Es ist ein Arzt in der Klinik.«
»Können Sie denn den«- nein, es hatte ja keinen Zweck, der wußte es ja nicht -»gut, Schwester«, sagte ich todmüde,»wenn Professor Jaffé kommt, bitten Sie ihn, sofort dringend hier anzurufen.«Ich sagte ihr die Nummer.»Aber bitte, dringend, Schwester.«
»Sie können sich darauf verlassen, mein Herr.«Sie wiederholte die Nummer und hängte ab.
Ich stand da, allein. Die schwankenden Köpfe, die Glatze, die Brosche, das andere Zimmer waren weit weg, glänzender Gummi, der schwankte. Ich sah mich um. Ich war fertig hier. Ich brauchte den Leuten nur noch zu sagen, daß sie mich holten, wenn angerufen wurde. Aber ich konnte mich nicht entschließen, das Telefon loszulassen. Es war, als ließe ich ein Rettungsseil los. Und plötzlich hatte ich es. Ich hob den Hörer wieder ab und sagte Kösters Nummer hinein. Er mußte da sein. Es ging einfach nicht anders.
Und da kam sie, aus dem Gebrodel der Nacht, die ruhige Stimme Kösters. Ich wurde sofort selbst ruhig und sagte ihm alles. Ich fühlte, er schrieb schon mit.
»Gut«, sagte er,»ich fahre sofort los, ihn zu suchen. Ich rufe an. Sei ruhig. Ich finde ihn.«
Vorbei. Vorbei? Die Welt stand still. Der Spuk war aus. Ich lief zurück.
»Nun?«fragte der Arzt,»haben Sie ihn erreicht?«
»Nein«, sagte ich,»aber ich habe Köster erreicht.«
»Köster? Kenne ich nicht! Was hat er gesagt? Wie hat er sie behandelt?«
»Behandelt? Behandelt hat er sie nicht. Köster sucht ihn.«
»Wen?«
»Jaffé.«
»Herrgott, wer ist denn dieser Köster?«
»Ach so – entschuldigen Sie. Köster ist mein Freund. Er sucht Professor Jaffé. Ich konnte ihn nicht erreichen.«
»Schade«, sagte der Arzt und wandte sich wieder Pat zu.
»Er wird ihn erreichen«, sagte ich.»Wenn er nicht tot ist, wird er ihn erreichen.«
Der Arzt sah mich an, als ob ich verrückt geworden wäre. Dann zuckte er die Achseln.
Das Licht der Lampe brütete im Zimmer. Ich fragte, ob ich helfen könne. Der Arzt schüttelte den Kopf. Ich starrte aus dem Fenster. Pat röchelte. Ich schloß das Fenster und stellte mich in die Tür. Ich beobachtete den Weg.
Plötzlich hörte ich rufen.»Telefon!«
Ich drehte mich um.»Telefon. Soll ich hingehen?«
Der Arzt sprang auf.»Nein, ich. Ich kann ihn besser fragen. Bleiben Sie hier. Tun Sie nichts weiter. Ich komme sofort wieder.«
Ich setzte mich zu Pat an das Bett.»Pat«, sagte ich leise.»Wir sind alle da. Wir passen auf. Es wird dir nichts passieren. Es darf dir nichts passieren. Der Professor spricht jetzt schon. Er sagt uns alles. Morgen kommt er sicher selbst. Er wird dir helfen. Du wirst gesund werden. Weshalb hast du mir denn nie etwas davon gesagt, daß du noch krank bist? Das bißchen Blut ist nicht schlimm, Pat. Wir geben es dir wieder. Köster hat den Professor geholt, jetzt ist alles gut, Pat.«
Der Arzt kam zurück.»Es war nicht der Professor…«
Ich stand auf.
»Es war ein Freund von Ihnen, Lenz.«
»Köster hat ihn nicht gefunden?«
»Doch. Er hat ihm Anweisungen gegeben. Ihr Freund Lenz hat sie mir telefoniert. Ganz klar und richtig sogar. Ist Ihr Freund Lenz Arzt?«»Nein. Er wollte es werden. Und Köster?«Der Arzt sah mich an.»Lenz hat telefoniert, Köster sei vor wenigen Minuten abgefahren. Mit dem Professor.«Ich mußte mich anlehnen.»Otto«, sagte ich.»Ja«, fügte der Arzt hinzu,»das ist das einzige, was er falsch gesagt hat. Er hat gemeint, sie wären in zwei Stunden hier. Ich kenne die Strecke. Sie brauchen bei schärfster Fahrt über drei Stunden. Immerhin…«
»Doktor«, erwiderte ich,»Sie können sich darauf verlassen. Wenn er sagt zwei Stunden, dann ist er in zwei Stunden hier.«
»Es ist unmöglich. Die Strecke ist kurvig, und es ist Nacht.«
»Warten Sie ab«, sagte ich.
»Immerhin – wenn er dann hier ist – es ist besser, daß er kommt.«
Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich ging ins Freie. Draußen war es neblig geworden. Das Meer rauschte in der Ferne. Von den Bäumen tropfte es. Ich sah mich um. Ich war nicht mehr allein. Hinter dem Horizont im Süden heulte jetzt ein Motor. Hinter den Nebeln raste die Hilfe über die blassen Straßen, die Scheinwerfer spritzten Licht, die Reifen pfiffen und zwei Hände hielten eisern das Steuer, zwei Augen bohrten sich in das Dunkel, kalt, beherrscht: die Augen meines Freundes – Später hörte ich von Jaffé, wie es gewesen war.
Köster hatte sofort nach dem Anruf Lenz telefoniert, er solle sich bereit halten. Dann hatte er Karl geholt und war mit Lenz zur Klinik Jaffés gerast. Die Stationsschwester nahm an, der Professor sei zum Abendessen gegangen. Sie nannte Köster eine Anzahl Lokale, in den er vielleicht zu treffen wäre. Köster fuhr los. Er überfuhr alle Verkehrszeichen – er kümmerte sich nicht um die heranstürzenden Schupos. Er riß den Wagen wie ein Pferd durch den Verkehr. Im vierten Lokal fand er den Professor.
Jaffé erinnerte sich sofort. Er ließ sein Essen stehen und kam gleich mit. Sie fuhren zu seiner Wohnung, um die notwendigsten Sachen zu holen. Dies war die einzige Strecke, die Köster zwar schnell fuhr, aber nicht raste. Er wollte den Arzt nicht vorzeitig erschrecken. Unterwegs fragte Jaffé, wo Pat liege. Köster nannte einen vierzig Kilometer entfernt liegenden Ort. Er wollte den Professor nur erst einmal im Wagen haben. Alles Weitere ergab sich dann von selbst. Während Jaffé seine Tasche packte, gab er Lenz Anweisung, was zu telefonieren sei. Dann stieg er zu Köster ein.
»Ist es gefährlich?«fragte Köster.
»Ja«, sagte Jaffé.
In diesem Augenblick verwandelte sich Karl in ein weißes Gespenst. Er sprang mit einem Satz vom Start und fegte los. Er zwängte sich durch, er fuhr mit zwei Rädern über den Bürgersteig, er jagte in falscher Richtung durch Einbahnstraßen, er suchte den kürzesten Weg aus der Stadt heraus.
»Sind Sie verrückt?«rief der Professor. Köster schoß unter den hohen Stoßstangen eines Omnibusses schräg hinweg, verringerte das Gas einen Moment und ließ den Motor wieder aufheulen.
»Fahren Sie langsamer«, schrie der Arzt,»was nützt es Ihnen, wenn wir einen Unfall haben.«
»Wir werden keinen Unfall haben.«
»Wenn Sie so weiterfahren, in zwei Minuten.«
Köster riß den Wagen links an einer Elektrischen vorbei.
»Wir werden keinen Unfall haben.«Er hatte jetzt eine lange Straße zu fassen. Er sah den Arzt an.»Ich weiß selbst, daß ich Sie heil hinbringen muß. Verlassen Sie sich darauf, daß ich so fahre.«
»Aber was nützt Ihnen die Raserei schon! Sie holen ein paar Minuten heraus.«
»Nein«, sagte Köster und wich einem Lastwagen mit Steinen aus,»wir haben noch zweihundertvierzig Kilometer zu fahren.«
»Was?«
»Ja…«Der Wagen drehte sich zwischen einem Postauto und einem Autobus durch -»Ich wollte es Ihnen vorhin nicht sagen.«
»Das wäre egal gewesen«, knurrte Jaffé,»ich richte meine Hilfe nicht nach Kilometern. Fahren Sie zum Bahnhof. Wir kommen mit der Eisenbahn schneller hin.«
»Nein.«Köster hatte die Vorstadt erreicht. Der Wind riß ihm die Worte vom Mund.»Schon erkundigt – Zug fährt zu spät…«Er sah Jaffé noch einmal an, und der Arzt mußte wohl irgendwas in seinem Gesicht gesehen haben.»In Gottes Namen«, brummte er.»Ihre Freundin?«
Köster schüttelte den Kopf. Er antwortete nicht mehr. Er hatte die Schrebergärten hinter sich und kam auf die Landstraße. Der Wagen fuhr jetzt mit vollen Touren. Der Arzt kroch hinter der schmalen Windschutzscheibe zusammen. Köster schob ihm seine Lederhaube hin. Die Hupe röhrte ununterbrochen. Die Wälder warfen den Schrei zurück. Köster ging in den Dörfern mit dem Tempo nur herunter, wenn es gar nicht anders ging. Hinter dem donnernden Widerhall der ungedrosselten Explosionen schlugen die Häuserreihen zusammen wie Schattentücher, der Wagen wischte hindurch, riß sie in die fahle Helle seiner Scheinwerfer und fraß sich weiter mit dem Lichtstrudel vor sich durch die Nacht. Die Reifen begannen zu knarren – zu zischen – zu heulen – zu pfeifen – der Motor gab jetzt alles her, was er hatte. Köster lag nach vorn geduckt, sein Körper war ein einziges gewaltiges Ohr, ein Filter, der das Donnern und Pfeifen auf Geräusche durchsiebte und auf der Lauer lag nach jedem winzigen Nebenlaut, jedem verdächtigen Schurren und Schleifen, das die Panne und den Tod bergen konnte.
Die Straße wurde feucht. Auf der lehmigen Straße schwänzelte der Wagen und schleuderte. Köster mußte mit dem Tempo herunter. Dafür ging er nachher noch schärfer in die Kurven. Er fuhr nicht mehr mit dem Kopf; er fuhr nur noch mit dem Instinkt. Die Scheinwerfer leuchteten die Kurven nur zur Hälfte aus. In dem Moment, wo der Wagen drehte, war die Kurve schwarz und ohne Sicht. Köster half sich mit dem Sucher; aber der Strahl war sehr schmal. Der Arzt schwieg. Plötzlich flirrte die Luft vor den Scheinwerfern, sie bekam Farbe, blasses Silber, wolkige Schleier. Es war der einzige Augenblick, wo Jaffé Köster fluchen hörte. Eine Minute später waren sie im dichten Nebel.
Köster blendete die Scheinwerfer ab. Sie schwammen in Watte, Schatten huschten hindurch, Bäume, undeutliche Schemen in einem milchigen Meer, es gab keine Straße mehr, nur Zufall und Ungefähr, Schatten, die wuchsen und schwanden im Gebrüll des Motors.
Als sie nach zehn Minuten herauskamen, war Kösters Gesicht verfallen. Er sah Jaffé an und murmelte etwas. Dann ging er mit vollem Gas weiter, geduckt, kalt und wieder beherrscht…
Wie Blei brütete die klebrige Wärme in der Stube.»Hört es noch nicht auf?«fragte ich.
»Nein«, sagte der Arzt.
Pat sah mich an. Ich lächelte ihr zu. Es wurde eine Grimasse.»Noch eine halbe Stunde«, sagte ich.
Der Arzt blickte auf.»Noch anderthalb Stunden, wenn nicht zwei. Es regnet.«
Die Tropfen rauschten leise singend in die Blätter und Büsche des Gartens. Ich sah mit geblendeten Augen hinaus. Wie lange war das her, daß wir nachts aufgestanden waren und uns zwischen Levkojen und Goldlackbüsche gekauert hatten und Pat kleine Kinderlieder gesummt hatte. Wie lange war es her, daß der Weg weiß im Mond leuchtete und Pat wie ein schmales Tier zwischen den Büschen entlanglief…
Ich ging zum hundertsten Male vor die Tür. Es war sinnlos, ich wußte es; aber es verkürzte das Warten. Die Luft war diesig. Ich fluchte; ich wußte, was das für Köster hieß. Ein Vogel schrie durch den Dunst.»Halt's Maul!«knurrte ich. Die Geschichten von Totenvögeln fielen mir ein.»Unsinn«, sagte ich laut und fröstelte trotzdem. Ein Käfer summte irgendwo – aber er kam nicht näher – er kam nicht näher. Er summte gleichmäßig leise; jetzt setzte er einmal aus – jetzt war er wieder da – jetzt noch einmal – ich zitterte plötzlich -, das war kein Käfer, das war ein sehr weiter Wagen, der mit hohen Touren in die Kurve ging. Ich stand stocksteif, ich hielt den Atem an, um besser hören zu können: Wieder – wieder – das leise, hohe Summen, wie eine zornige Wespe. Und jetzt stärker, ich unterschied den Ton des Kompressors deutlich: Da stürzte der bis zum Zerreißen gespannte Horizont zusammen in eine weiche Unendlichkeit, er begrub die Nacht unter sich, die Angst, das Grauen – ich sprang zurück, ich hielt mich an der Tür, ich sagte:»Sie kommen! Doktor, Pat, sie kommen. Ich höre sie schon!«
Der Arzt hatte mich schon den ganzen Abend für ziemlich verrückt gehalten. Er stand auf und horchte ebenfalls.»Es wird ein anderer Wagen sein«, sagte er schließlich.
»Nein, ich kenne den Motor.«
Er sah mich gereizt an. Er schien sich für einen Autofachmann zu halten. Er war geduldig und vorsichtig wie eine Mutter mit Pat; aber sowie ich von Autos redete, funkelte er mich durch seine Brille an und wußte es besser.»Unmöglich«, sagte er kurz und ging wieder hinein.
Ich blieb draußen. Ich zitterte vor Erregung.»Karl! Karl!«sagte ich. Jetzt wechselten gedämpfte und heulende Schläge – der Wagen mußte im Dorf sein, er fuhr in irrsinnigem Tempo zwischen den Häusern durch. Jetzt wurde das Heulen schwächer; er war hinter dem Wald – und jetzt schwoll es an, rasend, jubelnd, ein heller Strich wischte durch den Nebel, die Scheinwerfer, ein Donnern, der Arzt stand fassungslos neben mir, jäh blendete uns das voll heranschießende Licht, und mit knirschendem Ruck hielt der Wagen vor der Gartentür. Ich rannte hin. Der Professor stieg gerade aus. Er beachtete mich nicht, sondern ging auf den Arzt zu. Hinter ihm kam Köster.»Wie geht es ihr?«sagte er.
»Sie blutet noch.«»Kommt vor«, sagte er,»brauchst dich noch nicht zu ängstigen.«Ich schwieg und sah ihn an.»Hast du eine Zigarette?«fragte er. Ich gab sie ihm.»Gut, daß du gekommen bist, Otto.«
Er rauchte mit tiefen Zügen.»Dachte, es wäre besser so.«
»Du bist sehr schnell gefahren.«
»Es ging. Hatte bloß ein Stück Nebel.«
Wir saßen auf der Bank nebeneinander und warteten.»Denkst du, daß sie durchkommt?«fragte ich.
»Natürlich. Eine Blutung ist nicht gefährlich.«
»Sie hat mir nie etwas davon gesagt.«
Köster nickte.»Sie muß durchkommen, Otto«, sagte ich.
Er sah nicht auf.»Gib mir noch eine Zigarette«, sagte er,»ich habe vergessen, meine einzustecken.«
»Sie muß durchkommen«, sagte ich,»sonst ist alles Scheiße.«
Der Professor kam heraus. Ich stand auf.»Verdammt will ich sein, wenn ich noch einmal mit Ihnen fahre«, sagte er zu Köster.
»Entschuldigen Sie«, sagte Köster,»es ist die Frau meines Freundes.«
»So«, sagte Jaffé und sah mich an.
»Kommt sie durch?«fragte ich.
Er betrachtete mich aufmerksam. Ich blickte zur Seite.»Glauben Sie, daß ich so lange hier bei Ihnen stünde, wenn sie nicht durchkäme?«sagte er.
Ich biß die Zähne zusammen. Ich preßte die Fäuste ineinander. Ich weinte.»Entschuldigen Sie«, sagte ich,»es geht etwas zu schnell.«
»So was kann gar nicht schnell genug gehen«, sagte Jaffé und lächelte.
»Nimm's nicht übel, Otto«, sagte ich,»daß ich flenne.«
Er drehte mich bei den Schultern um und stieß mich zur Tür hin.
»Geh mal da 'rein. Wenn der Professor es erlaubt.«
»Bin schon fertig«, sagte ich,»kann ich 'rein?«
»Ja, aber nicht sprechen«, antwortete Jaffé,»und nur einen Augenblick. Sie darf sich nicht aufregen.«
Ich sah nichts als einen schwimmenden Lichtschein im Wasser.
Ich blinzelte. Das Licht schwankte, glitzerte. Ich wagte nicht, mir die Augen zu wischen, damit Pat nicht meinte, ich weinte, weil es so schlecht stünde. Ich versuchte nur ein Lachen in das Zimmer hinein.
Dann drehte ich mich rasch wieder um.
»War es richtig, daß Sie kamen?«fragte Köster.
»Ja«, sagte Jaffé,»es war besser.«
»Ich kann Sie morgen früh wieder mit zurücknehmen.«
»Lieber nicht«, sagte Jaffé.
»Ich werde vernünftig fahren.«
»Ich will noch einen Tag bleiben und die Sache beobachten. Ist Ihr Bett frei?«fragte er mich. Ich nickte.
»Gut, dann schlafe ich hier. Können Sie im Dorf unterkommen?«
»Ja. Soll ich Ihnen eine Zahnbürste und einen Pyjama besorgen?«
»Nicht nötig. Habe alles bei mir. Bin immer auf so was vorbereitet. Wenn auch nicht gerade auf Rennen.«
»Entschuldigen Sie«, sagte Köster,»ich kann mir gut denken, daß Sie ärgerlich sind.«
»Bin ich nicht«, sagte Jaffé.
»Dann tut's mir leid, daß ich Ihnen nicht gleich die Wahrheit gesagt habe.«
Jaffé lachte.»Sie haben eine schlechte Meinung von Ärzten. Und nun gehen Sie ruhig. Ich bleibe hier.«
Ich holte rasch ein paar Sachen für Köster und mich. Wir gingen ins Dorf.»Bist du müde?«fragte ich.
»Nein«, sagte er,»wir wollen uns noch irgendwo hinsetzen.«
Nach einer Stunde wurde ich unruhig.»Wenn er dableibt, ist es doch sicher gefährlich, Otto«, sagte ich.»Weshalb sollte er es sonst tun…«
»Ich glaube, er bleibt aus Vorsicht da«, antwortete Köster.»Er mag Pat sehr gern. Er hat es mir erzählt, als wir hier einfuhren. Er hat schon ihre Mutter behandelt…«
»Hat die denn auch…«
»Ich weiß nicht«, sagte Köster rasch,»kann auch was anderes gewesen sein. Wollen wir schlafen gehen?«
»Geh ruhig, Otto. Ich möchte doch noch mal – nur so von weitem…«
»Schön. Ich geh' mit.«
»Ich will dir was sagen, Otto. Ich schlafe sehr gern draußen bei dem warmen Wetter. Laß dich nicht stören. Hab's letzthin schon öfter gemacht.«
»Es ist ja naß.«
»Das macht nichts. Ich mach' Karls Verdeck hoch und setze mich da ein bißchen 'rein.«
»Gut. Ich schlafe auch gern mal draußen.«
Ich merkte, daß ich ihn nicht loswurde. Wir packten ein paar Decken und Kissen zusammen und gingen zurück zu Karl. Wir machten die Gurtbänder los und drückten die Vordersitze nach hinten. So konnte man ganz gut liegen.»Besser als manchmal im Felde«, sagte Köster. Der helle Fleck des Fensters schien durch die diesige Luft. Ein paarmal sah ich den Schatten Jaffés davor. Wir rauchten eine Schachtel Zigaretten leer. Dann wurde das Licht abgeschaltet, und es brannte nur noch die kleine Nachttischlampe.
»Gott sei Dank«, sagte ich.
Es rieselte auf das Verdeck. Ein schwacher Wind wehte. Es wurde kühl.»Kannst meine Decke auch noch haben, Otto«, sagte ich.
»Nein, laß nur, bin warm genug.«
»Tadelloser Kerl, der Jaffé, was?«
»Tadellos. Sehr tüchtig, glaub' ich.«
»Bestimmt.«
Ich fuhr aus einem unruhigen Halbschlaf empor. Es war grau und kühl draußen. Köster war schon wach.»Hast du nicht geschlafen, Otto?«
»Doch.«
Ich kletterte aus dem Wagen und schlich über den Gartenweg zum Fenster. Die kleine Nachttischlampe brannte noch immer. Ich sah Pat mit geschlossenen Augen im Bett liegen. Einen Moment fürchtete ich, daß sie tot sein könnte. Aber dann bemerkte ich, wie ihre rechte Hand sich bewegte. Sie war sehr blaß. Aber sie blutete nicht mehr. Jetzt machte sie wieder eine Bewegung. Im selben Moment öffnete Jaffé, der auf dem zweiten Bett schlief, die Augen. Ich trat rasch zurück. Ich war beruhigt; er paßte auf.
»Ich denke, wir verschwinden hier«, sagte ich zu Köster,»damit er nicht sieht, daß wir ihn kontrolliert haben.«
»Alles in Ordnung drinnen?«fragte Otto.
»Ja, was man sehen kann. Hat den richtigen Schlaf, der Professor. Pennt bei Trommelfeuer, aber erwacht, wenn eine Maus an seinem Brotbeutel knabbert.«
»Wir können baden gehen«, sagte Köster.»Wunderbare Luft hier.«Er dehnte sich.
»Geh du«, sagte ich.
»Komm mit«, erwiderte er.
Der graue Himmel zerriß. Orangerote Streifen quollen hindurch. Am Horizont hob sich der Wolkenvorhang, und dahinter erschien ein sehr klares Apfelgrün.
Wir sprangen ins Wasser und schwammen. Das Wasser leuchtete in Grau und Rot.
Dann gingen wir zurück. Fräulein Müller war schon auf. Sie schnitt Petersilie im Garten. Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach. Verlegen versuchte ich ihr klarzumachen, daß ich gestern wohl etwas zuviel geflucht hätte. Sie fing an zu weinen.»Die arme Dame. Sie ist so schön und noch so jung.«
»Sie wird hundert Jahre alt«, sagte ich ärgerlich, weil sie weinte, als müsse Pat sterben. Pat würde nicht sterben. Der kühle Morgen, der Wind, das helle meergepeitschte Leben in mir: Pat konnte nicht sterben. Sie konnte nur sterben, wenn ich den Mut verlor. Da stand Köster, mein Kamerad – da stand ich, Pats Kamerad -, erst mußten wir sterben. Solange wir lebten, würden wir sie herausholen. So war es immer. Solange Köster lebte, konnte ich nicht sterben. Und solange wir beide lebten, konnte Pat nicht sterben.
»Man muß demütig gegen das Schicksal sein«, sagte das alte Fräulein und sah mich mit seinem braunen, verrunzelten Bratapfelgesicht etwas vorwurfsvoll an. Wahrscheinlich meinte sie meine Schimpferei.
»Demütig?«sagte ich.»Wozu demütig? Es nützt ja nichts. Man muß alles bezahlen im Leben, doppelt und dreifach. Wozu soll man da demütig sein?«
»Doch, doch – es ist besser.«
Demütig, dachte ich. Was änderte das? Kämpfen, kämpfen, das war das einzige in dieser Balgerei, in der man zuletzt doch unterlag. Kämpfen um das bißchen, was man liebte. Demütig konnte man mit siebzig Jahren werden.
Köster sprach ein paar Worte mit ihr. Sie lächelte rasch wieder und fragte ihn, was er zu Mittag essen wolle.
»Siehst du«, sagte Otto,»das ist das Geschenk des Alters. Tränen und Lachen – alles wechselt schnell. Ohne Widerhaken.
Das sollte man auch für sich vorwegnehmen«, meinte er nachdenklich.
Wir strichen um das Haus herum.»Gut für jede Minute, die sie schläft«, sagte ich. Wir gingen wieder in den Garten. Fräulein Müller hatte ein Frühstück fertiggemacht. Wir tranken heißen schwarzen Kaffee. Die Sonne ging auf. Es wurde sofort warm. Die Blätter der Bäume funkelten von Licht und Nässe. Vom Meer hörte man das Schreien der Möwen. Fräulein Müller stellte einen Busch Rosen auf den Tisch.»Den wollen wir ihr nachher geben«, sagte sie. Die Rosen dufteten nach Gartenmauer und Kindheit.»Weißt du, Otto«, sagte ich,»ich habe ein Gefühl, als wäre ich selber krank gewesen. Man ist doch nicht mehr wie früher. Ich hätte ruhiger sein müssen. Überlegter. Je ruhiger man sich hält, um so besser kann man helfen.«
»Geht nicht immer, Robby. Habe auch so Zeiten gehabt. Je länger man lebt, um so nervöser wird man. Das ist wie bei einem Bankier, der immer neue Verluste hat.«
Da ging die Tür. Jaffé kam im Pyjama heraus.»Gut, gut«, winkte er ab, als er sah, daß ich fast den Kaffeetisch umwarf,»so gut es möglich ist.«
»Darf ich 'rein?«
»Noch nicht. Jetzt ist erst das Mädchen drin. Waschen und so was.«
Ich schenkte ihm Kaffee ein. Er blinzelte in die Sonne und wandte sich an Köster.»Eigentlich sollte ich Ihnen dankbar sein. So komme ich wenigstens einen Tag mal 'raus.«
»Das könnten Sie doch öfter machen«, sagte Köster.»Abends wegfahren und am nächsten Abend wieder zurück.«
»Können, können«, antwortete Jaffé.»Haben Sie schon gemerkt, daß wir in einer Zeit der Selbstzerfleischung leben? Daß man vieles, was man tun könnte, trotzdem nicht tut, man weiß nicht, warum? Arbeit ist heute eine so ungeheure Sache geworden, weil so viele Menschen keine haben, daß sie alles andere erdrückt. Wie schön das hier ist! Seit ein paar Jahren habe ich das nicht gesehen. Ich habe zwei Autos, eine Zehnzimmerwohnung und genug Geld – was habe ich davon! Was ist das gegen diesen Sommermorgen im Freien! Arbeit – eine finstere Besessenheit – immer mit der Illusion, daß es später mal anders wird. Es wird nie anders. Komisch, was man so aus seinem Leben macht.«
»Ich finde, ein Arzt ist einer der wenigen Menschen, die wissen, wozu sie leben«, sagte ich.»Was soll denn dann ein Buchhalter sagen?«
»Lieber Freund«, erwiderte Jaffé,»es ist ein Irrtum, anzunehmen, alle Menschen hätten die gleiche Empfindungsfähigkeit.«
»Richtig«, sagte Köster,»aber die Menschen haben ihre Berufe nicht nach ihrer Empfindungsfähigkeit bekommen.«
»Stimmt«, antwortete Jaffé.»Schwierige Dinge.«Er nickte mir zu.»Jetzt – aber ruhig, nicht anfassen, nicht sprechen lassen…«
Sie lag in den Kissen, ohne Kraft, wie hingeschlagen. Ihr Gesicht war verfärbt, blaue, tiefe Schatten lagerten unter den Augen, und der Mund war blaß. Nur die Augen waren groß und glänzend.
Viel zu groß und zu glänzend.
Ich nahm ihre Hand auf. Sie war kühl und matt.»Pat, alter Bursche«, sagte ich verlegen und wollte mich zu ihr setzen. Da entdeckte ich am Fenster das Teiggesicht des Dienstmädchens, das mich neugierig anstarrte.»Gehen Sie mal 'raus«, sagte ich ärgerlich.
»Ich soll doch die Gardinen zuziehen«, erwiderte sie.
»Schön, machen Sie das und gehen Sie dann 'raus.«
Sie zog die gelben Vorhänge vors Fenster. Aber sie ging noch immer nicht. Langsam begann sie die Vorhänge mit Nadeln zuzustecken.
»Hören Sie«, sagte ich,»hier ist keine Theatervorstellung. Verschwinden Sie schleunigst.«
Sie drehte sich pomadig um.»Erst soll ich sie zustecken und dann wieder nicht.«
»Hast du ihr das gesagt?«fragte ich Pat.
Sie nickte.
»Tut dir das Licht von draußen weh?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.»Besser, du siehst mich heute nicht so genau…«
»Pat!«sagte ich erschreckt,»du darfst noch nicht sprechen! Aber wenn das der ganze Grund ist…«
Ich machte die Tür auf, und das Dienstmädchen verschwand endlich. Ich ging zurück. Ich war jetzt nicht mehr verlegen. Ich war sogar ganz froh über das Dienstmädchen. Es hatte mich über den ersten Augenblick weggebracht. Es war doch eine verfluchte Sache gewesen, Pat so daliegen zu sehen.
Ich setzte mich neben das Bett.»Pat«, sagte ich,»bald bist du wieder durch…«
Sie bewegte den Mund.»Morgen schon…«
»Morgen noch nicht, aber in ein paar Tagen. Dann darfst du aufstehen, und wir fahren nach Hause. Wir hätten nicht hierherfahren sollen, die Luft ist viel zu rauh für dich…«
»Doch«, flüsterte sie,»ich bin ja nicht krank, Robby. Es war nur ein Unfall…«
Ich sah sie an. Wußte sie denn wirklich nicht, daß sie krank war? Oder wollte sie es nicht wissen? Ihre Augen gingen unruhig hin und her.»Brauchst keine Angst zu haben…«, flüsterte sie. Ich verstand nicht sofort, was sie meinte und weshalb es so wichtig war, daß gerade ich keine Angst haben sollte. Ich sah nur, daß sie erregt war, ihre Augen hatten einen eigentümlich gequälten, dringenden Ausdruck. Und plötzlich kam mir ein Gedanke. Ich begriff, was sie dachte. Sie glaubte, ich hätte Angst vor ihr, weil sie krank war.»Lieber Gott, Pat«, sagte ich,»ist das vielleicht der Grund, daß du mir nie etwas Genaues gesagt hast?«
Sie antwortete nicht, aber ich sah, daß es das war.
»Verdammt«, sagte ich,»wofür hältst du mich eigentlich?«
Ich beugte mich über sie.»Lieg mal einen Augenblick ganz still, aber beweg dich nicht.«Ich küßte sie. Ihre Lippen waren trocken und heiß. Als ich mich aufrichtete, sah ich, daß sie weinte. Sie weinte lautlos, mit weit offenen Augen, und ihr Gesicht bewegte sich nicht. Die Tränen stürzten nur so hervor.
»Um Gottes willen, Pat…«
»Ich bin ja glücklich«, sagte sie.
Ich stand da und sah sie an. Es war nur ein Wort gewesen, aber es war ein Wort, das ich so noch nie gehört hatte. Ich hatte Frauen gekannt, aber immer waren es flüchtige Begegnungen gewesen, Abenteuer, eine bunte Stunde manchmal, ein einsamer Abend, Flucht vor sich selbst, vor der Verzweiflung, vor der Leere. Ich hatte es auch gar nicht anders gewollt, denn ich hatte gelernt, daß man sich auf nichts anderes verlassen konnte als auf sich selbst und höchstens noch auf einen Kameraden. Jetzt sah ich plötzlich, daß ich einem Menschen etwas sein konnte, einfach weil ich da war, und daß er glücklich war, weil ich bei ihm war. Wenn man das so sagt, klingt es sehr einfach, aber wenn man darüber nachdenkt, ist es eine ungeheure Sache, die überhaupt kein Ende hat. Es ist etwas, das einen ganz zerreißen und verändern kann. Es ist Liebe und doch etwas anderes. Etwas, wofür man leben kann. Für die Liebe kann ein Mann nicht leben. Für einen Menschen wohl.
Ich wollte etwas sagen, aber ich konnte es nicht. Es ist schwer, Worte zu finden, wenn man wirklich etwas zu sagen hat. Und selbst, wenn man die richtigen Worte weiß, dann schämt man sich, sie auszusprechen. Alle diese Worte gehören noch in frühere Jahrhunderte. Unsere Zeit hat für ihre Gefühle die Worte noch nicht. Sie kann nur burschikos sein – alles andere ist unecht.
»Pat«, sagte ich,»alter tapferer Bursche…«
In diesem Augenblick trat Jaffé ein. Er überblickte sofort die Situation.»Fabelhafte Leistung«, knurrte er,»hab' mir schon so was Ähnliches gedacht.«
Ich wollte ihm etwas entgegnen, aber er warf mich kurzerhand 'raus.