37860.fb2
Ich stand am Parkplatz und wartete. Gustav kam mit seinem Wagen heran und stellte sich hinter mir auf.»Was macht der Köster, Robert?«fragte er.
»Dem geht's großartig«, sagte ich.
»Und dir?«
Ich winkte mißmutig ab.»Mir würde es auch großartig gehen, wenn ich mehr verdiente. Stell dir vor, zwei ganze Fünfzigpfennigfuhren heute.«
Er nickte.»Es wird immer schlechter. Alles wird immer schlechter. Was das bloß noch geben soll!«
»Dabei müßte ich so notwendig Geld verdienen!«sagte ich.»Gerade jetzt! Viel Geld.«
Gustav kratzte sich am Kinn.»Viel Geld!«Dann sah er mich an.»Reell ist nirgendwo viel Moos zu holen, Robert. Nur durch Spekulationen. Wie wäre es mit dem Toto? Heute sind Rennen. Ich weiß da einen erstklassigen Laden. Habe neulich achtundzwanzigfaches Geld gemacht auf Aida.«
»Was, ist mir egal. Hauptsache ist, daß eine Chance da ist.«
»Hast du schon mal getippt?«
»Nein.«
»Dann hast du die Kinderhand! Damit ist was zu machen.«Er sah nach der Uhr.»Wollen wir los? Schaffen's grade noch.«
»Gut!«Seit der Sache mit dem Hund hatte ich starkes Vertrauen zu Gustav.
Das Wettbüro war ein ziemlich großer Raum. Rechts war ein Zigarrenladen abgeteilt, links befand sich der Totalisator.
Das Schaufenster hing voll von grünen und rosafarbenen Sportzeitungen und mit der Schreibmaschine getippten Rennanzeigen. An einer Wand lief ein Pult mit ein paar Schreibaufsätzen entlang. Dahinter waren drei Männer in wilder Bewegung. Einer schrie am Telefon herum, ein anderer rannte mit Zetteln in den Händen hin und her, und der dritte stand, eine Melone weit auf den Hinterkopf geschoben, eine dicke, schwarze, zerkaute Brasil zwischen den Zähnen rollend, ohne Rock, mit aufgekrempelten Hemdsärmeln hinter einem der Pulte und notierte die Einsätze. Sein Hemd war von intensivstem Violett.
Zu meinem Erstaunen herrschte mächtiger Betrieb. Es waren fast nur kleine Leute da, Handwerker, Arbeiter, kleine Beamte, ein paar Huren und Zuhälter. Gleich an der Tür hielt uns ein Mann mit schmutzigen grauen Gamaschen, grauer Melone und abgerissenem grauem Gehrock fest.»Von Bieling, Tips, die Herren? Todsicher!«
»Auf dem Mond«, erwiderte Gustav, der in dem Laden plötzlich ein ganz anderes Gesicht bekam.
»Nur fünfzig Pfennig«, drängte Bieling.»Kenne die Trainer persönlich. Von früher«, setzte er auf einen Blick von mir hinzu.
Gustav studierte bereits die Rennlisten.»Wann kommt Auteuil 'raus?«rief er zur Theke hinüber.
»Fünf Uhr«, quakte der Gehilfe.
»Philomene, bombiges Luder«, brummte Gustav.»Staatsgaul bei tiefem Geläuf.«Er schwitzte bereits vor Aufregung.»Was ist das nächste?«fragte er.
»Hoppegarten«, sagte jemand neben ihm.
Gustav studierte wieder.»Wir setzen als Anfang jeder zwei Eier auf Tristan, Sieg«, erklärte er mir.
»Hast du denn eine Ahnung davon?«fragte ich.
»Ahnung? Ich kenne jeden Pferdehuf.«
»Und dann setzen Sie auf Tristan?«sagte jemand neben uns.»Fleißiges Lieschen, Mann, die einzige Chance! Ich kenne Johnny Burns persönlich.«
»Und ich«, gab Gustav zurück,»bin der Besitzer des Stalles Fleißiges Lieschen selber. Ich weiß es noch besser.«
Er rief unsere Sätze dem Mann am Pult zu. Wir erhielten einen Zettel und setzten uns vorn in das Lokal, wo ein paar Tische und Stühle standen. Neben uns schwirrten alle möglichen Namen durch die Luft. Ein paar Arbeiter diskutierten über Rennpferde in Nizza, zwei Postschaffner studierten den Wetterbericht aus Paris, und ein Kutscher renommierte mit seinen Zeiten als Trabrennfahrer. Nur ein dicker Mann mit hochstehenden Haaren saß teilnahmslos an seinem Tisch und aß ein Brötchen nach dem andern. Zwei andere lehnten an der Wand und sahen gierig zu. Sie hatten jeder ein Ticket in den Händen, aber ihre Gesichter waren so eingefallen, als hätten sie seit Tagen nichts gegessen.
Das Telefon schrillte. Alles spitzte die Ohren. Der Gehilfe rief die Namen aus. Von Tristan war weit und breit nichts zu hören.»Verdammt«, sagte Gustav und lief rot an,»Salomon hat's gemacht. Wer hätte das gedacht, Sie etwa?«fragte er ärgerlich das Fleißige Lieschen.»Sie waren auch unter: ferner liefen…«
Von Bieling erschien zwischen uns.»Meine Herrschaften, hätten Sie auf mich gehört – Salomon hätte ich Ihnen gesagt! Nur Salomon! Wollen Sie zum nächsten Rennen?«
Gustav hörte gar nicht hin. Er hatte sich beruhigt und war mit dem Fleißigen Lieschen in ein Fachgespräch verwickelt.
»Verstehen Sie was von Pferden?«fragte Bieling mich.
»Nichts«, sagte ich.
»Dann setzen Sie! Setzen Sie! Aber nur heute«, fügte er flüsternd hinzu,»und nie wieder. Hören Sie auf mich. Setzen Sie – es ist ganz egal – König Lear oder Silbermotte – vielleicht auch L'heure bleue. Ich will nichts verdienen. Geben Sie mir nur etwas, wenn Sie gewinnen.«Er zitterte mit dem Kinn vor Spielleidenschaft. Ich kannte die Regel vom Poker her: Anfänger gewannen oft.»Schön«, sagte ich,»worauf?«
»Was Sie wollen – was Sie wollen…«
»L'heure bleue klingt nicht häßlich«, sagte ich,»also zehn Mark auf L'heure bleue.«
»Bist du verrückt?«fragte Gustav.
»Nein«, sagte ich.
»Zehn Eier auf diesen Kracher, aus dem sie schon längst Wurst hätten machen müssen?«
Das Fleißige Lieschen, das eben Gustav noch einen Abdecker genannt hatte, stimmte mit vollen Backen ein.»So was! Laeure blaeue setzt der! Das ist eine Kuh und kein Pferd, Herr! Maientraum vernascht den auf zwei Beinen, wie er will! Sieg?«
Bieling sah mich beschwörend an und machte mir Zeichen.
»Sieg«, sagte ich.
»Laß dir begraben«, grunzte das Fleißige Lieschen verächtlich.
»Mensch!«Auch Gustav sah mich an, als ob ich mich in einen Hottentotten verwandelt hätte.»Gipsy II, das weiß doch ein Säugling im Mutterleib schon.«
»Ich bleibe bei meiner L'heure bleue«, erklärte ich. Es wäre gegen alle geheimen Glücksrittergesetze gewesen, jetzt noch zu wechseln.
Der Mann mit dem lila Hemd übergab mir meinen Zettel. Gustav und das Fleißige Lieschen betrachteten mich, als hätte ich die Beulenpest. Sie rückten sichtbar von mir ab und drängten zum Pult, um dort mit gegenseitigem Hohngelächter, in dem aber doch der Respekt der Fachleute voreinander steckte, Gipsy II und Maientraum zu tippen.
In diesem Augenblick kippte jemand um. Es war einer der mageren Leute, die vorn neben den Tischen gestanden hatten. Er rutschte an der Wand entlang und schlug hart auf die Erde. Die beiden Postschaffner hoben ihn auf und packten ihn auf einen Stuhl. Sein Gesicht war grauweiß. Der Mund stand offen.
»Jotte doch!«sagte eine der Huren, eine volle schwarze Person mit glattem Haar und niedriger Stirn,»hol mal einer 'n Becher Wasser.«
Ich wunderte mich, wie wenige Leute sich um den Ohnmächtigen kümmerten. Die meisten sahen nur flüchtig hin, dann wandten sie sich wieder den Wetten zu.»Kommt alle Augenblicke vor«, sagte Gustav.»Arbeitslose. Verwetten jeden Pfennig. Lauern immer auf das ganz große Geld, tausend zu zehn.«
Der Kutscher kam aus der Zigarrenabteilung mit einem Glas Wasser. Die schwarze Hure tauchte ihr Taschentuch hinein und wischte dem Mann damit über die Stirn und die Schläfen. Er seufzte und öffnete plötzlich die Augen. Es hatte etwas Unheimliches, wie sie auf einmal lautlos wieder da waren in dem ganz erloschenen Gesicht – so, als blickte neugierig und kalt ein anderes, unbekanntes Wesen durch die Schlitze einer starren, grauweißen Maske.
Das Mädchen nahm das Glas Wasser und gab dem Mann zu trinken. Es hielt ihn dabei wie ein Kind im Arm. Dann langte sie dem teilnahmslosen Esser mit den hochstehenden Haaren ein Brötchen vom Tisch.»Komm, iß mal – aber langsam, langsam – beiß mir nicht den Finger ab -; so, und nun trink wieder…«
Der Mann am Tisch schielte seinem Brötchen nach, sagte aber nichts. Der andere bekam langsam wieder Farbe. Er aß noch eine Weile, dann taumelte er hoch. Das Mädchen stützte ihn bis zur Tür. Dann warf sie rasch einen Blick zurück und knipste ihre Handtasche auf.»Da, nun hau ab und friß lieber, statt zu wetten.«
Einer der Zuhälter, der ihr die ganze Zeit den Rücken gekehrt hatte, drehte sich um. Er hatte ein Raubvogelgesicht mit abstehenden Ohren und trug Lackschuhe und eine Sportmütze.
»Was hast du ihm gegeben?«fragte er.
»Groschen.«
Er stieß sie mit dem Ellbogen vor die Brust.»Wird schon mehr gewesen sein! Nächstens fragste mich.«
»Mach's halblang, Ede«, sagte ein anderer. Die Hure holte ihre Puderdose heraus und malte sich die Lippen.»Ist doch wahr«, sagte Ede.
Die Hure erwiderte nichts.
Das Telefon klingelte. Ich beobachtete Ede und paßte nicht auf.»Das nennt die Welt Schwein!«hörte ich plötzlich Gustav schmettern,»Herrschaften, das ist schon mehr als Schwein, das ist eine Riesenmuttersau mit zwanzig Ferkeln!«Er schlug mir auf die Schulter.»Hundertachtzig Eier hast du getrudelt, Mann Gottes! Dein Hottehüh mit dem komischen Namen hat's gemacht!«
»Was, tatsächlich?«fragte ich.
Der Mann mit der zerkauten Brasilzigarre und dem farbenprächtigen Hemd nickte sauer und nahm mir meinen Zettel ab.»Wer hat Ihnen den Tip gegeben?«
»Ich«, sagte Bieling eilig mit einem schrecklich demütigen, erwartungsvollen Lächeln und drängte sich mit einer Verbeugung vor.»Ich, wenn Sie gestatten – meine Beziehungen…«
»Na, Mensch…«Der Chef sah ihn gar nicht an und zahlte mir das Geld aus. Einen Augenblick entstand völlige Stille im ganzen Raum. Alles sah zu. Sogar der unentwegte Esser hob den Kopf.
Ich steckte die Scheine ein.»Aufhören!«flüsterte Bieling.»Aufhören!«Er hatte rote Flecke im Gesicht. Ich schob ihm zehn Mark in die Hand. Gustav schmunzelte und boxte mich in die Rippen.»Siehst du, was habe ich dir gesagt! Mußt nur auf Gustav hören, dann scheffelst du Geld!«
Ich vermied es, den ehemaligen Sanitätsgefreiten an Gipsy II zu erinnern. Es fiel ihm gleich darauf auch wohl selber ein.»Wollen losgehen«, sagte er,»ist heute kein richtiger Tag für Künstler.«
An der Tür zupfte mich jemand am Ärmel. Es war das Fleißige Lieschen.»Was würden Sie beim Maslowski-Gedächtnisrennen tippen?«fragte er mit gierigem Respekt.
»Nur o Tannenbaum«, sagte ich und ging mit Gustav in die nächste Kneipe, um auf die Gesundheit von L'heure bleue ein Glas zu trinken.
Eine Stunde später hatte ich dreißig Mark wieder verloren. Ich hatte es doch nicht lassen können. Aber dann hörte ich auf. Bieling steckte mir beim Fortgehen einen Zettel zu.»Wenn Sie mal irgendwas brauchen! Oder Ihre Bekannten.
Ich habe die Vertretung.«Es war eine Reklame für Heimkinos.»Ich vermittle auch den Verkauf getragener Garderobe«, rief er mir noch nach.»Barzahlung!«
Um sieben Uhr fuhr ich in die Werkstatt zurück. Karl stand auf dem Hof und röhrte.»Gut, daß du kommst, Robby«, rief Köster,»wir wollen gerade 'raus und ihn ausprobieren! Steig ein.«
Die ganze Firma stand erwartungsvoll bereit. Otto hatte an Karl einiges verbessert und geändert, weil er in vierzehn Tagen mit ihm zu einem Bergrennen starten wollte. Jetzt sollte die erste Probefahrt erfolgen.
Wir stiegen ein. Jupp saß neben Köster, seine mächtige Rennbrille vor dem Gesicht. Ihm wäre das Herz gebrochen, wenn er nicht mitgekonnt hätte. Lenz und ich setzten uns nach hinten.
Karl stob davon. Wir erreichten die lange Ausfallstraße und gingen auf hundertvierzig Kilometer. Lenz und ich bückten uns dicht auf die Lehnen der Vordersitze; es war ein Wind, daß man meinte, der Kopf würde einem weggerissen. Die Pappeln zu beiden Seiten der Straße stürzten vorüber, die Reifen pfiffen, und der wunderbare Ton des Motors ging uns wie der wilde Schrei der Freiheit durch alle Knochen. Eine Viertelstunde später sahen wir vor uns einen schwarzen Punkt, der rasch größer wurde. Es war ein ziemlich schwerer Wagen, der eine Geschwindigkeit von ungefähr achtzig bis hundert Kilometern hatte. Er lag nicht besonders gut auf der Straße, sondern schwänzelte hin und her. Die Strecke war ziemlich schmal. Köster ging deshalb mit dem Tempo herunter. Als wir auf hundert Meter heran waren und hupen wollten, sahen wir plötzlich auf einem Seitenweg von rechts einen Motorradfahrer herankommen, der gleich darauf hinter einer Hecke vor der Kreuzung verschwand.»Verflucht! Das gibt was!«rief Lenz.
Im selben Augenblick sahen wir den Motorradfahrer auf der Straße auftauchen, zwanzig Meter vor dem Wagen. Er hatte wahrscheinlich dessen Tempo unterschätzt und versuchte deshalb jetzt, im Bogen vorher noch vorbeizukommen. Der Wagen ruckte scharf nach links, um so auszuweichen, aber das Motorrad rutschte jetzt ebenfalls nach links herüber. Der Wagen wurde wieder nach rechts gerissen und streifte mit dem Kotflügel das Motorrad, das herumflog. Der Fahrer stürzte vornüber auf die Straße. Der Wagen schleuderte, kam nicht wieder in die Bahn, riß den Wegweiser um, knickte eine Laterne ab und prallte mit knatterndem Getöse gegen einen Baum.
Das alles geschah in wenigen Sekunden. Im nächsten Augenblick waren wir mit unserm immer noch hohen Tempo heran, die Reifen knirschten, Köster warf Karl wie ein Pferd zwischen dem Motorradfahrer, dem Rad und dem querstehenden, dampfenden Wagen hindurch, er berührte links fast die Hand des Gestürzten und rechts das Heck des Wagens, dann brüllte der Motor auf, zwang Karl wieder in die Gerade, die Bremsen kreischten, und es wurde still.»Gut gemacht, Otto«, sagte Lenz.
Wir liefen zurück und rissen die Türen des Wagens auf. Der Motor lief noch. Köster griff zum Schaltbrett und zerrte den Schlüssel heraus. Das Keuchen der Maschine erstarb, und wir hörten Stöhnen.
Sämtliche Scheiben der schweren Limousine waren zersplittert. Im Halbdunkel des Innern sahen wir das blutüberströmte Gesicht einer Frau. Neben ihr war ein Mann, zwischen Steuerrad und Sitz gequetscht. Wir hoben zuerst die Frau heraus und legten sie auf die Straße. Ihr Gesicht war voller Schnitte, ein paar Splitter steckten noch darin, aber das Blut lief regelmäßig. Schlimmer war der rechte Arm. Der Ärmel der weißen Kostümjacke war hellrot und tropfte stark. Lenz schnitt ihn auf. Ein Schwall Blut floß heraus, dann pulste es weiter. Die Ader war zerschnitten. Lenz drehte sein Taschentuch zu einem Knebel.»Macht den Mann frei, ich werde hier schon fertig«, sagte er.»Wir müssen rasch ins nächste Krankenhaus.«
Um den Mann loszubekommen, mußten wir die Sitzlehne abschrauben. Zum Glück hatten wir Werkzeug genug bei uns, und es ging ziemlich schnell. Der Mann blutete ebenfalls und hatte anscheinend ein paar Rippen gebrochen. Als wir ihm heraushalfen, fiel er mit einem Schrei um. Es war auch was mit dem Knie los. Aber wir konnten im Augenblick nichts daran tun.
Köster fuhr Karl rückwärts bis dicht an die Unglücksstelle heran. Die Frau bekam einen Schreikrampf vor Angst, als sie ihn so näher kommen sah, obschon er im Schritt fuhr. Wir legten die Lehne eines der Vordersitze zurück und konnten so den Mann hinlegen. Die Frau setzten wir auf den Hintersitz. Ich stellte mich neben sie auf das Trittbrett, Lenz hielt ebenso von der andern Seite den Mann fest.»Bleib hier und paß auf den Wagen auf, Jupp«, sagte Lenz.
»Wo ist eigentlich der Motorradfahrer geblieben?«fragte ich.
»Abgehauen, als wir am Arbeiten waren«, erklärte Jupp.
Wir fuhren langsam los. In der Nähe des nächsten Dorfes war ein kleines Sanatorium. Wir hatten es oft im Vorüberfahren gesehen. Es lag weiß und niedrig auf einem Hügel. Soviel wir wußten, war es eine Art Privatirrenanstalt für leichtkranke, reiche Patienten – aber sicher war ein Arzt da und ein Verbandsraum.
Wir fuhren den Hügel hinauf und klingelten. Eine sehr hübsche Schwester kam heraus. Sie wurde blaß, als sie das Blut sah, und lief zurück. Gleich darauf kam eine zweite, bedeutend ältere.»Bedaure«, sagte sie sofort,»wir sind nicht auf Unfälle eingerichtet. Sie müssen zum Virchow-Krankenhaus fahren. Es ist nicht weit.«
»Es ist fast eine Stunde von hier«, erwiderte Köster.
Die Schwester sah ihn abweisend an.»Wir sind gar nicht auf so etwas eingerichtet. Es ist auch kein Arzt da…«
»Dann verstoßen Sie gegen das Gesetz«, erklärte Lenz.»Privatanstalten Ihrer Art müssen einen ständigen Arzt haben. Würden Sie mir erlauben, einmal Ihr Telefon zu benützen? Ich möchte mit der Polizeidirektion und der Redaktion des Tageblattes telefonieren.«
Die Schwester wurde unschlüssig.»Ich glaube, Sie können beruhigt sein«, sagte Köster kalt.»Ihre Arbeit wird Ihnen sicher gut bezahlt werden. Wir brauchen zunächst eine Tragbahre. Den Arzt werden Sie ja wohl erreichen können.«Sie zögerte immer noch.»Eine Tragbahre«, erläuterte Lenz,»gehört ebenfalls laut Gesetz, ebenso wie ausreichendes Verbandsmaterial…«
»Jaja«, erwiderte sie hastig, scheinbar niedergeschmettert durch so viel Kenntnisse,»sofort, ich schicke jemand…«
Sie verschwand.»Allerhand«, sagte ich.
»Kann dir auch im Städtischen Krankenhaus passieren«, antwortete Gottfried gleichmütig.»Erst kommt das Geld, dann die Bürokratie, dann die Hilfe.«
Wir gingen zum Wagen zurück und halfen der Frau heraus. Sie sagte nichts; sie blickte nur auf ihre Hände. Wir brachten sie in einen kleinen Ordinationsraum im Parterre. Dann kam die Tragbahre für den Mann. Wir hoben ihn hinauf. Er stöhnte.»Einen Augenblick…«
Wir sahen ihn an. Er schloß die Augen.»Ich möchte, daß niemand etwas erfährt«, sagte er mühsam.
»Sie waren völlig ohne Schuld«, erwiderte Köster.»Wir haben den Unfall genau gesehen und sind gern Zeugen für Sie.«
»Das ist es nicht«, sagte der Mann.»Ich möchte aus anderen Gründen, daß nichts bekannt wird. Sie verstehen…«Er blickte nach der Tür, durch die die Frau gegangen war.
»Dann sind Sie hier am richtigen Platz«, erklärte Lenz.»Es ist ein Privathaus. Das einzige wäre nur noch, daß Ihr Wagen verschwindet, ehe die Polizei ihn sieht.«
Der Mann stützte sich auf.»Würden Sie das für mich noch machen? Eine Reparaturanstalt anrufen? Und geben Sie mir bitte Ihre Adresse! Ich möchte – ich bin Ihnen zu Dank…«
Köster wehrte mit einer Handbewegung ab.»Doch«, sagte der Mann,»ich wüßte gern…«
»Ganz einfach«, erwiderte Lenz.»Wir haben selbst eine Reparaturwerkstatt und sind Spezialisten für Wagen wie den Ihren. Wir werden ihn gleich mitnehmen, wenn Sie einverstanden sind, und ihn wieder in Ordnung bringen. Damit ist Ihnen geholfen und uns gewissermaßen auch.«
»Gern«, sagte der Mann.»Wollen Sie meine Adresse – ich komme dann selbst, den Wagen holen. Oder schicke jemand.«
Köster steckte die Visitenkarte in die Tasche, und wir trugen ihn hinein. Der Arzt, ein junger Mann, war inzwischen gekommen. Er hatte das Blut vom Gesicht der Frau abgewaschen, und man sah jetzt die tiefen Schnitte. Die Frau hob sich auf den gesunden Arm und starrte in das blinkende Nickel einer Schale auf dem Verbandstisch.»Oh«, sagte sie leise und ließ sich zurückfallen, mit entsetzten Augen.
Wir fuhren zum Dorf und fragten nach einer Werkstatt. Dort liehen wir uns bei einem Schmied eine Abschleppvorrichtung und ein Seil und versprachen dem Mann zwanzig Mark dafür. Doch der war mißtrauisch und wollte den Wagen sehen. Wir nahmen ihn mit und fuhren zurück.
Jupp stand mitten auf der Straße und winkte. Aber wir sahen ohne ihn schon, was los war. Ein alter, hochbordiger Mercedes stand am Straßenrand, und vier Leute waren dabei, den Stutz abzuschleppen.
»Da kommen wir ja gerade noch zurecht«, sagte Köster.
»Das sind die Brüder Vogt«, erwiderte der Schmied.»Gefährliche Bande. Wohnen drüben. Was die in den Fingern haben, geben sie nicht wieder her.«
»Mal sehen«, sagte Köster.
»Ich habe denen da schon alles erklärt, Herr Köster«, flüsterte Jupp.»Schmutzkonkurrenz. Wollen den Wagen für ihre eigene Werkstatt haben.«
»Schön, Jupp. Bleibt mal vorläufig hier.«
Köster ging auf den größten der vier zu und sprach ihn an. Er erklärte ihm, daß der Wagen uns gehöre.»Hast du irgend etwas Hartes bei dir?«fragte ich Lenz.
»Nur einen Schlüsselbund, und den brauche ich selber.
Nimm einen kleinen Engländer.«
»Lieber nicht«, sagte ich,»das könnte zu schwerer Körperverletzung führen. Schade, daß ich so leichte Schuhe anhabe. Sonst wäre Treten immer noch das beste.«
»Machen Sie mit?«fragte Lenz den Schmied.»Dann sind wir vier gegen vier.«
»Ich werde mich hüten! Damit die mir morgen die Bude einschlagen. Ich bleibe streng neutral.«
»Auch richtig«, sagte Gottfried.
»Ich mache mit«, erklärte Jupp.
»Untersteh dich!«sagte ich.»Du paßt auf, ob jemand kommt, weiter nichts.«
Der Schmied entfernte sich ein Stück von uns, um seine strenge Neutralität noch deutlicher zu zeigen.
»Quatsch keine Opern!«hörte ich gleich darauf den größten der Brüder Vogt Köster anknarren.»Wer zuerst da ist, mahlt zuerst! Fertig! Und nun schiebt ab!«
Köster erklärte nochmals, daß der Wagen uns gehöre. Er bot Vogt an, ihn in das Sanatorium zu fahren, damit er sich dort erkundigen könne. Der grinste verächtlich. Lenz und ich kamen näher.»Ihr wollt wohl auch ins Krankenhaus, was?«fragte Vogt. Köster antwortete nicht, sondern ging an das Auto heran. Die drei andern Vogts richteten sich auf. Sie standen jetzt dicht zusammen.»Gebt mal das Abschleppseil her«, sagte Köster zu uns.»Mensch«, erwiderte der älteste Vogt. Er war einen Kopf größer als Köster.»Tut mir leid«, sagte Köster,»aber wir werden den Wagen mitnehmen.«Lenz und ich schlenderten noch näher heran, die Hände in den Taschen. Köster bückte sich zu dem Wagen herunter. Im gleichen Moment schleuderte Vogt ihn mit einem Tritt beiseite. Otto hatte damit gerechnet; er hatte in derselben Sekunde das Bein gefaßt und Vogt umgerissen. Dann kam er hoch und schlug dem nächsten der Brüder, der gerade die Stange des Wagenhebers hob, vor den Magen, daß er taumelte und ebenfalls zu Boden ging. Im nächsten Augenblick sprangen Lenz und ich auf die beiden andern zu. Ich bekam sofort einen Schlag ins Gesicht. Es war nicht schlimm, aber meine Nase fing an zu bluten, ich verfehlte den nächsten Schlag, rutsche am fettigen Kinn des andern ab, bekam einen zweiten Hieb gegen das Auge und stürzte so unglücklich, daß mich der Vogt mit dem Magenschlag am Boden zu fassen kriegte. Er drückte mich gegen den Asphalt und umklammerte meinen Hals. Ich spannte die Muskeln an, damit er mich nicht würgen konnte, und versuchte, mich zu krümmen und herumzurollen, um ihn mit den Füßen wegzustoßen oder ihm in den Bauch zu treten. Aber Lenz und sein Vogt waren über meinen Beinen am Ringen, und ich kam nicht frei. Der Atem wurde mir schwer trotz der angespannten Halsmuskeln, weil ich durch die blutende Nase keine Luft bekam. Allmählich wurde alles glasig um mich her, das Gesicht Vogts zitterte vor meinen Augen wie Gallert, und ich spürte schwarze Schatten hinter meinem Schädel. Mit dem letzten Blick sah ich Jupp plötzlich neben mir; – er kniete im Straßengraben, verfolgte ruhig und aufmerksam mein Zucken und schlug, als in einer Sekunde der Stille alles für ihn parat schien, mit einem Hammer gegen Vogts Handgelenk. Beim zweiten Schlag ließ Vogt los und griff vom Boden aus wütend nach Jupp, der einen halben Meter zurückrutschte und ihm in aller Ruhe einen dritten saftigen Schlag auf die Finger und dann einen auf den Kopf versetzte. Ich kam hoch, rollte mich auf Vogt und begann ihm meinerseits den Hals zuzuschnüren. In diesem Augenblick erscholl ein tierisches Brüllen und dann ein Wimmern:»Loslassen – loslassen!«
Es war der älteste Vogt. Köster hatte ihm einen Arm umgedreht und über den Rücken hochgerissen. Vogt war mit dem Kopf voran zu Boden gegangen, und Köster kniete jetzt auf seinem Rücken und drehte den Arm weiter. Gleichzeitig schob er ihn mit dem Knie näher zum Nacken heran. Vogt heulte, aber Köster wußte, daß er ihn richtig fertigmachen mußte, wenn wir Ruhe haben wollten. Er renkte ihm mit einem Ruck den Arm aus und ließ ihn erst dann los. Vogt blieb eine Weile am Boden liegen. Ich sah auf. Einer der Brüder stand noch, aber das Schreien seines Bruders hatte ihn förmlich gelähmt.
»Macht euch weg, sonst geht's noch mal los«, sagte Köster zu ihm.
Ich schlug meinem Vogt zum Abschied noch einmal den Schädel auf die Straße und ließ dann los. Lenz stand schon neben Köster. Seine Jacke war zerrissen. Er blutete aus dem Mundwinkel. Der Kampf schien unentschieden gewesen zu sein, denn sein Vogt blutete zwar auch, stand aber ebenfalls. Die Niederlage des ältesten Bruders hatte alles entschieden. Keiner wagte noch ein Wort. Sie halfen dem ältesten auf und gingen zu ihrem Wagen. Der Unverletzte kam noch einmal zurück und holte den Wagenheber. Er schielte Köster an, als wäre er der Teufel. Dann rasselte der Mercedes los.
Auf einmal war der Schmied wieder da.»Die haben genug«, sagte er.»So was ist denen lange nicht passiert. Der älteste hat schon wegen Totschlag gesessen.«
Niemand antwortete ihm. Köster schüttelte sich plötzlich.»Schweinerei«, sagte er. Dann drehte er sich um.»Los!«
»Bin schon da«, erwiderte Jupp und rollte den Schleppesel heran.
»Komm mal her«, sagte ich.»Ab heute bist du Unteroffizier und darfst mit Zigarrenrauchen anfangen.«
Wir bockten den Wagen auf und befestigten ihn mit dem Drahtseil hinter Karl.»Glaubst du, daß es ihm nicht schadet?«fragte ich Köster.»Karl ist schließlich ein Rennpferd und kein Packesel.«
Er schüttelte den Kopf.»Ist ja nicht weit. Und ebene Straße.«Lenz setzte sich in den Stutz, und wir fuhren langsam los. Ich drückte mein Taschentuch gegen die Nase und schaute über die abendlichen Felder und in die sinkende Sonne. Es war ein ungeheurer, durch nichts zu erschütternder Friede darin, und man spürte, daß es der Natur völlig gleichgültig war, was dieses bösartige Ameisengewimmel, Menschheit genannt, auf der Welt trieb. Es war viel wichtiger, daß die Wolken jetzt allmählich zu goldenen Gebirgen wurden, daß die violettfarbenen Schatten der Dämmerung lautlos vom Horizont heranwehten, daß die Lerchen aus der grenzenlosen Weite des Himmels heimkehrten in ihre Ackerfurchen und daß es langsam Nacht wurde.
Wir fuhren auf unsern Hof ein. Lenz kletterte aus dem Stutz und nahm feierlich den Hut vor ihm ab.»Sei gegrüßt, Gesegneter! Du kommst aus traurigem Anlaß hierher, aber uns wirst du, mit liebevollem Auge oberflächlich geschätzt, etwa drei- bis dreieinhalbtausend Mark einbringen. Und jetzt gebt mir ein großes Glas Kirschwasser und ein Stück Seife – ich muß die Familie Vogt loswerden!«
Wir tranken alle ein Glas, dann gingen wir sofort daran, den Stutz möglichst weit auseinanderzunehmen. Es genügte nämlich nicht immer, daß der Besitzer allein den Auftrag zur Reparatur gab; – oft kam nachträglich noch die Versicherungsgesellschaft um den Wagen anderswohin, in eine ihrer Vertragswerkstätten, zu geben. Je weiter wir deshalb kamen, um so besser war es. Die Kosten für die Neumontage waren dann schon so hoch, daß es billiger war, den Wagen bei uns zu lassen. Es war dunkel, als wir aufhörten.»Fährst du heute abend noch Taxi?«fragte ich Lenz.
»Ausgeschlossen«, erwiderte Gottfried.»Man soll das Geldverdienen auf keinen Fall übertreiben. Der Stutz genügt mir.«
»Mir nicht«, sagte ich.»Wenn du nicht fährst, werde ich von elf bis zwei die Nachtlokale abgrasen.«
»Laß das lieber«, schmunzelte Gottfried.»Sieh statt dessen mal in den Spiegel. Du hast in letzter Zeit Pech mit deiner Nase. Mit der Runkelrübe steigt kein Mensch bei dir ein. Geh ruhig nach Hause und leg dir Kompressen drauf.«
Er hatte recht. Es ging wirklich nicht mit meiner Nase. Ich verabschiedete mich deshalb bald und ging nach Hause. Unterwegs traf ich Hasse und ging mit ihm das letzte Stück zusammen. Er sah verstaubt und elend aus.»Sie sind dünner geworden«, sagte ich.
Er nickte und erzählte mir, daß er abends nicht mehr richtig äße. Seine Frau sei fast jeden Tag bei den Bekannten, die sie gefunden hätte, und käme immer erst spät nach Hause. Er sei froh, daß sie Unterhaltung habe, aber abends hätte er keine Lust, sich allein etwas zu essen zu machen. Er hätte auch nicht viel Hunger; er sei viel zu müde dazu.
Ich sah ihn von der Seite an, während er mit hängenden Schultern neben mir herging. Vielleicht glaubte er wirklich, was er sagte, aber es war doch jammervoll, es mit anzuhören. Es war nur ein bißchen Sicherheit und ein bißchen Geld, woran diese Ehe und dieses sanfte, bescheidene Leben scheiterte. Ich dachte daran, daß es Millionen solcher Menschen gab und daß es immer nur das bißchen Sicherheit und das bißchen Geld war. Das Dasein war in einer entsetzlichen Weise zusammengeschrumpft zu dem armseligen Kampf um die nackte Existenz. Ich dachte an die Prügelei heute nachmittag, ich dachte an das, was ich in den letzten Wochen gesehen hatte, ich dachte an alles, was ich schon gemacht hatte, und dann dachte ich an Pat und hatte plötzlich das Gefühl, daß das nie zusammenkommen könnte. Der Sprung war zu groß, das Leben war zu dreckig geworden für das Glück, es konnte nicht dauern, man glaubte nicht mehr daran, es war eine Atempause, aber kein Hafen.
Wir stiegen die Treppe hinauf und schlossen die Tür auf. Auf dem Vorplatz blieb Hasse stehen.»Also dann auf Wiedersehen…«
»Essen Sie heute mal was«, sagte ich.
Er schüttelte den Kopf mit einem schwachen Lächeln, als wollte er um Entschuldigung bitten, und ging in sein leeres dunkles Zimmer. Ich blickte ihm nach. Dann ging ich weiter den Schlauch des Korridors entlang. Plötzlich hörte ich leises Singen. Ich blieb stehen und horchte. Es war nicht Erna Bönigs Grammophon, wie ich zuerst glaubte; es war die Stimme Pats. Sie war allein in ihrem Zimmer und sang. Ich sah nach der Tür hinüber, hinter der Hasse verschwunden war, ich beugte mich wieder vor und lauschte, und dann preßte ich plötzlich die Hände zusammen – verflucht, mochte es tausendmal nur eine Atempause und kein Hafen sein, mochte es tausendmal zu weit auseinanderliegen, so daß man nicht daran glauben konnte – gerade weil man nicht daran glauben konnte, gerade deshalb war es immer und immer wieder bestürzend neu und überwältigend, das Glück!
Pat hörte mich nicht kommen. Sie saß auf dem Boden vor dem Spiegel und probierte an einem Hut herum, einer kleinen schwarzen Kappe. Neben ihr auf dem Teppich stand die Lampe. Das Zimmer war voll von einer warmen braungoldenen Dämmerung, und nur ihr Gesicht war hell vom Licht bestrahlt. Sie hatte sich einen Stuhl herangerückt, von dem ein bißchen Seide herunterhing. Auf dem Sitz lag eine Schere und blitzte.
Ich blieb ruhig an der Tür stehen und sah zu, wie sie ernsthaft an der Kappe arbeitete. Sie liebte es, auf dem Boden zu sitzen, und ich hatte sie manchmal schon abends eingeschlafen in irgendeiner Zimmerecke auf dem Boden gefunden, neben sich ein Buch und den Hund.
Der Hund lag auch jetzt neben ihr und begann zu knurren. Pat blickte auf und sah mich im Spiegel. Sie lächelte, und mir schien, als ob alles in der Welt heller dadurch würde. Ich ging durch das Zimmer, kniete hinter ihr nieder und legte meinen Mund nach all dem Dreck des Tages auf die warme, weiche Haut des Nackens vor mir.
Sie hob die schwarze Kappe hoch.»Ich habe sie geändert, Liebling. Gefällt sie dir so?«
»Es ist ein ganz herrlicher Hut«, sagte ich.
»Aber du siehst ja gar nicht hin! Ich habe hinten den Rand abgeschnitten und ihn vorn hochgeklappt.«
»Ich sehe ihn ganz genau«, sagte ich mit dem Gesicht in ihrem Haar,»es ist ein Hut, bei dem die Pariser Schneider vor Neid erbleichen würden, wenn sie ihn sähen.«
»Aber Robby!«Lachend schob sie mich zurück.»Du hast keine Ahnung davon. Siehst du überhaupt manchmal, was ich anhabe?«
»Ich sehe jede Kleinigkeit«, erklärte ich und hockte mich dicht neben sie auf den Boden, allerdings etwas in den Schatten, wegen meiner Nase.
»So? Was habe ich denn gestern abend angehabt?«
»Gestern?«Ich dachte nach. Ich wußte es tatsächlich nicht.
»Das habe ich erwartet, Liebling! Du weißt ja überhaupt fast gar nichts von mir.«
»Stimmt«, sagte ich,»aber das ist gerade das Schöne. Je mehr man voneinander weiß, desto mehr mißversteht man sich. Und je näher man sich kennt, desto fremder wird man sich. Sieh mal die Familie Hasse an; – die wissen alles voneinander und sind sich mehr zuwider als die fremdesten Menschen.«
Sie setzte die kleine schwarze Kappe auf und probierte sie vor dem Spiegel.»Was du da sagst, stimmt nur halb, Robby.«
»Das ist mit allen Wahrheiten so«, erwiderte ich.»Weiter kommen wir nie. Dafür sind wir Menschen. Und wir machen schon genug Unsinn mit unsern halben Wahrheiten. Mit den ganzen könnten wir überhaupt nicht leben.«
Sie setzte den Hut ab und legte ihn fort. Dann drehte sie sich um. Dabei erblickte sie meine Nase.»Was ist denn das?«fragte sie erschrocken.
»Nichts Schlimmes. Es sieht nur so aus. Beim Arbeiten unter dem Wagen ist mir was drauf gefallen.«
Sie sah mich ungläubig an.»Wer weiß, wo du wieder gewesen bist! Du sagst mir ja nie etwas. Ich weiß von dir ebensowenig wie du von mir.«
»Das ist auch besser«, sagte ich.
Sie holte eine Schale mit Wasser und ein Tuch und machte mir eine Kompresse. Dann betrachtete sie mich noch einmal.»Es sieht wie ein Schlag aus. Dein Hals ist auch zerkratzt. Du wirst sicher irgendein Abenteuer gehabt haben, Liebling.«
»Mein größtes Abenteuer heute kommt noch«, sagte ich.
Sie sah überrascht auf.»So spät noch, Robby? Was hast du denn noch vor?«
»Ich bleibe hier!«erwiderte ich, warf die Kompresse weg und nahm sie in die Arme.»Ich bleibe den ganzen Abend hier mit dir zusammen!«