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Mitte Oktober ließ Jaffé mich rufen. Es war zehn Uhr morgens, aber das Wetter war so trübe, daß in der Klinik noch Licht brannte. Es vermischte sich mit der Nebeldämmerung von draußen zu einer fahlen, krankhaften Helligkeit.
Jaffé saß allein in seinem großen Sprechzimmer. Er hob den kahlen, beglänzten Kopf, als ich eintrat. Mürrisch zeigte er auf das große Fenster, gegen das der Regen klatschte.»Was sagen Sie zu diesem verdammten Wetter?«
Ich zuckte die Achseln.»Hoffentlich hört es bald mal auf.«
»Das hört nicht auf.«
Er sah mich an und schwieg. Dann nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch, betrachtete ihn, klopfte damit auf die Platte und legte ihn wieder beiseite.
»Ich kann mir denken, weshalb Sie mich gerufen haben«, sagte ich.
Jaffé knurrte irgend etwas. Ich wartete einen Augenblick. Dann sagte ich:»Pat muß wohl jetzt bald fort?«
»Ja…«
Jaffé starrte ärgerlich vor sich hin.»Ich hatte mit Ende Oktober gerechnet. Aber bei diesem Wetter…«Er griff nach dem silbernen Bleistift.
Der Wind warf einen Schauer Regen prasselnd gegen das Fenster. Es klang wie fernes Maschinengewehrfeuer.»Wann denken Sie, daß sie reisen soll?«fragte ich.
Er sah mich plötzlich von unten herauf voll an.»Morgen«, sagte er.
Ich spürte eine Sekunde keinen Boden unter den Füßen.
Die Luft war wie Watte und klebte mir in der Lunge. Dann ging es vorüber, und ich fragte, so ruhig ich konnte, aber meine Stimme kam weit her, als fragte ein anderer:»Ist es auf einmal so viel schlimmer geworden?«
Jaffé schüttelte heftig den Kopf und stand auf.»Wenn es sich so schnell verändert hätte, könnte sie doch überhaupt nicht fahren«, erklärte er unfreundlich.»Es ist nur besser. Bei diesem Wetter ist jeder Tag eine Gefahr. Erkältungen und so was…«
Er nahm ein paar Briefe vom Schreibtisch.»Ich habe schon alles vorbereitet. Sie brauchen nur abzufahren. Den Chefarzt des Sanatoriums kenne ich seit meiner Studienzeit. Er ist sehr tüchtig. Ich habe ihn genau informiert.«
Er gab mir die Briefe. Ich nahm sie, aber ich steckte sie nicht ein. Er sah mich an, dann blieb er vor mir stehen und legte eine Hand auf meinen Arm. Sie war leicht wie ein Vogelflügel, ich spürte sie überhaupt nicht.»Schwer«, sagte er leise mit veränderter Stimme,»ich weiß es. Deshalb habe ich auch damit gewartet, solange es ging.«
»Es ist nicht schwer…«, erwiderte ich.
Er wehrte ab.»Lassen Sie nur…«
»Nein«, sagte ich,»so meine ich das auch nicht. Ich möchte nur eines wissen: Kommt sie zurück?«
Jaffé schwieg einen Augenblick. Seine dunklen, schmalen Augen glänzten in dem trüben gelben Licht.»Weshalb wollen Sie das jetzt wissen?«fragte er nach einer Weile.
»Weil es sonst besser ist, daß sie nicht fährt«, sagte ich.
Er blickte rasch auf.»Was sagen Sie da?«
»Es ist sonst besser, daß sie hierbleibt.«
Er starrte mich an.»Wissen Sie auch, was das mit Sicherheit bedeuten würde?«fragte er dann leise und scharf.
»Ja«, sagte ich.»Es würde bedeuten, daß sie nicht allein sterben würde. Und was das heißt, weiß ich auch.«
Jaffé hob die Schultern hoch, als fröstele er. Dann ging er langsam zum Fenster und sah in den Regen hinaus. Als er zurückkam, war sein Gesicht eine Maske. Er blieb dicht vor mir stehen.»Wie alt sind Sie?«fragte er.
»Dreißig«, erwiderte ich. Ich begriff nicht, was er wollte.
»Dreißig«, wiederholte er in einem merkwürdigen Tone, als spräche er zu sich selbst und hätte mich gar nicht verstanden.»Dreißig, mein Gott!«Er ging zu seinem Schreibtisch und blieb dort stehen, klein und abwesend neben dem riesigen, blanken Möbel.»Ich bin jetzt bald sechzig«, sagte er, ohne mich anzusehen,»aber ich könnte das nicht. Ich würde immer wieder alles versuchen, immer wieder, und wenn ich genau wüßte, daß es zwecklos wäre.«
Ich schwieg. Jaffé stand da, als hätte er alles um sich herum vergessen. Dann machte er eine Bewegung, und sein Gesicht wechselte den Ausdruck. Er lächelte.»Ich glaube bestimmt, daß sie oben den Winter gut überstehen wird.«
»Nur den Winter?«fragte ich.
»Ich hoffe, daß sie dann im Frühjahr wieder herunter kann.«
»Hoffen«, sagte ich,»was heißt hoffen?«
»Alles«, erwiderte Jaffé.»Immer alles. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr sagen. Das andere sind Möglichkeiten. Man muß sehen, wie es oben wird. Aber ich hoffe bestimmt, daß sie im Frühjahr zurückkommen kann.«
»Bestimmt?«
»Ja.«Er ging um den Schreibtisch herum und stieß mit dem Fuß eine offenstehende Schublade so heftig zu, daß die Gläser klirrten.»Verdammt, Mann, es geht mir doch selber nahe, daß sie weg muß!«murmelte er.
Eine Schwester kam herein. Jaffé winkte ihr ab. Sie blieb trotzdem stehen, untersetzt, vierschrötig, mit einem Bulldoggengesicht unter grauem Haar.
»Nachher!«knurrte Jaffé,»kommen Sie nachher wieder!«
Die Schwester drehte sich ärgerlich um. Im Hinausgehen knipste sie das elektrische Licht aus. Grau und milchig stand plötzlich der Tag in dem großen Raum. Jaffés Gesicht war auf einmal ganz fahl.»Alte Hexe!«sagte er.»Seit zwanzig Jahren will ich sie schon 'rauswerfen. Ist nur zu tüchtig.«
Dann wandte er sich mir zu.»Nun?«
»Wir fahren heute abend«, sagte ich.
»Heute?«
»Ja. Wenn es schon sein muß, dann ist heute besser als morgen. Ich werde sie hinbringen. Ein paar Tage kann ich schon hier weg.«
Er nickte und gab mir die Hand.
Ich ging. Der Weg zur Tür erschien mir sehr weit.
Draußen blieb ich stehen. Ich merkte, daß ich die Briefe noch in der Hand hatte. Der Regen klatschte auf das Papier. Ich wischte die Briefe ab und steckte sie in die Brusttasche. Dann sah ich mich um. Ein Omnibus hielt gerade vor dem Hause. Er war voll besetzt, und ein Schwarm von Leuten drängte hinaus. Ein paar Mädchen in schwarzen, glänzenden Regenmänteln lachten mit dem Schaffner. Er war jung, und die weißen Zähne blitzten in seinem braunen Gesicht. Das geht doch nicht, dachte ich, das kann doch alles nicht stimmen! So viel Leben, und Pat muß fort!
Der Omnibus fuhr klingelnd ab. Seine Räder spritzten eine Garbe Wasser über den Bürgersteig. Ich ging weiter, um Köster Bescheid zu sagen und die Fahrkarten zu besorgen.
Mittags kam ich nach Hause. Ich hatte alles erledigt und auch dem Sanatorium schon telegrafiert.»Pat«, sagte ich noch in der Tür,»kannst du bis heute abend alles gepackt haben?«
»Muß ich fort?«
»Ja«, sagte ich.»Ja, Pat.«
»Allein?«
»Nein. Wir fahren zusammen. Ich bringe dich hin.«
Ihr Gesicht bekam wieder Farbe.»Wann muß ich fertig sein?«fragte sie.
»Der Zug fährt heute abend um zehn.«
»Und gehst du jetzt noch einmal fort?«
»Nein. Ich bleibe hier, bis wir wegfahren.«
Sie atmete tief.»Dann ist es ganz einfach, Robby«, sagte sie.»Wollen wir gleich anfangen?«
»Wir haben noch Zeit.«
»Ich möchte gleich anfangen. Dann ist es fertig.«
»Gut.«
Ich verstaute die paar Sachen, die ich mitnehmen wollte, rasch und war in einer halben Stunde fertig. Dann ging ich zu Frau Zalewski hinüber und sagte ihr, daß wir abends reisen würden. Ich machte mit ihr ab, daß das Zimmer zum ersten November frei würde, wenn sie es nicht früher vermieten könnte. Sie wollte ein langes Gespräch beginnen, aber ich ging rasch wieder zurück.
Pat kniete vor ihrem Schrankkoffer, rundum hingen ihre Kleider, auf dem Bett lag Wäsche, und sie packte gerade ihre Schuhe ein. Ich erinnerte mich daran, daß sie auch so gekniet hatte, als sie in dieses Zimmer eingezogen war und ausgepackt hatte, und mir schien, als wäre das endlos lange her und doch eigentlich erst gestern gewesen. Sie sah auf.»Nimmst du das silberne Kleid auch mit?«fragte ich.
Sie nickte.»Was machen wir nur mit all den andern Sachen, Robby? Mit den Möbeln?«
»Ich habe schon mit Frau Zalewski gesprochen. Soviel ich kann, nehme ich in mein Zimmer hinüber. Das übrige geben wir einer Speditionsfirma zum Aufbewahren. Da holen wir es dann wieder ab, wenn du zurückkommst.«
»Wenn ich zurückkomme«, sagte sie.
»Ja«, erwiderte ich,»im Frühling, wenn du braun von der Sonne zurückkommst.«
Ich half ihr packen, und nachmittags, als es schon dunkel draußen wurde, waren wir fertig. Es war sonderbar: die Möbel standen alle noch am gleichen Platz, nur die Schränke und Schubladen waren geleert, und trotzdem erschien das Zimmer plötzlich kahl und traurig. Pat setzte sich auf ihr Bett. Sie sah müde aus.»Soll ich Licht machen?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.»Laß es noch etwas so.«
Ich setzte mich neben sie.»Willst du eine Zigarette?«
»Nein, Robby. Nur ein bißchen so sitzen.«
Ich stand auf und ging zum Fenster. Draußen brannten die Laternen unruhig im Regen. Der Wind wühlte in den Bäumen. Unten ging Rosa langsam vorüber. Ihre hohen Stiefel glänzten. Sie trug ein Paket unter dem Arm und war auf dem Wege zum International. Wahrscheinlich hatte sie ihr Strickzeug bei sich, um für ihre Kleine wollene Sachen zu stricken. Ihr folgten Fritzi und Marion, beide in neuen weißen, enganliegenden Regenmänteln, und nach einer Weile schlich Mimi, abgerissen und müde, hinter ihnen her.
Ich drehte mich um. Es war jetzt so dunkel geworden, daß ich Pat nicht mehr sehen konnte. Ich hörte sie nur atmen. Langsam und trübe begannen hinter den Bäumen des Friedhofs die Lichtreklamen emporzuklettern. Die rote Leuchtschrift der Zigarettenreklame zog wie ein buntes Ordensband über die Hausdächer dahin, die blauen und smaragdgrünen Kreise der Weinfirmen begannen zu sprühen, und die hellen Konturen der Wäschereklame leuchteten auf. Ihr Licht warf einen matten, verschwommenen Schein durch die Fenster auf die Wände und die Decke. Er wanderte hin und her, und das Zimmer erschien plötzlich wie eine verlorene, kleine Taucherglocke auf dem Grunde des Meeres, um die die Regenwellen rauschten und zu der aus weiter Ferne noch ein schwacher Abglanz der bunten Welt herabdrang.
Es war acht Uhr abends. Draußen röhrte ein Klaxon.»Das ist Gottfried mit dem Taxi«, sagte ich,»er will uns zum Essen abholen.«
Ich stand auf, ging zum Fenster und rief hinunter, daß wir kämen. Dann knipste ich die kleine Tischlampe an und ging in mein Zimmer. Es war mir verflucht fremd. Ich holte die Rumflasche und trank rasch ein Glas. Dann setzte ich mich in den Sessel und starrte auf die Tapete. Nach einer Weile stand ich wieder auf und ging zum Waschtisch, um mir die Haare zu bürsten. Ich vergaß es darüber, weil ich im Spiegel plötzlich mein Gesicht sah. Kalt und neugierig betrachtete ich es. Ich verzog die Lippen und grinste es an. Es grinste gespannt und blaß zurück.»Du«, sagte ich lautlos. Dann ging ich zu Pat zurück.
»Wollen wir los, alter Bursche?«fragte ich.
»Ja«, sagte sie,»aber ich will noch einmal in dein Zimmer gehen.«
»Warum?«erwiderte ich.»Die alte Bude…«
»Bleib du hier«, sagte sie.»Ich komme gleich wieder.«
Ich wartete eine Zeitlang, dann ging ich hinüber. Sie stand in der Mitte des Zimmers und fuhr zusammen, als sie mich erblickte. Ich hatte sie noch nie so gesehen. Sie war ganz ausgelöscht. Es war nur eine Sekunde, dann lächelte sie wieder.
»Komm«, sagte sie.»Jetzt wollen wir gehen.«
An der Küche erwartete uns Frau Zalewski. Ihre grauen Löckchen wogten, und sie trug die Brosche mit dem seligen Zalewski auf dem schwarzen Seidenkleid.»Fassung!«flüsterte ich Pat zu,»sie wird dich umarmen.«
Im nächsten Moment verschwand Pat bereits an dem ungeheuren Busen. Das gewaltige Gesicht über ihr zuckte. Es handelte sich nur noch um Sekunden, und Pat wäre unabsehbar überschwemmt worden; wenn Mutter Zalewski weinte, dann standen ihre Augen unter Druck wie Syphonflaschen.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich,»wir müssen eiligst los! Es ist höchste Zeit!«
»Höchste Zeit?«Frau Zalewski maß mich mit einem vernichtenden Blick.»Der Zug geht erst in zwei Stunden! Inzwischen wollen Sie das arme Kind doch wahrscheinlich nur betrunken machen!«
Pat mußte lachen.»Nein, Frau Zalewski. Wir wollen uns noch von den andern verabschieden.«
Mutter Zalewski schüttelte ungläubig den Kopf.»Sie sehen bei diesem jungen Mann in einen goldenen Topf, Fräulein Hollmann. Dabei ist er allerhöchstens eine goldene Schnapsflasche.«
»Ein schönes Bild«, sagte ich.
»Mein Kind…«, Frau Zalewski wurde wieder von Rührung gepackt.»Kommen Sie bald wieder! Ihr Zimmer ist immer für Sie da. Und wenn der Kaiser selbst darin wohnte, er müßte 'raus, wenn Sie kommen!«
»Danke schön, Frau Zalewski«, sagte Pat.»Vielen Dank für alles. Auch für das Kartenlegen. Ich werde mir alles merken.«
»Das ist schön. Und erholen Sie sich gut, und werden Sie ganz gesund!«
»Ja«, erwiderte Pat,»ich werde es versuchen. Auf Wiedersehen, Frau Zalewski. Auf Wiedersehen, Frida.«
Wir gingen. Die Korridortür klappte hinter uns zu. Im Treppenhaus war es halbdunkel; ein paar elektrische Birnen waren ausgebrannt. Pat schwieg, während sie leise und weich die Treppen hinunterstieg. Ich hatte das Gefühl, als wäre ein Urlaub zu Ende und wir gingen jetzt im grauen Morgen zum Bahnhof, um an die Front zu fahren.
Lenz öffnete die Tür zum Taxi.»Vorsicht!«sagte er.
Der Wagen war voller Rosen. Zwei riesige Büsche weißer und roter Blüten lagen auf den hinteren Sitzen. Ich erkannte sofort, woher sie kamen – aus dem Domgarten.»Die letzten«, erklärte Gottfried selbstzufrieden.»Haben eine gewisse Mühe gekostet. Mußte mit einem Pfarrer längere Zeit darüber diskutieren.«
»War das einer mit so hellen blauen Kinderaugen?«fragte ich.
»Aha, also du warst das, Bruder!«erwiderte Gottfried.»Von dir hat er mir also erzählt. Der Mann war mächtig enttäuscht, als er merkte, was es mit dem Kreuzwegbeten auf sich hatte. Er hatte schon geglaubt, die Frömmigkeit der männlichen Bevölkerung nähme wieder zu.«
»Hat er dich denn mit den Blumen so losziehen lassen?«fragte ich.
»Er ließ mit sich reden. Zuletzt hat er mir sogar geholfen zu pflücken.«
Pat lachte.»Ist das wahr?«
Gottfried schmunzelte.»Natürlich. Es sah fabelhaft aus, wie der geistliche Herr im Halbdunkel nach den höchsten Zweigen sprang. Er entwickelte direkt Sportgeist. Erzählte mir, daß er früher auf dem Gymnasium guter Fußballspieler war. Rechter Innenstürmer, glaube ich.«
»Du hast einen Pastor zum Diebstahl verleitet«, sagte ich.»Das kostet ein paar hundert Jahre Hölle. Aber wo ist Otto?«
»Der ist schon bei Alfons. Wir gehen doch zu Alfons essen?«
»Ja, natürlich«, sagte Pat.
»Also los!«
Es gab bei Alfons gespickten Hasen mit Rotkohl und geschmorten Äpfeln. Hinterher spielte er zum Abschluß auf seinem Grammophon einen Chor der Donkosaken. Es war ein sehr leises Lied, bei dem der Chor nur gedämpft wie eine ferne Orgel brummte, während eine einsame, klare Stimme darüber schwebte. Mir schien, als ginge lautlos die Tür auf und ein alter, müder Mann träte herein, setzte sich schweigend an einen Tisch und lauschte dem Lied seiner Jugend.
»Kinder«, sagte Alfons, als der Chor immer leiser und leiser geworden war, bis er schließlich wie ein Seufzer verhauchte,»Kinder, wißt ihr, woran ich immer denken muß, wenn ich das höre? An Ypern 1917, Gottfried, damals im März, an den einen Abend mit Bertelsmann…«
»Ja«, sagte Lenz,»ich weiß es noch, Alfons. Es war der Abend mit den Kirschbäumen…«
Alfons nickte.
Köster stand auf.»Ich glaube, es wird Zeit.«Er sah nach der Uhr.
»Ja, wir müssen los.«
»Noch einen Kognak«, sagte Alfons.»Von dem echten Napoleon! Habe ihn doch extra für euch mitgebracht!«
Wir tranken den Kognak, dann brachen wir auf.
»Auf Wiedersehen, Alfons!«sagte Pat.»Ich bin immer so gern hier gewesen.«Sie gab ihm die Hand.
Alfons wurde rot. Er hielt ihre Hand fest zwischen seinen beiden Pranken.»Also, wenn mal was ist – einfach nur Bescheid geben.«Er sah sie äußerst verlegen an.»Sie gehören ja jetzt dazu. Hätte nie gedacht, daß eine Frau mal dazugehören könnte.«
»Danke«, sagte Pat,»danke, Alfons. Sie hätten mir nichts Schöneres sagen können! Auf Wiedersehen und alles Gute!«
»Auf Wiedersehen! Bald!«
Köster und Lenz brachten uns zur Bahn. Vor unserm Hause hielten wir einen Augenblick, und ich holte den Hund herunter. Die Koffer hatte Jupp schon zum Bahnhof gebracht.
Wir kamen gerade rechtzeitig an. Kaum waren wir eingestiegen, da fuhr der Zug schon los. Als die Lokomotive anzog, griff Gottfried in die Tasche und reichte mir eine eingewickelte Flasche hinauf.»Hier, Robby, nimm das mal. So was kann man unterwegs immer gebrauchen.«
»Danke«, sagte ich,»trinkt sie heute abend selbst, Kinder. Ich habe schon was bei mir.«
»Nimm sie«, erwiderte Lenz,»man kann nie genug davon haben!«Er ging neben dem fahrenden Zug her und warf mir die Flasche zu.»Auf Wiedersehen, Pat!«rief er.»Wenn wir hier pleite sind, kommen wir alle zu Ihnen hinauf. Otto als Skiläufer, ich als Tanzlehrer, Robby als Klavierspieler. Dann bilden wir eine Truppe mit Ihnen und ziehen von Hotel zu Hotel!«
Der Zug wurde schneller, und Gottfried blieb zurück. Pat lehnte aus dem Fenster und winkte, bis der Bahnhof hinter einer Kurve verschwand. Dann wandte sie sich um. Sie war sehr blaß, und ihre Augen glänzten feucht. Ich nahm sie in den Arm.»Komm«, sagte ich,»jetzt trinken wir was. Du hast dich großartig gehalten.«
»Mir ist aber gar nicht großartig zumute«, erwiderte sie mit einem Versuch zu lächeln.
»Mir auch nicht«, sagte ich.»Deshalb wollen wir ja was trinken.«
Ich machte die Flasche auf und gab ihr einen Becher Kognak.»Gut?«fragte ich.
Sie nickte und lehnte sich an meine Schulter.»Ach, Liebling, was soll das alles werden?«
»Du mußt nicht weinen«, sagte ich.»Ich war so stolz, daß du nicht geweint hast, den ganzen Tag.«
»Ich weine ja gar nicht«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf, und die Tränen liefen ihr über das schmale Gesicht.
»Komm, trink noch etwas«, sagte ich und hielt sie fest.»Es ist nur immer der erste Moment, dann wird es schon besser.«
Sie nickte.»Ja, Robby. Du mußt dich auch gar nicht darum kümmern. Es ist gleich vorbei, und es ist besser, wenn du es gar nicht siehst. Laß mich nur ein paar Minuten hier allein sitzen, dann werde ich schon damit fertig.«
»Warum denn? Du warst den ganzen Tag so tapfer, da kannst du jetzt ruhig so viel weinen, wie du willst.«
»Ich war gar nicht tapfer. Du hast es nur nicht gemerkt.«
»Vielleicht«, sagte ich,»aber das war es dann gerade.«
Sie versuchte zu lächeln.»Warum denn eigentlich, Robby?«
»Weil man sich nicht ergibt.«Ich strich ihr über das Haar.»Solange man sich nicht ergibt, ist man mehr als das Schicksal.«
»Bei mir ist es kein Mut, Liebling«, murmelte sie.»Bei mir ist es einfach nur Angst. Jämmerliche Angst vor der großen, letzten Angst.«
»Das ist alles Mut, Pat.«
Sie lehnte sich an mich.»Ach, Robby, du weißt ja gar nicht, was Angst ist.«
»Doch«, sagte ich.
Die Tür ging auf. Der Schaffner verlangte die Fahrkarten.
Ich gab sie ihm.»Ist die Schlafwagenkarte für die Dame?«fragte er.
Ich nickte.
»Dann müssen Sie in den Schlafwagen gehen«, sagte er zu Pat.»Die Karte gilt nicht für die übrigen Abteile.«
»Gut.«
»Und der Hund muß in den Packwagen«, erklärte er.»Das Hundeabteil ist im Packwagen.«
»Schön«, sagte ich.»Wo ist denn der Schlafwagen?«
»Rechts der dritte Wagen. Der Packwagen ist ganz vorn.«
Er ging. Auf seiner Brust baumelte eine kleine Laterne.
Das sah aus, als ginge er durch die Schächte eines Bergwerks.
»Dann wollen wir mal umziehen, Pat«, sagte ich.»Billy schmuggle ich schon zu dir 'rein. Der hat im Packwagen nichts zu suchen.«
Ich hatte für mich keinen Schlafwagenplatz genommen. Es machte mir nichts, in einer Abteilecke die Nacht zu verbringen. Außerdem war es billiger.
Jupp hatte Pats Gepäck schon in den Schlafwagen gebracht. Das Abteil war ein hübscher, kleiner, mit Mahagoniholz getäfelter Raum. Pat hatte das untere Bett. Ich fragte den Schaffner, ob auch das obere belegt sei.
»Ja«, sagte er,»ab Frankfurt.«
»Wann sind wir in Frankfurt?«
»Um halb drei.«
Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging in seine Wagenecke zurück.
»In einer halben Stunde bin ich mit dem Hund wieder bei dir«, sagte ich zu Pat.
»Aber das geht doch nicht; der Schaffner bleibt ja im Wagen.«
»Es geht schon. Schließ nur deine Tür nicht ab.«
Ich ging zurück, an dem Schaffner vorbei, der mich ansah. Auf der nächsten Station stieg ich mit dem Hund aus und ging über den Bahnsteig am Schlafwagen vorbei bis zum nächsten Wagen. Hier wartete ich, bis der Schaffner ausstieg, um mit dem Zugführer zu schwätzen. Dann stieg ich wieder ein, ging durch den Wagen bis zu den Schlafwagenabteilen und kam zu Pat, ohne daß mich jemand gesehen hatte. Sie trug einen weichen weißen Mantel und sah wunderschön aus. Ihre Augen glänzten.»Ich bin jetzt ganz darüber weg, Robby«, sagte sie.
»Das ist gut. Aber willst du dich nicht zu Bett legen? Es ist mächtig knapp hier. Ich setze mich dann zu dir.«
»Ja, aber…«, sie zögerte und zeigte auf das obere Bett.»Wenn nun die Vorsteherin des Vereins für gefallene Mädchen plötzlich in der Tür steht…«
»Bis Frankfurt ist's noch lange«, sagte ich.»Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.«
Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zurück. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen. Aber in Frankfurt stieg ein Mann mit einem Seehundsbart ein, der sofort einen Koffer auspackte und zu essen begann. Er aß so intensiv, daß ich nicht zum Schlafen kam. Die Mahlzeit dauerte fast eine Stunde. Dann wischte der Seehund sich den Bart, legte sich lang und begann ein Konzert, wie ich es nie vorher gehört hatte. Es war kein einfaches Schnarchen; es war ein heulendes Seufzen, unterbrochen von stoßweisem Stöhnen und langgezogenem Blubbern. Ich konnte kein System darin entdecken, so vielfältig war es. Zum Glück stieg der Mann um halb sechs Uhr aus.
Als ich aufwachte, war draußen alles weiß. Es schneite in großen Flocken, und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zurückkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus.»Hast du gut geschlafen?«fragte ich.
Sie nickte.
»Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?«
»Jung und hübsch. Sie heißt Helga Guttmann und fährt ins selbe Sanatorium wie ich.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Robby. Aber du hast schlecht geschlafen, das sieht man. Du mußt ein ordentliches Frühstück haben.«
»Kaffee«, sagte ich.»Kaffee mit etwas Kirsch.«
Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plötzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.
Helga Guttmann saß schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Mädchen von südlichem Typ.»Merkwürdig«, sagte ich,»daß sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.«
»Gar nicht so merkwürdig«, erwiderte sie.
Ich sah sie an. Sie lachte.»Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvögel alle wieder. Drüben…«, sie zeigte in die Ecke des Speisewagens,»der ganze Tisch dort fährt auch hin.«
»Woher wissen Sie das?«fragte ich.
»Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.«
Der Kellner kam und brachte den Kaffee.»Bringen Sie mir noch einen großen Kirsch dazu«, sagte ich. Ich mußte etwas trinken. Es war auf einmal alles so einfach. Da saßen Leute und fuhren zum Sanatorium, zum zweitenmal sogar, und es schien ihnen nicht viel mehr als eine Spazierfahrt zu sein. Es war dumm, so viel Angst zu haben. Pat würde zurückkommen, wie alle diese Leute zurückgekommen waren. Ich dachte nicht daran, daß alle diese Leute jetzt auch wieder hinfuhren – es war genug zu wissen, daß man zurückkam und wieder ein ganzes Jahr vor sich hatte. In einem Jahr konnte viel passieren. Unsere Vergangenheit hatte uns gelehrt, kurzfristig zu denken.
Wir kamen spätnachmittags an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder, und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof wartete eine Menge Leute. Sie grüßten und winkten, und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zurück. Helga Guttmann wurde von einer lachenden blonden Frau und zwei Männern in hellen Knickerbockern in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als wäre sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen.»Auf Wiedersehen, nachher, oben!«rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.
Die Leute zerstreuten sich rasch, und wir standen ein paar Minuten später allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepäckträger trat zu uns heran.
»Welches Hotel?«fragte er.
»Sanatorium Waldfrieden«, erwiderte ich.
Er nickte und winkte einem Kutscher. Die beiden verstauten die Koffer in einem hellblauen Schlitten, der mit zwei Schimmeln bespannt war. Die Pferde hatten bunte Federbüschel auf den Köpfen, und der Dampf ihres Atems umwehte ihre Mäuler wie perlmutterfarbenes Gewölk.
Wir stiegen ein.»Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten 'rauf?«fragte der Kutscher.
»Wie weit ist es mit dem Schlitten?«
»Eine halbe Stunde.«
»Dann mit dem Schlitten.«
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwärts. Das Sanatorium lag auf einer Anhöhe über dem Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit langen Fensterreihen. Vor jedem Fenster befand sich ein Balkon. Auf dem Dache wehte eine Fahne im schwachen Wind. Ich hatte erwartet, es wäre wie ein Krankenhaus eingerichtet; aber es glich, wenigstens im unteren Stock, viel mehr einem Hotel. In der Halle brannte ein Kamin, und eine Anzahl kleiner Tische war mit Teegeschirr gedeckt.
Wir meldeten uns im Büro. Ein Hausdiener holte unser Gepäck herein, und eine ältere Dame erklärte uns, daß Pat Zimmer neunundsiebzig habe. Ich fragte, ob ich für ein paar Tage ebenfalls ein Zimmer haben könne. Sie schüttelte den Kopf.»Nicht im Sanatorium. Wohl aber in der Dependance.«
»Wo ist die Dependance?«
»Gleich nebenan.«
»Gut«, sagte ich,»dann geben Sie mir dort ein Zimmer und lassen Sie mein Gepäck hinüberbringen.«
Wir fuhren in einem völlig geräuschlosen Lift zum zweiten Stock hinauf. Oben sah es allerdings mehr nach Krankenhaus aus. Nach einem sehr komfortablen Krankenhaus zwar, aber immerhin nach Krankenhaus. Weiße Gänge, weiße Türen, alles blitzend von Glas, Nickel und Sauberkeit. Eine Oberschwester nahm uns in Empfang.
»Fräulein Hollmann?«
»Ja«, sagte Pat,»Zimmer neunundsiebzig, nicht wahr?«
Die Oberschwester nickte, ging voran und öffnete eine Tür.
»Hier ist Ihr Zimmer.«
Es war ein heller, mittelgroßer Raum, in den durch ein breites Fenster die Abendsonne schien. Auf dem Tisch stand ein Strauß gelber und roter Astern, und draußen lagen die beglänzten Schneefelder, in die sich das Dorf wie eine große, weiche Decke schmiegte.
»Gefällt es dir?«fragte ich Pat.
Sie sah mich einen Augenblick an.»Ja«, sagte sie dann.
Der Hausknecht brachte die Koffer.»Wann muß ich zur Untersuchung?«fragte Pat die Schwester.
»Morgen vormittag. Heute abend gehen Sie am besten früh schlafen, damit Sie ausgeruht sind.«
Pat zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das weiße Bett, über dem eine neue Fiebertafel angebracht war.»Ist kein Telefon im Zimmer?«fragte ich.
»Es ist ein Anschluß da«, sagte die Schwester.»Man kann ein Telefon hereinstellen.«
»Muß ich noch irgend etwas tun?«fragte Pat.
Die Schwester schüttelte den Kopf.»Heute nicht. Erst morgen nach der Untersuchung wird alles festgelegt. Die Untersuchung ist um zehn. Ich hole Sie ab.«
»Danke, Schwester«, sagte Pat.
Die Schwester ging. Der Hausknecht wartete noch an der Tür. Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging auch. Es wurde plötzlich sehr still im Zimmer. Pat stand am Fenster und sah hinaus. Ihr Kopf war ganz dunkel vor dem Glänzen draußen.
»Bist du müde?«fragte ich.
Sie drehte sich um.»Nein.«
»Du siehst so aus«, sagte ich.
»Ich bin anders müde, Robby. Aber dafür habe ich immer noch Zeit.«
»Willst du dich umziehen?«fragte ich.»Oder wollen wir erst noch eine Stunde 'runtergehen? Ich denke, es ist besser, wir gehen erst noch einmal 'runter.«
»Ja«, sagte sie.»Es ist besser.«
Wir fuhren mit dem lautlosen Lift abwärts und setzten uns an einen der kleinen Tische in der Halle. Nach einer Weile kam Helga Guttmann mit ihren Freunden. Sie setzten sich zu uns. Helga Guttmann war aufgeregt und von einer etwas überhitzten Lustigkeit, aber ich war froh, daß sie da war und daß Pat schon ein paar Bekannte hatte. Es war immer schwer, über den ersten Tag hinwegzukommen.