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Anfang November verkauften wir den Citroen. Das Geld reichte, um die Werkstatt eine Weile weiterzuführen, aber unsere Lage wurde von Woche zu Woche schlechter. Die Leute stellten im Winter ihre Wagen ein, um Benzin und Steuern zu sparen, und Reparaturen kamen immer weniger vor. Wir halfen uns zwar mit dem Taxi durch, aber der Verdienst war für drei zu knapp, und ich war deshalb ganz froh, als der Wirt vom International mir vorschlug, vom Dezember ab wieder jeden Abend bei ihm Klavier zu spielen. Er hatte in der letzten Zeit Glück gehabt; der Viehhändlerverband hatte seine wöchentlichen Vereinsabende in ein Hinterzimmer des International verlegt, dann war der Pferdehändlerverband nachgefolgt und zum Schluß noch die Gesellschaft für Feuerbestattung auf gemeinnütziger Grundlage. Auf diese Weise konnte ich Lenz und Köster das Taxi lassen, und mir war es auch sonst ganz recht – wußte ohnehin oft nicht, wie ich die Abende herumbringen sollte.
Pat schrieb mir regelmäßig. Ich wartete auf ihre Briefe, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie sie lebte, und manchmal, in den dunklen, schmutzigen Dezemberwochen, wo es nicht einmal mittags richtig hell wurde, glaubte ich, sie sei mir längst entglitten, und alles sei vorbei. Es schien mir endlos, seit sie fort war, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie wiederkommen würde. Dann kamen Abende voll schwerer, wilder Sehnsucht, wo nichts mehr half, als mit den Huren und den Viehhändlern bis morgens zu sitzen und zu trinken.
Der Wirt hatte die Erlaubnis bekommen, das International am Weihnachtsabend offenzuhalten. Es sollte eine große Feier für die Junggesellen aller Vereine stattfinden. Der Vorsitzende des Viehhändlerverbandes, der Schweinehändler Stefan Grigoleit, stiftete dazu zwei Spanferkel und eine Anzahl Eisbeine. Er war seit zwei Jahren Witwer und eine weiche Natur; da wollte er Weihnachten in Gesellschaft verbringen.
Der Wirt erstand eine vier Meter hohe Edeltanne, die neben der Theke aufgebaut wurde. Rosa, die Autorität in allem, was traulich und gemütlich hieß, übernahm es, den Baum zu schmücken. Marion und der schwule Kiki, der infolge seiner Veranlagung auch viel Sinn für Schönheit hatte, halfen ihr. Die drei begannen mittags mit ihrer Arbeit. Sie verbrauchten eine Unmenge bunter Kugeln, Kerzen und Lametta, aber der Baum sah zum Schluß dafür auch großartig aus. Als besondere Aufmerksamkeit für Grigoleit wurde eine Anzahl rosa Marzipanschweinchen hineingehängt.
Ich hatte mich nachmittags zu Bett gelegt, um ein paar Stunden zu schlafen. Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich mußte mich einen Augenblick besinnen, ob es Abend oder Morgen war. Ich hatte geträumt, aber ich wußte nicht mehr wovon. Ich war weit weg gewesen, und ich glaubte noch zu hören, daß eine schwarze Tür hinter mir zuschlug. Dann merkte ich, daß jemand klopfte.
»Wer ist da?«rief ich.
»Ich, Herr Lohkamp.«
Ich erkannte die Stimme Frau Zalewskis.»Kommen Sie herein«, rief ich.»Die Tür ist offen.«
Die Klinke knirschte, und ich sah Frau Zalewski vor dem gelben Licht des Korridors im Türrahmen stehen.»Frau Hasse ist da«, flüsterte sie.»Kommen Sie rasch. Ich kann es ihr nicht sagen.«
Ich rührte mich nicht. Ich mußte mich erst zurechtfinden.
»Schicken Sie sie zur Polizei«, erwiderte ich dann.
»Herr Lohkamp!«Frau Zalewski hob die Hände.»Es ist niemand sonst da. Sie müssen mir helfen. Sie sind doch ein Christenmensch!«
Sie stand wie ein tanzender schwarzer Schatten im Viereck der Türöffnung.»Hören Sie auf«, sagte ich ärgerlich.»Ich komme schon.«
Ich zog mich an und ging hinaus. Frau Zalewski wartete draußen auf mich.»Weiß sie schon was?«fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf und preßte ihr Taschentuch an die Lippen.
»Wo ist sie denn?«
»In ihrem früheren Zimmer.«
Vor der Küche stand Frida, schwitzend vor Aufregung.»Sie hat einen Hut auf, ganz mit Reihern, und eine Diamantbrosche an«, flüsterte sie.
»Passen Sie auf, daß dieser verkorkste Küchentrampel nicht lauscht«, sagte ich zu Frau Zalewski und ging hinein.
Frau Hasse stand am Fenster. Sie schnellte herum, als ich hereinkam. Sie hatte sichtlich jemand anderes erwartet. Es war idiotisch, aber mein erster Blick galt dem Hut und der Brosche, obschon ich es nicht wollte. Frida hatte recht; der Hut war pompös. Die Brosche weniger. Die ganze Person war ziemlich aufgedonnert, so wie jemand, der einem andern zeigen will, wie gut es ihm geht. Im ganzen sah sie nicht schlecht aus; besser jedenfalls als das ganze Jahr, während sie hier gewesen war.
»Hasse arbeitet wohl noch am Heiligen Abend, wie?«fragte sie spitz.
»Nein«, sagte ich.»Wo ist er denn? Auf Urlaub?«
Sie kam auf mich zu, schaukelnd in den Hüften. Ich roch ihr zu starkes Parfüm.»Was wollen Sie denn noch von ihm?«fragte ich.
»Meine Sachen erledigen. Abrechnen. Schließlich gehört mir doch ein Teil davon.«
»Das brauchen Sie nicht mehr«, sagte ich.»Es gehört Ihnen jetzt alles.«Sie starrte mich an.
»Er ist tot«, sagte ich.
Ich hätte es ihr gern anders gesagt. Mit mehr Vorbereitung und langsamer. Aber ich wußte nicht, wie ich es anfangen sollte. Außerdem war mein Kopf noch wüst vom Nachmittagsschlaf; diesem Schlaf, bei dem man dem Selbstmord nahe ist, wenn man aufwacht.
Frau Hasse stand mitten im Zimmer, und merkwürdigerweise sah ich im Moment, wo ich es ihr sagte, ganz deutlich, daß sie nirgendwo gegenschlagen würde, wenn sie jetzt umfiele. Es war sonderbar, aber ich sah wirklich nichts anderes und dachte auch nichts anderes.
Doch sie fiel nicht um. Sie blieb stehen und blickte mich an.»So«, sagte sie,»so…«Nur die Federn ihres Reiherhutes zitterten. Und plötzlich, ohne daß ich merken konnte, was vor sich ging, sah ich, wie die aufgeputzte, parfümierte Frau vor mir alt wurde. Es war, als schlüge die Zeit wie ein Gewitterregen auf sie ein, jede Sekunde wie ein Jahr – die Spannung zerbrach, der Triumph erlosch, das Gesicht wurde morsch. Falten krochen wie Würmer hinein, und als sie dann mit einer tastenden, unsicheren Bewegung nach einer Stuhllehne griff und sich hinsetzte, als fürchte sie, etwas zu zerbrechen, da war es, als wäre das nicht derselbe Mensch – so müde, verfallen und alt sah sie aus.
»Was hat er gehabt?«fragte sie, ohne die Lippen zu bewegen.
»Es ist plötzlich gekommen«, sagte ich.
Sie hörte nicht zu. Sie blickte auf ihre Hände.»Was mache ich jetzt?«murmelte sie.»Was mache ich nur jetzt?«
Ich wartete eine Zeitlang. Ich fühlte mich scheußlich.»Sie haben doch sicher jemand, zu dem Sie gehen können«, sagte ich schließlich.»Es ist am besten, Sie bleiben nicht hier. Sie wollten doch auch nicht hierbleiben…«
»Das ist doch alles anders nun«, erwiderte sie, ohne aufzusehen.»Was soll ich jetzt nur machen?«
»Sie haben doch sicher jemand, der auf Sie wartet. Gehen Sie zu ihm und besprechen Sie alles mit ihm. Und dann gehen Sie nach Weihnachten zum Polizeirevier. Da sind die Sachen hinterlegt, auch die Bankausweise. Sie müssen sich dort melden, damit Sie das Geld ausgezahlt bekommen.«
»Geld, Geld«, murmelte sie stumpf.»Was für Geld?«
»Ziemlich viel. Zwölfhundert Mark ungefähr.«
Sie hob den Kopf. Ihre Augen hatten plötzlich einen irrsinnigen Ausdruck.»Nein!«kreischte sie,»das ist nicht wahr!«
Ich gab keine Antwort.»Sagen Sie, daß es nicht wahr ist«, flüsterte sie.
»Vielleicht ist es nicht wahr. Aber vielleicht hat er es auch heimlich als Notgroschen zurückgelegt.«
Sie stand auf. Sie war auf einmal völlig verändert. Ihre Bewegungen hatten etwas ruckartig Mechanisches. Sie näherte ihr Gesicht ganz dicht dem meinen.»Ja, es ist wahr«, zischte sie,»ich fühle, es ist wahr! Dieser Schuft! Oh, dieser Schuft! Läßt mich das alles durchmachen, und dann ist es so! Aber ich werde es nehmen und werde es 'rausschmeißen, alles an einem Abend, auf die Straße werde ich es schmeißen, damit nichts mehr davon bleibt! Nichts! Nichts!«
Ich schwieg. Ich hatte genug. Sie war über den Anfang hinweg, sie wußte, daß Hasse tot war, mit dem andern mußte sie nun selbst fertig werden. Wahrscheinlich würde sie noch einmal umkippen, wenn sie hörte, daß er sich erhängt hatte, aber das war ihre eigene Sache. Man konnte Hasse ihretwegen nicht wieder lebendig machen.
Sie weinte jetzt. Sie quoll nur so über von Tränen. Sie weinte hoch und kläglich, wie ein Kind. Es dauerte eine Zeitlang. Ich hätte viel gegeben, wenn ich eine Zigarette hätte rauchen können. Ich konnte nicht sehen, wenn jemand weinte.
Endlich hörte sie auf. Sie trocknete ihr Gesicht, holte mechanisch ihre Puderdose hervor und puderte sich, ohne in den Spiegel zu schauen. Dann steckte sie die silberne Dose wieder weg, aber sie vergaß ihre Handtasche zu schließen.»Ich weiß nichts mehr«, sagte sie mit gebrochener Stimme,»ich weiß nichts mehr. Er war wohl ein guter Mann.«
»Das war er.«
Ich sagte ihr noch die Adresse des Polizeireviers und daß es heute schon geschlossen sei. Es schien mir besser, wenn sie nicht gleich hinging. Es war genug für heute.
Als sie fort war, kam Frau Zalewski aus ihrem Salon.»Ist denn außer mir kein Mensch hier?«fragte ich, wütend über mich selbst.
»Nur Herr Georgie. Was hat sie denn gesagt?«-»Nichts.«
»Um so besser.«
»Je nachdem. Manchmal ist es auch nicht besser.«
»Ich habe kein Mitleid mit ihr«, erklärte Frau Zalewski energisch.»Nicht das geringste.«
»Mitleid ist der nutzloseste Artikel, den es auf der Welt gibt«, sagte ich ärgerlich.»Es ist die Kehrseite der Schadenfreude, das sollten Sie wissen. Wie spät ist es denn jetzt?«
»Dreiviertel sieben.«
»Ich möchte um sieben mit Fräulein Hollmann telefonieren. Aber so, daß keiner zuhört. Geht das?«
»Es ist ja niemand da, außer Herr Georgie. Frida habe ich schon fortgeschickt. Wenn Sie wollen, können Sie sich auch in die Küche setzen. Das Kabel reicht gerade so weit.«
»Gut.«
Ich klopfte bei Georgie. Es war lange her, daß ich bei ihm gewesen war. Er hockte an seinem Schreibtisch und sah verdammt schlecht aus. Rund um ihn herum lag ein Haufen zerrissenes Papier.»Tag, Georgie«, sagte ich,»was machst du denn da?«
»Inventur«, erwiderte er mit einem matten Lächeln.»Gute Weihnachtsbeschäftigung.«
Ich bückte mich nach einem der Papierfetzen. Es waren Kolleghefte mit chemischen Formeln.»Wozu?«fragte ich.
»Hat keinen Zweck mehr, Robby.«
Er sah ziemlich durchsichtig aus. Die Ohren waren wie aus Wachs.»Was hast du heute gegessen?«fragte ich.
Er wehrte ab.»Das ist ja egal. Das ist es auch nicht. Das Essen nicht. Aber ich kann einfach nicht mehr weiter. Ich muß es aufgeben.«
»Ist das so schlimm?«
»Ja«, sagte er.
»Georgie«, erwiderte ich ruhig,»sieh mich mal an. Glaubst du nicht, daß ich auch mal was anderes werden wollte als Klavierspieler in der Hurenbude, dem Café International?«
Er knetete an seinen Händen herum.»Ich weiß es, Robby. Aber es hilft mir nichts. Für mich war es alles. Und jetzt habe ich eingesehen, daß es keinen Zweck hat. Daß nichts einen Zweck hat. Wozu lebt man da eigentlich?«
Ich mußte lachen, so jämmerlich er auch dasaß, und so bitterernst es ihm war.»Du kleiner Esel«, sagte ich,»da hast du aber was entdeckt! Glaubst du, du bist allein mit deiner grandiosen Weisheit? Natürlich hat's keinen Zweck. Man lebt auch nicht für einen Zweck. So einfach ist das nun doch nicht. Komm, zieh dich an. Du gehst mit mir ins International. Wir wollen feiern, daß du ein Mann geworden bist. Bislang warst du ein Schuljunge. Ich hole dich in einer halben Stunde ab.«
»Nein«, sagte er.
Er war verdammt herunter.»Doch«, sagte ich.»Du wirst mir den Gefallen tun. Ich möchte heute nicht allein sein.«
Er blickte mich zweifelnd an.»Meinetwegen«, erwiderte er dann mutlos.»Ist ja schließlich egal.«
»Na siehst du«, sagte ich.»Für den Anfang ist das schon ein ganz hübscher Wahlspruch.«
Um sieben Uhr meldete ich das Gespräch mit Pat an. Von dieser Zeit an kostete es die halbe Taxe, und ich konnte doppelt so lange telefonieren. Ich setzte mich auf den Tisch im Vorzimmer und wartete. In die Küche wollte ich nicht gehen. Es roch da nach grünen Bohnen, und damit wollte ich Pat nicht einmal beim Telefonieren zusammenbringen. Eine Viertelstunde später kam das Gespräch. Pat war gleich am Apparat. Als ich ihre warme, dunkle, etwas zögernde Stimme so dicht neben mir hörte, wurde ich so aufgeregt, daß ich kaum sprechen konnte. Es war wie ein Zittern, wie ein Beben des Blutes, gegen das man mit allem Willen nichts machen konnte.
»Mein Gott, Pat«, sagte ich,»bist du wirklich da?«
Sie lachte.»Wo bist du denn, Robby? Im Büro?«
»Nein, ich sitze bei Frau Zalewski auf dem Tisch. Wie geht es dir?«
»Gut, Liebling.«
»Bist du auf?«
»Ja. Ich sitze auf der Fensterbank in meinem Zimmer und habe meinen weißen Bademantel an. Draußen schneit es.«
Ich sah sie plötzlich deutlich vor mir. Ich sah die Schneeflocken wirbeln, ich sah den schmalen, dunklen Kopf, die geraden, etwas vorgebeugten Schultern, die bronzefarbene Haut.
»Herrgott, Pat«, sagte ich,»das verfluchte Geld! Ich würde mich sonst auf der Stelle in ein Flugzeug setzen und heute abend noch ankommen.«
»Ach, Liebling…«
Sie schwieg. Ich horchte in das leise Kratzen und Summen der Leitung.»Bist du noch da, Pat?«
»Ja, Robby. Aber du mußt so etwas nicht sagen. Mir ist ganz schwindlig geworden.«
»Mir ist auch verdammt schwindlig«, sagte ich.»Erzähl mir, was du da oben alles machst.«
Sie begann zu sprechen, aber ich hörte bald nicht mehr auf das, was sie sagte. Ich hörte nur ihre Stimme, und während ich so auf dem dunklen Vorplatz hockte, zwischen dem Wildschweinschädel und der Küche mit den grünen Bohnen, schien es mir, als ginge die Tür auf und eine Welle von Wärme und Glanz käme herein, schmeichelnd und bunt, voll von Träumen, Sehnsucht und Jugend. Ich stemmte die Füße gegen den Tisch, ich stützte den Kopf in die Hand, ich sah den Wildschweinschädel an und die abgestoßene Küchentür, aber ich konnte mir nicht helfen – Sommer war auf einmal da, Wind, Abend über Ährenfeldern und das grüne Licht der Waldwege. Die Stimme schwieg. Ich atmete tief.»Es ist schön mit dir zu sprechen, Pat. Und heute abend, was tust du da?«
»Heute abend ist ein kleines Fest. Um acht beginnt es. Ich ziehe mich gerade dazu an.«
»Was ziehst du denn dazu an? Das silberne Kleid?«
»Ja, Robby. Das silberne Kleid, in dem du mich durch den Korridor getragen hast.«
»Und mit wem gehst du?«
»Mit niemand. Es ist doch hier im Sanatorium. Unten in der Halle. Da kennen sich alle.«
»Es muß schwer sein für dich, mich nicht zu betrügen«, sagte ich.»In dem silbernen Kleid.«
Sie lachte.»In dem schon gar nicht. Da habe ich Erinnerungen.«
»Ich auch. Ich habe gesehen, wie es wirkt. Aber ich will es auch gar nicht so genau wissen. Du kannst mich betrügen, ich will es nur nicht wissen. Nachher, wenn du zurückkommst, ist es dann nur wie geträumt für dich und vergessen und vorbei.«
»Ach, Robby«, sagte sie langsam, und ihre Stimme klang tiefer als vorher.»Ich kann dich nicht betrügen. Dafür denke ich viel zuviel an dich. Du weißt nicht, wie das hier oben ist. Ein strahlendes, schönes Gefängnis. Man lenkt sich ab, so gut es geht, das ist alles. Wenn ich an dein Zimmer denke, dann weiß ich manchmal nicht, was ich tun soll, dann gehe ich an den Bahnhof und sehe die Züge an, die von unten kommen, und denke, daß ich dir dann näher bin, wenn ich in ein Abteil einsteige oder so tue, als ob ich jemand abholen will.«
Ich biß die Lippen zusammen. Ich hatte sie noch nie so sprechen hören. Sie war immer scheu gewesen, und ihre Zuneigung hatte viel mehr in einer Gebärde, einem Blick gelegen als in Worten.
»Ich werde zusehen, daß ich dich einmal besuchen kann, Pat«, sagte ich.
»Wirklich, Robby?«
»Ja, vielleicht Ende Januar.«
Ich wußte, daß es kaum möglich war, denn von Februar an mußten wir ja auch noch das Geld für das Sanatorium aufbringen. Aber ich sagte es ihr, damit sie etwas hatte, woran sie denken konnte. Es war dann später nicht so schwer, es weiter zu verschieben, bis der Tag kam, wo sie wieder herunter konnte.
»Leb wohl, Pat«, sagte ich.»Laß es dir gut gehen. Sei froh, dann bin ich auch froh. Sei froh heute abend.«
»Ja, Robby, heute bin ich glücklich.«
Ich holte Georgie ab und ging mit ihm zum Café International. Die alte, verräucherte Bude war kaum wiederzuerkennen. Der Weihnachtsbaum brannte, und sein warmes Licht spiegelte sich in allen Flaschen, Gläsern und dem Nickel und Kupfer der Theke. Die Huren saßen in Abendkleidern, mit falschem Schmuck behangen, erwartungsvoll um einen Tisch herum.
Punkt acht Uhr marschierte die Liedertafel der vereinigten Viehkommissionäre ein. Sie formierten sich an der Tür nach Stimmen, rechts der erste Tenor, ganz links der zweite Baß. Stefan Grigoleit, der Witwer und Schweinehändler, zog eine Stimmgabel hervor, verteilte die Töne, und dann ging es vierstimmig los:»Heilige Nacht, o gieße du – Himmelsfrieden in dies Herz – Schenk dem armen Pilger Ruh – Holde Labung seinem Schmerz – Hell schon erglühn die Sterne – Leuchten aus blauer Ferne – Möchten zu dir mich gerne ziehn – himmelwärts.«
»Rührend«, sagte Rosa und wischte sich die Augen.
Die zweite Strophe verklang. Donnernder Beifall erscholl. Die Liedertafel verbeugte sich dankend. Stefan Grigoleit wischte sich den Schweiß von der Stirn.»Beethoven bleibt Beethoven«, erklärte er.
Niemand widersprach. Stefan steckte das Schnupftuch ein.»Und nun 'ran an die Gewehre!«
Der Eßtisch war im großen Vereinszimmer gedeckt. In der Mitte prangten auf silbernen Platten über kleinen Spirituslämpchen braun und knusprig die beiden Spanferkel. Sie hatten Zitronen in den Schnauzen, kleine, brennende Tannenbäume auf dem Rücken und wunderten sich über gar nichts mehr.
Alois erschien in einem neu aufgefärbten Frack, einem Geschenk des Wirts. Er brachte ein halbes Dutzend Kruken mit Steinhäger und schenkte ein. Mit ihm kam Potter von der Feuerbestattungsgesellschaft, der noch eine Verbrennung geleitet hatte.
»Friede auf Erden!«sagte er großartig, reichte Rosa die Hand und nahm neben ihr Platz. Stefan Grigoleit, der Georgie sofort mit an die Tafel geladen hatte, stand auf und hielt die kürzeste und beste Rede seines Lebens. Er hob sein Glas mit dem glitzernden Wacholderschnaps hoch, sah sich strahlend um und rief:»Prost!«
Dann setzte er sich wieder, und Alois schleppte die Eisbeine, das Sauerkraut und die Salzkartoffeln herein. Der Wirt kam mit großen, gläsernen Stangen goldgelben Pilseners.
»Iß langsam, Georgie«, sagte ich.»Dein Magen muß sich erst an das fette Fleisch gewöhnen.«
»Ich muß mich überhaupt erst gewöhnen«, erwiderte er und sah mich an.
»Das geht schnell«, sagte ich.»Man darf nur nicht vergleichen. Dann geht's immer.«
Er nickte und beugte sich wieder über seinen Teller.
Plötzlich entstand am untern Tischende Streit. Potters krähende Stimme war zu hören. Er hatte dem Zigarrenhändler Busch, einem Gast, zutrinken wollen, aber Busch hatte sich geweigert mit der Begründung, er wolle nicht trinken, um mehr essen zu können.
»Das ist Blödsinn«, schimpfte Potter.»Zum Essen muß man doch trinken! Wer trinkt, kann sogar noch mehr essen.«
»Quatsch!«brummte Busch, ein hagerer, langer Mensch mit platter Nase und Hornbrille.
Potter fuhr hoch.»Quatsch? Das sagst du zu mir, du Tabakeule?«
»Ruhe!«rief Stefan Grigoleit.»Keinen Krach am Weihnachtsabend!«
Er ließ sich erklären, um was es sich handelte, und fällte ein salomonisches Urteil. Die Sache sollte ausprobiert werden. Vor jeden der beiden Kämpfer wurden mehrere gleich große Schüsseln aufgestellt mit Fleisch, Kartoffeln und Kraut. Es waren riesenhafte Portionen. Potter durfte dazu trinken, was er wollte, Busch mußte trocken bleiben. Um dem Ganzen Reiz zu geben, wurde auf beide gewettet. Grigoleit übernahm den Totalisator.
Potter baute einen Kranz von Biergläsern um sich auf, dazwischen wie Diamanten kleine Gläser mit Steinhäger. Die Wetten standen 3:1 für ihn. Dann startete Grigoleit die beiden.
Busch fraß verbissen, tief über den Teller geduckt. Potter kämpfte in offener, aufrechter Haltung.
Bei jedem Schluck, den er nahm, rief er Busch ein frohlockendes Prost zu, das dieser mit einem gehässigen Blick beantwortete.
»Mir wird schlecht«, sagte Georgie zu mir.
»Komm mit 'raus.«
Ich brachte ihn in den Waschraum und setzte mich dann in den Vorderraum, um auf ihn zu warten.
Der süße Duft der Kerzen mischte sich mit dem Knistern und dem Geruch verbrennender Tannennadeln. Und plötzlich war es mir, als hörte ich leichte, geliebte Schritte, als spürte ich einen warmen Atem und sähe zwei Augen dicht vor mir…
»Verdammt«, sagte ich und stand auf.»Was ist denn mit mir los?«
Im selben Moment hörte ich gewaltiges Gebrüll.»Potter! Bravo, Aloysius!«
Die Feuerbestattung hatte gesiegt.
Im Hinterzimmer qualmten die Zigarren, und der Kognak wurde aufgefahren. Ich saß immer noch neben der Theke. Die Mädchen kamen nach vorn und tuschelten eifrig.
»Was habt ihr denn?«fragte ich.
»Wir haben doch auch unsere Bescherung«, erwiderte Marion.
»Ach so.«Ich lehnte den Kopf an die Theke und dachte daran, was Pat jetzt wohl täte. Ich stellte mir die Halle des Sanatoriums vor, den brennenden Kamin und Pat an einem der Fenstertische mit Helga Guttmann und irgendwelchen Leuten. Es war alles schon so schrecklich lange her. Manchmal dachte ich, daß man morgens einmal aufwachen könnte und daß dann alles vorbei wäre, was früher gewesen war, vergessen, versunken, ertrunken. Es gab nichts Sicheres – nicht einmal die Erinnerung. Eine Klingel läutete. Die Mädchen rannten wie eine Schar aufgescheuchter Hühner zum Billardzimmer hinüber. Da stand Rosa mit der Klingel. Sie winkte mir, auch zu kommen. Unter einer kleinen Tanne stand auf dem Billardtisch eine Anzahl mit Seidenpapier verdeckter Teller. Auf jedem lag ein Zettel mit einem Namen, darunter die Päckchen mit den Geschenken, die die Mädchen sich gegenseitig machten. Rosa hatte das alles arrangiert. Jede hatte ihr ihre eingepackten Geschenke für die andern geben müssen, und sie hatte alles auf die Teller geordnet.
Aufgeregt plapperten die Mädchen durcheinander, eilig wie Kinder, um so rasch wie möglich zu sehen, was sie bekommen hatten.»Willst du deinen Teller nicht haben?«fragte Rosa.
»Was für einen Teller?«
»Deinen. Du wirst doch auch beschert.«
Wahrhaftig, da stand mein Name, in zwei Farben, rot und schwarz, in Rundschrift sogar. Äpfel, Nüsse, Apfelsinen – von Rosa ein selbstgestrickter Pullover, von der Wirtin ein grasgrüner Schlips, vom schwulen Kiki ein Paar echt kunstseidene rosa Socken, von Wally, der Schönen, ein Ledergürtel, vom Kellner Alois eine halbe Flasche Rum, von Marion, Lina und Mimi zusammen ein halbes Dutzend Taschentücher, und vom Wirt zwei Flaschen Kognak.
»Kinder«, sagte ich.»Kinder, das ist aber ganz unerwartet.«
»Überraschung?«rief Rosa.
»Total!«
Ich stand beschämt da, und, verdammt, ich war gerührt bis auf die Knochen.»Kinder«, sagte ich,»wißt ihr, wann ich zum letztenmal beschert worden bin? Ich weiß es gar nicht mehr. Es muß vor dem Kriege gewesen sein. Aber nun habe ich gar nichts für euch.«
Eine gewaltige Freude brach los, weil ich so glänzend überrumpelt worden war.»Weil du uns immer was vorgespielt hast«, sagte Lina errötend.
»Ja, du spielst uns was vor, das ist dein Geschenk«, erklärte Rosa.
»Was ihr wollt«, sagte ich.»Alles, was ihr wollt.«
»Aus der Jugendzeit«, rief Marion.
»Nein, was Lustiges«, widersprach Kiki.
Er wurde überstimmt. Als Homo wurde er ohnehin nicht ganz für voll genommen. Ich setzte mich ans Klavier und begann. Alle sangen mit.
»Aus der Jugendzeit – klingt ein Lied mir immerdar – O wie liegt so weit – was mein einst war…«
Die Wirtin drehte alles elektrische Licht aus. Nur noch das milde Licht der Kerzen war da. Leise plätscherte der Bierhahn wie eine ferne Quelle im Walde, und der plattfüßige Alois geisterte im Hintergrunde wie ein schwarzer Pan hin und her. Ich fing die zweite Strophe an. Mit glänzenden Augen und guten Kleinbürgerinnengesichtern standen die Mädchen um das Klavier herum – aber sieh da, wer heulte Rotz und Tränen? Kiki, Salzbrezelkiki aus Luckenwalde.
Leise öffnete sich die Tür des großen Vereinszimmers. Melodisch brummend zog im Gänsemarsch die Liedertafel herein und stellte sich hinter den Mädchen auf. Grigoleit mit einer schwarzen Brasilzigarre an der Spitze.
»Als ich Abschied nahm – war die Welt mir voll so sehr – Als ich wiederkam – war alles leer…«
Leise verhallte der gemischte Chor.»Schön«, sagte Lina.
Rosa zündete die Wunderkerzen an. Sie zischten und sprühten.»So, und nun was Lustiges!«rief sie.»Kiki muß aufgeheitert werden.«
»Ich auch«, sagte Stefan Grigoleit.
Um elf Uhr kamen Köster und Lenz. Wir setzten uns mit dem blassen Georgie an einen Tisch neben der Theke. Georgie bekam ein paar Schnitten trockenes Brot zu essen, damit er wieder taktfest wurde. Bald darauf war Lenz im Tumult der Viehkommissionäre verschwunden. Eine Viertelstunde später sahen wir ihn mit Grigoleit an der Theke auftauchen. Beide schlangen die Arme ineinander und tranken Brüderschaft.
»Stefan!«sagte Grigoleit.
»Gottfried!«erwiderte Lenz, und beide schütteten den Kognak hinunter.
»Ich schicke dir morgen ein Paket Blut- und Leberwurst, Gottfried. In Ordnung?«
»In bester Ordnung!«Lenz schlug ihm auf die Schulter.»Alter, guter Stefan!«
Stefan strahlte.»Du kannst so schön lachen«, sagte er begeistert.»Ich habe gern, wenn einer gut lachen kann. Ich werde zu leicht traurig, das ist mein Fehler.«
»Meiner auch«, erwiderte Lenz,»deshalb lache ich ja. Komm, Robby, trink einen mit auf das endlose Weltgelächter!«
Ich ging zu ihnen hin.»Was hat denn der Kleine da?«fragte Stefan und zeigte auf Georgie.»Der sieht mächtig traurig aus.«
»Der ist leicht glücklich zu machen«, sagte ich.»Der braucht nur etwas Arbeit.«
»Kunststück«, antwortete Stefan.»Heutzutage.«
»Er macht alles.«
»Machen alle alles heutzutage.«Stefan wurde nüchterner.
»Der Junge braucht fünfundsiebzig Mark im Monat.«
»Unsinn. Damit kommt er nicht aus.«
»Der kommt damit aus«, sagte Lenz.
»Gottfried«, erwiderte Grigoleit,»ich bin ein alter Säufer.
Gut. Aber Arbeit ist etwas Ernstes. Kann man jemand nicht heute geben und morgen wieder wegnehmen. So was ist schlimmer als heiraten lassen und morgen die Frau wieder wegnehmen. Aber wenn der Junge ehrlich ist und mit fünfundsiebzig Mark auskommt, hat er Schwein gehabt. Kann sich Dienstag acht Uhr bei mir melden. Brauche eine Hilfe für meine Laufereien mit dem Verein und so. Ab und zu ein Paket mit Geschlachtetem gibt's extra. Scheint was in die Rippen haben zu müssen.«
»Ist das ein Wort?«fragte Lenz.
»Es ist ein Wort von Stefan Grigoleit.«
»Georgie«, rief ich,»komm mal her.«
Er begann zu zittern, als er es hörte. Ich ging zu Köster zurück.»Hör mal, Otto«, sagte ich,»wenn du dein Leben noch einmal von vorn leben könntest, möchtest du das?«»Genauso, wie es war?«»Ja.«»Nein«, sagte Köster.»Ich auch nicht«, sagte ich.