37860.fb2 Drei Kameraden - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 9

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IX

Sonntag. Der Tag des Rennens. Köster hatte die letzte Woche jeden Tag trainiert. Abends hatten wir dann bis in die Nacht hinein Karl bis aufs kleinste Schräubchen kontrolliert, geschmiert und in Ordnung gebracht. Jetzt saßen wir am Ersatzteillager und warteten auf Köster, der zum Startplatz gegangen war.

Wir waren alle da: Grau, Valentin, Lenz, Patrice Hollmann und vor allem Jupp. Jupp im Overall, mit Rennbrille und Rennhaube. Er war Kösters Beifahrer, weil er am leichtesten war. Lenz hatte allerdings Bedenken gehabt. Er behauptete, Jupps riesige abstehende Ohren gäben zuviel Luftwiderstand; entweder verliere der Wagen zwanzig Kilometer an Geschwindigkeit oder er verwandele sich in ein Flugzeug.

»Wie kommen Sie eigentlich zu Ihrem englischen Vornamen?«fragte Gottfried Patrice Hollmann, die neben ihm saß.

»Meine Mutter war Engländerin. Sie hieß auch so. Pat.«

»Ah, Pat, das ist was anderes. Das spricht sich viel leichter.«

Er holte ein Glas und eine Flasche hervor.»Also auf gute Kameradschaft, Pat! Ich heiße Gottfried.«

Ich starrte ihn an. Während ich immer noch mit der Anrede herumlavierte, machte er am hellen Nachmittag unverfroren solche Sachen! Und sie lachte dazu und nannte ihn tatsächlich Gottfried.

Aber das war nichts gegen Ferdinand Grau. Der war völlig verrückt geworden und ließ sie nicht aus den Augen. Er rezitierte rollende Verse und erklärte, sie malen zu müssen.

Tatsächlich hockte er sich auf eine Kiste und fing an zu zeichnen.

»Hör mal, Ferdinand, alter Totenvogel«, sagte ich und nahm ihm den Block fort,»vergreif dich nicht an lebendigen Menschen. Bleib bei deinen Leichen. Und rede mehr ins Allgemeine. Mit dem Mädchen bin ich empfindlich.«

»Versauft ihr nachher mit mir den Rest der Erbtante meines Gastwirts?«

»Ob den ganzen Rest, weiß ich nicht. Aber einen Fuß sicher.«

»Gut. Dann will ich dich schonen, Knabe.«

Das Geknatter der Motoren wanderte wie Maschinengewehrfeuer um die Bahn. Geruch nach verbranntem Öl, Benzin und Rizinus. Erregender, wunderbarer Geruch, erregender, wunderbarer Trommelwirbel der Motoren!

Nebenan lärmten die Monteure in ihren wohlausgerüsteten Boxen. Wir selbst waren nur sehr dürftig versorgt. Ein bißchen Werkzeug, Zündkerzen, ein paar Räder mit Reservereifen, die wir umsonst von einer Fabrik bekommen hatten, ein paar kleinere Ersatzteile – das war schon alles. Köster fuhr nicht für eine Fabrik. Wir mußten alles selbst bezahlen. Deshalb hatten wir nicht viel.

Otto kam. Hinter ihm Braumüller, der schon zum Rennen angezogen war.»Na, Otto«, sagte er,»wenn meine Kerzen heute halten, bist du verloren! Aber sie werden nicht halten.«

»Mal sehen«, erwiderte Köster.

Braumüller drohte zu Karl hinüber.»Nimm dich in acht vor meinem Nußknacker!«

Der Nußknacker war eine ganz schwere, neue Maschine, die Braumüller fuhr. Er galt als Favorit.

»Karl wird dir schon Beine machen, Theo!«rief Lenz zu ihm hinüber.

Braumüller wollte in der alten ehrlichen Soldatensprache antworten, verschluckte sich aber, als er Patrice Hollmann bei uns sah, machte Stielaugen, grinste ziellos in die Gegend und schob ab.

»Voller Erfolg«, sagte Lenz befriedigt.

Das Gebell der Motorräder fegte über die Bahn. Köster mußte sich fertigmachen. Karl war in der Sportwagenklasse gemeldet.

»Viel helfen können wir dir ja nicht, Otto«, sagte ich und sah nach dem Werkzeug.

Er winkte ab.»Ist auch nicht nötig. Wenn Karl Bruch macht, nützt selbst eine ganze Werkstatt nichts.«

»Sollen wir nicht doch Schilder 'raushalten, damit du weißt, wie du liegst?«

Köster schüttelte den Kopf.»Ist ja Sammelstart. Da seh' ich's schon. Außerdem paßt Jupp auf.«

Jupp nickte eifrig. Er zitterte vor Aufregung und fraß andauernd Schokolade. Aber das war nur jetzt. Beim Startschuß wurde er sofort ruhig wie eine Schildkröte.

»Also los, Hals- und Beinbruch!«

Wir schoben Karl vor.»Bleib ja beim Start nicht stehen, du geliebtes Aas«, sagte Lenz und tätschelte den Kühler.»Enttäusche deinen alten Vater nicht, Karl!«

Karl dampfte ab. Wir sahen ihm nach.»Guck mal, die komische Klamotte«, sagte plötzlich jemand neben uns.»Das Hintergestell, Mensch, wie ein Strauß!«

Lenz richtete sich auf.»Meinen Sie den weißen Wagen?«fragte er mit rotem Kopf, aber noch ruhig.

»Eben«, erwiderte ihm der riesige Monteur aus der Nachbarbox wegwerfend über die Schulter weg und reichte seinem Nachbarn die Bierflasche. Lenz begann vor Wut zu stottern und schickte sich an, die niedrige Bretterwand zu übersteigen. Gottlob hatte er seine Beleidigungen noch nicht draußen. Ich zerrte ihn zurück.»Laß den Quatsch«, fluchte ich,»wir brauchen dich hier. Wozu willst du schon vorher ins Lazarett!«Störrisch wie ein Esel wollte er sich losmachen. Er konnte nun einmal bei Karl nichts vertragen.

»Sehen Sie«, sagte ich zu Patrice Hollmann,»das ist angeblich der letzte Romantiker, dieser irrsinnige Ziegenbock! Können Sie glauben, daß er mal Gedichte geschrieben hat?«

Das wirkte sofort. Es war Gottfrieds wunde Stelle.»Lange vor dem Kriege«, entschuldigte er sich.»Außerdem, Baby, beim Rennen verrückt zu werden ist keine Schande. Was, Pat?«

»Verrückt sein ist überhaupt keine Schande.«

Gottfried salutierte.»Ein großes Wort!«

Das Donnern der Motoren übertönte alles Weitere. Die Luft bebte. Erde und Himmel bebten. Das Feld raste vorbei.»Vorletzter!«knurrte Lenz.»Das Biest hat beim Anfahren doch wieder gestottert.«

»Macht nichts«, sagte ich,»der Start ist Karls Schwäche. Er zieht langsam ab, aber dann hört er überhaupt nicht mehr auf.«

In das verklingende Tosen orgelten die Lautsprecher. Wir trauten unsern Ohren nicht: Burger, ein schwerer Konkurrent, war am Start stehengeblieben.

Die Wagen brummten heran. Sie zitterten in der Ferne wie Heuschrecken auf der Bahn, wurden größer und rasten auf der gegenüberliegenden Seite an den Tribünen vorbei in die große Kurve. Es waren noch sechs, Köster immer noch an vorletzter Stelle. Wir hielten uns bereit. Hall und Widerhall schlugen stärker und schwächer aus der Kurve. Dann schoß die Meute heraus. Einer vorweg – der zweite und dritte dicht hinter ihm, und dann Köster. Er war in der Kurve vorgegangen und fuhr jetzt als vierter.

Die Sonne kam aus den Wolken hervor. Breite Streifen Helle und Grau strömten über die Bahn, die plötzlich von Licht und Schatten gefleckt war wie ein Tiger. Wolkenschatten wanderten über die Menschenmenge auf den Tribünen. Der Motorensturm war uns allen ins Blut geschlagen wie eine ungeheure Musik. Lenz zappelte herum, ich kaute eine Zigarette zu Brei, und Patrice Hollmann witterte in die Luft wie ein Fohlen am frühen Morgen. Nur Valentin und Grau saßen friedlich da und ließen sich von der Sonne bescheinen.

Wieder dröhnte der ungeheure Herzschlag der Maschinen heran, an den Tribünen vorbei. Wir starrten zu Köster hinüber. Er schüttelte den Kopf; er wollte keine Reifen wechseln. Als er zurückkam, hatte er etwas aufgeholt. Er hing dem dritten dicht am Hinterrad. So rasten sie in die unendliche Gerade.

»Verflucht!«Lenz nahm einen Schluck aus der Flasche.

»Er hat das trainiert«, sagte ich zu Patrice Hollmann.»In der Kurve 'rangehen ist seine Spezialität.«

»Auch einen Schluck aus der Pulle, Pat?«fragte Lenz.

Ich sah ihn ärgerlich an. Er hielt, ohne zu blinzeln, meinen Blick aus.

»Lieber ein Glas«, sagte sie.»Aus der Flasche trinken habe ich noch nicht gelernt.«

»Da sieht man's!«Gottfried angelte nach dem Glas.»Das sind die Fehler der modernen Erziehung.«

In den folgenden Runden zog das Feld sich weiter auseinander. Braumüller führte. Die ersten vier hatten allmählich dreihundert Meter Vorsprung. Köster verschwand mit dem dritten Kühler an Kühler hinter der Tribüne. Dann tobten die Wagen wieder heran. Wir sprangen auf. Wo war der dritte geblieben? Otto kam allein hinter den beiden anderen herangefegt. Da – endlich brummelte der dritte heran. Zerfetzte Hinterreifen. Lenz grinste schadenfroh; der Wagen hielt vor der Nebenbox. Der riesige Monteur fluchte. Eine Minute später war die Maschine wieder flott. Die nächsten Runden änderten nichts am Klassement. Lenz legte die Stoppuhr beiseite und rechnete.»Karl hat noch Reserven«, verkündete er dann.

»Ich fürchte, die andern auch«, sagte ich.»Kleingläubiger!«Er warf mir einen vernichtenden Blick zu. Auch in der vorletzten Runde schüttelte Köster den Kopf. Er wollte es riskieren, die Reifen nicht zu wechseln. Es war noch nicht so warm, daß sie es nicht hätten aushalten können.

Wie ein glasklares Tier lagerte die Spannung jetzt über dem weiten Platz und den Tribünen, als die Wagen zum Endkampf ansetzten.»Faßt alle Holz an«, sagte ich und umklammerte einen Hämmerstiel. Lenz griff an meinen Kopf. Ich stieß ihn weg. Er grinste und faßte an die Barriere.

Das Dröhnen schwoll zum Brausen, das Brausen zum Heulen, das Heulen zum Donnern, zum hohen, pfeifenden Singen der mit höchsten Touren laufenden Wagen. Braumüller flog die Kurve hoch, dicht hinter ihm raste der zweite, er ging mit stäubenden, knirschenden Hinterrädern tiefer hinein, weiter innen, er wollte wahrscheinlich drinnen versuchen, unten vorbeizukommen.»Falsch!«schrie Lenz. Da schoß auch schon Köster hinterher, schwirrend stieg der Wagen bis zum äußersten Rand empor, einen Augenblick erstarrten wir, es sah aus, als flöge er darüber hinaus, dann brüllte der Motor, und der Wagen sprang herum.»Er ist mit vollem Gas 'reingegangen!«rief ich. Lenz nickte.»Verrückt!«

Wir hingen weit über der Barriere, fiebernd vor Aufregung, ob es geglückt sei. Ich hob Patrice Hollmann auf die Kiste mit dem Werkzeug.»So sehen Sie besser! Stützen Sie sich auf meine Schulter. Passen Sie auf, er wird auch den in der Kurve schnappen.«

»Er hat ihn!«rief sie.»Er ist schon vorbei!«

»Er geht an Braumüller 'ran! Himmelherrgott, heiliger Moses!«schrie Lenz jetzt,»er ist tatsächlich vorbei und geht an Braumüller 'ran.«

In einer Wolke von Gewittern fegten die drei Wagen heraus, heran, wir schrien wie die Verrückten, auch Valentin und Graus ungeheurer Baß waren jetzt dabei – Köster war der Wahnsinn geglückt, er hatte den zweiten in der Kurve von oben her überholt, weil der sich verschätzt und im schärferen Bogen innen Fahrt verloren hatte, und jetzt stieß er wie ein Habicht auf Braumüller los, der plötzlich nur noch zwanzig Meter vor ihm lag und anscheinend Fehlzündungen hatte.

»Gib ihm, Otto! Gib ihm! Friß den Nußknacker«, brüllten wir und winkten.

Die Wagen verschwanden in der letzten Kurve. Lenz betete laut zu allen Göttern Asiens und Südamerikas um Hilfe und schwenkte sein Amulett. Ich riß meins ebenfalls heraus. Patrice Hollmann stützte sich auf meine Schulter, das Gesicht spähend weit nach vorn gereckt wie das Antlitz einer Gallionsfigur.

Da kamen sie heran. Braumüllers Motor spuckte immer noch, er setzte alle Augenblicke wieder aus. Ich machte die Augen zu; Lenz drehte sich um, den Rücken zur Bahn – wir wollten das Schicksal bestechen. Ein Ruf riß uns herum. Wir sahen gerade noch, wie Köster mit zwei Metern Vorsprung durchs Ziel ging.

Lenz wurde wahnsinnig. Er schleuderte das Werkzeug zur Erde und machte einen Handstand auf den Reifen.

»Wie sagten Sie vorhin?«brüllte er, als er wieder senkrecht stand, zu dem herkulischen Monteur hinüber,»Klamotte?«

»Ach, Mensch, quak mich nicht an«, erwiderte der Monteur mißmutig. Und zum erstenmal, seit ich ihn kannte, kriegte der letzte Romantiker bei einer Beleidigung keinen Wutanfall, sondern einen Veitstanz vor Lachen.

Wir warteten auf Otto. Er hatte noch bei der Rennleitung zu tun.

»Gottfried«, sagte auf einmal eine heisere Stimme hinter uns. Wir drehten uns um. Da stand ein menschliches Gebirge in zu engen, gestreiften Hosen, zu engem Marengojackett und schwarzer Melone.

»Alfons!«rief Patrice Hollmann.

»Persönlich«, gab er zu.

»Wir haben gewonnen, Alfons!«rief sie.

»Heftig, heftig. Dann komm' ich wohl zu spät, was?«

»Du kommst nie zu spät, Alfons«, sagte Lenz.

»Wollte euch eigentlich was zu futtern bringen. Kalter Schweinebraten und etwas Pökelrippchen. Schon zugeschnitten.«

»Gib her und setz dich, du Goldjunge«, rief Gottfried.»Wir legen gleich los.«

Er machte das Paket auf.»Mein Gott«, sagte Patrice Hollmann,»das ist ja für ein Regiment.«

»Kann man immer erst nachher entscheiden«, meinte Alfons.»Übrigens – etwas Eiskümmel ist auch da.«

Er holte zwei Flaschen heraus.»Propfen sind schon gezogen.«

»Heftig, heftig«, sagte Patrice Hollmann. Er blinzelte ihr wohlwollend zu.

Karl blubberte heran. Köster und Jupp sprangen heraus. Jupp sah aus wie ein junger Napoleon. Seine Ohren leuchteten wie Kirchenfenster. Er hatte einen entsetzlich geschmacklosen, riesigen Silberpokal in den Armen.»Der sechste«, sagte Köster lachend.»Daß den Leuten auch nie was anderes einfällt.«

»Nur den Milchtopf?«fragte Alfons sachlich.»Keinen cash?«

»Doch«, beruhigte ihn Otto,»auch cash.«

»Dann schwimmen wir ja geradezu in Geld«, sagte Grau.

»Scheint ein netter Abend zu werden.«

»Bei mir?«fragte Alfons.

»Ehrensache«, erwiderte Lenz.

»Erbsensuppe mit Schweinebauch, Pfoten und Ohren«, sagte Alfons, und sogar Patrice Hollmann machte ein Gesicht voll Hochachtung.»Gratis natürlich«, fügte er hinzu.

Braumüller kam heran, fluchend über sein Pech, die Hand voll verölter Zündkerzen.»Beruhige dich, Theo«, rief Lenz.»Der erste Preis im nächsten Kinderwagenrennen ist dir sicher.«

»Gebt ihr mir Revanche mit Kognak?«fragte Braumüller.

»In Biergläsern sogar«, sagte Grau.

»Keine Chance für Sie, Herr Braumüller«, erklärte Alfons als Sachverständiger.»Habe Köster noch nie blau gesehen.«

»Habe Karl auch noch nie vor mir gesehen«, gab Braumüller zurück.»Außer heute.«

»Trag's mit Würde«, sagte Grau.»Hier hast du ein Glas. Wir wollen auf den Niedergang der Kultur durch die Maschine trinken.«

Als wir aufbrachen, wollten wir den übriggebliebenen Proviant von Alfons mitnehmen. Es mußte noch für ein paar Mann reichlich da sein. Aber wir fanden nur noch das Papier.»Zum Donnerwetter…«, sagte Lenz.»Aha!«Er zeigte auf Jupp, der verlegen grinste, die Fäuste noch voll, mit einem Bauch, der wie eine Trommel wegstand.»Auch ein Rekord!«

Patrice Hollmann hatte nach dem Essen bei Alfons für mein Gefühl zuviel Erfolg. Ich erwischte Grau dabei, wie er ihr erneut vorschlug, sie zu malen. Sie lachte und erklärte, es dauere ihr zu lange; fotografieren sei bequemer.

»Das ist auch mehr sein Fach«, sagte ich anzüglich.»Vielleicht malt er Sie nach einer Fotografie.«

»Ruhe, Robby«, erwiderte Ferdinand unbeirrt und starrte Pat aus seinen riesigen blauen Kinderaugen an.»Der Schnaps macht dich bösartig – mich menschlich. Das ist der Unterschied zwischen unseren Generationen.«

»Er ist so an zehn Jahre älter als ich«, warf ich ein.

»Das ist heute eine Generation Unterschied«, fuhr Ferdinand fort.»Ein Leben Unterschied. Ein Jahrtausend Unterschied. Was wißt ihr Burschen denn vom Dasein! Ihr fürchtet euch ja vor euren eigenen Gefühlen. Ihr schreibt keine Briefe – ihr telefoniert; ihr träumt nicht mehr – ihr macht eine Wochenendtour; ihr seid vernünftig in der Liebe und unvernünftig in der Politik – ein erbärmliches Geschlecht!«

Ich hörte nur mit einem Ohr hin; mit dem andern horchte ich zu Braumüller hinüber. Er erklärte Patrice Hollmann gerade etwas schwankend, daß sie unbedingt bei ihm Autofahren lernen müsse. Er werde ihr alle seine Tricks zeigen.

Bei der nächsten Gelegenheit nahm ich ihn beiseite.»Es ist sehr ungesund, Theo, für einen Sportsmann, sich zuviel um Frauen zu kümmern.«

»Für mich nicht«, meinte Braumüller,»ich habe eine fabelhafte Natur.«

»Schön. Dann will ich dir sagen, was bestimmt auch für dich gesund ist: Wenn du eins mit dieser Flasche auf den Kopf geschlagen kriegst.«

Er grinste.»Steck den Degen ein, Kleiner. Weißt du, woran man einen Kavalier erkennt? Daß er sich anständig benimmt, wenn er besoffen ist. Und weißt du, was ich bin?«

»Ein Renommist!«

Ich hatte keine Sorge, daß einer von ihnen wirklich etwas unternehmen wollte; das gab es nicht unter uns. Aber ich wußte nicht so genau, wie es mit dem Mädchen war – es konnte ja leicht sein, daß einer der andern ihr großartig gefiel. Wir kannten uns noch zu wenig, als daß ich sicher gewesen wäre. Wann war man überhaupt schon sicher?

»Wollen wir leise verschwinden?«fragte ich. – Sie nickte.

Wir gingen durch die Straßen. Es war diesig geworden. Nebel fiel langsam über die Stadt, grüne und silberne Nebel. Ich nahm Pats Hand und steckte sie in meine Manteltasche.

So gingen wir lange Zeit.

»Müde?«fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und lächelte.

Ich zeigte auf die Cafes, an denen wir vorüberkamen.

»Wollen wir irgendwo hinein?«

»Nein. Nicht schon wieder.«

Wir gingen weiter und kamen an den Friedhof. Er war wie eine stille Insel in der steinernen Häuserflut. Die Bäume rauschten. Ihre Wipfel waren schon nicht mehr zu sehen. Wir suchten eine leere Bank und setzten uns.

Die Laternen vor uns am Straßenrand hatten zitternde orangefarbene Höfe bekommen. Im stärker fallenden Nebel begann das große Märchen Licht. Maikäfer kamen trunken aus den Linden herangetaumelt, sie umkreisten die Laternen und bumsten schwer gegen die feuchten Scheiben. Der Nebel verwandelte alles, er hob es hoch und löste es los, das Hotel gegenüber schwamm schon wie ein Ozeandampfer mit erleuchteten Kabinen über dem schwarzen Spiegel des Asphalts, der graue Schatten der Kirche dahinter wurde zu einem gespenstischen Segelschiff mit hohen Masten, die sich im grauroten Licht verloren, und nun begannen auch die Schleppzüge der Häuser zu schwimmen, zu treiben…

Wir saßen schweigend nebeneinander. Der Nebel machte alles unwirklich – auch uns. Ich sah das Mädchen an – in ihren weitgeöffneten Augen glänzte der Laternenschein.»Komm«, sagte ich,»komm dicht zu mir – sonst treibt dich der Nebel weg…«

Sie wandte mir ihr Gesicht zu. Sie lächelte, ihr Mund war leicht geöffnet, die Zähne schimmerten, ihre Augen waren groß auf mich gerichtet – aber mir schien, als sähen sie mich gar nicht -, als lächele sie über mich hinweg in das graue und silberne Fließen hinein, als sei sie geisterhaft angerührt worden von dem Wehen in den Wipfeln, von dem feuchten Rinnen die Stämme hinab, als lausche sie auf einen dunklen, unhörbaren Ruf hinter den Bäumen, hinter der Welt, als müsse sie gleich aufstehen und fortgehen, durch den Nebel, ziellos und sicher, und ihm folgen, dem geheimnisvollen Anruf der Erde und des Lebens.

Nie werde ich dieses Gesicht vergessen – nie werde ich vergessen, wie es sich dann zu mir neigte, wie es Ausdruck gewann, wie es sich schweigend erfüllte mit Zärtlichkeit und Zartheit, mit einer leuchtenden Stille, als erblühe es – nie werde ich vergessen, wie ihre Lippen mir entgegenkamen, wie ihre Augen sich den meinen näherten, wie sie dicht vor mir standen und mich ansahen, fragend, ernst, groß und schimmernd – und wie sie sich dann langsam schlossen, als ergäben sie sich…

Der Nebel zog und zog. Die Kreuze der Grabsteine ragten blaß aus den Schwaden. Ich deckte meinen Mantel über uns. Die Stadt war versunken. Die Zeit war gestorben…

Wir saßen lange so. Allmählich begann es stärker zu wehen, und Schatten schwankten durch die graue Luft vor uns. Ich hörte Schritte knirschen und leises Murmeln dazwischen. Dann das gedämpfte Klimpern von Gitarren. Ich hob den Kopf. Die Schatten kamen näher, wurden zu dunklen Gestalten und schoben sich zu einem Kreise zusammen. Stille. Und plötzlich lauter Gesang:»Jesus, Jesus sucht auch dich…«

Ich fuhr mit einem Ruck hoch und horchte. Was war da los? Waren wir auf dem Mond? Das war ja ein richtiger Chor – ein zweistimmiger Frauenchor…

»Sünder, Sünder, stehe auf«, hallte es über den Friedhof im Takt eines Regimentsmarsches… Ich starrte Pat an.»Es ist doch nicht zu fassen«, sagte ich.»Komm zur Bußbank reuiglich…«, ging es schon in flottem Tempo weiter. Auf einmal begriff ich.»Lieber Gott! Die Heilsarmee!«»Laß der Sünde keinen Lauf…«, mahnten die Schatten aufs neue in aufsteigender Kantilene. In den braunen Augen Pats erschienen funkelnde Lichter. Ihre Lippen zuckten und ihre Schultern bebten. Unaufhaltsam ging es jetzt fortissimo weiter:»Höllenbrand und Feuerpein Sind der Sünde böser Lohn; Jesus lädt dich vorher ein – Komm und büß, verlorener Sohn…«

»Ruhe, Himmeldonnerschlag!«brüllte plötzlich eine ärgerliche Stimme aus dem Nebel dazwischen.

Ein Moment verdutzter Stille. Aber die Heilsarmee war Kummer gewohnt. Verstärkt setzte der Chor sofort wieder ein.»Was willst du in der Welt allein…«, klagte er unisono…

»Knutschen, verflucht noch mal«, brüllte die ärgerliche Stimme,»hat man denn nicht mal hier Ruhe?«

»Wo Satans Blendwerk dich verlockt…«, schmetterte es mit jähem Aufschwung dagegen.

»Ihr alten Schrauben könnt mich schon lange nicht verlocken!«kam die Antwort prompt aus dem Nebel.

Ich prustete los. Pat konnte auch nicht mehr an sich halten. Wir schüttelten uns vor Lachen über dieses Duell auf dem Friedhof. Der Heilsarmee war bekannt, daß die Bänke hier die Zuflucht von Liebespaaren waren, die nicht wußten, wo sie sonst im Lärm der Stadt allein sein konnten. Deshalb hatte sie zu einem gewaltigen Schlage ausgeholt. Sie machte eine Sonntags-Razzia, um Seelen zu retten. Fromm, gläubig und laut plärrten die ungeschulten Stimmen ihren Text. Die Gitarren machten heftig Wumba Wumba dazu.

Der Friedhof wurde lebendig. Kichern und Zurufe kamen aus dem Nebel. Alle Bänke schienen besetzt zu sein. Der einsame Rebell der Liebe erhielt mächtig unsichtbaren Zuzug von Gleichgesinnten. Ein Protestchor formierte sich. Es mußte altes Militär dabeisein, das durch die Marschmusik angeregt wurde – denn machtvoll erhob sich nach kurzer Zeit das unvergängliche Lied:»In Hamburg da bin ich gewesen – hab' gesehen die blühende Welt…«

»O sei nicht länger noch verstockt«, drang schrill der Chor der Asketen noch einmal durch, denn die Heilsarmee geriet mit nickenden Schutenhüten in höchsten Alarm.

Aber das Böse siegte.»Meinen Namen, den darf ich nicht nennen«, schallte es aus rauhen Kehlen gewaltig dagegen,»denn ich bin ja ein Mädchen für Geld.«

»Jetzt wird es Zeit aufzubrechen«, sagte ich zu Pat.»Das Lied da kenne ich. Es hat mehrere Strophen, die sich mächtig steigern. Fort von hier!«

Die Stadt war wieder da mit Hupenlärm und Rädergesumm. Aber sie blieb verzaubert. Der Nebel machte aus den Omnibussen große Fabeltiere, die Autos wurden zu schleichenden Lichtkatzen und die Schaufenster zu bunten Höhlen der Verwirrung.

Wir gingen die Straße am Friedhof entlang und überquerten den Rummelplatz. Die Karussells ragten wie brausende Türme von Musik und Glanz in die diesige Luft, das Teufelsrad sprühte Purpur, Gold und Gelächter, und das Labyrinth schimmerte in blauen Feuern.

»Gesegnetes Labyrinth!«sagte ich.

»Warum?«fragte Pat.

»Wir waren doch einmal zusammen drin.«

Sie nickte.

»Ich habe das Gefühl, es ist endlos lange her.«

»Wollen wir noch einmal hinein?«

»Nein«, sagte ich.»Jetzt nicht mehr. Willst du etwas trinken?«

Sie schüttelte den Kopf. Sie sah wunderschön aus. Der Nebel war wie ein leichter Duft, der sie noch strahlender machte.

»Bist du auch nicht müde?«fragte ich.

»Nein, noch nicht.«

Wir kamen an die Buden mit den Ringen und den Haken. Lampen mit weißem, spritzendem Karbidlicht hingen davor. Pat sah mich an.»Nein«, sagte ich,»heute werfe ich nicht. Keinen einzigen Ring. Und wenn der Schnapskeller Alexanders des Großen zu gewinnen wäre.«Wir gingen weiter, über den Platz und durch die städtischen Anlagen.

»Hier muß irgendwo die Daphne indica stehen«, sagte Pat.

»Ja, man riecht sie schon von weitem über den Rasen her. Ganz deutlich. Oder nicht?«

Sie sah mich an.»Doch«, sagte sie.

»Sie muß aufgeblüht sein. Man riecht sie jetzt durch die ganze Stadt.«Ich blickte vorsichtig nach rechts und links, ob irgendwo eine leere Bank wäre. Aber es mußte wohl an der Daphne indica liegen oder am Sonntag oder an uns – ich fand keine. Alle waren besetzt. Ich sah auf die Uhr. Es war schon nach zwölf.»Komm«, sagte ich,»wir gehen zu mir – da sind wir für uns.«

Sie antwortete nicht, aber wir gingen zurück. Am Friedhof sahen wir etwas Unerwartetes. Die Heilsarmee hatte Verstärkung herangezogen. Vier Reihen tief stand jetzt der Chor. Nicht nur Schwestern, auch zwei Reihen Brüder in Uniform waren da. Nicht mehr zweistimmig schrill, sondern vierstimmig wie eine Orgel klang der Gesang. Im Walzertakt brauste es über die Grabsteine:»Himmlisches Jerusalem…«

Von der Opposition war nichts mehr zu hören. Sie war weggefegt.»Beharrlichkeit«, sagte mein Rektor Hillermann immer schon,»Beharrlichkeit und Fleiß sind besser als Zuchtlosigkeit und Genie…«

Ich schloß die Tür auf. Einen Augenblick überlegte ich. Dann knipste ich das Licht an. Der Schlauch des Korridors gähnte gelb und scheußlich.»Mach die Augen zu«, sagte ich leise zu Pat,»der Anblick ist nur für abgebrühte Nerven.«Ich nahm sie mit einem Ruck hoch und ging langsam mit einem gewöhnlichen Schritt, als wäre ich allein, vorbei an Koffern und Gaskochern, bis zu meinem Zimmer.

»Schauerlich, was?«sagte ich verlegen und starrte auf die Plüschgarnitur, die sich uns entgegenbreitete. Ja, jetzt fehlten mir die Brokatstücke Frau Zalewskis – der Teppich, die Hassesche Lampe -»Es ist gar nicht so schauerlich«, sagte Pat.

»Doch, doch«, erwiderte ich und ging zum Fenster.»Aber die Aussicht ist wenigstens schön. Vielleicht rücken wir die Sessel ans Fenster.«

Pat ging im Zimmer umher.»Es ist gar nicht schlimm. Vor allem ist es wunderbar warm.«

»Frierst du?«

»Ich habe es gern warm«, sagte sie und hob ein wenig die Schultern.

»Ich mag Kälte und Regen nicht. Ich kann sie auch nicht vertragen.«

»Himmel – und wir haben die ganze Zeit draußen im Nebel gesessen…«

»Um so besser ist es jetzt hier…«

Sie dehnte sich und ging wieder mit ihren schönen Schritten durchs Zimmer. Ich war sehr befangen und sah mich rasch um. – Gottlob, es lag nicht viel umher. Meine zerrissenen Hausschuhe schubste ich mit einer Fußdrehung nach hinten unters Bett.

Pat stand vor dem Kleiderschrank und schaute hinauf. Oben lag ein alter Koffer, den Lenz mir geschenkt hatte. Er war bunt beklebt mit Zetteln von seinen Abenteurerfahrten.»Rio de Janeiro…«, las sie,»Manáos – Santiago – Buenos Aires – Las Palmas…«

Sie schob den Koffer zurück und kam auf mich zu.»Da bist du überall schon gewesen?«

Ich murmelte irgend etwas. Sie nahm meinen Arm.»Komm, erzähl mir davon, erzähl mir von all diesen Städten, es muß doch herrlich gewesen sein, so weit zu reisen…«

Und ich? Ich sah sie vor mir, schön, jung, voll Erwartung, ein Schmetterling, verflogen durch einen glücklichen Zufall in mein abgebrauchtes, schäbiges Zimmer, in mein belangloses, sinnloses Leben, bei mir und doch nicht bei mir – ein Atemzug nur, und er konnte sich heben und wieder davonfliegen – scheltet mich, verdammt mich, ich konnte es nicht, ich konnte nicht nein sagen, nicht sagen, daß ich nie dagewesen war, jetzt nicht…

Wir standen am Fenster, der Nebel drängte und quoll gegen die Scheiben – und ich spürte: Hinter ihm lauert es wieder, das Verschwiegene, Verborgene, Vergangene, die feuchten Tage des Grauens, die Öde, der Schmutz, die Fetzen verwesten Daseins, die Ratlosigkeit, die verirrte Kraftmeierei eines ziellos abschnurrenden Lebens – aber hier, vor mir im Schatten, bestürzend nahe, der leise Atem, die unfaßbare Gegenwart, Wärme, klares Leben -, ich mußte es halten, ich mußte es gewinnen -»Rio…«sagte ich -»Rio de Janeiro – ein Hafen wie ein Märchen. In sieben Bogen schwingt das Meer um die Bucht, und die Stadt steigt weiß und flimmernd darüber auf…«Ich begann zu erzählen von heißen Städten und endlosen Ebenen, von den gelben Schlammfluten der Flüsse, von schimmernden Inseln und Krokodilen, von den Wäldern, die die Straßen fressen, vom Schrei der Jaguare nachts, wenn der Flußdampfer durch den Brodem von Vanille, Schwüle, Orchideenduft, Verwesung und Dunkel gleitet, ich hatte das alles von Lenz gehört, aber jetzt schien es mir fast, als wäre ich es selbst gewesen, so wunderlich mischten sich Erinnerung und Sehnsucht danach mit dem Wunsch, zu dem geringen und dunklen Wirrwarr meines Lebens etwas Glanz hinzuzutun, um nicht dieses unbegreiflich schöne Gesicht vor mir zu verlieren, diese jähe Hoffnung, dieses beglückende Blühen, für das ich allein viel zuwenig war. Später konnte ich das alles einmal erklären, später, wenn ich mehr war, wenn alles sicherer war, später, aber nicht jetzt -»Manáos«, sagte ich.»Buenos Aires«, und jedes Wort war Bitte und Beschwörung.

Nacht. Draußen begann es zu regnen. Die Tropfen fielen weich und zärtlich. Sie klatschten nicht mehr wie vor einem Monat, als sie nur die Äste der Linden trafen – jetzt rauschten sie leise herab in die jungen nachgebenden Blätter, sie drängten sich an sie und rannen an ihnen herunter, ein mystisches Fest und ein geheimnisvolles Fließen zu den Wurzeln, von denen sie wieder aufsteigen würden, um selbst Blätter zu werden, die den Regen wieder erwarteten in den Nächten des Frühjahrs.

Es war still geworden. Der Lärm der Straße war verstummt – eine einsame Laterne flackerte auf dem Bürgersteig. Die zarten Blätter der Bäume, von unten beschienen, sahen fast weiß aus, durchsichtig beinahe. Die Wipfel waren schimmernde, helle Segel.

»Horch, der Regen, Pat…«

»Ja…«

Sie lag neben mir. Ihr Haar hob sich dunkel von den

weißen Kissen ab. Das Gesicht erschien sehr bleich unter dem Düster des Haares. Eine Schulter war hochgeschoben, sie glänzte von irgendeinem Licht wie matte Bronze, und ein schmaler Streifen Licht fiel auch auf ihren Arm.»Sieh nur«, sagte sie und hob auch die Hände hinein.

»Ich glaube, es kommt von der Laterne draußen«, sagte ich.

Sie richtete sich auf. Jetzt war auch ihr Gesicht im Licht, das lief über die Schultern und die Brust, gelb, wie der Schein von Wachskerzen, es veränderte sich, floß zusammen, wurde zu Orange, blaue Kreise flirrten hindurch, und dann stand plötzlich ein warmes Rot hinter ihr wie eine Gloriole, glitt höher und wanderte langsam über die Decke des Zimmers.

»Es ist die Zigarettenreklame von drüben.«

»Siehst du, wie schön dein Zimmer ist.«

»Es ist schön, weil du da bist. Es wird jetzt auch nie mehr das Zimmer von früher sein – weil du hiergewesen bist.«

Sie kniete im Bett, ganz von fahlem Blau umweht.»Aber…«sagte sie,»ich werde doch noch oft hier sein – oft.«

Ich lag still da und sah sie an. Ich sah alles wie durch einen weichen, klaren Schlaf, entspannt, gelöst, ruhig und sehr glücklich.»Wie schön du so bist, Pat! Viel schöner als in allen Kleidern.«

Sie lächelte und beugte sich zu mir herunter.»Du mußt mich sehr lieben, Robby. Ich weiß nicht, was ich machen soll ohne Liebe!«

Ihre Augen hielten mich fest. Ihr Gesicht war dicht über mir. Es war bewegt, ganz aufgeschlossen, voll leidenschaftlicher Kraft.»Du mußt mich festhalten«, flüsterte sie,»ich brauche jemand, der mich festhält. Ich falle sonst. Ich habe Angst.«

»Du siehst nicht so aus, als ob du Angst hättest«, erwiderte ich.

»Doch. Ich tue nur so. Ich habe oft Angst.«

»Ich werde dich schon festhalten«, sagte ich, immer noch in diesem unwirklichen Traumwachen, diesem verschwebenden hellen Schlaf.

»Ich werde dich schon richtig festhalten, Pat. Du wirst dich wundern.«Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände.»Wirklich?«

Ich nickte. Ihre Schultern leuchteten grün wie in tiefem Wasser. Ich ergriff ihre Hände und zog sie zu mir herab – eine Welle, eine leuchtende, atmende, weiche Woge, die anstieg und alles verlöschte.

Sie schlief in meinem Arm. Ich erwachte oft und sah sie an. Ich dachte, die Nacht könne nie zu Ende gehen. Wir trieben irgendwo, jenseits der Zeit. Es war alles so schnell gekommen, ich begriff es noch gar nicht. Ich begriff noch gar nicht, daß mich ein Mensch lieben konnte. Ich verstand wohl, daß ich für einen Mann ein ganz guter Kamerad sein konnte; aber ich konnte mir nicht vorstellen, weshalb eine Frau mich lieben sollte. Ich dachte, daß es wohl nur diese Nacht sein würde, und glaubte, beim Erwachen würde es vorbei sein.

Die Dunkelheit wurde grau. Ich lag ganz still. Mein Arm unter Pats Kopf war eingeschlafen, ich konnte nichts mehr fühlen. Aber ich rührte mich nicht. Erst als sie sich im Schlaf umdrehte und sich gegen das Kissen drückte, konnte ich ihn wegnehmen. Ich stand ganz leise auf und putzte mir geräuschlos die Zähne und rasierte mich. Ich nahm auch etwas Kölnisch Wasser und rieb es mir auf das Haar und in den Nacken. Es war sonderbar, so lautlos in dem grauen Zimmer, mit den Gedanken, und draußen den dunklen Umrissen der Bäume. Als ich mich umdrehte, sah ich, daß Pat die Augen offen hatte und mich betrachtete. Ich hielt inne.»Komm«, sagte sie.

Ich ging zu ihr und setzte mich auf das Bett.»Ist alles noch wahr?«sagte ich.

»Weshalb fragst du?«

»Ich weiß nicht. Weil es Morgen ist, vielleicht?«

Es wurde heller.»Du mußt mir jetzt meine Sachen geben«, sagte sie. Ich nahm die dünne Seidenwäsche vom Boden auf. Sie war leicht und so wenig. Ich hielt sie in der Hand. Schon das war ganz anders, dachte ich. Wer so etwas trug, mußte schon ganz anders sein. Nie würde ich ihn begreifen, nie.

Ich gab ihr die Sachen. Sie legte mir den Arm um den Nacken und küßte mich. Dann brachte ich sie nach Hause. Wir sprachen nicht mehr viel. Wir gingen nebeneinander her in der silbrigen Frühe. Die Milchwagen ratterten über das Pflaster, und die Zeitungen wurden ausgetragen. Ein alter Mann saß vor einem Hause und schlief. Sein Kinn zitterte, als sei es nicht mehr fest. Radfahrer mit Brötchenkörben fuhren vorüber. Das warme frische Brot roch über die Straße. Hoch über uns zog ein Flieger durch den blauen Himmel.

»Heute?«fragte ich Pat vor der Haustür.

Sie lächelte.»Um sieben?«fragte ich.

Sie sah gar nicht müde aus. Sie war frisch, als hätte sie lange geschlafen. Sie küßte mich zum Abschied. Ich blieb vor dem Hause stehen, bis ich sah, daß in ihrem Zimmer das Licht anging.

Dann ging ich zurück. Unterwegs fiel mir vieles ein, was ich ihr hätte sagen sollen, viele schöne Worte. Ich wanderte durch die Straßen und dachte daran, was ich alles hätte sagen und tun können, wenn ich nicht so gewesen wäre, wie ich war. Dann ging ich zu den Markthallen. Die Wagen mit Gemüse, Fleisch und Blumen waren schon da. Ich wußte, daß man hier für den gleichen Preis dreimal soviel Blumen bekam wie in den Läden. Ich kaufte für alles Geld, das ich noch bei mir hatte, Tulpen. Sie sahen herrlich aus, ganz frisch, mit Wassertropfen in den Kelchen. Ich bekam einen großen Arm voll. Die Verkäuferin versprach mir, sie um elf Uhr zu Pat zu schicken. Sie lachte mich an, als sie es versprach, und legte noch einen dicken Busch Veilchen dazu.

»Mindestens vierzehn Tage wird die Dame ihre Freude daran haben«, sagte sie.»Nur ab und zu eine Pyramiden ins Wasser tun.«

Ich nickte und gab ihr das Geld. Dann ging ich langsam nach Hause.