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Er legte die Bücher auf den Tisch zurück.
»Sex und Landwirtschaft. Beides langweilig.«
Wie bitte? Plötzlich fühlte sie sich herausgefordert. Wie konnte er so schlecht über ihren Beruf reden? Er wußte wohl nicht, was genau sie machte, hatte nur eine vage Ahnung, aber sie durfte ihm keine Antwort schuldig bleiben.
Malerei; etwas Statisches, eine unterbrochene Bewegung, ein Foto, das dem Original nie genau entspricht. Ein toter Gegenstand, für den sich niemand mehr interessiert außer den Malern selbst – gebildeten Wichtigtuern, die nicht mit der Zeit gegangen sind. Hast du schon einmal von Joan Miro gehört? Ich nicht, oder vielmehr erst vor kurzem, in einem Restaurant, und ich kann nicht sagen, daß dies mein Leben entscheidend verändert hätte.«
Sie wußte nicht, ob sie zu weit gegangen war – denn die Drinks kamen, und das Gespräch wurde unterbrochen. Beide schwiegen minutenlang. Maria dachte, daß es Zeit war zu gehen, und vielleicht hatte Ralf Hart dasselbe gedacht. Aber die zwei vollen Gläser mit diesem gräßlichen Getränk lieferten einen Vorwand, weiter zusammenzubleiben.
»Warum das Buch über Landwirtschaft?«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich war schon in der Rue de Berne. Als du gesagt hast, was du machst, habe ich mich erinnert, daß ich dich schon einmal gesehen habe: in diesem teuren Nachtclub. Dennoch ist es mir beim Zeichnen vorhin nicht eingefallen: Dein Licht war zu stark.«
Maria hatte das Gefühl, daß der Boden unter ihren Füßen sich auftat. Zum ersten Mal schämte sie sich für ihre Tätigkeit, obwohl sie nicht den geringsten Grund dafür hatte. Sie arbeitete, um sich und ihre Familie zu ernähren. Aber er sollte sich dafür schämen, daß er in die Rue de Berne ging! Von einem Augenblick auf den anderen war der ganze Zauber verflogen.
Monate in der Schweiz. Ich weiß, wie diskret die Schweizer sind, weil sie in einem kleinen Land leben, in dem jeder jeden kennt. Darum kümmert sich auch keiner um das, was der andere macht. Deine Bemerkung war unangebracht und sehr unhöflich, aber falls es deine Absicht war, mich zu erniedrigen, um dich besser zu fühlen, dann verlierst du nur deine Zeit. Vielen Dank für den Pastis, er schmeckt grauenhaft. Trotzdem werde ich ihn austrinken und danach noch eine Zigarette rauchen. Du aber kannst sofort gehen, denn für berühmte Maler schickt es sich nicht, mit einer Hure am selben Tisch zu sitzen. Denn genau das bin ich, weißt du? Eine Hure. Ohne das geringste Schuldgefühl, von Kopf bis Fuß eine Hure. Und darin liegt meine Tugend: daß ich weder mir noch dir etwas vormache. Denn es lohnt sich nicht, und du hast es auch nicht verdient, daß ich dich belüge. Glaubst du, der berühmte Chemiker am anderen Ende des Cafes hat nicht gesehen, was ich bin?« Ihre Stimme wurde lauter. »Eine Hure! Und weißt du, was? Das gibt mir ein Gefühl von Freiheit – zu wissen, daß ich dieses verdammte Land in genau neunzig Tagen verlassen werde, mit vo llem Portemonnaie, sehr viel weltgewandter als bei meiner Ankunft und durchaus in der Lage, einen guten Wein auszuwählen, mit einem Koffer voller Fotos von mir im Schnee und als jemand, der die Männer kennt.«
Das Mädchen am Tresen spitzte erschrocken die Ohren. Der Chemiker verzog keine Miene. Aber vielleicht lag es auch am Alkohol, oder daran, daß sie bald schon wieder in ihrer brasilianischen Kleinstadt sein würde. Vielleicht genoß sie es auch einfach, sagen zu können, wie sie ihr Geld verdiente, und über die schockierten Reaktionen, die kritischen Blicke, das empörte Kopfschütteln zu lachen.
»Du hast richtig gehört? Eine Hure, nichts anderes und das ist meine Tugend!«
Er sagte nichts. Rührte sich nicht. Und Maria redete selbstbewußt weiter: »Du bist ein Maler, der nichts von seinen Modellen versteht. Vielleicht ist der Chemiker, der da verschlafen in der Ecke sitzt, ja in Wahrheit ein Eisenbahner. Und alle anderen Personen auf deinem Bild sind auch nicht, was sie zu sein vorgeben. Sonst hättest du nie sage n können, daß du in mir ein >besonderes, inneres Licht< siehst – ausgerechnet in mir, einer HURE!«
Die letzten Worte hatte sie laut und sehr langsam ausgesprochen. Der Chemiker fuhr zusammen, die Kellnerin brachte die Rechnung.
»Das hat überhaupt nichts damit zu tun, daß du eine Prostituierte bist, sondern mit der Frau, die du bist.« Ralf übersah die Rechnung und sagte ebenfalls langsam, aber mit leiser Stimme: »Du hast ein Leuchten. Es kommt von deinem starken Willen, deiner Kraft, wie sie nur Menschen haben, die bereit sind, zur Verwirklichung ihrer Ziele große Opfer zu bringen. Deine Augen – dieses Licht zeigt sich in deinen Augen.«
Maria fühlte sich entwaffnet; er hatte sich nicht provozieren lassen. Sie wollte glauben, daß er sie verführen wollte, nichts weiter. Sie durfte nicht denken – zumindest nicht in den nächsten neunzig Tagen –, daß es interessante Männer auf der Welt gab.
»Siehst du diesen Pastis da vor dir?« fuhr er fort. »Du siehst nur einen Pastis. Ich hingegen, der ich in das hineinschauen muß, was ich male, sehe die Pflanze, aus der er gemacht ist, die Stürme, denen die Pflanze getrotzt hat, die Hand, die die Aniskörner geerntet hat, deren Reise bis hierher, rieche den Duft des Anises und sehe seine Farbe, ehe er dem Alkohol hinzugefügt wurde. Wenn ich eines Tages diese Szene male, ist das alles auch in dem Bild enthalten, obwohl du dann meinst, nur ein gewöhnliches Glas Pastis vor dir zu haben. Ebenso wie ich vorhin, als du auf die Gasse hinausgesehen und an den Jakobsweg gedacht hast – denn ich weiß, woran du dachtest –, auch deine Kindheit, Jugend, deine zerronnenen Träume, deine Pläne gemalt habe und deine Kraft – die hat mich am meisten verwirrt. Als du das Bild gesehen hast…«
Maria schwieg. Innerlich öffnete sie einen Spaltbreit ihr Visier, obwohl sie wußte, wie schwierig es werden würde, es später wieder zu schließen.
»Ich habe dieses Licht gesehen… auch wenn dort nur eine Frau war, die dir ähnlich sah.«
Wieder dieses peinliche Schweigen. Maria schaute auf die Uhr. »Ich muß bald gehen. Warum hast du gesagt, daß Sex langweilig ist?«
»Das solltest du besser wissen als ich.«
»Ich weiß es, weil es mein Arbeitsgebiet ist. Und weil ich jeden Tag das gleiche mache. Aber du mit deinen dreißig Jahren…«
»Neunundzwanzig…«
»…jung, gutaussehend, berühmt, der noch an diesen Dingen interessiert sein und es nicht nötig haben sollte, in die Rue de Berne zu gehen.«
»Ich hatte es aber nötig. Ich bin mit einigen deiner Kolleginnen ins Bett gegangen. Allerdings nicht, weil ich Probleme habe, eine Frau zu finden. Das Problem liegt woanders.«
Maria spürte ein Quentchen Eifersucht und war entsetzt. Sie merkte, daß sie jetzt wirklich gehen mußte.
»Es war mein letzter Versuch. Jetzt habe ich aufgegeben«, sagte Ralf, während er das auf dem Boden verstreute Material zusammensammelte.
»Hast du ein körperliches Problem?«
»Überhaupt nicht. Nur Desinteresse.«
Unmöglich.
»Dann zahl die Rechnung und laß uns dann Spazierengehen!
Ich glaube, es geht vielen so, und niemand spricht es aus. Es tut gut, mit jemandem zu reden, der so ehrlich ist wie du.«
Sie gingen den >Jakobsweg< entlang, hinunter zum See einen Weg, der quer durch die Berge führte und an einem fernen Ort in Spanien endete. Sie begegneten Leuten, die vom Mittagessen kamen, Müttern mit ihren Kinderwagen, Touristen, die Fotos von der schönen Fontäne im See machten, muslimischen Frauen mit Kopftuch, joggenden Jungen und Mädchen – sie alle Pilger auf dem Weg zu der legendären Stadt Santiago de Compostela, die es vielleicht nicht einmal gab und an welche die Menschen glaubten, damit ihr Leben ein Ziel und einen Sinn hatte. Diesen von so vielen Menschen ausgetretenen Weg gingen nun dieser Mann mit den langen Haaren und dem schweren Beutel voller Farben, Leinwände, Stifte und die etwas jüngere Frau mit einem Beutel voller Bücher über Landwirtschaft. Keinem der beiden fiel ein, sich zu fragen, warum sie gemeinsam diese Wallfahrt machten. Es kam ihnen ganz natürlich vor. Er wußte alles über sie, und sie wußte nichts über ihn.
Und deshalb beschloß sie zu fragen. Anfangs tat er etwas bescheiden, aber sie wußte, wie man einen Mann zum Reden bringt, und da erzählte er ihr, daß er (ein Rekord bei neunundzwanzig Jahren) zweimal verheiratet gewesen, viel gereist war, berühmte Schauspieler und gekrönte Häupter kennengelernt und unvergeßliche Feste gefeiert hatte. Er war in Genf geboren, hatte in Madrid, Amsterdam, New York und in Südfrankreich in einer Stadt namens Tarbes gelebt, die in den wenigsten Touristenführern vorkam, die er aber wegen ihrer Nähe zu den Bergen und der Gastfreundschaft ihrer Einwohner liebte. Sein künstlerisches Talent war entdeckt worden, als er zwanzig Jahre alt war. Ein großer Kunsthändler hatte zufällig in einem japanischen Restaurant in Genf gegessen, dessen Inneneinrichtung von ihm gestaltet worden war. Er hatte viel Geld verdient, war jung und gesund, konnte tun, was er wollte, fahren, wohin er wollte, treffen, wen er wollte. Er hatte schon alle weltlichen Genüsse erlebt, die ein Mann erleben kann, ging in seinem Beruf auf; und dennoch, trotz alledem, trotz Ruhm, Geld, Frauen, Reisen, war er unglücklich, hatte er nur eine Freude im Leben: seine Malerei.
»Haben die Frauen dir so weh getan?« fragte sie und merkte sofort, wie töricht die Frage war, wie aus einem Handbuch mit dem Titel Wie erobere ich einen Mann?.
»Nein, sie haben mir nie weh getan. Ich war in beiden Ehen glücklich. Ich wurde betrogen und habe betrogen, wie es in jeder normalen Ehe vorkommt. Dennoch hat mich der Sex nach einer Weile nicht mehr interessiert. Ich liebte meine Frauen immer noch, sie fehlten mir, wenn sie nicht da waren, aber Sex – warum reden wir überhaupt über Sex?«
»Weil ich, wie du selbst gesagt hast, eine Prostituierte bin.«
»Mein Leben ist nicht besonders interessant. Ein Künstler, der schon früh Erfolg hatte, was schon an sich sehr selten vorkommt und in der Malerei noch seltener. Der heute jede Art von Bildern malen und damit viel Geld verdienen kann – auch wenn sich die Kritiker noch so sehr darüber entrüsten, weil sie glauben, nur sie wüßten, was Kunst ist. Jemand, von dem alle glauben, er habe für alles eine Antwort parat! Je weniger ich sage, für um so weiser hält man mich.«
Jede Woche, erzählte er weiter, war er irgendwo auf der Welt eingeladen. Er hatte eine Agentin in Barcelona (ob Maria wisse, wo das liege? Ja, in Spanien). Sie kümmerte sich um alles Finanzielle, um Einladungen, Ausstellungen, drängte ihn aber nie zu etwas, wozu er keine Lust hatte, denn nach so vielen Jahren der Zusammenarbeit hatten sie eine gewisse Stabilität auf dem Markt erreicht.
»Langweile ich dich auc h nicht mit meiner Geschichte?« Seine Stimme klang etwas verunsichert.
»Ich würde sagen, es ist eine recht ungewöhnliche Geschichte. Viele Menschen würden gern in deiner Haut stecken.«
Ralf wollte mehr über Maria erfahren.
»Ich bin drei, je nachdem, wer mich besucht. Das naive Mädchen, das bewundernd zu den Männern hochblickt und andächtig ihren Geschichten über Macht und Ruhm lauscht. Die Femme fatale, die sich sofort die Schüchternen und Unsicheren greift und das Heft in die Hand nimmt, die diesen Männern ein Gefühl von Ungezwungenheit gibt, weil sie sich um nichts mehr kümmern müssen. Und schließlich die liebevolle Mutter, die alles versteht und sich geduldig allerlei Geschichten anhört, die sie sofort wieder vergißt. Welche der drei möchtest du kennenlernen?«
»Dich.«
Maria erzählte und erzählte, zum ersten Mal, seit sie ihre Heimat verlassen hatte. Es war ihr ein Bedürfnis. Dabei merkte sie plötzlich, daß außer der Woche in Rio und dem ersten Monat in der Schweiz trotz ihres nicht gerade konventionellen Berufs nichts wirklich Aufregendes in ihrem Leben passiert war. Nichts als Wohnung, Arbeit, Wohnung, Arbeit.
Als sie fertig erzählt hatte, saßen sie wieder in einem Cafe auf der anderen Seeseite, fern vom Jakobsweg, und jeder dachte über das Schicksal des anderen nach.
»Fehlt dir etwas?« fragte sie.
»Das Wort für >auf Wiedersehen<.«
Ja. Denn es war kein gewöhnlicher Nachmittag gewesen. Sie fühlte sich bang, angespannt, weil sie eine Tür aufgestoßen hatte und jetzt nicht wußte, wie sie sie wieder schließen konnte.