38087.fb2 Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

»Gehen wir zu mir nach Hause!«

Vielleicht war das wirklich die beste Entscheidung, dachte sie. Obwohl es gegen alle Empfehlungen Milans verstieß, beschloß sie, eine Ausnahme zu machen. So konnte sie einerseits feststellen, ob er verheiratet war, und andererseits sehen, wie berühmte Maler wohnten, und eines Tages würde sie darüber einen kleinen Artikel für das Lokalblättchen zu Hause schreiben – damit alle wüßten, daß sie während ihres Europaaufenthaltes in Künstler-und Intellektuellenkreisen verkehrt hatte.

>Was für eine absurde Ausrede!< schalt sie sich innerlich.

Eine halbe Stunde später erreichten sie Cologny, einen Vorort von Genf: ein Dorfplatz mit einer Kirche, einer Bäckerei, dem Rathaus, alles wie im Bilderbuch. Und er wohnte tatsächlich in einem zweistöckigen Haus, nicht in einem Apartment! Erste Einschätzung: Er mußte tatsächlich Geld haben, Häuser waren sehr teure Immobilien. Zweite Einschätzung: Wäre er verheiratet, hätte er sie schon wegen der Nachbarn nicht zu sich eingeladen.

Also war er reich und ledig.

Sie betraten eine Eingangshalle, von der eine Treppe in den ersten Stock führte. Ralf geleitete sie aber geradeaus in die zwei Zimmer im hinteren Teil des Hauses, die auf einen Garten hinausgingen. Ein Eßzimmer mit einem Eßtisch und vielen Bildern an den Wänden. Im Salon nebenan: ein paar Sofas, Stühle, vollgestopfte Bücherschränke, überquellende Aschenbecher und schmutzige Gläser.

»Soll ich Kaffee machen?«

Maria schüttelte den Kopf. Nein, noch soll er mich nicht anders behandeln. Ich fordere meine Dämonen geradezu heraus, indem ich genau das Gegenteil dessen tue, was ich mir vorgenommen habe. Bloß keine Panik: Heute werde ich die Rolle der Prostituierten spielen oder der Freundin oder die der Verständnisvollen Mutter, obwohl ich in meiner Seele ein junges Mädchen bin, das Zärtlichkeit braucht. >Erst zum Schluß, wenn alles vorbei ist, dann kannst du mir einen Kaffee kochen!<

»Hinten im Garten liegt mein Studio, meine Seele. Hier, zwischen diesen Bildern und Büchern, ist mein Verstand, das, was ich denke.«

Zu Marias Wohnung gehörte kein Garten. Und es gab auch keine Bücher, außer denen aus der Stadtbücherei denn es lohnte sich ja nicht, Geld für etwas auszugeben, was man gratis bekommen konnte. Bei ihr gab es auch keine Bilder – nur ein Poster vom Chinesischen Staatszirkus aus Shanghai, den sie unbedingt einmal live erleben wollte.

Ralf nahm eine Flasche Whisky und streckte sie ihr hin.

»Nein, danke.«

Er goß sich ein Glas ein, ohne Eis, ohne alles, und kippte es herunter. Er begann über das Leben zu philosophieren durchaus interessante Gedanken –, und doch konnte er Maria nicht täuschen. Sie wußte nur allzu gut, daß dieser Mann Angst vor dem hatte, was jetzt geschehen könnte, da sie allein waren. Maria übernahm wieder die Kontrolle.

Ralf schenkte sich noch einmal ein und sagte beiläufig: »Ich brauche dich.«

Eine Pause. Langes Schweigen. >Hilf ihm nicht über dieses Schweigen hinweg, mal sehen, wie er fortfährt.<

»Ich brauche dich, Maria. Du hast Licht, obwohl ich spüre, daß du mir nicht glaubst und meinst, ich wolle dich mit meinen Worten verführen. Frag nicht >Warum ich? Was ist Besonderes an mir?< An dir ist nichts Besonderes, nichts, wofür ich eine Erklärung hätte. Dennoch – und darin liegt das Geheimnis des Lebens – kann ich an nichts anderes mehr denken.«

»Ich hätte nicht gefragt«, log sie.

»Wenn ich nach einer Erklärung suchen würde, könnte ich sagen: Die Frau, die ich vor mir habe, hat es geschafft, das Leiden zu überwinden und es in etwas Positives, Kreatives zu verwandeln. Aber das reicht als Erklärung nicht aus.«

Die Situation wird allmählich brenzlig, dachte Maria. Ralf fuhr fort.

»Und ich? Ich bin kreativ, meine Bilder sind in Galerien auf der ganzen Welt gesucht, ich habe mir einen Traum erfüllt, ich bin ein geachteter Bürger meines Dorfes, meine Frauen haben mich nie um Alimente gebeten, ich bin gesund, sehe gut aus, kurz, ich habe alles, was ein Mann sich nur erträumen kann… Und doch stehe ich hier und sage zu einer Frau, die ich erst kürzlich in einem Cafe getroffen und mit der ich gerade mal einen Nachmittag verbracht habe: >Ich brauche dich!< Weißt du, was Einsamkeit ist?«

»Ja, ich weiß es.«

»Aber du weißt nicht, was Einsamsein heißt, wenn du gleichzeitig jede Menge Leute treffen könntest, überall eingeladen bist, zu Partys, Cocktails, Theaterpremieren. Wenn andauernd das Telefon klingelt und Frauen dran sind, die deine Arbeit großartig finden, die mit dir zu Abend essen wollen schöne, intelligente, gebildete Frauen. Und etwas hält dich ab und sagt: >Geh nicht! Du wirst dich nicht amüsieren. Du wirst nur eine weitere Nacht damit vertun, Eindruck zu schinden, dir selbst zu beweisen, daß du fähig bist, die ganze Welt zu verführen.<

Dann bleibe ich zu Hause, gehe in mein Studio, suche das Licht, das ich in dir gesehen habe. Aber ich sehe dieses Licht nur, solange ich arbeite.«

»Was kann ich dir geben, das du nicht schon hast?« entgegnete sie. Die Bemerkung über die anderen Frauen tat weh, aber schließlich hatte er sie, Maria, dafür bezahlt, um sie an seiner Seite zu haben.

Er war bei seinem dritten Whisky angelangt, und Maria stellte sich vor, wie der Alkohol seine Kehle hinunterrann, im Magen brannte, in Ralfs Blutkreislauf gelangte, ihn ermutigte, und sie fühlte sich ebenfalls beschwipst, obwohl sie keinen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

»Gut. Ich kann deine Liebe nicht kaufen, aber du hast gesagt, daß du alles über Sex weißt. Bring es mir bei. Oder erzähl mir etwas über Brasilien. Was auch immer, wenn ich nur bei dir sein darf.«

Was jetzt?

»In Brasilien kenne ich nur zwei Städte: die Kleinstadt, in der ich geboren wurde, und Rio de Janeiro. In puncto Sex glaube ich nicht, daß ich dir etwas beibringen kann. Ich bin bald dreiundzwanzig und du nur sechs Jahre älter, aber du hast viel intensiver gelebt als ich. Die Männer, mit denen ich mich sonst treffe, bezahlen dafür, daß ich mache, was sie wollen, und nicht umgekehrt.«

»Ich habe bereits alles getan, wovon ein Mann träumen kann, mit zwei, drei Frauen auf einmal. Aber ich weiß nicht, ob ich viel gelernt habe.«

Wieder Schweigen, nur daß diesmal Maria an der Reihe war, etwas zu sagen. Und er half ihr nicht, so wie sie vorher ihm nicht geholfen hatte.

»Willst du mich als Professionelle?«

»Ich will dich so, wie du willst.«

Nein, das hätte er nicht antworten dürfen, denn es war genau das, was sie hören wollte. Wieder das Erdbeben, der Vulkan, der Sturm. Sie würde unweigerlich in die eigene Falle gehen, den Mann verlieren, den sie nie wahrhaft gehabt hatte.

»Du kannst es, Maria. Bring es mir bei. Vielleicht rettet es mich und dich und bringt uns beide zurück ins Leben. Du hast recht, ich bin nur sechs Jahre älter als du, und doch habe ich schon mehrere Leben gelebt. Unsere Erfahrungen sind vollkommen unterschiedlich, aber wir sind beide verzweifelt. Das einzige, was uns Frieden schenkt, ist, zusammenzusein.«

Warum sagte er all diese Dinge? Es war unmöglich, und dennoch stimmte es. Sie hatten sich nur einmal gesehen, und schon brauchten sie einander. Was würde nur daraus werden, wenn sie sich häufiger sahen? Maria war eine intelligente Frau, die die Menschen genau beobachtete; sie hatte sich in ihrem Leben einiges vorgenommen, aber sie hatte auch eine Seele, die ihr >Licht< kennenlernen und entdecken mußte.

Sie war es allmählich müde, das zu sein, was sie war, und obwohl die bevorstehende Rückreise nach Brasilien eine interessante Herausforderung war, hatte sie noch nicht alles gelernt, was es hier für sie zu lernen gab. Ralf Hart war ein Mann, der Herausforderungen angenommen hatte, und jetzt bat er ausgerechnet sie – dieses Mädchen, diese Prostituierte, diese verständnisvolle Mutter –, ihn zu retten. Es war grotesk!

Andere Männer hatten sich ihr gegenüber genauso verhalten. Viele hatten keine Erektion zustande gebracht, andere wollten wie Kinder behandelt werden, wieder andere hätten sie gern zur Ehefrau gehabt, weil es sie erregte, daß sie mit vielen Männern im Bett gewesen war. Obwohl sie noch keinen dieser >speziellen Freier< kennengelernt hatte, wußte sie, wie groß der Vorrat an Phantasien war, die die menschliche Seele bevölkerten. Doch kein anderer Mann hatte sie je gebeten: >Führe mich hier heraus!< Sie wollten im Gegenteil Maria immer mit in ihre Welt nehmen.

Und obwohl sie nach jedem Mal noch ein wenig reicher und innerlich noch ein wenig leerer gewesen war, hatte doch jeder dieser Männer sie etwas gelehrt. Allerdings, wenn einer von ihnen wirklich Liebe suchte und Sex nur ein Teil dieser Suche war, wie wollte sie dann behandelt werden?

Was gehörte für sie zu einer ersten Begegnung?

»Ein Geschenk«, sagte Maria.

Ralf Hart sah sie verständnislos an. Ein Geschenk? Er hatte für diese Nacht im Taxi schon im voraus bezahlt, da er das Ritual kannte. Was hatte sie also gemeint?

Aber Maria hatte plötzlich begriffen, welche Gefühle ein Mann und eine Frau brauchen. Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn ins Nebenzimmer.

»Wir werden nicht ins Schlafzimmer hinaufgehen«, sagte sie.

Sie löschte fast alle Lichter, setzte sich auf den Teppich und bat ihn, sich ihr gegenüber hinzusetzen. Sie sah, daß es dort einen Kamin gab.

»Mach den Kamin an!«

»Aber es ist doch Sommer!«

»Mach den Kamin an! Du hast mich gebeten, heute nacht die Führung zu übernehmen, und das gehört dazu.«

Sie sah ihn fest an, hoffte, er würde wieder ihr >Licht< sehen. Er sah es, denn er ging in den Garten und holte ein paar vom Regen naßgewordene Holzscheite, legte ein paar alte Zeitungen dazu. Er ging in die Küche, um eine neue Flasche Whisky zu holen, aber Maria sagte: »Hast du mich gefragt, was ich will?«

»Nein.«

»Die Person, die bei dir ist, muß spüren, daß sie für dich existiert. Denk an sie! Denk darüber nach, ob sie Whisky oder Gin oder Kaffee möchte. Frag, was sie möchte!«