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Ganz genau weiß ich es nicht mehr, aber kürzlich bin ich an einem Sonntag in die Kirche gegangen. Ich wollte zur Messe. Nach einer Weile bemerkte ich, daß ich in der falschen Kirche saß – es war eine protestantische Kirche.
Ich wollte gerade gehen, als der Pfarrer mit seiner Predigt begann, und weil ich nicht unhöflich sein und einfach davongehen wollte, blieb ich sitzen. Letztlich war es ein Segen, weil ich an diesem Tag Dinge zu hören bekam, die ich dringend nötig hatte.
Der Pfarrer sagte in etwa:
»Alle Sprachen der Welt kennen dieses Sprichwort: >Aus den Augen, aus dem Sinn.< Nichts ist weniger wahr: Je weiter etwas weg ist, desto größer ist die Sehnsucht, desto stärker die Gefühle, die wir zu unterdrücken und zu vergessen versuchen.
Leben wir im Exil, klammern wir uns mit jeder Faser unseres Gedächtnisses an unsere heimatlichen Wurzeln. Leben wir fern von unserer oder unserem Geliebten, erinnert uns jeder, der auf der Straße an uns vorbeigeht, an sie beziehungsweise ihn.
Viele Bücher der Bibel und auch heilige Texte anderer Religionen wurden im Exil geschrieben, als eine Form von Suche nach Gott, nach dem Glauben, der die Völker vorantreibt, als eine Art Wallfahrt der auf Erden umherirrenden Seelen. Unsere Vorfahren wußten ebensowenig wie wir, was die Gottheit von uns im Leben erwartet, und aus diesem Nichtwissen heraus werden die Bücher geschrieben, die Bilder gemalt, weil wir nicht vergessen wollen und sollen, wer wir sind.«
Am Ende des Gottesdienstes bin ich zum Pfarrer gegangen und habe mich bedankt. Ich habe ihm gesagt, ich sei Ausländerin und sei ihm dankbar, daß er mich daran erinnert habe, daß das, was wir nicht sehen, doch dem Herzen nah bleibt. Und weil ich mein Herz spüre, gehe ich heute.
Sie nahm die beiden Koffer und legte sie aufs Bett. Anfangs hatte sie sich ausgemalt, wie viele Geschenke sie hineinpacken würde, neue Kleider, Fotos von schneebedeckten Gipfeln und den Hauptstädten Europas, Erinnerungen an eine glückliche Zeit, in der sie im sichersten und großzügigsten Land der Welt gelebt hatte. Sie hatte tatsächlich ein paar neue Kleider und ein paar Fotos vom Schnee, der einmal in Genf gefallen war. Doch sonst war nichts so gewesen, wie sie es sich ausgemalt hatte.
Sie war mit dem Traum hierhergekommen, viel Geld zu verdienen, das Leben und sich selbst kennenzulernen, einen Ehemann zu finden; sie wollte eine Farm für ihre Eltern kaufen und die beiden später einmal nach Genf einladen, ihnen zeigen, wo sie gewohnt hatte. Und nun kehrte sie mit genau dem Geldbetrag zurück, den sie benötigte, um einen Teil ihres Traumes zu verwirklichen. Aber sie war nie wirklich in den Bergen gewesen, und vor allem war sie sich selbst fremd geblieben. Dennoch war sie froh, zumindest rechtzeitig gemerkt zu haben, wann der Moment da war, um aufzuhören.
Wenige Menschen auf der Welt können das.
Sie hatte nur vier Abenteuer erlebt – Tänzerin in einem Nachtclub sein, Französisch lernen, als Prostituierte arbeiten und einen Mann bedingungslos lieben. Es gab nicht viele Menschen, die in einem Jahr so viel erlebt hatten. Sie war glücklich – trotz aller Traurigkeit, und diese Traurigkeit hatte einen Namen, sie hieß weder Prostitution noch Schweiz, noch Geld, sondern Ralf Hart. Obwohl sie es sich nicht eingestand, hätte sie ihn gern geheiratet, ihn, der sie jetzt in einer Kirche erwartete, um sie in seine Welt mitzunehmen, damit sie seine Freunde, seine Malerei kennenlernte.
Sie überlegte, ob sie einfach nicht zur Verabredung gehen und sich bis zum Abflug morgen früh in einem Hotel am Flughafen einquartieren sollte. Für jede Minute, die sie an seiner Seite verlebt hatte, würde sie ein Jahr leiden müssen, für all das, was sie hätte sagen können und nicht sagen würde, für die Erinnerung an seine Hand, seine Stimme, seine Unterstützung, seine Geschichten.
Sie hob den Kofferdeckel, holte den kleinen Eisenbahnwaggon heraus, den Ralf ihr in der ersten Nacht in seinem Haus gegeben hatte. Sie betrachtete ihn eine Weile und warf ihn dann in den Müll. Dieser Zug verdiente es nicht, Brasilien kennenzulernen. Er hatte einem Kind, das ihn sich immer gewünscht hatte, keine Freude gebracht.
Nein, sie würde nicht in die Kirche gehen; denn sonst wü rde Ralf sie nach ihren Plänen für morgen fragen und sie, wenn sie ehrlich antwortete, daß sie wegging, bitten zu bleiben, ihr das Blaue vom Himmel versprechen, nur um sie nicht zu verlieren; er würde ihr seine Liebe erklären, obwohl er sie ihr doch schon die ganze Zeit gezeigt hatte.
Dabei hatten sie gelernt, sich frei und bedingungslos zu lieben – eine andere Art von Beziehung würde nicht gutgehen –, und vielleicht liebten sie sich gerade deshalb, weil sie einander nicht brauchten. Männer erschrecken immer, wenn Frauen ihnen signalisieren: >Ich will von dir abhängig sein.< Und Maria wollte die Erinnerung an einen verliebten Ralf Hart mitnehmen, der für sie durchs Feuer gegangen wäre.
Noch konnte sie es sich überlegen, ob sie zu dem Treffen gehen wollte oder nicht. Einstweilen mußte sie sich um ganz praktische Dinge kümmern. Es lag noch so viel herum, was sie nicht in den Koffern verstauen konnte. Sollte doch der Hausbesitzer entscheiden, was er mit ihren restlichen Habseligkeiten machen wollte, mit den Küchengeräten, den Bildern vom Flohmarkt, den Handtüchern und der Bettwäsche. Sie konnte unmöglich alles nach Brasilien mitnehmen, auch wenn ihre Eltern es nötiger brauchten als jeder Schweizer Bettler; sie würden sie an alle diese Abenteuer erinnern, in die sie sich gestürzt hatte.
Sie verließ die Wohnung, ging zur Bank und hob ihr gesamtes Erspartes ab. Der Direktor – ein Stammkunde von ihr – wollte sie umstimmen, ihr Konto würde weiterhin Zinsen abwerfen, die sie sich auch daheim in Brasilien ausbezahlen lassen konnte. Zudem könnte man sie ausrauben, und dann wäre der Lohn so vieler Monate Arbeit weg. Maria zögerte. Der Mann meinte es bestimmt gut mit ihr. Doch dann entschied sie, daß das Geld auf ihrem Konto sich nicht in Papier verwandeln sollte, sondern in eine Farm, ein Haus für ihre Eltern, etwas Vieh und noch viel mehr Arbeit.
Sie hob das Geld bis auf den letzten Rappen ab, steckte alles in ein eigens dafür gekauftes Täschchen, das sie sich unter der Kleidung um die Taille schnallte.
Dann ging sie ins Re isebüro, um ihr Ticket abzuholen. Sie betete, daß sie den Mut haben möge, ihr Vorhaben zu Ende zu führen: Ihre Maschine würde morgen in Paris zwischenlanden, wo sie umsteigen mußte. Das machte nichts – wichtig war, daß sie möglichst weit weg war, bevor sie es sich anders überlegen konnte.
Sie ging zur Mont-Blanc-Brücke, kaufte sich trotz des kalten Wetters ein Eis. Plötzlich sah sie Genf mit anderen Augen, nicht wie jemand, der dort wohnte, sondern als wäre sie eben erst angekommen und machte nun einen ersten Rundgang durch die Museen, historischen Gebäude und die Bars und Restaurants, die gerade in Mode waren. Merkwürdig, wie man solche Rundgänge immer aufschiebt, wenn man in einer Stadt lebt, bis man wegzieht und dann ist es zu spät.
Sie sagte sich, daß sie zufrieden sein sollte, weil sie in ihre Heimat zurückkehrte. Sie sagte sich, daß sie eigentlich auch traurig sein müßte, weil sie eine Stadt verließ, in der es ihr so gutgegangen war. Doch sie war weder zufrieden noch richtig traurig. Sie vergoß ein paar Tränen, und es beschlich sie wieder die Angst, eine falsche Entscheidung zu treffen, obwohl sie doch intelligent war und alle Voraussetzungen erfüllte, um Erfolg zu haben.
Sie drückte sich die Daumen, daß sie es diesmal richtig machte.
Die Kirche war vollkommen leer, als sie eintrat, und sie konnte ungestört die schönen Glasfenster betrachten, durch die gleißendes, von den Stürmen der vergangenen Nacht gereinigtes Tageslicht hereinfiel. Vor ihr auf dem Altar stand ein nacktes Kreuz: kein Folterinstrument mit dem gekreuzigten Christus, sondern ein Symbol der Auferstehung. Dies war ein Kreuz, das seinen Schrecken verloren hatte. Unwillkürlich mußte sie an die Peitsche in der Gewitternacht denken und fragte sich entsetzt: >Mein Gott, wie komme ich bloß darauf?<
Sie war auch erleichtert, keine Bilder von Heiligen mit Wundmalen zu entdecken. Es war einfach ein Ort, an dem sich Menschen zusammenfanden, um gemeinsam ein Mysterium anzubeten.
Sie ging zum Tabernakel, in dem der Körper Jesu verwahrt wurde, an den sie noch glauben konnte, obwohl sie lange nicht an ihn gedacht hatte. Sie kniete nieder und gelobte Gott, der Heiligen Jungfrau, Jesus und allen Heiligen, daß sie es sich nicht anders überlegen und auf jeden Fall abreisen würde, was immer der heutige Tag bringen möge denn sie kannte die Fallstricke der Liebe zu gut und wußte, wie wankend sie den Willen einer Frau machen konnten.
Kurz darauf spürte sie, wie eine Hand ihre Schulter berührte, und neigte den Kopf zur Seite, bis sie die Hand an der Wange spürte.
»Wie geht es dir?«
»Gut«, sagte sie mit fester Stimme. »Sehr gut. Laß uns einen Kaffee trinken gehen.«
Hand in Hand gingen sie hinaus, wie ein Liebespaar, das sich nach langer Trennungszeit wiedersieht. Sie küßten sich ungeniert vor allen Leuten, die sie zum Teil empört anstarrten, lächelten über das Unbehagen, das sie hervorriefen, und die geheimen Wünsche, die sie mit ihrem ungehörigen Benehmen weckten. Sie wußten, daß sie genau das taten, was die andern selbst gern getan hätten. Allein das war skandalös.
Sie gingen in ein beliebiges Cafe, das an diesem Nachmittag nur deshalb anders war, weil sie beide dort waren und weil sie sich liebten. Sie redeten über Genf, die Schwierigkeiten der französischen Sprache, die Kirchenfenster, die Schädlichkeit des Rauchens – beide rauchten und hatten nicht die geringste Absicht, das Laster aufzugeben.
Sie bestand darauf, den Kaffee zu bezahlen, und er nahm die Einladung an. Sie gingen zur Vernissage, sie lernte seine Welt kennen, die Künstler, die Reichen, die reicher als reich, und die Millionäre, die arm wirkten; Leute, die sich für Dinge interessierten, von denen sie keine Ahnung hatte. Ralf sagte, er wolle abends ins >Copacabana< kommen, um sie zu treffen. Sie bat ihn, es nicht zu tun, da sie die Nacht frei habe und ihn gern zum Abendessen einladen würde.
Er nahm die Einladung an, sie verabredeten sich bei ihm zu Hause, um dann in einem netten Restaurant an dem kleinen Dorfplatz von Cologny zu Abend zu essen.
Dann fiel Maria ihre einzige Freundin ein, und sie beschloß, in die Bibliothek zu gehen, um sich von ihr zu verabschieden.
Sie blieb eine ganze Weile im Verkehr stecken, weil eine Kurdendemonstration die Innenstadt lahmlegte. Es machte ihr nichts aus, schließlich hatte sie jetzt alle Zeit der Welt.
Kurz vor Feierabend kam sie in der Bibliothek an. Die Bibliothekarin freute sich, sie zu sehen.
»Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich immer gleich so persönlich werde. Ich habe keine Freundin, mit der ich diese intimen Dinge sonst besprechen könnte«, sagte sie.
Diese Frau hatte keine Freundin? Ausgerechnet sie, die so lange schon in Genf lebte, tagsüber so unterschiedliche Menschen traf, sollte niemanden haben, mit dem sie reden konnte? Da hatte sie ja endlich jemanden getroffen, dem es ging wie ihr – oder, besser gesagt, jemanden, dem es ging wie allen Menschen.
»Ich habe über das nachgedacht, was ich über die Klitoris gelesen habe…«
>Nein! Konnte es nicht etwas anderes sein?<
»Und darüber, daß ich selten einen Orgasmus gehabt habe, wenn ich mit meinem Mann schlief, obwohl ich es mit ihm immer sehr genoß. Finden Sie das normal?«
»Finden Sie normal, daß die Kurden jeden Tag demonstrieren? Daß verliebte Frauen vor ihrem Märchenprinzen fliehen? Daß Menschen von Farmen träumen, anstatt an Liebe zu denken? Daß Männer und Frauen ihre Zeit verkaufen, ohne sie wieder zurückkaufen zu können? Und doch ist es so. Wie ich das finde, interessiert niemand, denn es ist ja normal. Alles, was gegen die Natur ist, gegen unsere innersten Wünsche. All das ist in unseren Augen normal, obwohl es in Gottes Augen eine Verirrung ist. Wir suchen unsere Hölle, haben Jahrtausende gebraucht, um sie zu schaffen, und nach vielen Mühen können wir jetzt auf die allerschlechteste Art leben.«
Maria starrte die Bibliothekarin an. Zum ersten Mal traute sie sich, sie nach ihrem Vornamen zu fragen; bis jetzt hatten sie sich immer gegenseitig mit Madame angesprochen. Die Bibliothekarin hieß Heidi, war dreißig Jahre verheiratet gewesen, und diese Frau – Maria konnte es nicht fassen – hatte sich all diese Jahre kein einziges Mal gefragt, ob es normal war, während des Geschlechtsverkehrs mit ihrem Mann keinen Orgasmus zu haben.
»Ich weiß nicht, ob ich das alles hätte lesen sollen!« meinte die Bibliothekarin. »Vielleicht wäre es besser gewesen, das alles nicht zu wissen und weiterhin zu glauben, daß ein treuer Ehemann, eine Wohnung mit Seeblick und eine Anstellung beim Staat alles ist, wovon eine Frau träumen kann. Erst seit Sie hier aufgetaucht sind und seit ich die ersten Bücher über Sex gelesen habe, mache ich mir so viele Gedanken über mein Leben und darüber, was ich daraus gemacht habe. Geht es etwa allen so?«
»Und ob es allen so geht!« Maria fühlte sich plötzlich sehr welterfahren.
»Darf ich Ihnen noch etwas dazu sagen?«
Maria nickte.
Die Bibliothekarin fuhr fort: »Sie sind natürlich noch zu jung, um diese Dinge zu verstehen, aber gerade deshalb möchte ich etwas von mir erzählen, damit Sie nicht die gleichen Fehler machen wie ich. Wieso hat mein Mann nie auf die Klitoris geachtet? Er war der Meinung, daß der Orgasmus in der Vagina stattfindet, und ich habe mir Mühe, wirklich große Mühe gegeben, so erregt zu tun, wie er es von mir erwartete. Natürlich empfand ich Lust, aber eine ganz andere Lust. Nur wenn die Reibung am oberen Teil… Sie verstehen, was ich meine?«
»Ja.«
»Und jetzt habe ich herausgefunden, wieso. Da steht es.« Sie zeigte auf ein Buch vor sich, dessen Titel Maria nicht sehen konnte. »Es gibt einen Nervenstrang, der von der Klitoris zum G-Punkt verläuft und äußerst wichtig ist. Doch die Männer glauben das nicht, sie meinen, Eindringen reiche aus. Wissen Sie, was der G-Punkt ist?«