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Doch dann kehrte ich ins Jetzt zurück, und ich hörte seine Schreie, und ich schrie mit ihm. Die Tischbeine scharrten, und keinen von uns kümmerte es, was der Rest der Welt denken mochte.
Unvermittelt zog er sich aus mir zurück. Ich lachte, und er drehte mich zu sich herum und lachte auch. Wir drückten uns aneinander, als wäre es für uns beide das erste Mal gewesen.
»Segne mich«, bat er.
Ich segnete ihn, ohne zu wissen, was ich da tat. Ich bat ihn, es mir nachzutun, und er tat es mit den Worten: »Gesegnet sei diese Frau, die ich so liebe.« Und dann umarmten wir uns wieder und blieben so stehen, fassungslos darüber, wie weit elf Minuten einen Mann und eine Frau bringen können.
Wir waren beide nicht müde. Wir gingen ins Wohnzimmer, er legte eine Platte auf, und er machte genau das, was ich mir gewünscht hatte: Er zündete den Kamin an und schenkte mir Wein ein. Dann schlug er ein Buch auf und las:
»Geboren werden hat seine Zeit, sterben hat seine Zeit pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit; töten hat seine Zeit, heilen hat seine Zeit; weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit, tanzen hat seine Zeit; Steine wegwerfen hat seine Zeit, Steine einsammeln hat seine Zeit; herzen hat seine Zeit, aufhören zu herzen hat seine Zeit; suchen hat seine Zeit, verlieren hat seine Zeit; behalten hat seine Zeit, wegwerfen hat seine Zeit; zerreißen hat seine Zeit, zunähen hat seine Zeit; schweigen hat seine Zeit, reden hat seine Zeit; lieben hat seine Zeit, hassen hat seine Zeit; Streit hat seine Zeit, Friede hat seine Zeit.«
Das klang wie ein Abschied. Aber es war der schönste Abschied, der mir in meinem Leben je beschert worden war. Ich umarmte ihn, er umarmte mich, wir legten uns auf den Teppich vor dem Kamin. Alles war so warm und vertraut, als wäre ich schon immer eine erfahrene, glückliche, erfüllte Frau gewesen.
»Wie konntest du dich in eine Prostituierte verlieben?«
»Anfangs verstand ich es nicht. Doch jetzt, nachdem ich darüber nachgedacht habe, glaube ich, daß ich mich, da ich wußte, daß dein Körper mir nie allein gehören würde, ganz darauf konzentrieren konnte, deine Seele zu erobern.«
»Und die Eifersucht?«
»Man kann zum Frühling nicht sagen, >hoffentlich kommst du bald und dauerst lange<. Man kann nur sagen: >Komm und segne mich mit deiner Hoffnung, und bleib so lange, wie du kannst.<«
Worte, die in den Wind geschrieben waren. Aber ich mußte sie hören, und er mußte sie sagen. Ich schlief ein und träumte… von einem Duft, der alles erfüllte.
Als Maria die Augen aufschlug, drangen die ersten Sonnenstrahlen durch die Jalousien. >Wir haben uns zweimal geliebt<, dachte sie und blickte auf den neben ihr schlafenden Mann. >Und dennoch ist es, als wären wir immer zusammengewesen und als kennte er mein ganzes Leben, meine Seele, meinen Körper, mein Licht, meinen Schmerz.<
Sie stand auf, ging in die Küche, kochte Kaffee. Da sah sie die beiden Koffer auf dem Flur, und ihr fiel alles wieder ein: das Gelübde, das Gebet in der Kirche, ihr Leben, der Traum, der unbedingt Wirklichkeit werden und seinen Zauber verlieren wollte, der vollkommene Mann, die Liebe, bei der Körper und Seele eins und Lust und Orgasmus zwei verschiedene Dinge sind.
Sie hätte bleiben können; sie hatte nichts zu verlieren, nur eine Illusion mehr. Dann dachte sie an den Bibelvers: Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit.
Doch danach kam noch ein Vers: Herzen hat seine Zeit, nicht mehr herzen hat seine Zeit. Sie trank den Kaffee, schloß die Küchentür, bestellte telefonisch ein Taxi. Sie nahm all ihre Willenskraft zusammen, die sie so weit gebracht hatte, die die Quelle ihres >Lichts< war, die ihr gesagt hatte, wann sie weggehen mußte, damit die Erinnerung an diese Nacht bewahrt bliebe. Sie kleidete sich an. nahm ihre Koffer und trat vor die Haustür. Dabei wünschte sie sich sehnlichst, er möge aufwachen und sie bitten zu bleiben.
Aber er wachte nicht auf. Während sie draußen auf das Taxi wartete, kam eine Zigeunerin mit einem Armvoll Blumen vorbei.
»Möchten Sie eine Blume?«
Maria kaufte ihr eine ab; es war das Zeichen, daß der Herbst gekommen, der Sommer vorbei war. In Genf würden die Tische bald von den Bürgersteigen und die vielen Spaziergänger aus den sonnenbeschienenen Parks verschwinden. Nun denn. Sie ging schließlich freiwillig fort und durfte sich nicht beklagen.
Im Flughafen trank sie noch einen Kaffee, sie mußte die vier Stunden bis zum Abflug herumbringen. Sie hoffte inständig, Ralf würde jeden Augenblick hereinkommen, denn kurz vor dem Einschlafen hatte sie ihm noch gesagt, wann ihre Maschine nach Paris ging. Aber so war es nur in den Filmen: Im letzten Augenblick, wenn die Frau schon das Flugzeug besteigt, kommt der Mann verzweifelt angerannt, packt sie, küßt sie und holt sie unter den nachsichtigen Blicken des Flugpersonals wieder in seine Welt zurück. Dann wird das Wort >Ende< eingeblendet, und alle Zuschauer wissen, daß die beiden von nun an glücklich leben bis in alle Ewigkeit.
>Die Filme erzählen nie, was nachher geschieht<, tröstete sie sich. >Hochzeit, Küche, Kinder, immer unregelmäßigerer Sex; die Entdeckung des ersten Briefes einer Geliebten, Zeter und Mordio schreien, seine Versprechungen, es würde nicht wieder vorkommen; ein zweiter Brief von einer anderen Geliebten, wieder Zeter und Mordio und die Drohung, sich von ihm zu trennen; diesmal reagiert der Mann nicht so selbstsicher, sagt seiner Frau nur, daß er sie liebt. Der dritte Brief der dritten Geliebten und dann der Entschluß, sich stillschweigend damit abzufinden und darüber hinwegzusehen, aus Angst, er könnte auf die Idee kommen, zu sagen, er liebe sie nicht mehr, es stehe ihr frei, zu gehen.<
Ja, die Zeit danach wurde immer ausgespart. Die meisten Filme hörten immer auf, bevor Wirklichkeit und Alltag begannen. Doch darüber wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen.
Sie las ein, zwei, drei Zeitschriften. Endlich, nachdem sie eine Ewigkeit im Wartebereich gesessen hatte, wurde ihr Flug aufgerufen, und sie ging zum Gate. Sie sah im Geiste wieder eine dieser Filmszenen, in der die Frau, als sie den Gurt schließt, eine Hand auf ihrer Schulter spürt und sich umblickt, und er steht lächelnd hinter ihr.
Aber nichts dergleichen geschah.
Sie schlief auf der kurzen Strecke zwischen Genf und Paris. Sie hatte sich noch nicht überlegt, was alles sie ihren Eltern erzählen konnte und was nicht, aber sie würden glücklich sein, ihre Tochter wieder in die Arme zu schließen, die ihnen eine Zukunft auf einer Farm und ein gesichertes Alter bot.
Sie erwachte vom Aufprall bei der Landung. Während das Flugzeug auf der langen Rollbahn zum Terminal fuhr, kam die Stewardeß zu ihr, um ihr zu sagen, daß die Maschine nach Brasilien von Terminal F abflog, sie aber in Terminal C ankommen würden. Maria brauche sich keine Sorgen zu machen, sie habe noch viel Zeit, und das Bodenpersonal sei ihr gerne behilflich.
Während die Maschine zum Ankunftsterminal rollte, überlegte Maria, ob es sich lohnen würde, einen Tag in Paris zwischenzuschalten, einfach um ein paar Fotos zu schießen und nachher zu Hause erzählen zu können, daß sie in Paris gewesen sei. Außerdem brauchte sie Zeit, um nachzudenken, um mit sich allein zu sein und die Erinnerung an die vergangene Nacht ganz tief in sich zu vergraben, damit sie sie jederzeit hervorholen konnte, wenn sie sich lebendig fühlen wollte. Ja, Paris war eine gute Idee. Sie fragte die Stewardeß, wann der nächste Flug nach Brasilien ging, falls sie beschließen sollte, nicht gleich weiterzufliegen.
Die Stewardeß wollte ihr Ticket sehen und meinte dann, leider würde ihr dieses keinen Stopover erlauben. Maria tröstete sich damit, daß es womöglich deprimierend gewesen wäre, eine so schöne Stadt allein zu entdecken. Sie schaffte es ja nur mit Müh und Not, ihren kühlen Kopf und ihre Willenskraft zu bewahren. Eine schöne Stadt, gekoppelt mit der Sehnsucht nach jemandem, das hatte ihr gerade noch gefehlt!
Sie stieg aus, ging durch die Gänge zum anderen Terminal. Ihr Gepäck war durchgecheckt, sie brauchte sich nicht darum zu kümmern. Die Türen gingen auf, die Passagiere traten hinaus, wurden erwartet, von Ehepartnern, Müttern, Kindern in die Arme geschlossen. Maria tat unbeteiligt und wurde sich gleichzeitig ihrer Einsamkeit doppelt bewußt; nur daß sie diesmal ein Geheimnis hatte, einen Traum, und darum nicht so bitter war und das Leben leichter nehmen konnte.
»Uns bleibt immer Paris.«
Das war kein Touristenführer. Das war kein Taxifahrer. Ihre Beine zitterten, als sie diese Stimme hörte.
»Uns bleibt immer Paris.«
»Das ist ein Satz aus einem Film, den ich sehr liebe. Möchtest du den Eiffelturm sehen?«
Das wollte sie gern. Sogar sehr gern. Ralf hatte einen Rosenstrauß im Arm, und seine Augen waren voller Licht.
»Wie hast du es geschafft, vor mir hier zu sein?« fragte sie, im Grunde nur, um etwas zu sagen, denn die Antwort interessierte sie überhaupt nic ht. Sie brauchte nur etwas Zeit, um durchzuatmen.
»Ich sah dich in einer Zeitschrift lesen. Ich hätte zu dir kommen können, aber ich bin romantisch, unheilbar romantisch, und fand es besser, die erste Maschine nach Paris zu nehmen, ein wenig auf dem Flughafen herumzuspazieren, drei Stunden zu warten, unzählige Male die Ankunftszeiten zu kontrollieren, Blumen für dich zu kaufen, Ricks Satz aus >Casablanca< vor mich hin zu sagen und mir dein überraschtes Gesicht vorzustellen. Und ich wollte sicher sein, daß es genau das ist, was du willst, daß du auf mich gewartet hast, daß alle Entschlossenheit und Willenskraft der Welt nicht verhindern können, daß die Liebe die Spielregeln von einem Augenblick auf den anderen umstößt. Es kostet doch nichts, romantisch zu sein wie in den Filmen, oder?«
Sie wußte nicht, ob es etwas kostete oder nicht, aber der Preis war ihr gleichgültig – auch wenn ihr klar war, daß sie diesen Mann erst vor kurzem kennengelernt hatte, sie sich erst vor wenigen Stunden das erste Mal geliebt hatten, er sie erst gestern seinen Freunden vorgestellt hatte. Sie wußte, daß er Stammkunde im >Copacabana< und daß er zweimal verheiratet gewesen war. Und das sprach nicht gerade für ihn. Sie hingegen hatte genug Geld, um eine Farm zu kaufen, war jung und besaß trotzdem eine große Erfahrung in Lebens-und Seelenfragen. Aber das Schicksal stellte sie erneut vor die Wahl. Und wieder einmal fand sie, daß sie das Risiko eingehen sollte.
Mochte geschehen, was wollte, nachdem das Wort >Ende< eingeblendet wurde. Sie küßte ihn. Nur eins stand für sie fest: Sollte eines Tages jemand beschließen, ihre Geschichte zu erzählen, dann müßte er sie mit den Worten beginnen, mit denen die Märchen anfangen:
Es war einmal…
Wie alle Menschen auf der Welt – und in diesem Fall fürchte ich mich keineswegs vor Verallgemeinerungen habe ich lange gebraucht, um die heilige Seite des Sex zu entdecken. Meine Jugend fiel in eine Zeit extremer sexueller Freizügigkeit, in der wir viel Wichtiges herausfanden aber auch Exzesse durchlebten. Auf sie folgte eine konservative, repressive Zeit, die, als Preis für die Übertreibungen, zum Teil traumatische Folgen hatte.
In diesem Jahrzehnt der Exzesse (gemeint sind die siebziger Jahre) schrieb der Schriftsteller Irving Wallace ein Buch über die amerikanische Zensur und benutzte dazu das juristische Geplänkel um die Publikation eines Texte: über Sex, die mit allen Mitteln verhindert werden soll: Die sieben Minuten.
Allerdings dient das verbotene Buch im Roman von Wallace nur als Vorwand, und sexue lle Aktivitäten werden nur selten dargestellt. Ich habe mir damals ausgemalt, was dieses verbotene Buch wohl erzählt hat; und mit dem Gedanken gespielt, es zu schreiben.
Letztlich habe ich mir den Gedanken aus dem Kopf geschlagen, unter anderem auch, weil Wallace in seinem Buc h den nicht existenten Roman ziemlich genau beschrieben hat. Übrig blieb der Titel (ich fand Wallace' Zeitangabe allerdings sehr konservativ und beschloß die von ihm angegebene Zeitspanne zu verlängern). Und geblieben ist auch, daß ich mir vornahm, einmal ernsthaft über Sexualität zu schreiben, was im übrigen viele Schriftsteller vor mir bereits getan hatten.
1997 mußte ich in Mantua einen Vortrag halten. Als ich anschließend ins Hotel kam, überreichte mir der Portier ein Manuskript, das für mich abgegeben worden war. Normalerweise lese ich solche Manuskripte nicht, aber dieses habe ich gelesen – die wahre Geschichte einer brasilianischen Prostituierten, die mit dem Gesetz in Konflikt kommt, ihre Ehen, ihre Abenteuer. Als ich 2000 auf der Durchreise in Zürich war, rief ich jene Prostituierte an (deren Deckname Sonia ist) und sagte ihr, daß mir ihr Text gefallen habe. Ich empfahl ihr, ihn an meinen brasilianischen Verlag zu schicken, der jedoch entschied, ihn nicht zu veröffentlichen. Sonia, die damals in Italien lebte, nahm den Zug und traf mich in Zürich. Sie lud mich und einen Freund und eine Reporterin des >Blick<, die mich gerade interviewt hatte, zu einem Besuch in der Langstraße ein, dem Rotlichtmilieu von Zürich. Ich wußte nicht, daß sie ihren Kolleginnen von unserem Kommen erzählt hatte, und zu meiner Überraschung endete das Ganze mit einer improvisierten Signierstunde, in der ich Ausgaben meiner Bücher in allen Sprachen der Welt vorgelegt bekam.
Damals war ich bereits entschlossen, über Sex zu schreiben, doch ich hatte weder einen Plot noch eine Hauptfigur. Ich dachte an etwas, was sehr viel mehr mit der konventionellen Suche nach dem heiligen Aspekt des Sex zu tun hatte. Doch dieser Besuch in der Langstraße lehrte mich etwas: Um über die heilige Seite des Sex schreiben zu können, mußte ich begreifen, warum Sex so herabgewürdigt worden war.
Im Gespräch mit einem Journalisten der Schweize r Zeitschrift >L'illustre< erzählte ich die Geschichte von der improvisierten Signierstunde in der Langstraße, und er veröffentlichte dazu eine große Reportage. Die Folge war, daß bei einer Lesung in Genf ebenfalls Prostituierte mit ihren Büchern erschienen. Auf eine wurde ich besonders aufmerksam – ich ging zusammen mit ihr und meiner Agentin und Freundin Monica Antunes einen Kaffee trinken. Daraus wurde ein Abendessen, dem mehrere Treffen in den nächsten Tagen folgten. Damals entstand der rote Faden von Elf Minuten.
Ich möchte Anna von Planta, meiner Schweizer Lektorin, danken, die mir einige wichtige Hinweise zur rechtlichen Situation der Prostituierten in ihrem Lande gegeben hat. Danken möchte ich auch folgenden Frauen in Zürich (Decknamen): Sonia, die ich das erste Mal in Mantua getroffen habe (wer weiß, vielleicht interessiert sich ja einmal jemand für ihr Buch!), Martha, Antenora, Isabella. Und in Genf (auch Decknamen): Amy, Lucia, Andrei, Vanessa, Patrick, Therese, Anna Christina.
Ich danke auch Antonella Zara, die mir erlaubte, Ausschnitte aus ihrem Buch Die Wissenschaft der Leidenschaft in Marias Tagebuch zu benutzen.
Schließlich möchte ich Maria (Deckname) danken, die heute in Lausanne lebt, verheiratet ist und zwei hübsche Töchter hat. Auf ihrer Geschichte, die sie Monica und mir erzählt hat, basiert dieses Buch.