38087.fb2 Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

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Sie spürte, daß die Heilige Jungfrau ihr diese Chance gegeben hatte und sie jede Sekunde dieser Urlaubswoche auskosten mußte. Ein gutes Restaurant kennenzulernen bedeutete, daß sie später zu Hause etwas Interessantes zu erzählen hatte. Deshalb nahm sie sein Angebot an, unter der Bedingung, daß der Dolmetscher sie begleitete. Sie hatte es satt, in einem fort zu lächeln und so zu tun, als verstehe sie auch nur ein Wort dessen, was der Ausländer sagte. Jetzt hatte sie nur ein Problem, ein ganz entscheidendes: Sie hatte nichts Richtiges anzuziehen. Eine Frau gibt so etwas nicht zu (eher noch nimmt sie hin, daß ihr Mann sie betrügt), aber da sie diese Männer nicht kannte und sie vermutlich nie wiedersehen würde, hatte sie nichts zu verlieren.

»Ich bin gerade aus dem Nordosten angekommen, ich habe nichts Anständiges anzuziehen.« Der Mann bat sie durch den Dolmetscher, sich keine Sorgen zu machen, und ließ sich die Adresse ihres Hotels geben. Am späten Nachmittag erhielt sie ein Kleid, wie sie in ihrem ganzen Leben noch keines gesehen hatte, dazu ein Paar Schuhe, die so viel gekostet haben mußten, wie sie im ganzen Jahr verdiente.

Sie spürte: Hier begann der Weg, von dem sie in ihrer Kindheit und Jugend im sertão immer geträumt hatte. Da gab es nur Dürre, junge Männer ohne Zukunft, das ehrliche aber arme Städtchen, in dem sie ein ödes, uninteressantes Leben geführt hatte. Jetzt würde sie bald schon die Prinzessin des Universums sein! Ein Mann hatte ihr einen Job und Dollars versprochen und ihr ein sündhaft teures Paar Schuhe und ein märchenhaftes Kleid geschenkt! Es fehlte noch das entsprechende Makeup, aber die Rezeptionistin ihres Hotels half ihr aus, sagte ihr allerdings auch, daß nicht alle Ausländer gut seie n, so wie auch nicht alle Bewohner Rios Straßenräuber seien.

Maria schlug die Warnung in den Wind, zog das im wahrsten Sinne himmlische Kleid an, verbrachte Stunden vor dem Spiegel. Sie bedauerte, daß sie ihren Fotoapparat zu Hause gelassen hatte und diesen Augenblick nicht festhalten konnte. Beinahe wäre sie zu spät zu ihrer Verabredung gekommen. Sie rannte hinaus wie Aschenputtel und hastete zu dem Hotel, in dem der Schweizer abgestiegen war.

Zu ihrer Überraschung sagte der Dolmetscher gleich, daß er sie nicht begleiten würde.

»Mach dir wegen der Sprache keine Sorgen – das wichtigste ist, daß er sich an deiner Seite wohl fühlt.«

»Aber wie denn, wenn er nicht versteht, was ich sage?«

»Genau deshalb. Du brauchst dich nicht zu unterhalten, es ist eine Frage von Energien.«

Maria wußte nicht, was sie sich unter »Energien« vorstellen sollte; bei ihr zu Hause verständigten sich die Menschen immer noch mit Worten. Und da wollte dieser Mailson ihr weismachen, in Rio de Janeiro und im Rest der Welt sei alles anders?

»Du brauchst es nicht zu verstehen, sieh nur zu, daß er sich wohl fühlt. Der Mann ist Witwer, kinderlos und Besitzer eines Nachtclubs. Er sucht Brasilianerinnen, die im Ausland auftreten wollen. Ich habe ihm gesagt, daß du nicht der Typ dafür seist, aber er hat nicht lockergelassen und gesagt, er habe sich in dich verliebt, als er dich aus dem Wasser kommen sah. Er hat auch deinen Bikini hübsch gefunden.« Er machte eine Pause. »Ehrlich, wenn du hier einen Freund finden willst, mußt du dir ein anderes Bikinimodell besorgen; außer diesem Schweizer gefällt er bestimmt niemandem.«

Maria tat so, als habe sie das nicht gehört. Mailson fuhr fort: »Ich glaube, er sucht nicht nur ein Abenteuer mit dir; er findet, daß du das Talent hast, eine Hauptattraktion in seinem Nachtclub zu werden. Natürlich hat er dich weder singen hören noch tanzen sehen, aber so was kann man lernen, während die Schönheit – die hat man entweder, oder man hat sie nicht. Diese Europäer glauben wirklich, alle Brasilianerinnen seien sinnlich und könnten Samba tanzen. Wenn er es ernst meint, rate ich dir, bevor du das Land verläßt, um einen unterzeichneten Vertrag zu bitten – mit vom Schweizer Konsulat beglaubigter Unterschrift. Morgen früh bin ich am Strand vor dem Hotel, komm zu mir, falls du noch Fragen hast.«

Der Schweizer nahm lächelnd ihren Arm und zeigte auf das wartende Taxi.

»Wenn er andere Absichten hat und du auch – der Tarif für eine Nacht ist dreihundert Dollar. Mach es nicht für weniger.«

Noch bevor sie antworten konnte, waren sie auf dem Weg zum Restaurant. Der Mann suchte mühsam nach Worten.

»Arbeiten? Job? Dollar? Brasilianischer Star?« Maria gingen Mailsons Worte nicht aus dem Sinn: dreihundert Dollar für eine Nacht! Was für ein Reichtum! Sie brauchte nicht aus Liebe zu leiden, konnte den Mann bezirzen, wie sie es mit dem Besitzer des Stoffladens gemacht hatte, heiraten, Kinder bekommen und ihren Eltern ein bequemes Leben bieten. Was hatte sie zu verlieren? Er war alt, vielleicht würde er schon bald sterben, und sie würde endlich reich sein. Es sah so aus, als wären in der Schweiz alle reich, aber als gebe es dort zu wenig Frauen.

Während des Essens redeten sie nur wenig – hier ein Lächeln, da ein Lächeln, und Maria begriff allmählich, was Mailson mit »Energien« gemeint hatte. Der Mann zeigte ihr ein Album mit Fotos, deren Bildunterschriften in einer für sie unverständlichen Sprache geschrieben waren. Das Album enthielt unzählige Fotos von Frauen in Bikini (alle viel gewagter als der, den sie am Nachmittag getragen hatte), Zeitungsausschnitte und bunte Prospekte, überschrieben mit dem einzigen Wort, das sie verstand, das aber falsch geschrieben war: »Brazil« (mit »z« statt mit »s«). Sie trank viel, trank sich Mut an, für den Fall, daß der Schweizer ihr tatsächlich ein Angebot machte (dreihundert Dollar waren schließlich nicht zu verachten, und ein bißchen Alkohol machte die Dinge sehr viel einfacher, vor allem, wenn niemand aus ihrer Stadt in der Nähe war). Aber der Mann benahm sich wie ein Gentleman, er zog sogar den Stuhl für sie zurück und schob ihn wieder nach vorn, während sie sich setzte, und erhob sich, als sie schließlich erschöpft aufstand und sich verabschiedete. Sie schlug ein Treffen am Strand für den nächsten Tag vor – auf die Uhr zeigen, mit den Händen eine Wellenbewegung machen und ganz langsam »morgen« sagen –, und er schaute ebenfalls auf seine Uhr (wahrscheinlich ein Schweizer Fabrikat) und war einverstanden.

Maria schlief schlecht. Träumte, daß alles ein Traum war. Wachte auf und stellte fest, daß es keiner war: Auf dem Stuhl in dem einfachen Zimmer lag ein wunderschönes Kleid, und darunter stand ein wunderschönes Paar Schuhe, und da war auch noch die Verabredung am Strand.

Aus Marias Tagebuch an dem Tag, an dem sie den Schweizer kennenlernte:

Alles sagt mir, daß ich kurz davor stehe, eine falsche Entscheidung zu treffen, aber wer handelt, macht zwangsläufig auch Fehler. Was will die Welt von mir? Daß ich keine Risiken eingehe? Daß ich wieder dahin zurückkehre, wo ich herkomme, und nie den Mut aufbringe, ja zum Leben zu sagen?

Ich habe schon einmal eine falsche Entscheidung getroffen, als ich elf Jahre alt war und ein Junge mich bat, ihm meinen Bleistift zu leihen; seither habe ich begriffen, daß sich manchmal keine zweite Gelegenheit ergibt und man besser die Geschenke annimmt, die die Welt einem vor die Füße legt. Natürlich ist es riskant, aber ist es riskanter, als mit dem Überlandbus zu fahren?

Wenn ich jemandem treu sein muß, dann in erster Linie mir selbst. Ich muß erst einmal die mittelmäßigen Lieben satt haben, die mir bislang über den Weg gelaufen sind, um mich dann auf die Suche nach der wahren Liebe zu begeben. Viel Lebenserfahrung habe ich nicht, aber eines weiß ich: daß man nichts besitzen kann, alles ist Illusion – sowohl materielle wie spirituelle Güter. Wer schon einmal etwas verloren hat, von dem er glaubte, er würde es nie verlieren (etwas, das mir so häufig passiert ist), weiß am Ende, daß ihm nichts gehört.

Und wenn ich nichts besitze, muß ich auch meine Zeit nicht damit vergeuden, mich um Dinge zu sorgen, die mir nicht gehören; es ist besser, ich lebe jeden Tag, als wäre es der erste (oder der letzte) Tag meines Lebens.

Am nächsten Tag teilte sie dem Schweizer durch Mailson mit, der sich nun als ihr empresario bezeichnete, sie nehme sein Angebot unter der Voraussetzung an, daß sie einen vom Schweizer Konsulat beglaubigten Vertrag erhalte. Der Schweizer, der solche Forderungen gewohnt zu sein schien, sagte, dies sei ganz in seinem Sinne, da man, um in seinem Land zu arbeiten, den Nachweis erbringen müsse, daß niemand sonst im Land diese Arbeit tun könnte – und dieser Nachweis sei unschwer zu erbringen, da Schweizerinnen keine besonders begabten Sambatänzerinnen seien. Sie gingen gemeinsam ins Stadtzentrum, der empresario verlangte bei der Vertragsunterzeichnung einen Vorschuß von fünfhundert Dollar in bar für Maria, von denen er dreißig Prozent einbehielt.

»Das ist ein Wochengehalt als Vorschuß. Eine Woche, verstehst du? Den Rest erhältst du ohne Abzug, ich bekomme nur bei der ersten Zahlung etwas.«

Bis zu jenem Augenblick war die Reise, der Gedanke, weit wegzufahren, nur ein Traum gewesen – und Träume sind sehr bequem, sofern wir nicht gezwungen sind, sie in die Tat umzusetzen. So gehen wir keine Risiken ein, vermeiden Frustrationen, schwierige Momente, und wenn wir alt sind, können wir immer den anderen die Schuld in die Schuhe schieben – vorzugsweise unseren Eltern, unseren Ehemännern oder unseren Kindern – dafür, daß wir unsere Träume nicht wahr gemacht haben.

Und nun war plötzlich die Chance da, auf die sie so sehr gewartet hatte, von der sie aber gewollt hätte, daß sie nie kam! Wie sollte sie sich den Herausforderungen und Gefahren eines Lebens stellen, das sie nicht kannte? Wie all das aufgeben, woran sie gewöhnt war? Warum hatte die Heilige Jungfrau sie vor eine derart schwierige Entscheidung gestellt?

Maria tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie es sich jederzeit anders überlegen könnte, daß alles nur ein unverbindlicher Spaß war – noch etwas, was sie später zu Hause erzählen könnte. Nun war sie mehr als tausend Kilometer von ihrer Heimat entfernt, hatte dreihundertfünfzig Dollar in der Tasche, und wenn sie morgen beschließen sollte, ihre Koffer zu packen und zu fliehen, würde keiner sie jemals wiederfinden.

Den Nachmittag nach dem Besuch im Konsulat verbrachte Maria allein am Strand, wo sie am Meer entlang spazierenging, den Kindern beim Spielen zusah und die Volleyballspieler, die Bettler, die Trinker und die Verkäufer von typisch brasilianischem Kunsthandwerk (made in China) beobachtete, Jogger und Fitneßfreaks, die sich durch Gymnastik jung halten wollten, ausländische Touristen, Mütter mit Kinderwagen und Rentner, die ganz hinten am Strand Karten spielten. Sie war nach Rio de Janeiro gekommen, hatte in einem erstklassigen Restaurant gegessen, einen Auslä nder kennengelernt, war in einem Konsulat gewesen, verfügte über einen empresario und hatte obendrein ein neues Kleid und ein neues Paar Schuhe geschenkt bekommen, die sich zu Hause niemand, wirklich niemand kaufen konnte.

Und jetzt?

Sie schaute aufs Meer, in die Richtung, in der sie aufgrund ihrer Geographiekenntnisse Afrika vermutete, Afrika mit seinen Löwen und seinen Urwäldern voller Gorillas. Wenn sie sich jedoch nicht immer geradeaus nach Osten, sondern auch ein wenig in Richtung Norden bewegte, würde sie in einem märchenhaften Reich namens Europa landen, wo es einen Eiffelturm, EuroDisney und den Schiefen Turm von Pisa gab. Was hatte sie zu verlieren? Sie hatte wie jede Brasilianerin Samba tanzen gelernt, noch bevor sie Mama sagen konnte; es stand ihr frei, zurückzukommen, wenn es ihr nicht gefiel. Sie hatte inzwischen gelernt, daß man Gelegenheiten beim Schöpfe packen mußte.

Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens damit verbracht, >nein< zu Dingen zu sagen, zu denen sie gern >ja< gesagt hätte, war entschlossen gewesen, nur Situationen zu durchleben, in denen sie die Kontrolle hatte – wie bei Abenteuern mit Männern, zum Beispiel. Jetzt stand sie vor dem Unbekannten, das so unbekannt war, wie dieses Meer einst für die Seefahrer gewesen war, die es überquert hatten – das hatte sie im Geschichtsunterricht gelernt. Sie konnte immer noch nein sagen, aber würde sie es dann nicht für den Rest ihres Lebens bereuen, so wie damals mit ihrer allerersten Liebe, ihrem Schulkameraden, der für immer verschwand? Warum sollte sie diesmal nicht ein Ja wagen?

Aus einem sehr einfachen Grund: Sie war ein Mädchen aus der Provinz, ohne jegliche Lebenserfahrung. Sie hatte zwar eine gute Schule besucht, kannte sich mit Telenovelas bestens aus und wußte, daß sie schön war. Doch das allein genügte nicht, um sich in der Welt zu behaupten.

Sie sah eine Gruppe von Leuten, die lachend auf die Wellen guckten und nicht wagten, ins Wasser zu gehen. Vor zwei Tagen war es ihr ganz gleich ergangen, aber jetzt hatte sie keine Angst mehr, ging ins Wasser, wann immer sie dazu Lust hatte, als wäre sie hier geboren. Würde es ihr in Europa nicht genauso gehen?

Sie betete still für sich, bat die Jungfrau Maria wieder um Rat, und bald schon fühlte sie sich eins mit ihrem Entschluß, den Weg weiterzuge hen, denn sie wußte sich beschützt. Zurückkommen konnte sie immer noch, doch die Chance, weit wegzugehen, kam vielleicht nicht wieder. Es lohnte sich, das Risiko einzugehen. Es sei denn, der Traum würde in einer achtundvierzigstündigen Fahrt mit einem Bus ohne Aircondition dahinschmelzen. Es sei denn, der Schweizer überlegte es sich anders.

Sie war so aufgeregt, daß sie, als er sie erneut zum Abendessen einlud, versuchte, sinnlich zu sein, und seine Hand nahm, doch der Mann zog seine sofort zurück, und Maria begriff – mit einer gewissen Furcht und mit einer gewissen Erleichterung –, daß er es wirklich ernst meinte. »Samba-Star«, sagte der Mann. »Samba-Star schön brasilianisch! Reise nächste Woche!«

Alles war wunderbar, aber an »Reise nächste Woche« war absolut nicht zu denken. Maria erklärte, daß sie keine Entscheidung fällen könne, ohne ihre Eltern zu fragen. Der Schweizer zeigte wütend auf eine Kopie des unterzeichneten Vertrags, und zum ersten Mal wurde ihr mulmig.

»Vertrag!« sagte er. Obwohl sie entschlossen war zu reisen, wollte sie sich noch einmal mit Mailson beraten, schließlich wurde er ja dafür bezahlt, daß er sie beriet.

Mailson schien allerdings jetzt mehr damit beschäftigt, eine deutsche Touristin zu verführen, die gerade im Hotel angekommen war und in der Überzeugung »oben ohne« am Strand saß, daß Brasilien das freizügigste Land der Welt sei (ohne zu bemerken, daß sie die einzige Person mit nackten Brüsten war und daß alle peinlich berührt herüberguckten). Maria konnte seine Aufmerksamkeit nur schwer auf sich lenken.

»Und wenn ich es mir nun anders überlege?« fragte sie. »Ich weiß nicht, was im Vertrag steht, aber vielleicht läßt er dich festnehmen.«

»Er wird mich niemals finden!«

»Auch wahr. Also mach dir keine Sorgen.« Der Schweizer jedoch, der bereits fünfhundert Dollar, ein Paar Schuhe, ein Kleid, zwei Abendessen und die Notarskosten im Konsulat investiert hatte, war allmählich beunruhigt. Daher beschloß er, da Maria darauf bestand, mit ihrer Familie zu sprechen, zwei Flugtickets zu kaufen und sie zu ihrem Geburtsort zu begleiten. Mit Lächeln hier und Lächeln da begann sie allmählich zu begreifen, daß mit Verführung, Gefühlen und Verträgen nicht zu spaßen war.

Alle im Städtchen waren überrascht und stolz, als die schöne Maria in Begleitung eines Ausländers ankam, der sie in Europa zu einem großen Star machen wollte. Alle Nachbarn wußten es bereits, und die Freundinnen aus der Schule fragten: »Aber wie ist das passiert?«

Um das Bildnis der Jungfrau herum waren ein paar Worte eingraviert: »O Maria, ohne Sünde empfangen, bitte für uns, die wir uns an dich wenden. Amen.«

»Sag diesen Satz unbedingt mindestens einmal am Tag. Und…«

Er zögerte, aber jetzt konnte er nicht mehr zurück.

»…wenn du eines Tages zurückkehrst, sollst du wissen, daß ich auf dich warten werde. Ich habe die Gelegenheit verstreichen lassen, dir etwas ganz Einfaches zu sagen: Ich liebe dich. Vielleicht ist es zu spät, aber wissen solltest du es trotzdem…«

»Eine Gelegenheit verstreichen lassen« – sie hatte sehr früh gelernt, was das hieß. »Ich liebe dich« hingegen war ein Satz, den sie in ihrem zweiundzwanzigjährigen Leben häufig gehört hatte, aber er klang hohl in ihren Ohren weil niemals etwas Ernstes, Tiefes daraus geworden war, keine dauerhafte Beziehung. Maria dankte ihm für seine Worte und merkte sie sich gut (was wußte sie schon, was das Leben ihr noch vorbehielt, und es konnte nicht schaden, eine Notlösung in petto zu haben). Sie gab ihm einen keuschen Kuß auf die Wange und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, davon.

Zurück in Rio, beantragte und erhielt sie in nur einem Tag ihren Paß. Roger sagte etwas in seinem wortarmen, gestenreichen Portugiesisch, was Maria mit »früher hat das länger gedauert« übersetzte. Dann wurden mit Mailsons Hilfe die letzten Reisevorbereitungen getroffen (Kleider, Schuhe, Makeup, alles, wovon eine Frau wie sie träumen konnte). Roger lud sie am Vorabend ihrer Abreise in einen Nachtclub ein, sah sie tanzen und war begeistert von seiner Wahl – er hatte wirklich den großen Star für den >Gilbert Club< vor sic h, die schöne Dunkle mit den hellen Augen und rabenschwarzen Haaren. Die Arbeitsbewilligung des Schweizer Konsulats wurde fertig, sie packten die Koffer. Maria plante heimlich, diesen Mann in sich verliebt zu machen – schließlich war er weder alt noch häßlich, noch arm. Was wollte sie mehr?

Sie kam erschöpft in Genf an, und noch auf dem Flughafen zog sich ihr Herz angstvoll zusammen: Sie entdeckte, daß sie von dem Mann an ihrer Seite vollkommen abhängig war – sie kannte weder das Land noch die Sprache, und die Kälte machte ihr auch zu schaffen. Rogers Verhalten änderte sich von Stund an. Seine Freundlichkeit war verflogen. Er hatte zwar nie versucht, sie zu küssen oder ihre Brüste zu berühren, aber sein Blick war so distanziert wie möglich geworden. Er brachte sie in eine kleine Pension, stellte sie einer anderen Brasilianerin vor, einer jungen, traurigen Frau, die Vivian hieß und sie auf die Arbeit vorbereiten sollte.

Vivian musterte sie nüchtern von Kopf bis Fuß, ohne Mitgefühl für die junge Frau, die zum ersten Mal im Ausland war. Anstatt sie zu fragen, wie sie sich fühlte, kam sie direkt zur Sache.