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Woher wußte Vivian das? Suchten etwa alle dasselbe? Oder konnte Vivian Gedanken lesen?
»Alle Mädchen hier wollen eines dieser drei Dinge«, fuhr Vivian fort. »Für Abenteuer ist es schlicht zu kalt, und außerdem wirst du sie dir nicht leisten können. Was das Geld betrifft, so wirst du allein schon ein Jahr arbeiten müssen, um dein Rückflugticket zu bezahlen, Unterkunft und Essen werden dir auch abgezogen.«
»Aber…«
»Ich weiß, du willst sagen: Das war nicht so abgemacht. Tatsächlich aber hast du nur vergessen zu fragen – wie alle. Wärest du aufmerksamer gewesen, hättest du den Vertrag gelesen, den du unterzeichnet hast, dann wüßtest du, worauf du dich eingelassen hast, denn die Schweizer lügen nicht, obwohl sie geschickt zu schweigen verstehen.«
Der Boden unter Marias Füßen tat sich auf.
»Und was den Ehemann betrifft, so ist jedes Mädchen, das heiratet, ein wirtschaftlicher Verlust für Roger. Daher ist es uns verboten, mit den Kunden zu reden. Wenn du etwas in der Richtung unternehmen willst, mußt du große Risiken eingehen. Dieser Club hier ist nicht wie die Clubs in der Rue de Berne.«
»Rue de Berne?«
»Die Männer kommen hier mit ihren Frauen her, und die wenigen Touristen, die sich hierher verirren und die familiäre Atmosphäre bemerken, gehen, um Frauen zu finden, woandershin. Vor allen Dingen mußt du tanzen können; wenn du auch singen kannst, steigt nicht nur dein Gehalt, sondern auch der Neid der anderen. Daher rate ich dir, das mit dem Singen erst gar nicht zu versuchen. Vor allem telefonier möglichst nicht. Da wirst du mehr ausgeben, als du verdienst, und das ist ohnehin nur wenig.«
»Aber er hat mir fünfhundert Dollar pro Woche versprochen.«
»Du wirst schon sehen.«
Aus Marias Tagebuch, in der zweiten Woche ihres Aufenthaltes in der Schweiz.
Ich bin in den Club gegangen, habe dort einen sogenannten Tanzdirektor aus einem Land namens Marokko vorgefunden, der meinte, mir jeden Schritt eines Tanzes beibringen zu müssen, von dem er glaubt, es sei Samba, obwohl er noch nie einen Fuß auf brasilianischen Boden gesetzt hat. Ich hatte keine Zeit, mich von der langen Flugreise zu erholen, es hieß gleich lächeln und tanzen – gleich am ersten Abend.
Wir sind sechs Mädchen, keine ist glücklich, und keine weiß, was sie hier eigentlich soll. Die Kunden trinken und applaudieren, werfen mir Kußhände zu und machen heimlich anzügliche Gesten, mehr nicht.
Gestern wurde der Lohn bezahlt, allerdings nur ein Zehntel des vertraglich vereinbarten Betrages, der Rest wurde einbehalten, um meine Unterkunft und mein Flugticket zu bezahlen. Vivians Berechnungen zufolge wird das ein Jahr dauern – anders gesagt, in dieser Zeit kann ich nirgendwo anders hin.
Aber lohnt es sich überhaupt wegzulaufen? Ich bin gerade angekommen, ich kenne mich noch nicht aus. Es ist doch kein Problem, sieben Abende pro Woche zu tanzen! Früher machte ich das aus Vergnügen, jetzt mache ich es für Geld und Ruhm; den Beinen macht es nichts aus, das einzig Schwierige ist, das Lächeln auf den Lippen zu halten.
Ich habe die Wahl, entweder ein Opfer der Welt zu sein oder eine Abenteuerin auf der Suche nach ihrem Schatz. Es ist alles nur eine Frage, wie ich mein Leben angehe.
Maria traf ihre Wahl: Sie wollte eine Abenteuerin auf der Suche nach ihrem Schatz sein – sie hörte nicht auf ihre Gefühle, weinte nicht mehr ins Kopfkissen, vergaß einfach, wer sie war; sie fand heraus, daß sie genügend Willenskraft hatte, um sich vorzumachen, es hätte das Mädchen aus der kleinen Stadt im Landesinnern nie gegeben, und deshalb brauchte sie sich auch nach niemandem zu sehnen. Gefühle konnten warten. Zuerst mußte sie Geld verdienen, Land und Leute kennenlernen, und am Ende würde sie erfolgreich in ihr Dorf zurückkehren.
Ansonsten war alles so wie in Brasilien, wie in ihrem Heimatort: Die Frauen im Club sprachen untereinander portugiesisch, beklagten sich über die Männer, schimpften über die Arbeitszeiten, kamen zu spät in den Club, provozierten den Chef und erzählten von ihren Märchenprinzen – die meist weit weg waren oder verheiratet oder arm und sich von den Frauen aushaken ließen. Das Ambiente war nicht glamourös wie auf Rogers Faltprospekten, sondern genau so, wie Vivian es beschrieben hatte: familiär. Die Mädchen durften keine Einladungen annehmen, weil sie auf ihren Arbeitsausweisen als »Sambatänzerinnen« registriert waren. Wenn sie sich dabei erwischen ließen, wie sie einen Zettel mit einer Telefonnummer entgegennahmen, durften sie zwei Wochen lang nicht arbeiten. Maria, die sich unter ihrem Job etwas Aufregenderes vorgestellt hatte, wurde immer trauriger und lustloser.
In den ersten zwei Wochen verließ sie kaum die Pension, in der sie untergebracht war, außer um zur Arbeit zu gehen, denn sie konnte sich nicht verständlich mache n, da sie kein Französisch sprach. Schließlich kam sie in ihrem kleinen Genfer Zimmer ohne Fernseher, in dem sie sich zu Tode langweilte, zu folgendem Schluß: a) Sie würde nie finden, was sie suchte, solange sie nicht sagen konnte, was sie dachte. Dazu muß te sie die Sprache lernen. b) Da alle ihre Kolleginnen dasselbe suchten, mußte sie anders sein. Wie sie das anstellen sollte, wußte sie allerdings noch nicht.
Aus Marias Tagebuch vier Wochen nach ihrer Ankunft in Genf:
Ich bin schon eine Ewigkeit hier, spreche kein Französisch, höre den ganzen Tag lang Musik im Radio, starre an die Zimmerdecke und denke an zu Hause. In meiner Freizeit kann ich es jeweils kaum erwarten, daß es Zeit wird, um zur Arbeit zu geben, und wenn ich arbeite, kann ich es kaum erwarten, daß ich wieder in die Pension zurückkann. Anders ausgedrückt, ich lebe in der Zukunft statt in der Gegenwart.
Eines Tages, in einer fernen Zukunft, werde ich mein Flugticket haben, kann ich nach Brasilien zurückkehren, den Stoffladenbesitzer heiraten und muß mir dann die boshaften Kommentare der Freundinnen anhören, die selbst nie etwas riskiert haben und deshalb bei den anderen nur Niederlagen sehen wollen. Nein, das will ich nicht; da springe ich lieber aus dem Flugzeug, wenn es über dem Ozean fliegt, beziehungsweise, da die Flugzeugfenster ja nicht aufgehen, bleibt mir nichts anderes übrig, als hier zu sterben. Doch bevor ich sterbe, werde ich um mein Leben kämpfen. Wenn ich allein klarkomme, komme ich überallhin.
Am nächsten Tag schrieb sie sich umgehe nd in einen Vormittagskurs für Französisch ein, wo sie Menschen der unterschiedlichsten Glaubensrichtungen und unterschiedlichsten Alters traf, Männer mit bunten Kleidern und vielen goldenen Armbändern, Frauen, die immer ein Kopftuch trugen, Kinder, die schneller lernten als die Erwachsenen. Sie war stolz darauf zu erfahren, daß alle ihr Land kannten, den Karneval, den Samba, den Fußball und den berühmtesten Menschen der Welt, der Pele hieß.
Nachmittags spazierte sie durch die Stadt und probierte ihre Französischkenntnisse aus, kaufte köstliche Schokolade und einen Käse, den sie noch nie gekostet hatte. Sie entdeckte die Fontäne im See, den Schnee auf den Bergen und wußte, sie war die einzige aus ihrem Heimatort, die so etwas je gesehen hatte. Sie entdeckte die Schwäne, sie entdeckte Restaurants, in denen ein behagliches Kaminfeuer brannte. Sie war auch überrascht, daß nicht alle Plakate für Uhren warben, sondern auch für Banken – wenngleich sie nicht verstehen konnte, wieso es so viele Banken für so wenige Einwohner gab und selten jemand drin war, aber sie beschloß, nicht weiter nachzufragen.
Nach drei Monaten aufgesetzter Fröhlichkeit im >Gilbert Club< verliebte sie sich in einen Araber aus ihrem Französischkurs. Ihre brasilianische Lebensfreude und Sinnlichkeit gewann die Oberhand, und drei Wochen später fuhr sie, statt zur Arbeit zu gehen, mit ihrem Freund zu einem Aussichtspunkt an einem Berg in der Nähe von Genf. Als sie am nächsten Abend zur Arbeit erschien, zitierte Roger sie in sein Büro und kündigte ihr fristlos, mit der Begründung, sie sei ihren Kolleginnen ein schlechtes Vorbild. Roger war außer sich und brüllte, daß auf brasilianische Frauen kein Verlaß sei. Er ließ auch ihre Ausrede nicht gelten, sie habe hohes Fieber gehabt, und klagte darüber, daß er nun wieder nach Brasilien reisen müsse, um einen Ersatz zu finden, und daß er lieber eine Show mit jugoslawischer Musik und machen sollte, mit jugoslawischen Tänzerinnen, die sehr viel hübscher und verläßlicher seien.
Maria war zwar jung, aber gewitzt. Nachdem ihr Liebhaber ihr erzählt hatte, daß in der Schweiz die Arbeitsgesetze sehr streng seien und sie vorbringen könne, sie sei für Sklavenarbeit mißbraucht worden, da der Club einen großen Teil ihres Gehaltes einbehielt, ging sie nochmals in Rogers Büro zurück. Diesmal sprach sie in einigermaßen korrektem Französisch mit ihm und drohte mit einem Anwalt. Sie verließ den Raum unter Beschimpfungen, aber mit fünftausend Dollar Entschädigung, einer Summe, die sie sich nie hatte träumen lassen – alles wegen des magischen Wortes >Anwalt<. Jetzt konnte sie den Araber ungehindert lieben, ein paar Geschenke kaufen, ein paar Fotos von sich im Schnee machen lassen und als Siegerin nach Hause zurückkehren.
Zuallererst rief sie zu Hause eine Nachbarin an, weil die Eltern kein Telefon hatten, und erzählte, daß sie glücklich sei und eine großartige Karriere vor sich habe, niemand zu Hause sollte sich Sorgen machen. Da Roger das Zimmer in der Pension angemietet hatte, mußte sie in Kürze ausziehen. Es sah so aus, als bliebe ihr nichts anderes übrig, als zu ihrem Liebhaber zu gehen, ihm ewige Liebe zu schwören, seinen Glauben anzunehmen und ihn zu heiraten (auch wenn dies womöglich hieß, daß sie fortan immer ein Kopftuch tragen müßte); schließlich war allgemein bekannt, daß die Araber sehr reich waren, und das genügte.
Aber ihr Freund war zu dem Zeitpunkt bereits über alle Berge – und im Grunde ihres Herzens dankte sie der Jungfrau Maria, weil sie nun nicht gezwungen war, ihren Glauben zu verraten. Einerseits hatte sie genü gend Geld für einen Rückflug und wußte, daß sie, wenn alle Stricke rissen, den Stoffhändler immer noch heiraten konnte. Andererseits hatte sie eine Arbeitsgenehmigung als Sambatänzerin und eine gültige Aufenthaltsbewilligung und konnte auch schon leidlich Französisch. Darauf beschloß Maria, nun Geld mit ihrer Schönheit zu verdienen. Das traute sie sich zu.
Noch in Brasilien hatte sie ein Buch über einen Hirten gelesen, der auf der Suche nach seinem Schatz viele Schwierigkeiten meistern mußte, die ihm letztlich halfen, seine Träume zu verwirklichen; genau das war auch bei ihr der Fall. Ihr war vollkommen bewußt, daß sie entlassen worden war, um sich ihrem eigentlichen Schicksal zu stellen. Ihr Traum war, Fotomodell oder Mannequin zu werden.
Sie mietete ein kleines Zimmer (ohne Fernseher, aber sie mußte eisern sparen, bis sie wirklich viel Geld verdiente), und am nächsten Tag klapperte sie die Agenturen ab. Alle sagten, daß sie eine Fotomappe abgeben müsse. Schließlich war das eine Investition in ihre Karriere – jeder Traum hat seinen Preis. Sie gab viel Geld für einen hervorragenden Fotografen aus, der wenig redete und viel verlangte: Er hatte einen riesigen Kostümfundus in seinem Studio, und sie posierte in extravaganten, edlen Kleidern und sogar in einem Bikini, auf den ihr einziger Bekannter in Rio de Janeiro, Mailson, bestimmt stolz gewesen wäre. Sie bat um einige Extraabzüge, damit sie diese im nächsten Brief ihrer Familie schicken und zeigen konnte, wie glücklich sie in der Schweiz war. Ihre Eltern würden glauben, sie sei nun reich, habe eine beneidenswerte Garderobe und würden es allen erzählen. Sie würde im Ort berühmt werden. Und bei ihrer Rückkehr würde sie von einer Blaskapelle empfangen werden, und wer weiß, vielleicht ließ der Bürgermeister sogar einen Platz nach ihr benennen.
Sie kaufte ein Handy und wartete nun darauf, zu ihrem ersten Job gerufen zu werden. Sie aß bei einem billigen Chinesen, und um sich die Zeit zu vertreiben, büffelte sie Französisch.
Aber die Zeit verging nur langsam, und das Telefon klingelte nicht. Sie war überrascht, daß niemand sie ansprach, wenn sie am Seeufer spazierenging, außer ein paar Drogenhändlern, die immer an derselben Stelle unter der Brücke anzutreffen waren, die den schönen alten Park mit dem neueren Teil der Stadt verband. Sie begann an ihrer Schönheit zu zweifeln, weil niemand anders sie ansprach, bis eine ihrer ehemaligen Arbeitskolleginnen aus dem Club, die sie zufällig in einem Cafe traf, ihr versicherte, daß es nicht an ihr liege. Die Schweizer wollten eben niemanden stören, und die Ausländer hätten Angst, wegen »sexueller Belästigung« festgenommen zu werden.
Eintrag in Marias Tagebuch an einem Abend, als sie nicht mehr den Mut hatte, das Haus zu verlassen, zu leben und weiter auf den Anruf zu warten. Doch der kam nicht.
Heute bin ich an einem Vergnügungspark vorbeigekommen. Da ich mit meinem Geld haushalten muß, habe ich mir nur die Leute angesehen. Ich habe lange vor einer Achterbahn gestanden: Ich sah die meisten Leute da hineingehen, um den großen Kick zu erleben, doch wenn die Bahn sich in Bewegung gesetzt hatte, kamen sie vor Angst fast um und wollten wieder aussteigen.
Was wollten sie bloß? Wenn sie das Abenteuer suchten, sollten sie dann nicht bereit sein, es bis zum Ende durchzustehen? Oder glaubten sie, daß es besser wäre, dieses Auf und Ab nicht mitzumachen und die ganze Zeit in einem Karussell zu sitzen und auf der Stelle zu kreisen?
Im Augenblick bin ich zu einsam, um an Liebe zu denken, aber ich muß mir einreden, daß das vorübergeht, daß ich Arbeit bekomme. Außerdem ich bin hier, weil ich dieses Schicksal selbst gewählt habe. Die Achterbahn ist wie mein Leben, und das Leben ist ein starkes, berauschendes Spiel. Leben heißt mit einem Fallschirm abspringen; Leben heißt etwas riskieren, hinfallen und wieder aufstehen; Leben ist wie Steilwandklettern, es bedeutet, nicht zu ruhen und nicht zu rasten, bis man den eigenen Gipfel erklommen hat.
Es fällt mir nicht leicht, weit weg von meiner Familie zu sein, meine Gefühle nicht in meiner Muttersprache ausdrücken zu können, aber von heute an werde ich jedesmal, wenn ich deprimiert hin, an diesen Vergnügungspark denken. Was für ein Gefühl wäre es, wenn ich abends in meinem Bett einschlafen und morgens plötzlich in einer Achterhahn aufwachen würde?
Nun, zuallererst würde ich das Gefühl haben, gefangen zu sein, mir würde in den Kurven vor Angst speiübel werden, und ich würde aussteigen wollen. Wenn ich allerdings darauf vertraue, daß die Schienen mein Schicksal sind, daß Gott diese Maschine lenkt, dann würde dieser Alptraum etwas Aufregendes. Die Achterbahn wäre genau das, was sie auch ist, eine sichere, vertrauenswürdige Konstruktion mit kleinen Wägelchen, die an ihr Ziel gelangen werden. Und während der Fahrt kann ich die Landschaft um mich herum betrachten und vor Aufregung schreien.
Obwohl sie Gedanken aufschreiben konnte, die sie für sehr weise hielt, gelang es ihr nicht, ihren eigenen Rat zu beherzigen. Die Augenblicke, in denen sie deprimiert war, wurden zahlreicher, und das Telefon schwieg weiterhin. Um sich die Zeit zu vertreiben und ihr Französisch zu üben, kaufte sich Maria irgendwelche Klatschzeitschriften, stellte aber bald fest, daß es auf die Dauer teuer wurde. Sie ging in die Stadtbücherei. Die Dame an der Ausleihe sagte ihr, sie könne ihr zwar keine Zeitschriften ausleihen, ihr dafür aber einige einfache Bücher auf französisch empfehlen.
»Ich habe keine Zeit, Bücher zu lesen.«
»Wieso haben Sie keine Zeit? Was machen Sie denn?«
»Eine ganze Menge: Ich lerne Französisch, schreibe Tagebuch und…«
»Und was?«
Sie wollte gerade sagen: »…und warte darauf, daß das Telefon klingelt«, schwieg dann aber.
»Ach, Kind, Sie sind jung, haben das Leben vor sich! Lesen Sie! Vergessen Sie, was man Ihnen über Bücher gesagt hat, und lesen Sie!«
»Aber ich hab doch schon viel gelesen!«
Plötzlich fiel Maria wieder das ein, was Mailson einmal als »Energien« bezeichnet hatte. Die Bibliothekarin vor ihr wirkte einfühlsam und sanft und wie jemand, der ihr notfalls helfen könnte. Sie mußte sie für sich einnehmen, intuitiv spürte sie, daß diese Frau eine Freundin werden könnte.
»Ich möchte noch mehr lesen. Helfen Sie mir bitte bei der Auswahl.«
Die Frau gab ihr ein Buch mit dem Titel Der kleine Prinz. In derselben Nacht begann sie, darin zu blättern, schaute sich die Zeichnungen am Anfang an und entdeckte ein Bild von etwas, das wie ein Hut aussah, von dem der Autor aber meinte, Kinder würden darin eine Schlange mit einem Elefanten im Bauch erkennen. »Ich glaube, ich war nie ein Kind«, dachte sie bei sich. »Für mich sieht das wie ein Hut aus.« Da sie keinen Fernseher hatte, las sie weiter und begleitete den kleinen Prinzen auf seinen Reisen. Doch als es dann in der Geschichte um die Liebe ging, wurde sie traurig – denn sie hatte sich geschworen, die Liebe aus ihren Gedanken zu verbannen. Von den schmerzlichen romantischen Szenen zwischen einem Prinzen, einem Fuchs und einer Rose einmal abgesehen, fesselte sie das Buch so sehr, daß sie alles andere vergaß. Zumindest sah sie jetzt nicht mehr alle fünf Minuten nach, ob der Akku des Handys ge laden war (ihre größte Angst war, daß sie die Chance ihres Lebens wegen einer Nachlässigkeit verpassen könnte).