38087.fb2 Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 5

Maria ging nun regelmäßig in die Bücherei, ließ sich von der Bibliothekarin beraten, die ebenso einsam wirkte wie sie selbst, redete mit ihr über das Leben und über die Autoren. Ihr Erspartes war inzwischen fast aufgebraucht. Bald würde sie nicht einmal mehr genug Geld haben, um ein Rückflugticket zu kaufen. Doch da das Leben immer auf kritische Situationen wartet, um sich dann von seiner Sonnenseite zu zeigen, klingelte endlich das Telefon.

Drei Monate nachdem sie das französische Wort für >Rechtsanwalt< im richtigen Moment angewandt hatte und von der Entschädigung lebte, die sie dadurch erwirkt hatte, rief endlich eine Modelagentur an. Ob Mademoiselle Maria unter dieser Nummer zu erreichen sei. Die Antwort war ein kühles »Ja«, das Maria lange geübt hatte, um jegliche Erwartung daraus zu tilgen. Sie erfuhr, daß ein arabischer Modefotograf, dem ihre Mappe sehr gefallen hätte, sie einlud, an einer Modenschau teilzunehmen. Maria erinnerte sich an die kürzlich erlebte Enttäuschung mit einem anderen Araber, dachte aber auch an das Geld, das sie dringend brauchte.

Sie verabredeten sich in einem schicken Restaurant. Ein eleganter Herr kam herein, viel besser aussehend als ihr arabischer Exfreund. Eine der ersten Fragen, die er ihr stellte, war, ob sie das Bild an der Wand neben ihrem Tisch erkenne. »Wissen Sie, von wem es ist? Von Joan Miro. Kennen Sie Joan Miro?«

Maria schwieg und tat, als müßte sie sich auf das Essen konzentrieren, das erheblich besser war als das bei ihrem billigen Chinesen. Gleichzeitig nahm sie sich vor, bei ihrem nächsten Bibliotheksbesuch ein Buch über Miro auszuleihen.

Doch der Araber ließ nicht locker. »An diesem Tisch da hat immer Federico Fellini gesessen. Wie finden Sie die Filme von Fellini?«

Sie antwortete, daß sie sie liebe. Der Araber wollte ins Detail gehen, worauf Maria, der klar war, daß ihre Bildung den Test nicht bestehen würde, mit offenen Karten spielte.

»Ich will Ihnen nichts vormachen. Der einzige Unterschied, den ich kenne, ist der zwischen Coca-Cola und Pepsi. Wollten Sie mit mir nicht über eine Modenschau sprechen?«

Die Offenheit des Mädchens schien den Araber positiv zu beeindrucken. »Darüber sprechen wir nach dem Abendessen bei einem Drink.«

Es entstand eine Pause, während sie sich gegenseitig taxierten und die Gedanken des anderen zu erraten versuchten.

»Sie sind sehr hübsch«, brach der Araber das Schweigen. »Wenn Sie sich zu einem Drink mit mir in meinem Hotel entschließen können, zahle ich Ihnen tausend Franken.«

Maria schaltete sofort. War die Modelagentur schuld? War es ihre eigene Schuld, hätte sie in bezug auf das Abendessen genauer nachfragen müssen? Nein, die Agentur konnte nichts dafür, und sie selbst auch nicht und auch nicht der Araber: genauso liefen die Dinge eben. Plötzlich sehnte sie sich nach dem sertão zurück und nach den Armen ihrer Mutter. Sie erinnerte sich an Mailson, an den Abend in Rio, als er von den üblichen dreihundert Dollar gesprochen hatte; damals war sie geschmeichelt gewesen, für eine Nacht von einem Mann eine solche Summe angeboten zu bekommen. In diesem Augenblick jedoch wurde ihr bewußt, daß sie niemanden hatte, absolut niemanden, mit dem sie sich beraten konnte; sie war allein in einer fremden Stadt, und trotz ihrer zweiundzwanzig Jahre hatte sie nicht genug Lebenserfahrung, um zu wissen, was sie tun sollte.

»Kann ich bitte noch etwas Wein haben?«

Der Araber schenkte ihr ein, während ihre Gedanken schneller reisten als der kleine Prinz zu den verschiedenen Planeten. Sie war hierher gekommen auf der Suche nach Abenteuern, Geld und vielleicht einem Mann. Sie war nicht naiv, sie kannte die Männer und hatte erwartet, daß sie irgendwann einen solchen Antrag bekommen würde. Trotzdem träumte sie weiter von einer Karriere als Model, von Starruhm, einem reichen Mann, einer Familie, Kindern, Enkeln, schönen Kleidern und einer triumphalen Rückkehr in ihre Heimatstadt. Und sie träumte davon, alle Schwierigkeiten allein mit ihrer Intelligenz, ihrem Charme und ihrer Willenskraft zu meistern.

Aber die Wirklichkeit war kein Traum. Zur großen Überraschung des Arabers brach sie unversehens in Tränen aus. Der Mann wußte nicht, wie er reagieren sollte: seinem Beschützerinstinkt nachgeben oder sich dafür schämen, daß seine Begleiterin so aus der Rolle fiel. Er wollte gerade dem Kellner winken, sofort die Rechnung zu bringen, als Maria sagte: »Bitte nicht. Schenken Sie mir lieber noch etwas nach, und lassen Sie mich ausweinen.«

Maria mußte an den Jungen denken, der sie um den Bleistift gebeten hatte, und an den anderen Jungen, den sie mit geschlossenem Mund geküßt hatte, an ihre Woche in Rio de Janeiro, an die Männer, die sie benutzt hatten, ohne ihr etwas dafür zurückzugeben, an die Leidenschaften und Lieben, die sie auf ihrem Weg zurückgelassen hatte. Ihr Leben war, trotz der vermeintlichen Freiheit, ein endloses Warten auf ein Wunder gewesen, auf die wahre Liebe oder wenigstens ein Liebesabenteuer mit Happy-End, wie im Film. Oder wie in den Romanen, die sie gelesen hatte. Ein Schriftsteller hatte behauptet, daß nicht die Zeit den Menschen verändere und auch nicht die Weisheit – das einzige, was jemanden verändern könne, sei die Liebe. So ein Unsinn! Wer das geschrieben hatte, kannte nur die halbe Wahrheit.

Natürlich konnte die Liebe das Leben eines Menschen von einem Augenblick auf den anderen ganz und gar verändern. Doch nicht nur die Liebe brachte den Menschen dazu, ungewohnte Wege einzuschlagen, sondern auch die Verzweiflung. Ja, vielleicht konnte die Liebe jemanden verändern, aber Verzweiflung schafft es schneller.

Was nun, Maria?

Sollte sie davonlaufen, so schnell wie möglich nach Brasilien zurückkehren, Französischlehrerin werden und den Stoffhändler heiraten? Oder sollte sie eine einzige Nacht etwas weitergehen in einer Stadt, in der sie niemanden kannte und in der niemand sie kannte? Und würden die eine Nacht und das schnell verdiente Geld sie dazu verleiten weiterzumachen, so lange, bis es kein Zurück mehr gab? Stand sie vor einer einmaligen Gelegenheit, oder war dies eine Prüfung der Jungfrau Maria?

Der Blick des Arabers schweifte vom Bild Joan Miros zu dem Tisch, an dem Fellini immer gespeist hatte, und weiter zur jungen Garderobiere, zu den Gästen, die ein und aus gingen.

»War Ihnen das nicht klar?«

»Noch mehr Wein, bitte«, schluchzte Maria nur.

Sie betete, daß der Kellner nicht ausgerechnet jetzt an ihren Tisch treten und die Rechnung bringen würde. Und der Kellner, der alles von fern aus den Augenwinkeln beobachtete, betete, daß der Mann und das Mädchen endlich zahlten, weil das Restaurant voll war und Gäste darauf warteten, daß ein Tisch frei wurde.

Nach einer Weile, die ihr selbst wie eine Ewigkeit vorkam, sagte Maria: »Hatten Sie >ein Drink für tausend Franken< gesagt?«

Ihre Stimme kam ihr selbst fremd vor.

»Ja«, antwortete der Araber, dem es schon leid tat, den Vorschlag gemacht zu haben. »Aber ich möchte auf gar keinen Fall…«

»Bitte verlangen Sie die Rechnung! Wir werden den Drink in Ihrem Hotel nehmen.«

Wieder kam ihr die eigene Stimme fremd vor. Bis heute war sie ein freundliches, wohlerzogenes, fröhliches Mädchen gewesen und hätte nicht im Traum so mit einem Fremden zu reden gewagt. Aber es schien, als wäre jenes Mädchen für immer gestorben: Vor ihr lag ein anderes Leben, in dem Drinks tausend Franken kosteten.

Und alles verlief genau so, wie sie es erwartet hatte: Sie ging mit dem Araber ins Hotel, schlürfte Champagner, bis sie völlig betrunken war, machte die Beine breit, wartete, bis er einen Orgasmus hatte (sie kam nicht darauf, einen eigenen vorzutäuschen), wusch sich in der Marmorbadewanne, nahm das Geld und genehmigte sich den Luxus eines Taxis bis zu ihrer Wohnung.

Dort warf sie sich aufs Bett und schlief die ganze Nacht traumlos.

Aus Marias Tagebuch, am Tag danach.

Ich erinnere mich an alles, nur nicht an den Augenblick, in dem ich die Entscheidung getroffen habe. Merkwürdigerweise habe ich überhaupt keine Schuldgefühle. Früher hielt ich die Mädchen, die für Geld mit jemandem ins Bett gehen, für Frauen, denen das Leben keine andere Wahl gelassen hat – und jetzt sehe ich, daß das nicht stimmt.

Ich hätte nein sagen können, keiner hat mich gezwungen.

Ich gehe durch die Straßen, schaue die Leute an, um zu sehen, ob sie ein Leben führen, das sie selbst gewählt haben. Oder ob sie das Schicksal gewähren lassen. Eine Hausfrau, die davon träumt, Model zu werden, ein Bankangestellter, der eigentlich Musiker werden wollte, ein Zahnarzt, der heimlich ein Buch geschrieben hat und lieber Schriftsteller wäre, das Mädchen, das davon geträumt hatte, als Fernsehschauspielerin Karriere zu machen, aber nur einen Job als Kassiererin in einem Supermarkt gefunden hat.

Ich tue mir gar nicht leid. Ich bin kein Opfer, denn ich hätte das Restaurant hocherhobenen Hauptes mit unangetasteter Ehre und leerer Brieftasche verlassen können. Ich hätte dem Araber eine Moralpredigt halten oder versuchen können, ihn dazu zu bringen, in mir eine Prinzessin zu sehen, die lieber erobert als bezahlt werden wollte. Ich hatte viele Möglichkeiten, dennoch habe ich das Schicksal für mich entscheiden lassen, welchen Weg ich einschlug.

Ich stehe nicht allein da, obwohl es so aussieht, als sei es mein Schicksal, am Rand der Gesellschaft zu leben. Aber bei der Suche nach dem Glück ergeht es uns allen gleich – dem Angestellten/Musiker ebenso wie dem Zahnarzt/Schriftsteller, der Kassiererin/Schauspielerin, der Hausfrau/Model – keiner von uns ist glücklich.

War's das? War es so einfach?

Sie befand sich mutterseelenallein in einer fremden Stadt, in der sie niemanden kannte, doch was für sie gestern noch eine Qual gewesen war, gab ihr heute ein starkes Gefühl von Freiheit, und sie genoß es, niemandem Rechenschaft schuldig zu sein.

Sie beschloß, den Tag dafür zu nutzen, über sich selbst nachzudenken. Bislang hatte sie sich immer nur um alle anderen gekümmert: um ihre Mutter, die Schulkameraden, den Vater, die Angestellten der Modelagentur, den Französischlehrer, den Kellner, die Bibliothekarin. Sie hatte sogar versucht, die Gedanken der Passanten auf der Straße zu erraten. Aber niemand dachte über irgend etwas nach, noch viel weniger über sie, eine arme Ausländerin, die niemandem fehlen würde, wenn sie morgen verschwände.

Genug! Sie verließ früh das Haus, trank ihren Morgenkaffee im gewohnten Bistro, spazierte hinunter zum See, wo sie in eine Demonstration von Kurden hineinlief, die in der Schweiz im Exil lebten, wie eine Frau sagte, die ihren kleinen Hund ausführte. Maria, die es plötzlich satt hatte, weiter so zu tun, als wüßte sie alles, fragte nach: »Woher kommen die Kurden?«

Sie war überrascht, als die Frau ihr die Antwort schuldig blieb. So war es nun mal: Alle tun so, als wüßten sie alles, und wenn man genauer nachfragt, wissen sie gar nichts. Sie kam an einem Internetcafe vorbei. Vielleicht konnte sie sich hier erkundigen? Einer der Gäste, die sie ansprach, fand für sie heraus, daß die Kurden aus Kurdistan kamen, einer Region in der südlichen Türkei und dem nördlichen Irak. Mit dieser Information ging sie wieder zurück an den See, wo die Kurden immer noch demonstrierten. Sie versuchte, die Frau mit dem Hündchen in der Menschenmenge zu erspähen, um ihr zu sagen, was sie herausgefunden hatte – aber die war inzwischen gegangen, wahrscheinlich weil der Hund die laute Menschenmenge mit ihren Schärpen, Kopftüchern und der fremdartigen Musik nicht ertrage n konnte.

>Diese Frau, das bin ich. Oder besser gesagt, das war ich. Immer habe ich so getan, als wüßte ich alles, habe mich hinter meinem Schweigen versteckt, bis dieser Araber mich dermaßen ärgerte, daß ich den Mut aufbrachte, zu sagen, daß ich Miro nicht kenne und gerade mal eine Coca-Cola von einer Pepsi unterscheiden kann. Und – war er schockiert? Hat er seine Meinung über mich geändert? Keineswegs! Ihm hat meine Spontaneität gefallen. Immer wenn ich klüger erscheinen wollte, als ich war, habe ich verloren. Genug damit!<

Hatte die Modelagentur gewußt, was der Araber in Wirklichkeit wollte? War Maria nur ein naives Gänschen gewesen? Oder ging auch die Agentur davon aus, er würde ihr eine Arbeit in seiner Heimat besorgen?

Trotzdem fühlte sich Maria an die sem grauen Morgen in Genf weniger allein. Die Temperatur war auf null Grad gefallen, die Kurden demonstrierten weiter, die Straßenbahnen fuhren wie üblich pünktlich nach Fahrplan, die Juweliere legten ihre Schmuckkreationen in die Schaufenster, die Banken öffneten, die Clochards lagen auf den Parkbänken am See, und die Schweizer gingen zur Arbeit. Maria fühlte sich weniger allein, weil sie – für alle anderen unsichtbar – neben sich eine Frau spürte.

Sie glich der Jungfrau Maria, ihrer Namenspatronin. Maria lächelte, und die Frau lächelte zurück. Eine Stimme riet ihr aufzupassen, denn die Dinge seien komplizierter, als sie denke. Maria entgegnete, sie sei ein erwachsener Mensch und könne selbst beurteilen, wie einfach oder kompliziert die Dinge seien. Im übrigen könne sie nicht glauben, daß sich das Schicksal gegen sie verschworen habe und sie daran hindern wolle, ihren Traum zu verwirklichen. Im Gegenteil, denn ein Mann sei bereit gewesen, für einen Abend mit ihr tausend Schweizer Franken zu zahlen. Nur müßte sie in den nächsten Tagen entscheiden, ob sie mit den tausend Franken ein Flugticket kaufen und nach Hause zurückkehren wolle, oder lieber noch hierbleiben, um mehr Geld zu verdienen und sich schöne Kleider und Reisen leisten und ihren Eltern ein Haus kaufen zu können.

Die unsichtbare Frau neben ihr ließ Marias Einwände nicht gelten, doch Maria konterte, gerade weil das Leben so komplex sei, müsse sie jetzt in Ruhe darüber nachdenken – sosehr sie sich auch über die Begleitung freue.

Nüchtern überlegte sie, was sie bei ihrer Rückkehr erwartete. Ihre Schulfreundinnen, die den Ort nie verlassen hatten, würden meinen, daß ihr bei ihrer Arbeit gekündigt worden sei, weil sie nie das Zeug zum internationalen Star gehabt hatte. Ihre Mutter wäre enttäuscht, weil sie die versprochenen Monatszuwendungen nicht bekommen würde. Ihr Vater würde für den Rest seines Lebens mit einem »Ich hab's ja gleich gesagt«-Gesicht herumlaufen. Und sie selbst würde wieder im Stoffladen arbeiten, den Besitzer heiraten – und das alles, obwohl sie weit herumgekommen war, Französisch gelernt und sogar einmal Schnee erlebt hatte.

Andererseits gab es Drinks für tausend Schweizer Franken. Natürlich würde das nicht ewig so bleiben, denn auch sie würde nicht ewig schön bleiben, aber sie konnte hart arbeiten und in kürzester Zeit genug Geld verdienen, um alles aufzuholen und in die Welt zurückzukehren, diesmal aber, um selbst die Regeln festzusetzen. Ihr unmittelbares Problem war einzig, daß sie nicht wußte, wo und wie sie anfangen sollte.

Da fiel ihr die Rue de Berne ein, von der im >Gilbert Club< öfter die Rede gewesen war.

Sie ging zu einer der großen Tafeln, mit denen das touristenfreund liche Genf dafür sorgt, daß die Fremden sich auch ja nicht verlaufen können, und fragte einen Mann, der davor stand, nach dem Weg.

Dieser blickte sie erstaunt an und meinte dann, es sei wohl ein Mißverständnis und sie wolle nach Bern, in die Schweizer Hauptstadt. Als Maria verneinte, musterte er sie von Kopf bis Fuß und entfernte sich wortlos, wahrscheinlich weil er eine versteckte Kamera vermutete und sich nicht blamieren wollte. Doch Maria fand die Rue de Berne auch ohne seine Hilfe – so groß war die Stadt nun auch wieder nicht.