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Maria sagte, wenn sie imstande sei, genug Geld für ein Rückflugticket nach Brasilien zu verdienen, würde sie mit allem fertig werden. Im übrigen habe kein einziger Mensch, der ihr auf ihrem Spaziergang begegnet sei, das Leben, das er führe, frei gewählt. So sah die Wirklichkeit aus.
»Wir leben in einem Jammertal«, sagte sie zu ihrer unsichtbaren Begleiterin. »Wir können noch soviel träumen das wirkliche Leben ist hart, unerbittlich, traurig. Was wollen Sie mir denn sagen: daß die anderen mich deswegen verdammen werden? Niemand wird es erfahren – dies ist nur eine Phase in meinem Leben.«
Mit einem sanften, aber wehmütigen Lächeln entschwand die unsichtbare Freundin.
Maria ging wieder zum Vergnügungspark. Sie kaufte sich eine Karte für die Achterbahn, kreischte und schrie mit den anderen vor Vergnügen, denn sie wußte nun, daß es nicht gefährlich war, sondern nur ein Spiel. Sie aß in einem teuren japanischen Restaurant, einfach aus dem Bedürfnis heraus, sich etwas zu gönnen. Sie war fröhlich, brauchte nicht mehr auf einen Anruf zu warten oder jeden Rappen zweimal umzudrehen, bevor sie ihn ausgab.
Gegen Abend rief sie von unterwegs die Modelagentur an, meldete, daß das Treffen sehr angenehm verlaufen sei, und bedankte sich. Wenn die Agentur Models vermittelte, würde sie die Fotos des Shootings sehen wollen. Wenn sie dagegen Frauen vermittelte, würde sie ihr neue Dates antragen. Man würde ja sehen.
Sie überquerte die Brücke und kehrte in ihr kleines Zimmer zurück. Einen Fernseher würde sie sich nicht kaufen, obwohl sie sich ihn jetzt leisten konnte. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen, mußte nachdenken.
Aus Marias Tagebuch am selben Abend (mit der Randbemerkung >ganz überzeugt bin ich nicht<).
Ich habe herausgefunden, warum ein Mann für eine Frau bezahlt: Er will glücklich sein.
Er wird nicht tausend Franken zahlen, nur um einen Orgasmus zu haben. Er will glücklich sein. Ich will auch glücklich sein, alle wollen wir glücklich sein, aber keiner ist es. Was habe ich zu verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang… Es fällt schwer, es auch nur zu denken, geschweige denn zu schreiben… Also, noch mal: Was kann ich verlieren, wenn ich beschließe, eine Zeitlang zu einer Prostituierten zu werden?
Meine Ehre würde ich verlieren. Meine Würde. Meine Selbstachtung. Wenn ich es mir recht überlege, dann habe ich nie auch nur eines dieser drei Dinge besessen. Ich habe nicht darum gebeten, geboren zu werden, mir ist es nicht gelungen, den Richtigen in mich verliebt zu machen, immer habe ich die falschen Entscheidungen getroffen – jetzt lasse ich einmal das Leben für mich entscheiden.
Die Agentur rief am nächsten Tag an, erkundigte sich nach den Fotos und wann die Modenschau stattfinden würde, da sie für jedes Shooting eine Vermittlungsgebühr einbehalte. Maria, die sie an den Araber weiterverwies, schloß daraus, daß die Agentur so ahnungslos gewesen war wie sie selbst.
Sie ging in die Stadtbücherei und wollte sich mit Büchern über Sex eindecken. Es galt, sich in einem ihr völlig unbekannten Bereich zu bewähren – höchstens ein Jahr, hatte sie sich vorgenommen –, und dazu gehörte, daß sie lernte, wie sie sich verhalten mußte, wie sie Lust geben und als Gegenleistung Geld dafür bekommen konnte.
Zu ihrer Enttäuschung sagte die Bibliothekarin, sie habe keine Bücher über Sex, nur ein paar Aufklärungsbücher. Maria überflog das Inhaltsverzeichnis und gab die Bände gleich wieder zurück: da ging's nicht um Glücklichsein, sondern nur um Erektion, Penetration, Impotenz, Verhütungsmethoden, langweilige Dinge. Sie erwog kurz, einen Band über die >Hintergründe der Frigidität bei Frauen< mitzunehmen: sie selbst konnte nur durch Selbstbefriedigung zum Orgasmus kommen, obwohl sie es schön fand, von einem Mann genommen zu werden und zu spüren, wie er in sie eindrang.
Aber sie war ja nicht auf der Suche nach Lust, sondern nach Arbeit. Sie dankte der Bibliothekarin, ging in ein Dessousgeschäft und tätigte eine erste Investition in die Karriere, die sich möglicherweise am Horizont abzeichnete – Wäsche, die sie aufreizend fand. Anschließend begab sie sich in die Rue de Berne. Diese begann bei einer Kirche (und zufällig ganz in der Nähe des japanischen Restaurants, in dem sie am Tag zuvor zu Abend gegessen hatte), wurde dann zu einer Straße mit Schaufenstern, in denen billige Uhren zum Verkauf angeboten wurden, und an ihrem Ende lagen alle Nachtclubs, von denen sie gehört hatte. Zu dieser Tageszeit waren sie allerdings geschlossen. Sie ging wieder an den See und kaufte dort, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, fünf Pornozeitschriften, die sie dann eingehend im Hinblick auf mögliche Wünsche ihrer künftigen Kunden studierte. So brachte sie die Zeit herum, bis es Abend wurde, und ging dann wieder in die Rue de Berne. Dort suchte sie sich eine Bar mit dem suggestiven Namen >Copacabana< aus.
Noch hatte sie nichts entschieden, sagte sie zu sich selbst. Es war nur ein Versuch. Sie hatte sich in der ganzen Zeit, seit sie in der Schweiz war, nie besser und freier gefühlt.
»Suchen Sie Arbeit?« fragte der Besitzer, der hinter einem Tresen Gläser wusch. Das Lokal bestand aus ein paar Tischen, einer Ecke mit einer Art Tanzfläche und ein paar an die Wand gestellten Sofas. »Daraus wird nichts. Es sei denn, Sie haben eine Arbeitsbewilligung. Denn hier wird das Gesetz eingehalten.«
Maria zeigte ihren Ausweis, und der Mann schien gleich bessere Laune zu bekommen.
»Haben Sie Erfahrung?«
Sie wußte nicht, was sie antworten sollte: würde sie ja sagen, so würde er fragen, wo sie vorher gearbeitet hatte. Würde sie nein sagen, so würde er sie möglicherweise ablehnen.
»Ich schreibe an einem Buch.«
Der Gedanke war aus dem Nichts gekommen, wie von einer fremden Stimme eingeflüstert. Sie merkte, daß der Mann wußte, daß sie log, auch wenn er so tat, als glaube er ihr.
»Bevor Sie sich entscheiden, sollten Sie mit einem der Mädchen sprechen. Wir haben hier jede Nacht mindestens sechs Brasilianerinnen. Die können Ihnen sagen, was Sie hier erwartet.«
Maria wollte noch sagen, daß sie keine Ratschläge brauche, daß sie sich noch nicht entschieden habe, aber der Mann hatte sie stehenlassen und war zur anderen Seite der Bar gegangen, ohne ihr auch nur ein Glas Wasser anzubieten.
Die anderen Mädchen stellten sich ein, und der Besitzer machte Maria mit ein paar Brasilianerinnen bekannt. Keine von ihnen schien große Lust zu haben, mit der Neuen zu sprechen. Vielleicht haben sie Angst vor der Konkurrenz, dachte Maria. Dann erklang Musik, ein paar brasilianische Lieder (das Lokal hieß nicht umsonst >Copacabana<), und es kamen noch mehr Mädchen, einige mit asiatischen Gesichtszügen und andere, die aussahen, als seien sie direkt von den beschneiten, romantischen Bergen rund um Genf heruntergestiegen. Doch sie alle, wie auch der Besitzer, behandelten Maria wie Luft. Allmählich beschlich sie das Gefühl, daß selbst dieser Versuch schon eine falsche Entscheidung war. Endlich, nach zwei Stunden sie war inzwischen fast am Verdursten und hatte nur eine Zigarette nach der anderen geraucht –, kam eine der Brasilianerinnen zu ihr.
»Warum hast du dieses Lokal ausgesucht?«
Maria konnte wieder auf die Geschichte mit dem Buch zurückgreifen oder das tun, was sie getan hatte, als es um die Kurden und Joan Miro ging: die Wahrheit sagen.
»Wegen des Namens. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, und ich weiß auch nicht, ob ich anfangen will.«
Das Mädchen war von dieser ehrlichen, geraden Antwort sichtlich überrascht. Sie trank einen Schluck von einem Getränk, das wie Whisky aussah. Sie habe Heimweh nach Brasilien, sagte sie. Heute abend würde wenig los sein, weil gerade ein großer Kongreß, der in der Umgebung von Genf stattfinden sollte, abgesagt worden sei. Als sie merkte, daß Maria gehen wollte, hielt sie sie zurück:
»Es ist ganz einfach, du mußt nur drei Regeln einhalten. Die erste lautet: Verliebe dich in niemanden, mit dem du zusammenarbeitest oder mit dem du für Geld ins Bett gehst. Die zweite: Glaube nicht an Versprechen und bestehe auf.
Vorauszahlung. Die dritte: Keine Drogen.«
Und nachdem sie kurz innegehalten hatte:
»Und fang gleich an. Wenn du heute nach Hause gehst, ohne zuvor mit einem Freier weggegangen zu sein, wirst du es dir morgen zweimal überlegen und nicht den Mut aufbringen wiederzukommen.«
Maria war nur auf ein Informationsgespräch vorbereitet gewesen, fühlte sich in die Enge getrieben und entschied blitzschnell, wie in Panik, daß sie die Herausforderung annehmen wollte.
»In Ordnung. Ich fange heute an.« Daß sie erst gestern zum ersten Mal mit einem Freier zusammengewesen war, verschwieg sie. Die Frau ging zum Besitzer, den sie Milan nannte, und er kam, um sich mit Maria zu unterhalten.
»Tragen Sie hübsche Unterwäsche?« Das hatte sie noch keiner gefragt. Nicht einmal ihre Liebhaber, auch der Araber und ihre Freundinnen nicht, noch viel weniger ein Fremder. Aber hier kam man direkt zur Sache.
»Ich trage einen hellblauen Slip. – Und keinen Büstenhalter«, fügte sie provozierend hinzu.
Aber sie wurde nur getadelt: »Morgen tragen Sie bitte einen schwarzen Slip, einen passenden BH, Strumpfhalter und Strümpfe. Es gehört zum Ritual, soviel Wäsche wie möglich auszuziehen.«
Und da er sicher war, eine Anfängerin vor sich zu haben, brachte ihr Milan gleich noch den Rest des Rituals bei. Dazu gehörte, daß die Männer, die hierherkamen, im Glauben belassen wurden, das >Copacabana< sei ein gewöhnlicher Nachtclub, kein Bordell. Die Männer kamen in der Absicht, dort eine Frau anzutreffen, die zufällig ohne Begleitung war. Wenn jemand zu Maria an den Tisch trat und daran nicht gehindert wurde, weil er als »exklusiver Freier« eines bestimmten Mädchens galt, würde er sie als erstes zu einem Drink einladen.
Darauf könne Maria mit Ja oder Nein antworten. Es stand ihr frei, ihre Begleitung auszuwählen, obwohl es nicht ratsam war, pro Abend mehr als einmal Nein zu sagen. Wenn die Antwort Ja war, müsse sie einen Fruchtcocktail wählen, das rein zufällig teuerste Getränk auf der Karte. Kein Alkohol, und der Freier dürfe nie für sie aussuchen.
Als nächstes wollten die Männer normalerweise tanzen. Die meisten waren Stammkunden und harmlos. Auf die »exklusiven Freier« ging Milan nicht näher ein. Die Polizei und das Gesundheitsministerium würden monatliche Blutuntersuchungen verlangen, um sicherzustellen, daß sie keine ansteckenden Geschlechtskrankheiten hatte. Der Gebrauch eines Präservativs sei Pflicht, obwohl er, Milan, das natürlich nicht überprüfen könne. Sie dürften niemals einen Skandal heraufbeschwören – Milan war verheiratet, ein Familienvater, der um seinen guten Ruf und den guten Namen des Nachtclubs besorgt war.
Er fuhr mit der Beschreibung des Rituals fort: Nach dem Tanzen bringe der Freier sie an den Tisch zurück und tue dann so, als wäre ihm völlig überraschend die Idee gekommen, sie einzuladen, mit ihm in ein Hotel zu gehen. Der normale Tarif sei dreihundertfünfzig Franken, von denen Milan fünfzig als Tischmiete bekam (ein legaler Trick, mit dem er sich mögliche Klagen vom Hals hielt).
Maria versuchte zu verhandeln: »Aber ich habe doch eintausend Franken für…«
Doch Milan ignorierte ihren Einwand und wollte schon weggehen, da schaltete sich die Brasilianerin, die das Gespräch mitgehört hatte, ein.
»Sie macht nur Spaß«, sagte sie beschwichtigend. Und zu Maria sagte sie in schönem, wohlklingendem Portugiesisch: »Sag das nicht noch einmal. Dies ist das teuerste Lokal von Genf. Er kennt die Preise und weiß, daß keiner tausend Franken bezahlt, um mit jemandem ins Bett zu gehen, ausgenommen wenn du Glück hast und gut bist – >spezielle Freier<.«
Milan (Maria würde später feststellen, daß er Jugoslawe war und seit zwanzig Jahren in der Schweiz lebte) warf ihr einen Blick zu, der besagte: Dreihundertfünfzig Franken und keinen Rappen mehr.
»Richtig, das ist der Preis«, sagte Maria beschämt. Zuerst entschied er über die Farbe ihrer Unterwäsche, jetzt über den Preis ihres Körpers.
Aber er ließ ihr keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, und fuhr mit seinen Instruktionen fort: Keine Einladungen in Häuser oder Hotels, die nicht der Fünfsternekategorie angehörten. Im Zweifelsfall müsse sie ihren Freier in ein Hotel bringen, das ein paar Häuserblocks entfernt lag. Und immer im Taxi, angeblich um zu verhindern, daß die Frauen der anderen Clubs in der Rue de Berne sich das Gesicht des Freiers merkten. Maria dagegen glaubte, der wahre Grund sei vielmehr, daß dieser Freier es sich auf dem Weg sonst anders überlegen könnte. Aber diesmal behielt sie ihre Gedanken für sich – die Diskussion über den Preis hatte ihr gereicht.
»Und wie gesagt: Kein Alkohol im Dienst – wie die Polizisten im Film. Ich lasse Sie jetzt allein, bald geht der Betrieb los.«
»Sag danke«, sagte die Brasilianerin auf portugiesisch.