38087.fb2 Elf Minuten - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 7

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Maria bedankte sich. Milan lächelte, aber dann kam ihm noch eine letzte Verhaltensregel in den Sinn: »Ehe ich's vergesse: Die Zeit zwischen dem Bestellen eines Getränks und dem Verlassen des Lokals darf nicht mehr als fünfundvierzig Minuten betragen, maximal fünfundvierzig Minuten – in der Schweiz, wo überall Uhren hängen, lernen sogar Jugoslawen und Brasilianer, pünktlich zu sein. Vergessen Sie nicht, daß ich mit den Kommissionen meine Kinder ernähre.«

Das würde sie bestimmt nicht vergessen.

Damit drückte er ihr ein Glas Mineralwasser mit Kohlensäure und Zitrone in die Hand, das man leicht für einen Gin Tonic halten konnte, und bat sie zu warten. Der Nachtclub belebte sich allmählich; Männer kamen herein, schauten sich um. Kaum hatten sie sich gesetzt, gesellte sich ein Mädchen wie selbstverständlich zu ihnen, als wären sie alte Bekannte und wollten sich jetzt nach einem langen Arbeitstag gemeinsam etwas amüsieren. Bei jedem Mann, der eine Begleiterin fand, atmete Maria erleichtert auf. Sie fühlte sich allerdings schon sehr viel besser. Vielleicht, weil sie in der Schweiz und nicht zu Hause war, vielleicht, weil sie früher oder später das Abenteuer, Geld oder einen Mann finden würde, wie sie es sich immer erträumt hatte. Vielleicht auch, weil sie seit Wochen zum ersten Mal abends ausging und in einem Lokal gelandet war, wo brasilianische Musik spielte und wo jemand sie auf portugiesisch angesprochen hatte. Sie scherzte und lachte mit den anderen Mädchen, die um sie herum saßen, trank Fruchtcocktails, unterhielt sich fröhlich.

Keine von ihnen hatte sie begrüßt oder in ihrem neuen Beruf willkommen geheißen, aber sie hatte nichts anderes erwartet, schließlich war sie eine Konkurrentin, die um dieselben Trophäen stritt. Sie fühlte sich nicht deprimiert, sondern stolz denn sie kämpfte und war nicht hilflos. Sie konnte jederzeit durch die Tür hinaustreten und gehen, aber sie würde sich immer daran erinnern, daß sie den Mut gehabt hatte, bis hierher zu kommen, Dinge auszuhandeln und zu besprechen, an die sie bisher nie auch nur zu denken gewagt hatte. Sie war kein Opfer des Schicksals, sagte sie sich immer wieder: Sie riskierte etwas, übertrat Grenzen, erlebte Dinge, auf die sie später in der Stille ihres Herzens, im Alter, sehnsüchtig zurückblicken würde.

Niemand würde kommen und sie ansprechen, ganz bestimmt nicht. Keiner würde morgen behaupten, daß alles nur ein verrückter Traum gewesen sei, den sie nie mehr zu träumen wagen würde. Denn sie hatte begriffen, daß tausend Franken für eine Nacht ihr wahrscheinlich nicht noch einmal angeboten werden würden und daß es sicherer war, einen Rückflug nach Brasilien zu buchen. Zum Zeitvertreib rechnete sie nach, wieviel jedes dieser Mädchen verdiente: Wenn sie dreimal pro Abend mit einem Freier weggingen, verdienten sie in fünf Arbeitsstunden soviel wie Maria vorher in zwei Monaten im Stoffladen.

So viel? Nun ja, sie selbst hatte in einer Nacht tausend Franken verdient, aber vielleicht war das nur Anfängerglück. Auf jeden Fall aber war ihr Verdienst als normale Prostituierte sehr viel höher als das Gehalt einer Französischlehrerin in ihrem Heimatstädtchen. Dabei mußte sie dafür nur eine Zeitlang in einer Bar sitzen, tanzen, die Beine breitmachen – Schluß, aus. Sie brauchte nicht einmal zu reden.

Geld konnte ein Grund sein, dachte sie weiter. Aber war das alles? Hatten die Beteiligten – Freier und Frauen – dabei ihren Spaß? Würde es sehr viel anders sein, als in der Schule getuschelt worden war? Mit Präservativ war es ungefährlich. Und sie riskierte auch nicht, daß jemand aus ihrem Ort sie wiedererkannte; denn nach Genf kamen laut den Mitstudenten in ihrem Französischkurs nur Leute, die irgendwelche Bankgeschäfte tätigen wollten. Die meisten Brasilianer, die es sich leisten konnten, gingen am liebsten shoppen, vorzugsweise in Miami oder Paris.

Neunhundert Schweizerfranken pro Nacht, fünf Tage pro Woche. Ein Vermögen! Was machten diese Mädchen noch hier, wenn sie in einem Monat genügend verdienten, um heimzufliegen und ihren Eltern ein Haus zu kaufen? Arbeiteten sie erst seit kurzem hier?

Oder – und Maria hatte Angst, sich diese Frage zu stellen war es womöglich sogar schön?

Wieder hätte sie gern etwas getrunken – der Champagner hatte vergangene Nacht sehr geholfen. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?« Vor ihr stand ein etwa dreißigjähriger Mann in der Uniform einer Luftfahrtgesellschaft.

Plötzlich stand die Zeit still, und Maria hatte das Gefühl, aus ihrem Körper herauszutreten, neben sich zu stehen, vor Scham zu vergehen. Sie merkte, wie sie rot wurde, nickte lächelnd und spürte, daß sich in dieser Minute ihr Leben für immer veränderte.

Fruchtcocktail, Unterhaltung, was machen Sie hier, es ist kalt, nicht wahr? Mögen Sie diese Musik, also ich mag Abba lieber, die Schweizer sind kalt, sind Sie aus Brasilien? Erzählen Sie mir etwas von Ihrem Land. Vom Karneval. Wie hübsch ihr Brasilianerinnen doch seid!

Lächeln, sich schüchtern für die Komplimente bedanken. Tanzen, aber auf den Blick Milans achten, der sich manchmal am Kopf kratzt und auf seine Armbanduhr zeigt. Rasierwasserduft des Mannes. Sie begreift schnell, daß sie sich an Gerüche gewöhnen muß. Dieser Mann zumindest benutzt ein blumiges Aftershave. Sie tanzen eng. Noch ein Fruchtcocktail, die Zeit vergeht, hatte Milan nicht gesagt, maximal fünfundvierzig Minuten? Sie schaut auf die Uhr, der Freier fragt, ob sie jemanden erwarte, sie sagt, in einer Stunde kämen ein paar Freunde, er lädt sie ein, mit ihm ins Hotel zu kommen. Dreihundertfünfzig Franken, Dusche nach dem Sex (der Mann meinte verwundert, das habe er noch nie erlebt). Sie ist nicht Maria, jemand anderes ist in ihrem Körper, der nichts fühlt, nur mechanisch eine Art Ritual durchführt. Milan hatte ihr alles beigebracht, nur nicht, wie man sich von einem Freier verabschiedet, sie dankt, er weiß auch nicht recht, was er tun soll, ist müde.

Sie kämpft mit sich, möchte nach Hause, aber sie muß in den Nachtclub zurück und die fünfzig Franken abgeben. Noch ein Mann, noch ein Cocktail, noch mehr Fragen zu Brasilien, noch eine Dusche (diesmal ohne Kommentare dazu). Wieder kehrt sie in die Bar zurück, Milan nimmt seine Kommission in Empfang, sagt, daß sie gehen kann, heute sei wenig los. Sie nimmt kein Taxi, geht die Rue de Berne entlang, an den anderen Nachtclubs vorbei, blickt in die Schaufenster mit den Uhren, geht bis zur Kirche an der Ecke vor (die auch heute wieder geschlossen ist, immer geschlossen…). Niemand erwidert ihren Blick wie immer.

Sie geht wie in einer Art Trance durch die Kälte. Fühlt die Temperatur nicht, weint nicht, denkt nicht an das Geld, das sie verdient hat. Gewisse Menschen sind dazu geboren, das Leben allein zu bewältigen, das ist weder gut noch schlecht, c'est la vie. Maria ist einer dieser Menschen.

Sie zwingt sich, über diese erste Nacht nachzudenken. Heute hat sie angefangen, fühlt sich aber bereits als Professionelle, die das ihr Leben lang gemacht hat. Sie empfindet eine gewisse Zärtlichkeit sich selbst gegenüber, ist zufrieden, weil sie nicht weggelaufen ist. Jetzt muß sie entscheiden, ob sie weitermachen will. Wenn sie weitermacht, wird sie die Beste sein – bisher war sie nirgendwo die Beste.

Sie lernt sehr schnell: Nur die Stärksten überleben. Um stark zu sein, muß man die Beste sein, daran gibt es nichts zu deuteln.

Aus Marias Tagebuch eine Woche später:

Ich bin kein Körper mit einer Seele, ich bin eine Seele, die einen sichtbaren Teil besitzt, der Körper heißt. In all diesen Tagen war die Seele, anders als ich es mir vorgestellt hatte, immer ganz da. Sie sprach nicht mit mir, kritisierte mich nicht, hatte kein Mitleid mit mir: sie hat mich nur beobachtet.

Inzwischen weiß ich auch, warum: Es liegt daran, daß ich schon so lange die Liebe aus meinen Gedanken verbannt hatte. Nun entzieht sie sich mir, beleidigt, als würde sie von mir nicht genügend gewürdigt, als fühle sie sich nicht willkommen. Aber wenn ich nicht an die Liebe denke, bin ich nichts.

Als ich nach dieser ersten Nacht ins >Copacabana< zurückkam, wurde ich schon viel respektvoller behandelt offenbar probieren es viele Mädchen einmal und bringen es dann nicht fertig, weiterzumachen. Wer weitermacht, wird zu einer Art Verbündeten, Mitstreiterin, weil sie versteht, welche Gründe – oder vielmehr, welche nicht vorhandenen Gründe einen dazu bewogen haben, diese Art Leben zu wählen.

Alle träumen davon, daß jemand kommt und sie als die wahre Frau entdeckt, als sinnliche Gefährtin und Freundin. Und alle gehen bei jeder neuen Begegnung von vornherein davon aus, daß der Traum nicht in Erfüllung gehen wird.

Ich muß über die Liebe schreiben. Ich muß nachdenken und noch mal nachdenken, schreiben, über die Liebe schreiben sonst erträgt meine Seele das nicht.

Obwohl die Liebe für sie so wichtig war, vergaß Maria den Rat nie, den man ihr in der ersten Nacht gegeben hatte, und lebte die Liebe nur auf den Seiten ihres Tagebuches aus. Ansonsten setzte sie alles daran, die Beste zu sein, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen, nicht allzuviel nachzudenken und einen guten Grund für das zu finden, was sie tat.

Das war am schwierigsten: Was war der wahre Grund?

Sie tat es, weil sie mußte. Aber das stimmte nicht ganz schließlich mußten alle Geld verdienen, und nicht alle entschieden sich dafür, am Rand der Gesellschaft zu leben. Sie tat es, weil sie eine neue Erfahrung machen wollte. Auch das stimmte nicht ganz; die Welt war voller neuer Erfahrungen – wie beispielsweise Skilaufen oder mit einem Schiff auf dem Genfer See spazierenfahren; diese Erfahrungen hatten sie bislang nur nicht interessiert. Sie tat es, weil sie nichts zu verlieren hatte, weil ihr Leben eine tägliche, ständige Frustration war.

Nein, keine dieser Antworten stimmte, besser nicht weiter darüber nachdenken und im Leben das mitnehmen, was kommt. Sie hatte viel mit den anderen Prostituierten gemein und auch mit allen anderen Frauen, die sie in ihrem Leben bisher kennengelernt hatte: Heiraten, ein sicheres Leben haben – das war der größte Traum. Diejenigen, die nicht davon träumten, hatten entweder einen Mann (fast ein Drittel ihrer Kolleginnen war verheiratet) oder gerade eine Scheidung hinter sich. Um sich selbst zu verstehen, versuchte Maria vorsichtig zu ergründen, warum die anderen diesen Beruf ergriffen hatten.

Sie erfuhr nichts Neues. Maria listete die Antworten auf. Die Kolleginnen erzählten, daß sie a) ihren Mann finanziell unterstützen mußten. Und was, wenn der Mann eifersüchtig wurde? Wenn einer seiner Freunde im >Copacabana< auftauchte? wollte Maria weiterfragen, traute sich aber nicht. b) der Mutter ein Haus kaufen wollten, ein Grund, der sich edel anhö rte, aber eher eine Ausrede war; c) Geld zusammensparen mußten, um das Rückflugticket zu kaufen (eine unter den Kolumbianerinnen, Thailänderinnen, Peruanerinnen, Philippininnen und Brasilianerinnen weitverbreitete Begründung, wenngleich sie meist ein Vielfaches des nötigen Betrages verdient und wieder ausgegeben hatten, aus Angst, sich ihren Traum zu erfüllen); d) es zu ihrem eigenen Vergnügen taten (das paßte nicht gut ins Bild); e) sonst nichts geschafft hatten (eine äußerst fadenscheinige Begründung, denn in der Schweiz gab es viele andere Jobs, wie Putzfrau, Köchin, Aupair).

Am Ende fand sie keinen guten Grund und ließ davon ab, die Welt um sich herum erklären zu wollen.

Milan hatte recht gehabt: Kein Freier zahlte eintausend Schweizer Franken für ein paar Stunden mit ihr.

Andererseits zahlten alle anstandslos die dreihundertfünfzig Franken, die sie verlangte, als kennten sie den Tarif im voraus und fragten nur nach, um sie zu erniedrigen oder um unangenehme Überraschungen zu vermeiden.

Eines der Mädchen meinte: »Die Prostitution ist ein Gewerbe, bei dem es genau umgekehrt zugeht wie bei allen anderen Gewerben: Wer anfängt, verdient mehr, wer Erfahrung hat, verdient weniger. Tu immer so, als wärst du noch Anfängerin.«

Sie wußte immer noch nicht, was es mit den >speziellen Freiern< auf sich hatte. Nur in der ersten Nacht war kurz davon die Rede gewesen, und weder Milan noch die Frauen kamen je darauf zurück. Nach und nach lernte sie die wichtigsten Tricks ihres Gewerbes, wie zum Beispiel daß man nie nach dem Privatleben des Freiers fragen, immer lächeln und überhaupt möglichst wenig reden sollte und keinerlei Treffen außerhalb des Nachtclubs vereinbaren. Der wichtigste Ratschlag kam von einer Philippinin namens Nyah: »Du mußt auch stöhnen, wenn er einen Orgasmus hat. Dann wird dir der Freier treu bleiben.«

»Aber wozu? Sie bezahlen doch dafür, daß sie befriedigt werden.«

»Da irrst du dich. Ein Mann beweist nicht durch eine Erektion, daß er ein Mann ist. Er ist ein Mann, wenn er einer Frau Lust verschaffen kann. Wenn er einer Prostituierten Lust verschaffen kann, dann wird er sich für den Besten von allen halten.«

So vergingen sechs Monate: Maria lernte, wie das >Copacabana< funktionierte. Da es der teuerste Nachtclub der Rue de Berne war, bestand die Kundschaft zum größten Teil aus Managern, die spät nach Hause kommen konnten, da sie »mit Klienten essen gingen«. Doch die zeitliche Grenze für diese »Abendessen«, die nicht überschritten werden durfte, war dreiundzwanzig Uhr.

Die meisten der Prostituierten, die dort arbeiteten, waren zwischen achtzehn und zweiundzwanzig Jahre alt, blieben im Durchschnitt zwei Jahre im Haus und wurden dann von Neuankömmlingen abgelöst. Sie gingen danach zuerst ins >Neon<, später ins >Xenium<, und mit zunehmendem Alter nahm der Preis ab, und es gab keine festen Arbeitsstunden mehr. Fast alle endeten im >Tropical Ecstacy<, das auch Frauen über dreißig akzeptierte. Aber waren sie erst einmal dort angekommen, konnten sie gerade noch Kost und Logis bezahlen, indem sie ein oder zwei Studenten pro Tag bedienten.

Maria ging mit vielen Männern ins Bett. Alter und Kleidung spielten für sie keine Rolle. Entscheidend für ihr >Ja< oder >Nein< war, wie sie rochen. Sie hatte nichts gegen Zigaretten einzuwenden, aber sie haßte billiges Rasierwasser oder Freier, die nicht regelmäßig duschten oder deren Kleidung nach Alkohol stank. Das >Copacabana< war ein ruhiges Lokal und die Schweiz womöglich das beste Land, um dort als Prostituierte zu arbeiten – vorausgesetzt, man hatte Arbeit und eine Aufenthaltsbewilligung und die Papiere waren in Ordnung und man bezahlte regelmäßig die Sozialversicherung. Milan wiederholte ständig, er wolle nicht, daß seine Kinder seinen Namen in der Sensationspresse sahen. Er konnte strenger sein als die Polizei, wenn es darum ging, die rechtliche Situation der Frauen, die er unter Vertrag hatte, zu prüfen.

Wenn man erst einmal das Hindernis der ersten oder der zweiten Nacht überwunden hatte, war es ein Beruf wie jeder andere auch. Ein Beruf, in dem man hart arbeitete, gegen die Konkurrenz ankämpfte, sich bemühte, einen Qualitätsstandard zu halten. Man »riß seine Stunden ab«, war etwas gestreßt, beklagte sich über den Arbeitsanfall und ruhte sich am Sonntag aus. Die meisten Prostituierten waren sehr gläubig, sie gingen zur Messe oder zu ihren Gebeten, ihren Treffen mit Gott.

Maria hingegen kämpfte auf den Seiten ihres Tagebuches, um ihre Seele nicht zu verlieren. Sie machte die überraschende Entdeckung, daß es jedem fünften Freier nicht darum ging, Liebe zu machen, sondern darum, zu reden. Sie zahlten anstandslos den Tabellenpreis, das Hotel, und wenn es an der Zeit war, sich auszuziehen, meinten sie, es sei nicht notwendig. Diese Freier wollten lieber über den Arbeitsstreß reden, die untreue Ehefrau, die Einsamkeit, weil sie niemanden hatten, mit dem sie reden konnten (und was einsam sein hieß, wußte Maria nur zu gut).

Anfangs fand sie das sehr merkwürdig. Bis sie eines Tages einen französischen Headhunter ins Hotel begleitete. Er schilderte seine Tätigkeit (die darin bestand, Kandidaten für hohe Managerposten zu finden), als sei es die allerinteressanteste Sache der Welt. Und doch sprach er voller Mitleid von den Menschen, die er vermittelte:

»Wissen Sie, wer der einsamste Mensch der Welt ist?« fragte er Maria. »Es ist der Manager mit einer erfolgreichen Karriere, der ein Riesengehalt verdient, das Vertrauen seiner Vorgesetzten und seiner Untergebenen genießt, eine Familie, Kinder hat, denen er bei den Schularbeiten hilft, und dem eines Tages jemand wie ich mit folgendem Vorschlag kommt: >Wollen Sie den Job wechseln und das Doppelte verdienen?<

Dieser Mann, der alles hat, um sich begehrt und glücklich zu fühlen, wird zum armseligsten Menschen der Welt. Warum? Weil er niemanden hat, mit dem er reden kann. Er überlegt, ob er meinen Vorschlag annehmen soll, kann aber weder mit seinen Arbeitskollegen darüber reden, denn die würden alles tun, um ihn zum Bleiben zu bewegen, noch mit seiner Frau, weil sie nur jahrelang seine erfolgreiche Karriere begleitet hat und viel von Sicherheit, aber nichts von Risiken versteht. Er kann mit niemandem reden und steht vor der großen Entscheidung seines Lebens. Können Sie sich vorstellen, was dieser Mann fühlt?«

Nein, nicht er war der einsamste Mensch auf der Welt, denn den einsamsten Menschen der Welt kannte Maria bestens: Das war sie selbst. Dennoch stimmte sie ihrem Freier in der Hoffnung auf ein gutes Trinkgeld zu – das dann auch kam. Und von da an merkte sie, daß sie herausfinden mußte, wie sie ihren Freiern etwas von dem enormen Druck abnehmen konnte, der auf ihnen zu lasten schien; und wie sie ihre Dienstleistungen und gleichzeitig ihre Verdienstmöglichkeiten verbessern konnte.

Als Maria begriffen hatte, daß es ebenso lukrativ, wenn nicht noch lukrativer sein konnte, seelische Bedürfnisse zu befriedigen, als körperliche, ging sie wieder in die Bibliothek, wälzte Bücher über Eheprobleme, Psychologie, Politik. Die Bibliothekarin war begeistert – weil das Mädchen, für das sie so große Sympathie hegte, es aufgegeben hatte, an Sex zu denken, und sich jetzt ernsthafteren Themen widmete. Sie las regelmäßig die Zeitung, besonders den Wirtschaftsteil – da der größte Teil ihrer Freier Manager war. Sie lieh Ratgeber aus – denn fast alle baten sie um Rat. Sie studierte Abhandlungen über den Menschen und seine Gefühle – denn alle litten aus irgendwelchen Gründen. Maria war eine respektable Hure, sie war anders als ihre Kolleginnen, und nach sechs Monaten in ihrem Beruf hatte sie eine hochkarätige, große und treue Kundschaft, was den Neid, die Eifersucht, aber auch die Bewunderung ihrer Kolleginnen weckte.

Was den Sex betraf, hatte er ihr selbst bisher keine Befriedigung verschafft. Für sie bedeutete Sex nur, die Beine breitzumachen, zu verlangen, daß der Freier ein Präservativ benutzte, etwas zu stöhnen, um das Trinkgeld zu erhöhen (bis zu fünfzig Franken, wie sie dank der Philippinin Nyah herausgefunden hatte), und nach dem Verkehr zu duschen, um mit dem Wasser ein wenig ihre Seele zu reinigen. Keine Varianten. Keine Küsse – der Kuß war für eine Prostituierte heiliger als alles andere. Nyah hatte ihr beigebracht, daß sie den Kuß für die Liebe ihres Lebens aufbewahren sollte, so wie im Märchen vom Dornröschen; den Kuß, der sie aus dem Schlaf wecken und in die Welt der Märchen zurückbringen würde, in eine Schweiz, die nur noch das Land der Schokolade, der Kühe und der Uhren war.

Auch kein Orgasmus, keine Lust, keine Erregung. In ihrem Bemühen, die Beste von allen zu werden, hatte sich Maria einige pornographische Filme angesehen in der Hoffnung, etwas davon für ihre Arbeit verwenden zu können. Sie hatte viele interessante Dinge gesehen, aber sie konnte sich nicht dazu durchringen, sie bei ihren Freiern anzuwenden – sie dauerten zu lange, und Milan hatte es gern, wenn die Frauen mindestens drei Freier pro Nacht bedienten.

Am Ende dieses ersten halben Jahres hatte Maria sechzigtausend Schweizer Franken auf ihr Bankkonto einbezahlt, konnte sich teurere Restaurants und auch einen Farbfernseher leisten (den sie allerdings nie benutzte), und sie überlegte sogar, in eine bessere Wohnung umzuziehen. Sie hätte jetzt Bücher kaufen können, ging aber weiter in die Bibliothek, die ihre Brücke zu einer realen, solideren und dauerhafteren Welt war. Sie unterhielt sich gern mit der Bibliothekarin, die sich freute, weil Maria offenbar eine Arbeit gefunden hatte und vielleicht auch eine Liebe, obwohl sie nie nachfragte, weil sie schüchtern und diskret war, wie es sich für eine Schweizerin gehörte (auch wenn ihre Landsleute im >Copacabana< und im Bett genauso unverkrampft, fröhlich oder voller Komplexe waren wie jedes andere Volk der Welt).

Aus Marias Tagebuch, an einem lauen Sonntagnachmittag:

Alle Männer, die kleinen wie die großen, die arroganten oder schüchternen, die sympathischen oder abweisenden, haben eins gemeinsam: Sie haben Angst, wenn sie in den Nachtclub kommen. Die Erfahrenen verbergen ihre Angst, indem sie laut reden, während die Schüchternen sie nicht überspielen können und sich zuerst Mut antrinken müssen. Was aber nichts daran ändert, daß sie alle Angst haben vielleicht mit Ausnahme der >speziellen Freier<, die mir Milan noch immer nicht vorgestellt hat.