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Nun konnte Julia auch nicht mehr schlafen.

Das Bild von Manuel, der mit ihren Briefen an seinem Schreibtisch saß, hatte sie überrascht. War das möglich, dass ihn die neue Liebe seines Sohnes nicht schlafen ließ? Dass sie ihn an seine eigene Liebe erinnerte? So sehr, dass er ihre Spuren suchte? Oder hatte ihn einfach die Vergänglichkeit eingeholt? Die plötzliche Erkenntnis, dass er alt wurde? Was immer es genau war, es waren Gefühle, die ihn Umtrieben. Gefühle. Wann hatten sie zum letztenmal über Gefühle gesprochen?

Die Literatur war voll davon, die Gedichte, die Erzählungen, die sie mit ihren Schulklassen las, handelten von nichts anderem als von Gefühlen, von Liebe, von Schmerz, von Trauer, von Verzweiflung, von Eifersucht, von Leidenschaft, von Sehnsucht, von der Einsamkeit des Menschen, von der Frage nach dem Sinn von Leben und Tod.

Qué es la vida? Una ilusión,

Una sombra, una ficción.

Diesen Vers von Calderón hatte sie in der letzten Spanischstunde gebracht, und ihren Schülern hatte er eingeleuchtet wie eine Zeile aus einem Rocksong. Ein Schatten ist das Leben, eine Illusion, eine Täuschung.

Und wie berührend hatten sie nachher über ihre Gefühle gesprochen, ganz unvermutet. Eine Schülerin, die ihren Bruder durch einen Unfall verloren hatte, sagte sogar, sie hoffe immer noch darauf, dass das Leben nur eine Illusion sei, ein böser Traum, aus dem sie irgendeinmal wieder erwache, und dann wäre alles gut.

Y el mayor bién es pequeño,

qué toda la vida es sueño,

y los sueños, sueños son.

Ein Traum sei das ganze Leben, und Träume seien eben Träume, so endet das Gedicht.

Und Manuel und sie? Sie hatten es schön zusammen, zweifellos. Aber solche Gespräche führten sie nie. Warum eigentlich nicht? Vielleicht sollte sie Manuel mehr Gedichte vorlesen. Das von Calderón, und ihn dann fragen, ob er auch manchmal das Gefühl habe, das Leben sei nur ein Traum. Sie war 55, er 59 – wieviel Vorräte an Zukunft hatten sie überhaupt noch?

Sie dachte an die Zeit, als sie ihm die Briefe geschrieben hatte, die er vorhin in der Hand hielt. Sie hatte ein Semester in Salamanca verbracht, etwa ein Jahr, nachdem sie sich kennen gelernt hatten, und Manuel hatte sich vor dieser Trennung gefürchtet. Als er ihr beim Abschied sagte, er hoffe nicht, dass sie einen spanischen Linguisten heirate, war das mehr als ein Scherz, denn sie kannte die Geschichte von Maja.

Tatsächlich machte ihr dort ein Privatdozent den Hof, mit dem sie sogar ein bißchen flirtete, aber es war ihr auch klar geworden, wie sehr sie an Manuel hing, und das musste in ihren Briefen gestanden haben, an die sie sich nicht mehr genau erinnerte. War das schon so lange her? Oder sollte sie ihn bitten, ihr einmal einen dieser Briefe vorzulesen? Hatte sie dort nicht auch Gedichte zitiert? Oder Lieder? Ay, vida mía, ay, mi amor?

Plötzlich hatte sie große Hoffnungen auf einen Gefühlsausbruch Manuels. Sie waren immer noch ein Ehepaar, das war nicht selbstverständlich, wenn sie ihren Bekanntenkreis und den Manuels durchging. Wie viele wollten es ein zweites Mal versuchen, waren hinter einem größeren Glück her, einem Glück, das sich nach der Trennung oft als Fiktion erwies. Und irgendeinmal waren sie wieder allein und fanden niemanden mehr und riefen dort an, wo sie früher zu Hause waren, und verstanden nicht, weshalb da kein Trost kam.

Manchmal, wenn sie an einem Anlass mit vielen Menschen war, etwa an einem ärztebankett mit Manuel, und sie alle sitzen sah, gepflegt, respektabel, vernünftig und angegraut, nur funktionstüchtig dank streng geordneten Tagesabläufen in Praxis, Spital und Operationssaal, dachte sie, wie viele klandestine Glücksritter und Abenteurer wohl dabei sein mochten, und versuchte sie an ihren Gesten zu erkennen, an der Art, wie sie ein Lachsbrötchen in ihren Mund schoben und dabei einen zufälligen Blick auf die junge Frau eines Kollegen warfen, und sie stellte sie sich so lange mit zerzausten Haaren, hinuntergezerrten Krawattenknöpfen und Lippenstiftspuren im Gesicht vor, bis sie lachen musste. Eigentlich traute sie keinem, und eigentlich hielt sie alles für möglich.

Ob ihr Manuel treu gewesen war all die Jahre? Sie war nicht sicher, und es war heute auch nicht mehr entscheidend. Eine längere Beziehung allerdings wäre ihr nicht entgangen, dessen war sie gewiss, aber einen Ausrutscher traute sie auch ihm zu. Eine Zeit lang hatte sie mit Bestürzung gesehen, wie viele schöne Frauen ihn grüßten, wenn sie zusammen im Theater oder in der Oper waren. Seit er seine Praxis an die Gladbachstraße am Zürichberg verlegt hatte, waren unter seinen Patienten auch bekannte Bühnenleute; Schauspielerinnen, Schauspieler, Sänger und Sängerinnen kamen mit ihren Heiserkeiten und Indispositionen zu ihm, und mehr als einmal war er in der Pause in eine Garderobe gerufen worden, um versagende Stimmbänder zu retten. Da gab es Dankbarkeit und Vertrautheit in Frauenblicken, welche Julia an seiner Seite nur wie eine Statistin streiften.

Als sie einmal von der Premièrenfeier einer Oper nach Hause fuhren, sagte sie ihm halb seufzend, halb schnippisch, sie habe gar nicht gewusst, mit wie vielen Stars er bekannt sei.

»Mein größter Star bist du«, gab er sofort zur Antwort, und es klang, wie manches, was er sagte, sehr leicht, aber auch sehr wahr.

»Oh«, sagte sie nur und legte ihre Hand auf sein Knie, und von dem Moment an beschloss sie, sich über sie beide keine Sorgen zu machen.

Er war, das glaubte sie immer wieder zu spüren, loyal. Er war ein Ritter, kein Glücksritter, und so nannte sie ihn auch, wenn sie etwas von ihm wollte. »Mein Ritter«, sagte sie dann, »ich brauche Ihre Hilfe.«

»Gleich hole ich mein Pferd«, pflegte er zu entgegnen.

Und sie? War sie ihm treu geblieben?

Sie war kein Star, aber sie war eine anziehende Frau. Damals, im Winterklassenlager, in dem sie für eine erkrankte Kollegin eingesprungen war, hatten sie am letzten Abend alle getanzt, auch Lehrer und Lehrerinnen, und auf einmal hatte sie sich so schwerelos und unternehmungslustig gefühlt wie ein junges Mädchen und hatte sich von Guido, dem Mathematiker, derart elektrisieren lassen, dass nachher alles wie von selbst gegangen war auf ihrem Zimmer. Sie hatten sich bloß versichert, dass sie beide verheiratet waren und sich nur diese eine Nacht herausnehmen wollten, und waren dann mit einer Neugier und Ausgelassenheit übereinander hergefallen, die Julia in größtes Erstaunen versetzt hatte.

Es war bei dieser einen Nacht geblieben, weder sie noch Guido machten später einen Wiederaufnahmeversuch, und – sie hatte Manuel nie davon erzählt. Diese Nacht, hatte sie sich gesagt, diese Nacht gehört nur mir, mir allein.

Im übrigen war Manuel ein guter und phantasievoller Liebhaber, und sie hatten den Spaß an den Begegnungen ihrer Körper bis heute nicht verloren. Oder sollte sie sich etwas Hauchdünnes anziehen und nochmals zu ihm hochgehen? Sie verwarf die Idee gleich wieder. Es war schön, wenn er ihre Briefe las, wieso sollte sie dieses Rendez-Vous mit seiner jungen Geliebten stören.

Dass ihn die Liebe seines Sohnes so beschäftigte …

Thomas war glücklich, ohne Zweifel, und, so Julias Eindruck, er hatte Grund dazu. Anna war jünger als Thomas, sie sprach baseldeutsch und war eine Frau von großer Anmut, eine Frau mit Witz und Charme und einer Leichtigkeit, die ihm, der oft zum Grübeln neigte, nur gut tun konnte. Ihm war vor einem Jahr seine erste langjährige Liebe abhanden gekommen, und eigendich war sie auch Manuel und ihr abhanden gekommen, denn sie hatte bei ihnen verkehrt, und sie beide hatten Selma ins Herz geschlossen. Als diese dann Thomas bekannt gab, sie habe einen andern Mann kennen gelernt, mit dem sie Neues und Unbekanntes erlebe, und möchte sich probeweise von ihm trennen, wirkte er jedesmal energielos, ja apathisch, wenn er nach Hause kam. Ihnen schrieb Selma nach einer Weile einen Abschiedsbrief, in dem sie sich kurz dafür bedankte, dass sie so gut aufgenommen worden sei, aber sie habe gemerkt, dass es für sie noch zu früh sei, um sich fest zu binden. Ein halbes Jahr später heiratete sie ihren Neuen und Unbekannten.

Deshalb beschloss Julia, mit der Sympathie, die sie sofort für Anna empfand, haushälterisch umzugehen. Wenn wieder einmal so ein Brief käme, hoffte sie, wäre er dann weniger schmerzlich. Zugleich merkte sie jedoch, wie schwierig es war, Zuneigung zu dosieren.

Auch Mirjam, die ebenfalls da gewesen war, hatte Gefallen an Anna, sie kannte sie schon länger. Mirjam besuchte wie Anna die Schauspielschule in Zürich und lebte mit zwei Freundinnen in einer Abbruchwohnung. Wenn aber dort zuviel Betrieb und Unruhe war, wie jetzt gerade, kam sie gerne für ein paar Tage nach Erlenbach zurück, wo ihr Zimmer unangetastet auf sie wartete.

Was wohl Manuel über Thomas’ neue Freundin dachte? Er hatte zuerst, was sie sich nicht erklären konnte, fast etwas erschrocken auf sie reagiert und war ein paarmal in seine linkischen Bewegungen verfallen, die sie an ihm früher so gemocht hatte. Vielleicht musste er sich einfach den Umgang mit Selma abgewöhnen. Seine Frage nach Annas Eltern allerdings hatte Julia als forsch und voreilig empfunden, so, als ginge es bereits um Heirat. Nun gut, dafür wusste sie jetzt, dass Annas Eltern schon früh geschieden waren, dass ihre Mutter vor vier Jahren an Gebärmutterkrebs gestorben war und sie mit dem Vater kaum noch Kontakt hatte. Um so erstaunlicher Annas heitere Art, die nur von einem Menschen kommen konnte, der bei sich selber war.

Julia musste auf einmal tief aufatmen.

Am liebsten wäre sie sofort zu Manuel hochgegangen und hätte mit ihm über alles gesprochen, hätte ihn gefragt, warum ihn Anna um den Schlaf gebracht hatte und ob er ihr von seinen Seitensprüngen erzählen wolle und ob sie ihm von ihren erzählen solle und ob er sich darauf freue, mit ihr alt zu werden und was er vom Gedanken halte, das Leben sei nur ein Traum und ob sie ihm einen blauen Seidenpiyama kaufen solle und ob er auch manchmal Angst habe, Angst vor dem Tod.