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Mirjam saß in ihrem Zimmer und hatte ihr Textbuch und ihre Notizen vor sich ausgebreitet. übermorgen sollten die Proben für ihre Abschlussarbeit beginnen, und sie war immer noch nicht sicher, ob sie ihrem Konzept trauen sollte. Sie war Absolventin der Regieklasse, und ihre Aufgabe war, mit dem zweiten Jahrgang Büchners »Leonce und Lena« zu inszenieren. Sie hatte dafür fünf Wochen Zeit, und sie hatte einige Probleme damit.
Ein Problem war, dass sie das Stück, das Büchner als Komödie bezeichnete, nicht lustig fand. Ein anderes, noch schwereres, dass sie es eigentlich nicht verstand. Ein Prinz und eine Prinzessin sollen, ohne dass sie sich kennen, miteinander verheiratet werden, fliehen beide, lernen sich auf der Flucht kennen, ohne voneinander zu wissen, wer sie sind, kehren verkleidet zurück und werden vom König, der um jeden Preis eine Heirat will, weil er diese bereits verkündet hat, als Maskierte miteinander verheiratet, nehmen die Masken ab, und es zeigt sich, dass sie der Prinz und die Prinzessin sind, deren Hochzeit geplant war. Der Prinz freut sich, die Prinzessin nicht. »Ich bin betrogen«, sagt sie, und das Stück ist zu Ende.
Was mochte einen jungen Autor dazu bewogen haben, eine solche Handlung zu erfinden? Mirjam war jetzt 24, Büchner war 23, als er starb.
Eine Satire auf die deutschen Kleinstaaten sei es, hatte sie in einem Kurzbeschrieb im Internet gelesen. Sie hatte dann versucht, das Stück auf die Schweiz zu beziehen, die ja auch ein Kleinstaat war, und aus dem Idioten von König einen grimmigen Schweizer Bundesrat zu machen, der sich als Autokrat gebärdete, und aus Prinzessin Lena eine Schwarze, über die der Bundesratskönig dann bei der Demaskierung entsetzt wäre, aber irgendwie ging das nicht auf.
Dann hatte sie beschlossen, das Märchenhafte zu betonen. Ihr schwebte als Bühnenbild ein riesiges Buch vor, in dem für jede neue Szene eine Seite umgeblättert würde. Das Buch müsste so beschaffen sein, dass die Schauspieler durch eine öffnung aus den Seiten heraus auftreten könnten.
Dass das Stück am Anfang von nichts anderem als von der Langeweile erzählt, schien ihr gefährlich. Die Darstellung der Langeweile, befürchtete sie, würde bald selbst langweilig. Deshalb war sie auf die Idee gekommen, die Anfangsdialoge zwischen Leonce und Valerio in einem irren Tempo sprechen zu lassen, während die Szene, in welcher der König auftrat, unendlich langsam gespielt würde.
Ob sie dieses Prinzip durchs ganze Stück beibehalten sollte? Die flüchtigen, schnelllebigen Individuen gegen die Dampfwalze der Staatsgewalt? Oder ob sie das Prinzip nachher umkehren sollte, Prinz und Valerio sprechen langsam, Staatsgewalt spricht schnell? Aber warum?
Prinz, Prinzessin, König, Schloss – früher hatte sie gern über diese Motive phantasiert. Mit 15 oder 16, als sie die Kantonsschule in Küsnacht besuchte, schrieb sie jeden Tag eine Gedichtzeile, und viele davon enthielten Bilder aus der Märchenwelt.
Mirjam stand auf und ging zur Truhe, in der sie als Kind ihre Spielzeuge und Puppen versorgt hatte und die später der Aufbewahrungsort für ihre Hefte geworden war. Die Truhe war verschlossen, und Mirjam trug den Schlüssel immer bei sich. Mitternacht war vorbei, sie war müde und konnte nicht mehr ernsthaft arbeiten, deshalb wollte sie noch ein bißchen in den Heften blättern, auf der Suche nach ihren versunkenen Königreichen.
Sie hatte sich damals Hefte in verschiedenen Farben gekauft, etwas größer als das A4-Format, mit Umschlägen, die entweder rot, gelb, grün oder blau waren. Mirjam öffnete den Truhendeckel, und da lagen sie. Sie griff sich ein blaues Heft, schlug es auf und las auf der ersten Seite den Satz:
»Ich bin ein Palast.«
Sie erinnerte sich sofort, wann sie das geschrieben hatte. Ihr Vater hatte ihr vorgeworfen, sie kleide sich zu nachlässig und sie gebe nicht Acht auf ihr äußeres. Sie war gern in Jeans gegangen, die an den Knien zerrissen waren, trug überlange Herrenhemden, die ihr bis über die Pobacken fielen, und zog darüber eine Jacke an. Vor allem das ärgerte ihren Vater, dieses Stück Hemd, das zwischen Jacke und Hose herunterhing. Man könnte meinen, sie käme aus dem Armenhaus, hatte er gesagt. Und da war sie in ihr Zimmer gegangen und hatte diesen Satz geschrieben.
Sie drehte die Seite um.
»Wie viele Zimmer gibt es da, die niemand kennt.«
stand auf der rechten Seite. Die linke war leer.
Sie blätterte weiter und fand Sätze, die sie verwunderten.
»Der König foltert die Prinzessin mit Gesprächen.«
Auch dazu kam ihr der Anlass wieder in den Sinn. Ihr Vater hatte sie gefragt, was sie heute in der Schule gelernt habe, und sie hatte gesagt, dass Hölderlin mit 32 verrückt geworden sei. Er habe Stimmen gehört. Darauf entgegnete ihr Vater, das Hören von Stimmen, die niemand sonst hört, seien Reize, die der Mensch selbst erzeuge und die vom Nervensystem nicht kontrolliert würden oder so ähnlich, jedenfalls verglich er es mit dem Tinnitus, einer seiner Lieblingskrankheiten. Sie hatte dann darauf beharrt, dass Hölderlin die Stimmen wirklich gehört habe, worauf ihr Vater sagte, er habe sie auch wirklich gehört, nur habe er nicht gewusst, dass er sie selbst produzierte, und hätte ihm sein Arzt gesagt, dass er bloß einen Tinnitus habe, wäre er vielleicht nicht verrückt geworden.
Hölderlins Wahnsinn also nichts anderes als ein Fall für den Ohrenarzt? Solche Gespräche hatten sie aufgebracht, weil sie gegen den Vater nicht ankam und vor allem, weil sie das Gefühl hatte, er wolle sie gar nicht verstehen.
»Die Königin fährt ganz allein zur Schule.«
Sie hatte die Mutter immer als berufstätig erlebt. Als Kind hatte sie oft dagegen rebelliert, vor allem wenn man ihr ein Tagesprogramm erläuterte, in der Art von JetztfahrenwirzuerstzuMamimami, dortholichdichamNachmittagwiederabundamAbendgehichmitPapiinsTheaterunddannkommtBarbara. Von ihr war ein Ausspruch überliefert, den sie nach einer solchen Ankündigung getan hatte und der zum Familienzitat wurde: »Ich hab am liebsten Tage wie immer.«
Aber als sie älter wurde, gefiel es ihr zunehmend, dass ihre Mutter nicht eine war, die nichts anderes zu tun wusste, als auf sie zu warten, und mit ihr gab es diese Auseinandersetzungen wie mit dem Vater nicht, wahrscheinlich weil sie dauernd mit jungen Menschen in ihrem Alter zu tun hatte.
»Schau, der Prinzessin zarte Zehen – wird sie die Beine jemals spreizen?«
Oh, das war ein gewagter Satz, Mirjam musste lachen und dachte an Roman, den ersten Freund, mit dem sie herumgeknutscht hatte und der so gern mit ihr schlafen wollte und sie schließlich wieder fallen ließ, weil sie sich nicht dazu entschließen konnte.
Die Angst vor AIDS hatte die ersten Liebeserlebnisse nicht einfacher gemacht. Sie hatte sich damals überlegt, ob ein Mann wohl zuerst ein ärztliches Zeugnis mit einem Präservativ vorlegen müsse, bevor man ihn zu seinem Geliebten machte.
Die erste Liebesnacht wurde denn auch ein ziemlicher Murks, sie hatte sich mit Oliver bloß eingelassen, weil sie sich ärgerte, dass sie mit 20 immer noch Jungfrau war. Die Beziehung dauerte nicht lange, wie überhaupt keine der Beziehungen, die sie nachher einging, lange dauerte. Zur Zeit hatte sie gar keine. Der Traumprinz, der zärtlich und männlich zugleich sein musste, war noch nicht vor den Toren ihres Palastes aufgetaucht.
Manchmal rätselte sie über die Ehe ihrer Eltern. Dass zwei Menschen so lange zusammenblieben … Wie war Leonces Stoßseufzer? »Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.« Trotzdem hatte sie den Eindruck, dass sich ihre Eltern liebten, nicht gerade leidenschaftlich, doch die kleinen Gesten und Zeichen von Zärtlichkeit schienen ihr nicht abgenutzt. Ob ihr Vater eine Freundin hatte? Oder gab es einen heimlichen Geliebten ihrer Mutter? Sie konnte es sich nicht recht vorstellen und merkte, dass ihr schon der Gedanke daran peinlich war.
»Der Prinz, er beugt sich über totgeküsste Frösche.«
Das war Thomas, über dessen Interesse an der Naturwissenschaft sie sich manchmal lustig gemacht hatte. Wie gut, dass er wieder eine Freundin hatte, und wie gut, dass es Anna war. Anna war in der zweiten Schauspielklasse, und Thomas hatte sie durch sie kennen gelernt, auf einem Fest in der Schauspielschule. Mirjam mochte Anna sehr. Sie würde in ihrer Abschlussarbeit die Lena spielen.
Und dann ein Satz, fast am Ende des Heftes, bei dem sie stockte, drei Wörter nur:
»Ich bin ich.«
Das sagte ja der König bei Büchner, genau so. Mirjam nahm das Textbuch und suchte die Stelle. »Wenn ich so laut rede, weiß ich nicht, wer spricht, ich oder ein anderer«, sagt er zuvor. Und dann die Klammer »nach langem Nachdenken«, und dann die Einsicht »Ich bin ich.«
Mirjam war perplex. Ihr blaues Palastheft von damals gehörte direkt in Büchners Königreich. Vielleicht könnte sie für ihre Inszenierung sogar Zitate daraus nehmen und sie in das große Buch schreiben, etwa das von der Prinzessin mit den zarten Zehen oder vom Prinzen mit den totgeküssten Fröschen.
Und die Klammer könnte laut gelesen werden, als Chor sogar von den Höflingen, und den König könnte sie dazu eine pantomimische Groteske des Denkens auffähren lassen. Und die Idee mit der Langsamkeit musste sie auf alle Fälle im Auge behalten, die Langsamkeit der Macht, die sich gemächlich durch die Jahrhunderte walzt und die sich immer durchsetzt.
Auch gegen zwei Menschen, die ihr Leben leben wollen und doch ihrem Schicksal nicht entfliehen können.