38122.fb2 Es klopft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 12

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Anna kam aus der Dusche zurück, warf das Badetuch, das sie um sich geschlungen hatte, auf das Schaffell am Boden, legte ein trockenes Frottiertuch auf die feuchte Stelle des Bettlakens und kroch wieder zu Thomas ins Bett.

»So«, sagte sie und küsste ihn auf sein Ohr, »es ist bestimmt nichts passiert. War ja grad der letzte Tag meiner Periode.«

Sie waren von Erlenbach aus nach Zürich in Thomas’ Einzimmerwohnung gefahren, und erst als sie miteinander ins Bett wollten und er in die Schublade des Nachttischchens griff, hatte er gemerkt, dass keine Kondome mehr da waren.

Nun lagen sie nebeneinander unter der Decke, Anna bettete ihren Kopf auf seine Schulter und schaute auf das Poster des Planeten Erde an der Wand vor ihr, das im Kerzenlicht noch größer schien als bei Tage.

»Ein würdiges Ende eines schönen Sonntags«, sagte sie und lachte.

Thomas schnurrte wie ein Kater.

»Du warst eine wunderbare Sonntagsfrau.«

»Achtung«, sagte sie, »gleich wird’s Montag.«

»Egal«, sagte er, »ich bin ein Sonntagskind.«

»Ehrlich?«

»Ja. Und du?«

»Weiß ich gar nicht. Hab meine Mutter nie gefragt.«

»Du kannst nur ein Sonntagskind sein.«

»Ach was, ich bin eher ein Montagsmodell.«

»Ein Sonntagskind, glaub mir. Deine Mutter hat bestimmt drauf geachtet.«

»Als ob man das könnte.«

»Warum nicht? Meine Mutter behauptet, sie habe mich zurückgehalten bis nach Mitternacht.«

»Wann bist du denn zur Welt gekommen?«

»Zehn nach zwölf, Sonntag früh.«

Anna lachte. »Da haben wir’s. Ein Nachtmensch. Hat sie gut gemacht, deine Mutter. überhaupt«, fahr sie dann fort, »feine Eltern hast du, sie sind irgendwie gut drauf, beide.«

»Doch«, sagte Thomas, »wir hatten’s eigentlich immer ganz friedlich zusammen.«

»Nie große Krache? Wegen Kleidern, Ausgang, Mädchen, Schule, Geld?«

»Es geht«, sagte Thomas und merkte, dass es ihm fast etwas unangenehm war. Lieber hätte er jetzt von einem tiefgreifenden Zerwürfnis mit dem Elternhaus gesprochen, das ihn schon immer zum großen Einsamen gemacht habe.

Aber seine Kindheit war von allem Schweren verschont geblieben. Endlose Nachmittage tauchten in seiner Erinnerung auf, an denen er mit Mirjam im Garten gespielt hatte, ich wäre der Vater und du wärst die Mutter und der Panda der Bub und die Puppe das Mädchen, der Panda war faul und gefräßig, die Puppe fleißig und eitel, und später hatten sie Softball gespielt auf der Fläche des Garagendaches, nicht gegeneinander, sondern miteinander, wie lange können wir den Ball hin und her schlagen, ohne dass er runterfällt, er hatte ein Büchlein geführt mit den Resultaten, der Rekord war irgendwo bei 800, und dann war er zu den Pfadfindern gegangen, wo sie Schnitzeljagden gemacht hatten und Postenläufe und Lagerfeuer im Erlenbacher Tobel, in der Schule hatte er keine Mühe gehabt, war auch leicht ins Gymnasium in Zürich gekommen, Rämibühl, sprachlich-literarische Richtung, mit Latein, und jeden Winter ging’s zum Skifahren und Snowboarden nach Pontresina in die Wohnung, die seine Eltern gekauft hatten, auch das Haus in Erlenbach gehörte ihnen, und als einmal die Rede davon war, ob sie sich in Feldmeilen ein Grundstück erwerben sollten, um darauf zu bauen, verteidigten sowohl er wie auch Mirjam ihr Haus mit dem Türmchen, das ihnen beiden so gut gefiel. über dem obersten Erkerzimmer, in dem der Vater sein Büro hatte, gab es noch einen kleinen Estrichraum unter der Schräge des Turmdaches, mit Fensterluken auf den Zürichsee, und das war ein Lieblingsort von Thomas, besonders bei aufziehenden Gewittern, wenn sich die Wolken schwarz und mächtig über dem andern Ufer blähten wie der Geist in der Flasche und unten an den Seeufern die ängstlichen orangen Lichter der Sturmwarnung blinkten und dann die ersten Blitze zuckten und sich das Donnergrollen über den See schob, dann saß Thomas gerne dort oben auf einem alten überseekoffer und schaute zum Fenster hinaus.

»Hattest du denn Krach mit deiner Mutter?« fragte Thomas.

»Furchtbar«, sagte Anna.

»Worüber?«

»über alles. Ich glaube, wir passten nicht zusammen. Sie war mir zu ausgeflippt. Arbeitete unregelmäßig, telefonierte stundenlang mit Freundinnen, statt mir bei den Aufgaben zu helfen, ließ das Geschirr stehen, ließ die Wäsche liegen, war eine schöne und attraktive Frau, brachte auch gelegentlich Verehrer nach Hause, von denen aber keiner blieb. Die Spießige war ich. Eigentlich war ich die Mutter und sie die Tochter, und ich fing schon bald an, sie zu kritisieren, und das ertrug sie schlecht.«

Anna erinnerte sich, wie sie einmal, als sie nachts erwacht war und zur Mutter wollte, einen fremden Mantel im Gang hängen sah und es aus dem Schlafzimmer stöhnen hörte. Da schrieb sie auf ein Blatt Papier: »Mami muss mit mir schmusen, nicht mir dir, du Aff«, und legte es auf die Schuhe unter dem Mantel. »Mir« hatte sie rot unterstrichen. Ihre Mutter hatte ihr dann vorgeworfen, der Mann sei nur wegen ihr nicht mehr gekommen und es hätte vielleicht eine Freundschaft daraus werden können. Wenn er wegen so etwas böse werde, werde er sowieso kein richtiger Freund, hatte Anna darauf gesagt.

»Weißt du, was das Schlimmste war, das mir meine Mutter sagen konnte?«

Natürlich wusste es Thomas nicht.

»›Du warst doch mein Wunschkind.‹ Wenn das kam, redete sie nachher mindestens drei Stunden nicht mehr mit mir.«

»Aber dein Vater?«

»Kannte ich nicht wirklich. Sie ließen sich scheiden, als ich zwei war. Meine Mutter bekam das Sorgerecht, und der Vater war wohl froh, dass er sich nicht mit mir abgeben musste. Ich sah ihn zum erstenmal richtig an Mamas Beerdigung.«

»Und?«

»Und nichts. Ich mochte ihn nicht. So traurig wie an dem Abend war ich nie. Die Mutter verloren und den Vater auch.«

»Hätt ich dich doch in die Arme nehmen können«, sagte Thomas und zog sie an sich.

»Du nimmst mich jetzt in die Arme, das ist schön genug.«

Thomas kam es plötzlich unwahrscheinlich vor, dass er mit einer so schönen und begehrenswerten Frau im Bett lag.

»Weißt du was?« sagte er, »ich bin glücklich.«

»Weißt du was?« sagte Anna, »ich auch. Aber ich glaube, ich muss jetzt schlafen.«

»Ich werde dich bewachen«, sagte Thomas.

»Da bin ich froh«, murmelte Anna und drehte sich von ihm weg, »aber wehe, wenn du einschläfst dabei.«

Thomas kuschelte sich an ihren Rücken und hielt seinen Arm so über ihr, dass er mit der Hand ihre Haare spürte.

Früher hatte er sich immer so etwas vorgestellt in seinen Phantasien, dass einmal eine Frau mit einem schweren Schicksal Zuflucht bei ihm suchen würde, und er würde dann seine ganzen Kräfte für sie einsetzen. Allerdings hatte er sich die Frau schwächer vorgestellt, schiffbrüchig fast, und er der Retter.

Anna war nicht schwach, im Gegenteil, sie wusste genau, was sie wollte, und sie wusste es auch ohne ihn. Woher nur? Sie war vier Jahre jünger als er. Vor vier Jahren hatte er sein Medizinstudium abgebrochen und sich entschieden, statt dessen Umweltnaturwissenschaften zu studieren. Es hatte viel gebraucht, bis er so weit gewesen war.

Thomas versuchte sich vorzustellen, er wäre nur mit seiner Mutter aufgewachsen, als einziges Kind. Kein Türmchenhaus, kein Erlenbach, keine Mirjam, sondern eine Dreizimmerwohnung in einem reizlosen Außenquartier Zürichs, Schwamendingen oder Oerlikon. über Mittag im Kinderhort, Winterferien in einem städtischen Schullager im Wallis. Und dann, ein Jahr vor der Matur, wäre seine Mutter an einer qualvollen Krankheit gestorben, und an der Trauerfeier wäre irgendein mürrischer Prokurist auf ihn zugetreten, hätte ihm die Hand gereicht und gesagt: »Ich bin dein Vater.«

Er konnte es nicht wirklich. Aber die Frau an seiner Seite, die bereits tief und regelmäßig atmete, brauchte sich das nicht vorzustellen, sie hatte es erlebt. Nochmals stieg eine Welle von Glück in ihm hoch, dass er ausgerechnet diese Frau lieben durfte und dass sie ihn auch liebte. Dass er sie beschützen wollte, hatte er im Spaß gesagt vorhin, aber es war ihm ernst. Bloß wovor? Hatte sie nicht das Schlimmste schon hinter sich?

Was hätte ihm denn gefehlt ohne seinen Vater? Die Bergtouren, auf den Piz Languard, auf den Piz Tschierva, hätte er die mit seiner Mutter auch gemacht? Seine Mutter ging gerne durch Täler, einen schäumenden Bergbach endang, über Pässe und dann einen andern schäumenden Bergbach entlang wieder hinunter, aber ein Berggipfel war immer Männersache gewesen, seit Thomas zwölf oder dreizehn gewesen war.

Gespräche konnte er mit seiner Mutter eher besser fuhren, aber die Ernsthaftigkeit, mit der sein Vater seinen Beruf ausübte, und das Selbstverständliche daran, das hatte ihn immer beeindruckt. Schon bald nach seinem Eintritt in die Kantonsschule gab er seinen Berufswunsch mit Arzt an, es kam ihm einfach nichts anderes in den Sinn. Er wollte auch so einer werden, wie sein Vater einer war. Deshalb hatte er den Moment gefürchtet, als er seinen Entschluss bekannt gab, das Medizinstudium abzubrechen, und um so überraschter war er über Vaters Reaktion gewesen. Er hatte nur leicht die Augenbrauen gehoben und gefragt: »Du hast also gemerkt, dass dich die Umwelt stärker interessiert als die Medizin?« Als Thomas zur Antwort gab, ja, das sei so, sagte sein Vater bloß: »Dann ist es in Ordnung. Besser du merkst es jetzt als nach deinem dritten Jahr als Assistenzarzt.«

Darüber war die Mutter erschrocken und hatte den Vater gefragt, ob das heiße, dass er es dann gemerkt habe, worauf Vater nur lachend gesagt hatte: »Das hättest du nicht gedacht, gell?«

Ob er es ernst gemeint hatte oder nicht, wollte er nicht sagen. Aber er fragte Thomas weiterhin am Ende des Monats, wieviel er brauche, und händigte ihm die paar Hunderternoten aus, ohne von ihm zu verlangen, dass er sein Studium selber finanziere.

Und wenn sein Vater nun wirklich ein anderes Lebensziel gehabt hätte? Er war nicht Professor geworden. Das Publizieren sei ihm immer zuwider gewesen, hatte er einmal gesagt. Auch Chefarzt eines Spitals wäre ein höherer Status gewesen als operierender Belegarzt einer Privatklinik. Thomas nahm sich vor, ihn einmal danach zu fragen.

Aber je länger er über seinen Vater nachdachte, desto unvereinbarerwurde dieser mit einem ausstrahlungslosen Blödmann, der einem bei der Beerdigung der Mutter eröffnete, er sei der Vater. Da musste er sich schon seinen eigenen Vater vorstellen, wie er sich aus der Trauergemeinde lösen würde, auf ihn zukäme, der noch am offenen Grab seiner Mutter stünde, ihm den Arm um die Schulter legen würde, um ihm zu sagen, er sei sein Vater.

Doch auch diese Vorstellung war letzdich undurchführbar, denn so wie sein Vater war, gab es schlicht keinen Grund dafür, ihm ein Leben lang zu verheimlichen, dass er sein Sohn war.

Modelle waren das, Denkmodelle, und dennoch nicht anzuwenden auf das eigene Leben. Er war eben Thomas und nicht Anna.

Aber er liebte Anna.