38122.fb2 Es klopft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 13

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Manuel erwachte, knipste das Licht neben seinem Sofa an und schaute auf die Uhr. Viertel vor vier. Jemand hatte geklopft. Er stand auf, ging zur Tür und öffnete sie. Auf dem Flur war niemand. Auch nicht auf der Treppe zum unteren Stock, von wo das Nachtlicht heraufschien, das sie immer brennen ließen.

»Julia?« fragte er halblaut.

Es blieb still.

Benommen ging er wieder zu seinem Nachtlager zurück. Das Glas auf seinem Tisch war leer. Er hatte zuletzt doch ein Rohypnol geschluckt, es brauchte also ziemlich viel, um ihn zu wecken.

Eigentlich war er sicher, dass es geklopft hatte. Oder hatte er so stark geträumt? Er konnte sich an nichts erinnern.

Er legte sich hin, löschte das Licht und sank sofort wieder in die Schwere seines künstlichen Schlafs.

Kurz nach fünf schoss er auf, weil es erneut geklopft hatte. Als wieder niemand vor der Tür stand, ging er die Treppe hinunter und öffnete leise die Schlafzimmertür.

»Manuel?« fragte Julia verschlafen.

»Pssst«, sagte Manuel, »ich wollte nur sehen, ob du schläfst.«

»Jetzt nicht mehr«, sagte Julia und richtete sich im Bett auf, »was ist?«

»Es hat an meine Tür geklopft«, sagte Manuel.

»Mirjam?«

»Doch nicht um diese Zeit.«

»Wie spät ist es?«

»Fünf vorbei.«

»Vielleicht hast du geträumt.«

»Na dann, bis gleich.« Er schickte sich an, die Tür wieder zu schließen, da sagte Julia:

»Bleib doch bei mir.«

Seltsam, wie wohl ihm dieser Vorschlag tat. Als ob er sich vor dem Alleinsein fürchtete.

»Ich hätte kein Rohypnol nehmen sollen«, sagte er, als er die Decke aufschlug und sich neben Julia legte, »aber wenigstens bin ich gleich wieder weg.«

»Schlaf gut weiter, Lieber«, sagte Julia und streichelte ihm über den Kopf. Wenig später war er eingeschlummert. Julia ging auf die Toilette, und als sie zurückkam, war sie sehr zufrieden, dass sie zu ihrem Mann ins Bett schlüpfen konnte.

Um viertel nach sechs spielte ihr Handy so lange eine aufsässige kleine Orchestermelodie, bis sie aufstand und es ausschaltete.

Das Bett neben ihr war leer.

Im Badezimmer saß Manuel auf dem Rand der Wanne und rasierte sich mit seinem elektrischen Apparat.

»Schon wach?« fragte sie.

»Wach ist zuviel gesagt – geweckt. Es hat wieder geklopft.«

»Ich hab nichts gehört.«

»Da hast du Glück gehabt.« Missmutig streckte er den Kiefer vor und nahm sich die Stelle unter dem Kinn vor.

»Das tut mir leid für dich«, sagte Julia, »gleich gibt’s Kaffee.«

Der Morgenkaffee nach einer schlechten Nacht – das rettende Getränk am Ende einer beschwerlichen Flucht durch unbekanntes Gelände. Julia die Rotkreuzhelferin, ermutigend, positiv, teilnahmsvoll.

»Vielleicht hat Mercedes doch recht«, sagte sie.

Mercedes war ihre Putzfrau aus Bolivien, die ihr schon schaudernd erzählt hatte, sie habe von der Küche aus eine fremde Frau durch den Korridor gehen sehen, und ein anderes Mal, als sie im Keller Wäsche aus der Maschine nahm, sei die Frau unter der Tür gestanden, habe ihr zugenickt, habe sich dann umgedreht und sei verschwunden.

Manuel schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht an Geister, im Gegensatz zu Mercedes.«

»Aber vielleicht glauben die Geister an dich«, sagte Julia.

»Was für Geister denn?«

»Klopfgeister«, sagte Julia, »die gibt es doch.«

»Für Mercedes vielleicht«, sagte Manuel, »die läuft mit so etwas im Kopf herum.«

»Die hat sie vielleicht mitgebracht.«

Manuel lachte. »Auch das noch.«

Er hatte sich immer etwas über ihre Putzfrau geärgert, wenn er hörte, was Julia alles für sie tat. Eine Bolivianerin, mit der es nichts als Probleme gab. Ihr Mann schlug sie, bis sie Zuflucht bei der Frauenhilfe suchte und schließlich zu einer Anwältin ging. Nach der Scheidung begann sie ihr Mann zu verfolgen und ihre zwei gemeinsamen Kinder gegen sie aufzuhetzen.

Obwohl Mercedes noch in drei anderen Haushalten arbeitete, reichte das Geld nicht aus, und sie musste Sozialhilfe haben. Ihr Sohn kam in der Schule nicht mit und wurde in eine Kleinklasse gesteckt – und immer war es Julia, die Mercedes half, die Formulare auszufüllen und die Kontakte herzustellen, sie sprach schließlich Spanisch, und sie sprach es gerne. Gab es ein medizinisches Problem, war Manuels Empfehlung gefragt; es genügte dann nicht, wenn sie von ihm eine Adresse bekam, sondern er musste den Kollegen auch noch anrufen und auf ihren Besuch vorbereiten, und es gab immer wieder medizinische Probleme, die Frau hatte Atembeschwerden, kein Wunder, fand Manuel, und auch kein Wunder, wenn sie Erscheinungen produzierte, kam sie doch aus einer Kultur, in welcher die Geister als Gleichberechtigte zwischen den Menschen lebten. Und nun sollte sie diese Geister eingeschleppt haben wie eine tropische Krankheit und ihn damit angesteckt haben …

Manuel hatte Julia schon vorgerechnet, dass auf vier Stunden, welche Mercedes im Haushalt half, eine Stunde komme, welche sie Mercedes bei ihren Problemen halfen. Aber mittlerweile gehörte sie zur Familie, Julia mochte sie, das wusste Manuel, Mercedes rief sie »Señora Julia«, und ihn nannte sie, wenn sie ihn sah, respektvoll »doctor«, oder, wenn sie sich bei ihm bedankte, überschwänglich »doctorcito«, Doktörchen also, was geradezu riskant familiär war und ein Zeichen dafür, dass sie ihm wieder einmal besonders dankbar war.

»Wenn es nächste Nacht wieder klopft«, scherzte Manuel beim Abschied, »kannst du Mercedes ja fragen, ob sie einen Exorzisten kennt.«

»Fahr vorsichtig«, ermahnte ihn Julia.

»Also gut«, sagte Manuel, »aber nur dir zuliebe.«

Erst als er gegangen war, merkte Julia, dass sie ihn gar nicht gefragt hatte, wie es denn gewesen sei, ihre alten Briefe zu lesen, was sie sich nachts eigentlich vorgenommen hatte. Sie verschob ihr Vorhaben auf denAbend und machte sich ihrerseits für ihre zwei Italienischlektionen bereit.

Manuels Morgen verging rasch, sein Stundcnplan war voll, zwei Konsultationen zogen sich etwas in die Länge, so dass es halb eins wurde bis zur Mittagspause. Er aß in der Kantine des Privatspitals, das eine Straße weiter oben lag, einen Salatteller, trank einen doppelten Espresso, um die letzten Rohypnolnebel zu vertreiben, und eilte dann wieder in seine Praxis. Vielleicht war der Brief, den er suchte, nicht zu Hause in Erlenbach, sondern hier. Das wäre auch der logischere Ort.

Aber er fand ihn nicht. Als er die unterste Schublade seines Schreibtisches wieder zuschob, klopfte es.

»Bitte!« rief er. Die Tür ging nicht auf. Er erhob sich und öffnete sie. Im Flur war niemand. Er ging nach vorn zu seiner Praxisassistentin, die auch schon von der Mittagspause zurück war. »Haben Sie geklopft vorhin, Frau Weibel?« er.

»Nein«, sagte sie erstaunt, um dann hinzuzufügen, »Herr Simonett wäre im Fall schon da.«

»Einen Moment noch«, sagte Manuel und ging zurück in sein Sprechzimmer. Er zog den Ordner »Tinnitus I«, der seine persönliche Materialsammlung enthielt, aus dem Büchergestell und blätterte darin, bis er die Unterlagen jener Tagung in Basel gefunden hatte.

Als der Brief auch dort nicht zum Vorschein kam, stellte er den Ordner zurück und ließ den ersten Patienten des Nachmittags kommen, Herrn Simonett, einen 30-jahrigen Bankangestellten mit tadellosem Anzug, einer kecken leiht pomadisierten Frisur und einem Dreitagebart. Nachder Schilderung seiner Symptome schickte er ihn zu Frau Weibel für ein Reintonaudiogramm. Eine halbe Stunde später eröffnete er ihm nach einem Blick auf seine Werte, dass sein Gehör soweit in Ordnung sei und dass es sich bei dem Geräusch eines fahrenden Zuges, das er immer wieder zu hören glaube, um einen Tinnitus handle. Der Tinnitus sei eine Funktionsstörung des Gehörs, dessen Ursachen meist nicht eindeutig zu eruieren seien, er könne spontan auftauchen und auch spontan wieder verschwinden. Ob er möglicherweise, sei es privat oder beruflich, in einer Stresssituation stehe?

Herr Simonett lachte und sagte, wer Stress nicht aushalte, sollte nicht bei einer Bank arbeiten, er sei für Börsengeschäfte zuständig und spreche oft an zwei Telefonen gleichzeitig, und es störe ihn einfach, wenn er plötzlich das Gefühl habe, es fahre ein Eisenbahnzug durch seinen Hörer, und zwar so laut, dass er den andern nicht mehr verstehe, und ob es da nicht irgendein Antibiotikum gebe. Leider, sagte Dr. Manuel Ritter, gebe es keine erfolgversprechende medikamentöse Behandlung des Tinnitus, da es sich in der Regel um Geräusche handle, welche nur der Betroffene selbst wahrnehme, denn er selbst sei es, der die Geräusche erzeuge, beziehungsweise sein Innenohr.

Sein Patient lachte nicht mehr. »Dann muss man operieren?« fragte er.

Das mache man nur, wenn Veränderungen der Gefäße oder der Ohrmuskulatur die Ursache seien, da Herr Simonett aber nicht über Schwindel klage und das Geräusch auch nicht mit dem Puls synchron gehe, sehe es nicht nach einem objektivierbaren, sondern nach einem subjektiven Tinnitus aus, der eben durch eine Art Fehlverhalten des Informationssystems des Ohres entstehe.

Der junge Mann war besorgt. Ob man denn dieses Fehlverhalten nicht korrigieren könne?

Man könne es versuchen, und er würde ihm raten, darüber nachzudenken, ob der dauernde Stress, unter dem er stehe, nicht vielleicht doch zuviel von ihm verlange und ob es allenfalls innerhalb der Bank eine andere Stelle gebe, die ihn weniger belaste.

»Aber mir gefällt der Job!« rief der Mann, und sein Gesichtsausdruck nahm etwas Verstörtes an, »gerade das Tempo, das es braucht!«

Er könne auch nicht auf Anhieb sagen, ob das die Lösung wäre –

Was denn aber die Lösung sei, fragte der Patient, von den Aussagen seines Arztes sichtlich in die Enge getrieben.

Eine Lösung könne z.B. auch darin bestehen, dass man versuche, mit dem Geräusch zu leben und Maßnahmen zu ergreifen, die dazu führten, dass man es nicht mehr als dermaßen störend empfinde.

Wie denn solche Maßnahmen aussähen, fragte Simonett.

Man könne versuchen, dieses Geräusch durch andere Geräusche zu maskieren, also wenn er z.B. neben einer Eisenbahnlinie wohnen würde, würde er ein Eisenbahngeräusch in seinem Ohr weniger befremdlich finden.

Herrn Simonetts Augen weiteten sich. Ob das ein Scherz sei, fragte er.

Keineswegs, sagte ihm Dr. Manuel Ritter, in diese Richtung könnten entsprechende Maßnahmen durchaus gehen. Natürlich könne man sich auch durch Musik im Frequenzbereich der jeweiligen Störung oder durch andere Schalleffekte wie weißes Rauschen ablenken, er werde ihn jedenfalls gerne an einen Kollegen überweisen, dessen Spezialgebiet der Tinnitus sei und wo dann ganz genau abgeklärt werde, was in seinem Fall die Ursachen sein könnten, welche, wie gesagt, durchaus auch psychischer Natur sein könnten, er würde diesem einen kurzen Bericht zukommen lassen, und sein Reintonaudiogramm könne er, Herr Simonett, ihm selbst mitbringen oder er könnte es ihm auch mailen, falls er dies wünsche. Dr. Mannhart sei eine Kapazität auf diesem Gebiet, den er nur empfehlen könne.

Gut, sagte Simonett kleinlaut, gut, dann werde er sich dort anmelden. Er wolle bei der Bank bleiben und könne keine Eisenbahnzüge im Ohr brauchen.

Als der Patient das Sprechzimmer verlassen hatte, mit einem Schritt, der etwas weniger federnd war als beim Eintreten, blieb Manuel einen Moment sitzen und dachte nach.

Da klopfte es an die Tür, genau gleich, wie es schon heute Nacht und am Mittag geklopft hatte, drei schnelle Schläge. Er zuckte zusammen, reagierte aber weder mit einem »Herein!« noch damit, dass er zur Türe ging. Das hätte auch wenig geholfen, denn soeben war ihm klar geworden, woher das Klopfen kam, und er wunderte sich, wieso ihm das nicht früher in den Sinn gekommen war.

Er nahm den Hörer in die Hand, drückte die Nummer eins und bat Frau Weibel, ihn mit Dr. Mannhart zu verbinden.