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Also«, sagte Mirjam, »vierter Akt, zweite Szene. Wir drehen eine Seite des großen Buches um, das stünde hier, und auf der linken Seite oben steht ›Ein Garten‹, darunter malt uns Benno einen Garten, der über beide Seiten des Buches geht, Vinz spielt uns ein überbordendes Vogelgezwitscher ein, und nun öffnet sich die Tür in der Seite, und die Gouvernante schiebt Lena auf so ‘ner fahrbaren Bahre herein, wie man sie in Spitälern hat. Sie bleibt etwa in der Bühnenmitte stehen, das wäre hier, wo wir diese zwei Bänke hingestellt haben. Würdest du dich mal auf die Bank legen, Anna?«
Anna legte sich so auf die Bank, dass sie mit dem Gesicht zum Publikum gewandt war.
»Ganz schön hart«, sagte sie, »ich muss etwas unter dem Kopf haben.« Sie stand nochmals auf, holte ihren Mantel, rollte ihn zusammen und bettete ihren Kopf darauf.
Die Gruppe, welche das Stück probte, hatte sich in einem der übungsräume der Schauspielschule versammelt. Nach einer Leseprobe war das die erste szenische Stellprobe, in der Mirjam versuchte, mit den Schauspielern ihr Konzept durchzuspielen.
»Sobald du, Livia, den Wagen durch die Tür geschoben hast, beginnst du, Anna, zu sprechen und sprichst diesen irren Text, und sprich ihn wie eine Irre.«
Anna schloss die Augen und stellte sich vor, sie sei in einer psychiatrischen Klinik interniert. Träumerisch und langsam sagte sie: »Ja, jetzt! Da ist es. Ich dachte die ganze Zeit an nichts. Es ging so hin, und auf einmal richtet sich der Tag vor mir auf. Ich habe den Kranz im Haar – und die Glocken, die Glocken!« Das mit den Glocken sagte sie ganz schrill und hielt sich dabei die Ohren zu. Dann warf sie den Kopf hin und her und begann ein Glockengeläute zu imitieren, das immer lauter wurde, bis sie es plötzlich abbrach. Dann hob sie die Hände und sprach: »Sieh, ich wollte, der Rasen wüchse so über mich und die Bienen summten über mir hin.« Sie bewegte ihre Finger und imitierte das Summen von Bienen. Auch das Summen wurde immer lauter und brach dann plötzlich ab. Mit dünner, hoher Stimme sagte sie: »Sieh, jetzt bin ich eingekleidet und habe Rosmarin im Haar. Gibt es nicht ein altes Lied: –«
Dann drehte sie den Kopf zu Mirjam und den andern Schauspielern, die auf Stühlen saßen, und fragte: »Hat denn jetzt jemand dieses Lied gefunden?«
Niemand hatte es gefunden.
»Hat es überhaupt jemand gesucht?« fragte Mirjam.
Es stellte sich heraus, dass es niemand gesucht hatte.
»Ich hol’s mal auf dem Sekretariat«, sagte Jean-Pierre, ein dünner Blonder, der den Leonce spielte, »die Szene geht mich sowieso nichts an.«
»Und du meinst, dort liegen Volkslieder herum?« fragte Anna.
»Natürlich, dort liegt alles herum.«
»Aber bald wiederkommen, wir proben gleich den zweiten Akt!« rief ihm Mirjam hinterher.
»Na, da bin ich ja gespannt«, sagte Anna, »ich sing jetzt einfach irgendeine Melodie«, legte sich wieder hin und sang:
Dann unterbrach sie die Gouvernante und sagte teilnahmsvoll zu ihr: »Armes Kind, wie Sie bleich sind unter Ihren blitzenden Steinen.«
»Hört mal«, sagte Mirjam, stand auf und ging zu ihnen hin, »ich glaube, wir machen das ganze noch stärker auf Irrenhaus. Du spielst das ja so verrückt, Anna. Wir geben dir, Anna, ein Anstaltskostüm und dir, Livia, eine Wärterinnentracht, mit Häubchen und dem ganzen Zeug, und dann bist du streng und eisig mit der irren Prinzessin, überhaupt nicht mitfühlend.«
Livia wandte ein, sie sei aber im Stück auf der Seite der Prinzessin und verhelfe ihr zur Flucht und wie denn die Stelle »Lieber Engel, du bist doch ein wahres Opferlamm!« gehen solle, wo es in Klammer heiße »weinend«?
Sie solle das Weinen spielen, um Mitleid vorzutäuschen, schlug Mirjam vor.
Aber wie sie den Schluss der Szene machen solle? »Mein Kind, mein Kind, ich kann dich nicht so sehen«, das seien doch mitleidige Worte.
Die könne sie genauso kalt und unnahbar sprechen; auch wenn sie beim Gedanken an die Flucht sage, sie habe da so etwas im Kopf, könne sie das ohne weiteres gefährlich klingen lassen, als wolle sie die Prinzessin umbringen.
Aber sie bringe sie ja nicht um, im Gegenteil, sie sage sogar »Es kann nicht so gehen. Es tötet dich.«
Um so überraschender, wenn sie nachher zur Verbündeten der Prinzessin werde.
Aber wieso denn diese Verstellung?
Ob sie es nicht einfach mal ausprobieren könne, fragte Mirjam. Sie ärgerte sich etwas über Livias Rechthaberei, und sie glaubte zu wissen, woher sie kam. Livia hätte lieber die Prinzessin gespielt und wollte ihr jetzt das Leben schwer machen.
»Kann ich schon«, sagte Livia schnippisch, »aber es sollte für mich auch einen Sinn machen.«
»Wenn’s nicht geht«, sagte Mirjam, »lassen wir dich als Rotkreuzschwester auftreten, als komische Nummer, mit übertriebener Zuwendung und so. Das geht dann auf alle Fälle auf. Und noch etwas. Wir machen den Auftritt so, dass die Prinzessin mit dem Gesicht zur Gouvernante auf der Bahre liegt, also vom Publikum weg.
Das gefiel nun Anna nicht. So wie sie die Szene spiele, als Irre, müsse man doch ihre Mimik sehen.
Nein, die Gestik genüge, die Gestik und die Stimme, und um so stärker sei dann der Moment, wenn sie sich zum erstenmal umdrehe.
Und wann das sein solle, fragte Anna.
Das werden sie gleich herausfinden, wenn sie die Szene einmal durchspielen, sagte Mirjam, vielleicht dort, wo es heiße »erhebt sich«, oder sie solle doch beim Spielen zu spüren versuchen, wann sie sich gern zum Publikum drehen wolle.
Livia meldete sich nochmals und sagte, das mit der komischen Nummer könne Mirjam vergessen, das mache sie nicht.
Immerhin sei es eine Komödie, wandte Mirjam ein.
Das habe sie sowieso nicht begriffen, wieso das eine Komödie sein soll, sagte Livia, und sie werde jetzt also wie gewünscht die Variante »eiskalt« durchgeben.
»Wisst ihr, was das für ein Lied ist?« rief Jean-Pierre und schwenkte einen Zettel.
Natürlich wusste es niemand.
»Es heißt ›Treue Liebe‹ und geht auf die Melodie von ›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹. Die zwei Zeilen sind nicht der Anfang, sondern der Schluss des Liedes.« Er sang sie vor.
»Und das lag auf dem Sekretariat rum?« fragte Mirjam.
»Es lag im Internet rum, ich hab’s schnell gegoogelt.«
»Danke«, sagte Mirjam, und sie müsse sich noch überlegen, ob das mit dem Liebeslied eine Bedeutung habe, aber Anna solle es einfach mal singen.
Anna legte sich anders hin und spielte den Anfang der Szene nochmals, etwas dramatischer als beim ersten Mal, machte das Glockengeläute nach und das Summen der Bienen und brach dann, statt das Lied zu singen, in Schluchzen aus, setzte sich auf und hielt beide Hände vor das Gesicht.
Schneidend sagte Livia: »Armes Kind, wie Sie bleich sind unter Ihren blitzenden Steinen.«
»Moment«, sagte Mirjam, »lass sie zuerst singen. Und Anna, das finde ich zu viel, und auch zu früh, um aufzustehen. Aber die Glocken und die Bienen sind sehr schön.«
Doch Anna saß auf den zwei Bänken, welche die Bahre markierten, und hörte nicht auf zu weinen.
Livia setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter, Mirjam kam dazu, strich ihr über die Haare und fragte sie: »Anna, was hast du denn?«
Anna schüttelte den Kopf. »Das Lied …« stammelte sie, »das Lied … die Melodie … es hat mich … umgehauen … tut mir leid.«
Alle standen nun in einem Halbkreis um sie herum, Mirjam reichte ihr ein Papiertaschentuch.
Anna wischte sich die Augen und schneuzte.
»›Weißt du, wie viel Sternlein stehen‹ – das war das einzige Lied, das mir meine Mutter gesungen hat, und ich war immer so glücklich dabei. Ich wusste nicht, dass das so tief sitzt.«
»Du kannst es singen, wie du willst, Anna, so wie vorhin, oder auch nur sprechen«, sagte Mirjam, »sollen wir eine Pause machen?«
»Gern«, sagte Anna.
Die Probe ging dann gut zu Ende, Thomas holte sie ab, sie hängte sich bei ihm ein, und sie gingen in Richtung Niederdorf, wo sie zusammen Nachtessen wollten.
»Wie ging’s, als Prinzessin?« fragte Thomas.
Anna erzählte ihm von ihrem Einbruch und sagte, sie wisse nicht, ob sie wirklich Schauspielerin werden wolle. Eine Irre zu spielen, wirklich zu spielen, sei beängstigend, sie könne das nur, indem sie sich ganz fest vorstelle, verrückt zu sein.
»Und dann musst du einen Schritt zurück machen«, sagte Thomas.
»Müsste ich, natürlich, aber wenn ich spiele, komme ich mir irgendwie vor wie … wie ein Haus, bei dem alle Türen und Fenster offen stehen.«
»Darf ich sie wieder schließen?«
»Das hast du schon fast. Aber eins musst du offen lassen.«
»Wieso?«
»Für dich.«
Thomas blieb mitten auf einem Fußgängerstreifen stehen und küsste sie.