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Ein paar Tage später saß Manuel gegen 18 Uhr allein im Wartezimmer seines Kollegen, des Tinnitus-Spezialisten Anton Mannhart, und wunderte sich über die Hässlichkeit dieses Raumes. Er hatte nichts gegen die Lithographien von Fritz Hug, dem Tiermaler, aber gleich drei davon kamen ihm als überdosis vor. Die Störche, Rehe und Waldkäuze, so schön sie gezeichnet waren, wirkten seltsam unaktuell, wahrscheinlich hingen sie hier seit der Praxiseröffnung vor 25 oder 30 Jahren. Die Sessel mit dem grünen Bezug irgendeines Lederimitats waren etwas zu speckig, und das Weiß der Wände hinter den Sesseln war auf Kopfhöhe leicht abgedunkelt. Auch dass der »Nebelspalter« noch existierte, der neben dem »Tagblatt der Stadt Zürich« und der Schwerhörigenpublikation »dezibel« auf dem Wartezimmertischchen lag, erstaunte ihn, er hatte diese Zeitschrift, die sich als satirisch ausgab, nie gemocht und hatte geglaubt, sie sei schon lange eingegangen. Seit er seine Praxis an den Zürichberg verlegt hatte, lagen bei ihm Zeitschriften wie »Schöner Wohnen«, »Animan« oder »Swissboat« auf den Regalen.

Würde er, wenn er ihn nicht kennte, diesem Arzt trauen? Manuel nahm sich vor, sich morgen einmal wie ein Patient in sein eigenes Wartezimmer zu setzen. Sie unterschätzten wohl alle die Wichtigkeit dieses Eindrucks.

Auch dass jeder, der aus dem Sprechzimmer trat, am offenen Warteraum vorbeikam und sah, wer dort saß, fand Manuel unpassend, denn jetzt ging die Tür auf, und er hörte seinen Kollegen sagen: »Auf Wiedersehen, Herr Simonett.« Tatsächlich warf der Banker, der die Merkschrift »Tinnitus-Hilfe« in der Hand trug, im Abgehen einen Blick auf Manuel, grüßte ihn mit offensichtlichem Erstaunen und fragte ihn dann: »Haben Sie etwa auch eine Eisenbahn im Ohr?«

»Nicht direkt«, sagte Manuel lächelnd und ärgerte sich sogleich über diese Antwort. Deutlicher, so schien ihm, hätte er nicht ausdrücken können, dass auch er als Patient hier war.

»Grüß dich, Manuel.«

»Hallo, Toni.«

Sein Kollege Mannhart begrüßte ihn mit einem merkwürdig schwammigen Händedruck und bat ihn in sein Ordinationszimmer.

»Du hast ihn jedenfalls nicht entmutigt«, sagte Manuel, als sie drin waren, mit einer Kopfbewegung zur Türe hin, »er macht schon wieder Scherze.«

»Wir müssen den Verlauf abwarten«, sagte Mannhart, »ich geb dir gelegentlich Bescheid. Und was ist denn mit dir?«

Er war etwas älter als Manuel, knapp an der Pensionsgrenze, hatte gewelltes graues Haar und eine teilnahmsvolle Dauerfalte über der Nasenwurzel.

»Tja, was ist mit mir? Das wollte ich eigentlich dich fragen. Ich glaube, mich hat’s mit einem Tinnitus erwischt.«

Und dann schilderte er ihm seine Symptome, zeigte ihm auch sein Audiogramm, das die bewährte Frau Weibel mit ihm gemacht hatte, und sein spezialisierter Kollege stellte ihm viele der Fragen, die Manuel seinen Patienten auch stellte, seit wann, permanent oder von Zeit zu Zeit, nur nachts, auch tagsüber, in welchen Situationen, Veränderung bei anderer Haltung des Kopfes, Störungsgrad, schlafstörend, konzentrationsstörend, Hörsturz, Lärmtrauma, Lärmbelastung im Alltag usw.; er verharrte länger beim Punkt, ob die Schläge, wenn er sie höre, pulssynchron seien, so dass vielleicht eine Angiographie angezeigt wäre, doch die Schläge hatten nichts mit dem Puls zu tun, sie waren zu schnell, Manuel imitierte sie, indem er mit den Fingerknöcheln dreimal auf die Tischplatte schlug, sagte, nach der Qualität der Töne gefragt, es klinge aber eher etwas heller, so, als schlüge man gegen eine sehr dicke Fensterscheibe.

Ob ihm denn zu diesem Geräusch etwas in den Sinn komme, fragte sein Kollege, und die Dauerfalte auf seiner Stirn vertiefte sich zur Furche. Selbstverständlich kam Manuel etwas in den Sinn, und ebenso selbstverständlich sagte er seinem Kollegen nichts davon, denn Schläge an eine Fensterscheibe hingen aufs Engste mit seinem Flecken im Reinheft zusammen, der niemanden etwas anging, und auch als jetzt die ganze psychologische Litanei kam mit Stress, Belastung, unbewältigten Problemen und unbestimmten oder bestimmten ängsten, blieb Manuel, der seine Patienten immer ermahnte, diese Fragen ehrlich zu beantworten, so vage und ablehnend, als es irgendwie ging.

Sein eigenes Interesse am Phänomen des Tinnitus hatte erheblich nachgelassen, als sich einer seiner Patienten, ein Musiker, das Leben nahm, weil er die tägliche und nächtliche Folter durch den Lärm in seinen Ohren nicht mehr aushielt. Dieser und andere schwere Fälle hatten Manuel so zugesetzt, dass er begonnen hatte, Tinnitus-Patienten weiterzuweisen, bevor er sich mit ihnen auf eine lang andauernde Therapie einließ, von der er zum vornherein wusste, dass sie kaum Aussicht auf Heilung bot.

Ein Krebs war, auch wenn er tödlich endete, ein viel realerer Gegner, und die Patienten hatten dafür mehr Verständnis, ja sie akzeptierten ihn fast leichter als einen Tinnitus, bei dem man gegen ein Phantom kämpfte, ein Phantom mit großer Ausdauer und zermürbenden Kräften.

Eigentlich hielt es Manuel für eine Schande der Medizin, dass sie bei all den Fortschritten auf den verschiedensten Gebieten beim Tinnitus nicht viel weiter gekommen war als jener Franzose, der sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts als erster ausführlich damit beschäftigt hatte und der seinen Tinnitus-Patienten z. B. empfahl, sich so oft wie möglich vor heftig knisternde Kaminfeuer zu setzen oder in eine lärmige Mühle umzuziehen, damit ihnen das Getöse in ihrem Ohr weniger auffiel.

Eine Zeitlang hatte er sich vorgestellt, dass es möglich sein müsste, neue Haarzellen auf die Basilarmembran zu implantieren, doch diese Idee scheiterte an der Winzigkeit der Härchen. Ob die Nanotechnologie, die in den letzten Jahren derart boomte, einmal dazu in der Lage sein sollte?

Auch Manuel hatte in erster Linie mit der Maskierung der Geräusche gearbeitet, hatte seinen Patienten Hörapparate mit Frequenzen gegeben, welche den Frequenzen der Störungen nahekamen, war im übrigen stets pragmatisch vorgegangen und hatte keinen Lösungsansatz von vornherein verworfen. Wenn aber wieder eine Studie über eine neue Methode erschien, in der von 20 oder 30% der Patienten die Rede war, bei welchen eine deutliche Linderung eingetreten sei, und Manuel machte einen Versuch mit dieser Methode, waren seine Patienten zuverlässig bei den 70 bis 80%, die nicht darauf ansprachen. Er fühlte sich hilflos, und wenn die einzige Botschaft des Arztes an den Patienten war, er müsse sich an das übel gewöhnen, war das eine Kapitulation vor dem Phantom. Diese Botschaft nannte man seit einiger Zeit Retraining, und einer ihrer bekanntesten Botschafter war sein Kollege Mannhart. Vor ihm saß Manuel Ritter nun zu seiner eigenen überraschung und wollte dessen Meinung zur Tatsache hören, dass neuerdings jemand mit der Faust an sein Innenohr hämmerte.

Zweifellos, sagte dieser, handle es sich um einen Tinnitus, einen subjektiven, und die Plötzlichkeit, mit der er aufgetreten sei, wäre für ihn eigentlich ein Hinweis auf einen psychogenen Charakter; ob ihn nichts erschreckt habe in letzter Zeit, ein Problem, das auf einmal aufgetaucht sei, oder eines, das wieder akut geworden sei. Nein, sagte Manuel etwas ungehalten, und was denn wäre, wenn es ein solches Problem gäbe.

»Dann, mein Lieber, müsstest du dich dringend damit beschäftigen. Ich weiß nicht, wie es in deiner Praxis ist, aber ich habe mehrere Fälle erlebt, in denen die Symptome vollständig zurückgingen, als sich der Patient seinem Lebensproblem stellte.«

»20 bis 30%?« fragte Manuel spöttisch. »Dann bin ich bei den andern 70 bis 80. Wie meine Patienten auch immer, deshalb schick ich sie ja zu dir.«

Ja, er habe sich, ehrlich gesagt, etwas gewundert, weshalb er ihm diesen jungen Banker überwiesen habe, so ungewöhnlich sei der Fall ja auch wieder nicht.

»Er liebt seine Stelle«, sagte Manuel, »und er wird sie verlieren.«

»Nicht zwingend.«

»Meinetwegen. Zu 70 bis 80%, wie gesagt. Bei mir. Du kannst ihn vielleicht in den 20 bis 30%-Bereich lotsen. Der Patient hofft auf mich, und ich kann seine Hoffnung nicht erfüllen. So ist es, und nach dem Suizid meines Musikers ist mir der Tinnitus verleidet.«

»Dafür kommt er jetzt zu dir.«

»Wahrscheinlich will er sich rächen«, sagte Manuel. »Und? Was schlägst du vor?« Er versuchte ein Lächeln. »Das Büchlein ›Tinnitus-Hilfe‹ habe ich schon.«

»Hoffentlich gelesen.«

»Selbstverständlich. Geb ich meinen Patienten, die ich behalte, auch mit. Kein Wort dagegen.«

»Also, da du gegen die psychologischen Aspekte offenbar resistent bist, fangen wir mit einem Cortisonstoß an. 3 x 500mg, nach 5 Tagen 3 x 250mg, nach 10 Tagen kommst du wieder zu mir.«

»Na?« sagte Manuel, »ein Cortisonstoß?« Er nahm nicht gern starke Medikamente, Cortison schon gar nicht. Er verschrieb es bloß.

»Scheint mir schweregradadaptiert«, sagte Mannhart, »und nicht aussichtslos.«

Manuel lächelte. »Du meinst, 20 bis 30%? Gut, ich zähle auf dich. Hoffentlich läßt sich mein Innenohr damit umstimmen.«

Falls er nicht mehr in seine Praxis zurückgehe, gebe er ihm die Packungen gleich mit, sagte Mannhart und schob sie ihm über den Tisch. Leider müsse er sich verabschieden, da er einen Vortrag bei einer Tinnitus-Selbsthilfevereinigung halten müsse.

Er könne ja gleich mitkommen, scherzte Manuel, vielleicht sei er dort auch bald Mitglied.

Als er etwas später auf Mannharts Praxis-Parkplatz in seinem BMW saß, den Motor angelassen hatte und die Handbremse lösen wollte, hielt er einen Moment inne.

Es war ihm, als ziehe sich etwas um ihn zusammen. War das möglich, dass er ab jetzt mit einem Tinnitus leben musste, einem Tinnitus, der stark genug war, um ihn nachts zu wecken? Er wusste, was das bedeutete. Er sah die verhärmten Gesichter seiner langjährigen Geplagten vor sich, welche die Hoffnung auf Linderung aufgegeben hatten, und er sah seinen Musiker und hörte seinen letzten Satz in der letzten Konsultation: »Ich kann nicht mehr.«

Und war das möglich, dass er diesen Klopfgeist nur zum Verstummen bringen konnte, wenn er mit dem klar kam, was er jahrelang für sich behalten hatte und was sich nun auf einmal wie ein Lebensproblem gebärdete? Wäre das nicht eine Kraftloserklärung seines bisherigen, so ordentlich und harmonisch verlaufenen Lebens? Dieses Lebens, in dem ständig eine Lüge mitlief, eine Lüge, die ihm jederzeit zu Diensten war, wie auch vorhin wieder? Würde ihm jemand vorwerfen, egal in welchem Zusammenhang, er sei ein Lügner, würde er das als Beleidigung zurückweisen. Dabei war es so. Er war ein Lügner. Ein Feigling und ein Lügner. Manchmal. Wenn es nicht anders ging.

Was sollte er nur tun?

Sich jemandem anvertrauen?

Wem?

Wo war dieser Brief mit dem Foto?

Wer war Anna?

Wieso mußte sie ausgerechnet baseldeutsch sprechen?

Oder genügte das Cortison?

Als es dreimal an die Fensterscheibe klopfte, schloss er die Augen und biss auf die Zähne.

Dann rief eine grauhaarige Frau, die sich zum Beifahrerfenster hinuntergebeugt hatte, er solle entweder wegfahren oder den Motor abstellen, er verstinke hier den ganzen Hof mit seinem Auspuff.

Manuel löste die Handbremse und fuhr weg.