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Manuel und Julia saßen im »Theater an der Sihl« und applaudierten. Sie waren umgeben von lauter Menschen, die ebenfalls applaudierten. Soeben hatte sich König Peter mit den Worten »Kommen Sie, meine Herren, wir müssen denken, ungestört denken!« von der Bühne ins Publikum begeben, war zwischen den Reihen durchgegangen und hatte immer wieder gemurmelt »Ich bin ich«, war manchmal vor einem Zuschauer stehen geblieben, hatte ihn mit dem Blick fixiert und dann gesagt: »Du bist du«, während sich der Staatsrat durch einen anderen Teil des Publikums gezwängt und, auf König Peter deutend, gemurmelt hatte: »Er ist er.« In ihrer Reihe hatte er Julia ins Auge gefasst und zum König hinübergerufen: »Sie ist sie!«
Und als Leonces Kumpan, der Taugenichts Valerio, in einem »Playboy«-Magazin blätternd, sein Schlusswort gesprochen hatte, in dem er Gott um Makkaroni, Melonen und Feigen, klassische Leiber und eine kommode Religion gebeten hatte, stellte sich der König zuhinterst im Publikum auf einen Stuhl und brüllte das erste Ergebnis seines ungestörten Denkens in den Saal: »Wir sind wir!« Darauf wurde der Massenjubel eines Fußballstadions eingeblendet, der in eine gewaltige Explosion überging, ein blendender Blitz leuchtete auf, dann gab es einen Blackout, und der Ton riss ab.
Es blieb fast eine Minute lang dunkel, niemand wagte sich zu rühren, erst als ganz langsam das Saallicht hochgefahren wurde, setzte Applaus ein, zögernd zuerst, dann immer kräftiger, schwappte über die Schauspieltruppe, die als Ganzes die Bühne betrat, schwoll in Wellen an, als die Akteure aus der Reihe einzeln vortraten, bei Valerio vor allem, einem übergewichtigen Sancho Pansa mit einem wunderbaren komischen Instinkt, aber auch bei Lena und bei Leonce. Er steigerte sich nochmals, als die Schauspieler der Regisseurin winkten, und als Mirjam kam, um sich zu verbeugen, erklangen »Bravo!«-Rufe, was Julia, die ebenso heftig klatschte wie ihre Umgebung, die Tränen in die Augen trieb, und auch wie ihre Tochter jetzt den Bühnenbildner und den Tontechniker und die Beleuchterin auf die Bühne holte, wärmte ihr das Herz, das Bühnenbild mit dem riesigen Märchenbuch hatte sie sofort angesprochen, es brauchte keinen Vergleich zu scheuen mit dem, was man im Schauspielhaus oder im Opernhaus sah. Als nun das ganze Team auf der Bühne stand, begann das Publikum zusätzlich mit den Füssen auf den Boden zu trampeln, etwas, bei dem Julia und Manuel nicht mitmachten, aber kein Zweifel, die Begeisterung über Aufführung und Inszenierung war groß. Natürlich waren Angehörige, Freundinnen und Freunde zahlreich an diesem Abend, doch das war mehr als nur ein Gefälligkeitsapplaus, der hier minutenlang weiterging.
»Was findest du?« fragte sie Manuel leise.
»Professionell«, sagte er, »absolut professionell. Und du?«
»Grandios.«
Die Premièrenfeier im Foyer, wo man Wein, Bier und Orangensaft ausschenkte und wo von Mirjams Klasse Schinkengipfel, Canapés, Parmesanstücke und Fleischspießchen offeriert wurden, war turbulent, und es war eine Stimmung wie nach einem gewonnenen Fußballspiel. Die Freude der Lehrer und Lehrerinnen der Akademie war die Freude der Trainer, die Freude von Mirjams Klasse war die Freude der Mannschaftskollegen, die Freude von Annas Klasse war die Freude des erfolgreichen Teams, die Freude der Eltern der Mitwirkenden war die Freude der Sponsoren und der Stolz auf das eigene Blut, auch die kleinste Rolle hatte ihren Fanclub, und so mischten sich die verschiedensten Triumphe zu einer Art Siegesfeier, deren Lärmpegel den Grad erreichte, der in den Gesprächen bereits das Verständnis von Konsonanten gefährdete, jedenfalls verstand Manuel einmal Lügner statt Büchner.
Manuel und Julia warteten vor allem auf Mirjam, Manuel mit einem Glas Orangensaft und Julia mit einem Weißwein in der Hand. Aber zuerst kamen Thomas und Anna auf sie zu, ein Paar, schoss es Julia durch den Kopf, ein richtiges Paar, Thomas hatte seinen Arm um Annas Hüfte gelegt.
»Sie waren großartig!«, sagte Julia, »einfach großartig!«
»Wirklich?« Anna konnte es noch nicht ganz glauben.
»Ich hatte Angst um Sie«, sagte Manuel.
»Dass ich den Text vergesse?« fragte Anna.
»Ach wo«, sagte Manuel, »gleich in Ihrer ersten Szene im Garten der Irrenanstalt. Sie spielten derart echt. Ich war richtig froh, dass Sie fliehen konnten.«
Anna wusste nicht, was sagen.
»Ich auch!« rief Thomas mit angehobener Stimme ins Getümmel, »wenn sie nur nicht draußen diesen elenden Prinzen gefunden hätte!« Er lachte, Anna lachte auch, dann wurde sie von einer Freundin am Arm gepackt, die sie sogleich abküsste, und Manuel sagte nur, »Wir sehen uns noch!«, bevor die beiden von der Partywoge verschluckt wurden.
»Na, Herr Doktor, was sagen Sie zu Ihrer Tochter?« Eine Schauspielerin mit wohlklingender tiefer Stimme legte ihre Hand auf Manuels Arm. Sie war im Ensemble des Schauspielhauses und unterrichtete auch an der Akademie.
»Die Väter sind immer begeistert«, sagte Manuel, »das ist übrigens die Mutter der Regisseurin – Julia, das ist Lea Losinger.«
»Freut mich«, sagte Julia »auf der Bühne hab ich Sie schon oft bewundert.«
»Was sagen denn Sie zur Inszenierung?« fragte Manuel.
»Hervorragend gemacht«, sagte die Losinger, »frisch, frech, phantasievoll und stimmig. Dieser Schluss, den hab ich so noch nie gesehen.« Sie trat etwas dichter an Manuel heran und kam mit dem Kopf so nahe an sein Ohr, als müsse sie ihm ein Geheimnis verraten. »Bei Büchner geht der König ja einfach ab, aber dass Mirjam nachher diesen Satz variiert, bis zum ›wir‹ – genial! Ich gratuliere!«
Manuel versuchte sich näher zu Julia zu stellen und sagte: »Gratulieren müssen Sie ihr - da kommt sie.«
Und bevor Mirjam, die auf ihre Eltern zusteuerte, diese erreichte, warf sich ihr Lea Losinger in den Weg, umarmte und küsste sie und schüttete ihr ganzes Lob über sie aus. Mirjam strahlte, sie stand da wie jemand, der eine Million gewonnen hatte und es noch nicht fassen konnte.
»Mama, Papa!« rief sie, »wie schön, dass ihr da seid!« und umschlang sie gleichzeitig.
»Ich bin überwältigt«, sagte Julia, »so schön! Ich freu mich für dich.«
»Sehr, sehr beeindruckend«, fügte Manuel hinzu, »damit bist du zur Regisseurin geworden.«
»Ich glaube, es hat allen gefallen«, sagte Julia, »man hört nur Gutes.«
»Wisst ihr was?« sagte Mirjam, »der Chefdramaturg vom Schauspielhaus war da und hat gefragt, ob ich Lust hätte, einen Fosse im ›Schiffbau‹ zu inszenieren!«
»Miri, du musst schnell zu uns rüberkommen!« sagte der Schauspieler, der Leonce gespielt hatte und der jetzt einen breitkrempigen roten Hut trug, nahm sie an der Hand und zog sie weg.
»Bis gleich!« rief Mirjam im Weggehen.
Mittlerweile erklang aus Lautsprechern Musik, irgendetwas Rockiges, das den Dezibelpegel nochmals ansteigen ließ.
Manuel beugte sich zu Julias Ohr. »Was soll sie inszenieren?«
»Einen Fosse!«
»Wer ist das?«
»Ein düsterer junger Norweger! Beziehungsdramen und so!« schrie Julia.
Als nun die jungen Leute in einer Ecke zu tanzen begannen und die Musik noch etwas aufdringlicher wurde, zogen es Manuel und Julia vor, die Feier zu verlassen.
»Ich bin ganz glücklich«, sagte Julia, als sie über die Seestraße nach Hause fuhren, »ich hätte nicht gedacht, dass es so gut wird.«
»Hast es ihr nicht zugetraut?«
»Und du? Sag mal ehrlich.«
»Ich war überrascht, ja. Dass sie so souverän mit einem klassischen Stück umgeht. Dieser Molière kürzlich am Schauspielhaus war doch deutlich weniger gut. Oder täusch ich mich?«
Julia legte ihre Hand auf sein Knie.
»Vielleicht täuschen wir uns beide, weil es unsere Miri ist.«
»Dieser Kerl hat auch Miri zu ihr gesagt.«
»Du meinst Leonce? Vielleicht ist es auch seine Miri, was wissen wir?«
»Den hätt ich lieber nicht als Schwiegersohn.«
»Das macht dir Mühe, nicht, dass unsere Tochter nicht mehr deine Miri ist?«
»Nein, wieso?«, log Manuel. »Sie ist erwachsen. Und diese Inszenierung war ihre Doktorarbeit. Jetzt kann sie ihre Praxis eröffnen.«
»Hoffentlich läuft sie.«
»Immerhin hockt schon ein junger Norweger im Wartezimmer«, sagte Manuel, blinkte nach links und bog in die Spur ein, die nach Erlenbach abbog.
Er zuckte zusammen.
»Ist etwas?« fragte Julia.
»Nein, nein«, sagte Manuel und hielt vor der Ampel, die auf Rot stand.
Aber natürlich war etwas, und zwar immer noch dasselbe.
Es hatte dreimal an sein Innenohr geklopft.