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Thomas saß am späteren Nachmittag in der S-Bahn nach Erlenbach.
Er hatte sich bei den Eltern zum Nachtessen angesagt. Unruhig war er, denn das, worüber er mit seinen Eltern sprechen wollte, war schon schwierig genug, und es war heute von einer neuen Nachricht überschattet worden, oder überstrahlt, er wusste noch nicht, was er davon halten und wie er darauf reagieren sollte, und hatte noch nicht einmal Anna etwas davon gesagt, die er erst morgen sehen würde.
Es war Mitte April, und die Temperatur war fast vorsommerlich. Die Natur lief ihrem eigenen Kalender davon. Apfel- und Birnbäume hatten den Höhepunkt ihrer Blüte schon überschritten, in vielen Gärten entlang der Bahnlinie waren verwelkte Forsythien zu sehen, ein Magnolienbaum verlor gerade seine rosa Blütenblätter, dafür war das Violett der Fliederbüsche und das helle Lila der Zierkirschen überall, und Glyzinien und Clematis eroberten Hausecken und Balkone. Das Kleidungsstück des Tages war das T-Shirt. Auf demjenigen von Thomas explodierte der Mount St. Helens.
Im vergangenen Winter war der Schnee praktisch ausgeblieben. In Pontresina hatte man nur unter massiver Zuhilfenahme von Schneekanonen die Diavolezza-Piste bis zur Talstation führen können, einige Langlaufloipen zogen sich als Kunstschneestreifen durch segantinibraune Wiesen, und das Tourismus-Büro organisierte Wanderungen mit Grilladen vor hoch gelegenen Alphütten, die sonst geschlossen waren. Trotzdem wurden viele Buchungen rückgängig gemacht, die Hotelbranche jammerte, die Zahlen der Abonnementsverkäufe der Bergbahnen wurden herumgeboten wie eine Katastrophenmeldung, einzig die Hallenbäder waren mit ihren Umsätzen zufrieden.
All die Plakate, mit denen für die Wintersportgebiete geworben worden war und auf denen sich Snowboarder vor gleißenden Bergketten aus stiebendem Pulverschnee in die Luft erhoben oder Skifahrer an jungfräulichen Hängen ihre Spuren zogen, hatten sich als Lügen erwiesen, denn es fehlte dazu eine Kleinigkeit, und das war der Rohstoff für den Wintersport, der Schnee. Bis Weihnachten müsse es einfach schneien, hatte Anfang Dezember ein Kurdirektor in einem Interview gesagt, als stelle er der Natur ein Ultimatum. Aber es hatte weder bis Weihnachten geschneit noch bis Ostern, die eben vorbei waren. Damit das Lauberhornrennen in Wengen durchgeführt werden konnte, hatte man anderthalb Tonnen Kunstdünger in den Kunstschnee gemischt, um ihn haltbarer zu machen. Jeder Landwirt, der eine solche Menge auf dieser Fläche ausgebracht hätte, wäre dafür gebüßt worden.
Je länger Thomas Umweltnaturwissenschaften studierte, desto weniger verstand er die Menschen. Die Fakten waren seit Jahren bekannt, aber niemand wollte wirklich etwas unternehmen, weder im privaten noch im öffentlichen Leben. In der Arktis ertranken bereits Eisbären, weil sie kein Packeis mehr fanden, das sie trug. Man war hierzulande gern bereit, das Fernbleiben der USA vom Kyoto-Protokoll zu verurteilen, obwohl man selbst weit davon entfernt war, dessen Ziele zu erreichen, und während der schweizerische Bundespräsident bei der Klimakonferenz in Nairobi eine weltweile CO2-Abgabe vorschlug, würgte sein Parlament zu Hause am vierten Anlauf seit sechzehn Jahren zur Einführung ebendieser Abgabe, und von den Gegnern waren dieselben Argumente zu hören, welche der Präsident der Vereinigten Staaten immer zur Hand hatte, allen voran: dies schade der Wirtschaft. Thomas fragte sich, ob es anders geworden wäre, wenn Al Gore, dessen Film über die Klimakatastrophe zur Zeit durch die Welt tourte, seinerzeit den amerikanischen Wahlkampf gewonnen hätte oder ob er ebenso rasch zum Sachzwangverwalter kurzfristiger ökonomischer Interessen geworden wäre.
Vor dem Bahnhof Erlenbach standen zwei Isuzu Trooper, ein Cherokee Jeep, ein Subaru Four Wheel Drive und ein VW, drei davon mit laufendem Motor, alle in Erwartung von Heimkehrenden, die es abzuholen galt. Als ob gleich hinter dem Dorf die Wüste oder ein isländisches Hochmoor läge. Und wenn auch nur ansatzweise von einer stärkeren Besteuerung dieses ebenso unnützen wie schädlichen Wagentyps gesprochen wurde, erhob sich die Politik mit seltener Mehrheitsfähigkeit dagegen.
Aus dem Subaru winkte es, und Frau Ziegler, die etwas weiter oben wohnte, rief ihm zu, ob er mitfahren wolle. Von hinten legte sich eine Hand auf seine Schulter, und Pascal, der mit ihm zur Schule gegangen war, lachte ihn an. Er war in Offiziersuniform und trug seine graue Ausgangstasche, wohl mit der schmutzigen Wäsche darin.
»Schön, dass ihr eure Eltern nicht vergesst!«, sagte Pascals Mutter fröhlich, als sie beide einstiegen.
»Wo sonst gibt es eine solche Rindfleischpastete?« gab Pascal zurück. »Und was machen die Vulkane?« fragte er Thomas mit einem Blick auf sein T-Shirt.
»Sie brodeln – was sonst? Und wie geht’s der Landesverteidigung?«
Pascal grinste. »Ihr müsst keine Angst haben, wir üben täglich die Abwehr von Vulkanausbrüchen.«
»Mirjam soll so ein schönes Stück inszeniert haben«, sagte Pascals Mutter zu Thomas, der auf dem Rücksitz saß.
»Ja«, sagte Thomas, »Leonce und Lena. Wird noch heute und nächste Woche gespielt, Theater an der Sihl, Gessnerallee.«
Frau Ziegler seufzte. »Schade, dass das Parking Gessnerallee abgebrochen wurde, da konnte man immer gleich reinfahren.«
»Die S-Bahn bringt Sie auch hin«, sagte Thomas, »es sind 5 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof.«
Dieser Hinweis war Thomas’ Beitrag zur Minderung des C02-Ausstoßes an diesem Abend. Er fand es schwer, etwas zu sagen oder zu tun, ohne missionarisch zu wirken. Hätte er die Mitfahrt verweigern sollen mit dem Hinweis, er lehne diese Dreckschleudern ab? Hätte sich diese Beleidigung gelohnt, für die Klimaerwärmung? Das einzige, was sicher war, sie hätte zu einer Klimaabkühlung zwischen ihm und Pascal und dessen Familie geführt, die er alle ganz gern mochte. Thomas hatte begonnen, seine eigenen Unternehmungen immer einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen, aber eigentlich war die Sozialverträglichkeitsprüfung ebenso wichtig. Wenigstens führen seine Eltern keine Offroader. Doch natürlich hatten sie zwei Autos, Vater eins und Mutter eins.
Die Lasagne waren wunderbar. Julia kochte gern, wenn sie Zeit hatte dazu, und heute hatte sie Zeit gehabt. Es war Samstag, und sie freute sich, wenn eines ihrer Kinder zum Essen kam.
»Wer nimmt noch einen Löffel?« fragte sie und blickte aufmunternd in die Runde.
Aus purer Fresslust«, sagte Manuel und hielt seinen Teller hin, »und weil eine Woche vorbei ist, und weil unser Sohn uns die Ehre gibt. Wer nimmt noch einen Schluck?«
Und da niemand nein sagte, füllte er die Gläser mit dem Rioja nach, von dem er gestern zwei Flaschen aus dem Keller geholt hatte.
Auch Thomas ließ sich ein zweites Mal schöpfen, und dann wollte Manuel nochmals anstoßen.
Wir haben doch schon angestoßen«, wandte Julia lachend ein, als sie ihre Gläser hoben.
»Aber nur allgemein. Na, Thomas, worauf kann man denn mit dir anstoßen? Heraus mit der Sprache!«
»Ich habe ein Traumpraktikum bekommen«, sagte Thomas, »ein halbes Jahr in Mexiko City, bei einem groß angelegten Forschungsprojekt über die Luftqualität in der Stadt und der Umgebung, bis hinauf zum Popocatepetl.«
Nun klang der helle Glockenton der Gläser durch das Wohnzimmer, und Manuel und Julia begannen nach dem Wann und Wie zu fragen, und Thomas sagte ihnen, was er schon darüber wusste. Allzuviel war es nicht, denn er hatte dieses Praktikum erst an dritter Stelle auf seine persönliche Wunschliste gesetzt und hatte auch seine Bewerbung nicht mit der größten Sorgfalt eingegeben, da sich eine Kollegin und ein Kollege dafür interessierten, die er beide für qualifizierter hielt. Der Kollege, ein Tessiner, hatte sich aber kurzfristig entschieden, bei einer Studie über die Gesundheit der Kastanienbäume im Maggiatal mitzumachen, für die er angefragt wurde, und die Kollegin hatte ihre Anmeldung wieder zurückgezogen, als sie vernahm, dass eine Freundin in der U-Bahn von Mexiko City überfallen und ausgeraubt worden war.
Das Praktikum sollte im Sommer beginnen und bis Weihnachten dauern, und bevor Thomas die Rede darauf brachte, dass es wohl nicht ohne finanzielle Unterstützung der Eltern zu machen wäre, sagte sein Vater, wegen des Geldes brauche er sich keine Sorgen zu machen, das bezahle alles die Krankenkasse. Das war seine Formel, die er auch bei andern Gelegenheiten benutzte, wenn er sich auf seine gutgehende Praxis bezog.
Thomas war wieder einmal gerührt über die väterliche Großzügigkeit und überhaupt über die positive Reaktion der beiden.
Julia sagte, dann könnten sie ihn ja vielleicht in den Herbstferien besuchen. Mexiko gehöre schon lange zu ihren Traumzielen, und seltsamerweise sei es noch nie zu einer Reise dorthin gekommen. Sie hatte bloß einmal den südlichen Teil Lateinamerikas besucht, war in Bolivien, Peru und Ecuador gewesen, aber Mexiko sei eigendich schon lange fällig, dort kämen ihre spanischen Lieblingsautoren her, Octavio Paz und Juan Rulfo, und auch das Haus von Frida Kahlo würde sie sich gern ansehen, ganz abgesehen von den Murales ihres Mannes Diego Rivera, vor allem diejenigen im Palacio National müssen ja sehr beeindruckend sein.
Thomas staunte, was seine Mutter alles über Mexiko wusste. Seine Kenntnisse waren vergleichsweise bescheiden, namentlich die kulturellen. Ihn faszinierte vor allem die Möglichkeit, eventuell den Popocatepetl zu besteigen.
»Und während deine Mutter der Kultur nachrennt, könnten wir zwei ja auf den Popocatepetl«, sagte sein Vater, als hätte er seine Gedanken erraten, »soll ja nicht schwer zu besteigen sein, das wäre dann mein erster Fünftausender, und wohl auch mein letzter.«
»Was sagt denn Anna zu der Aussicht, dass du ein halbes Jahr wegfliegst?« fragte seine Mutter.
»Tja, eehm … Sie weiß es noch gar nicht.«
Das Mail aus Mexiko sei erst heute Vormittag gekommen, und er wolle mit Anna nicht am Telefon darüber sprechen, sondern erst morgen, wenn sie sich träfen.
Julia sagte, das könne einer Freundschaft auch gut tun, sie sei schließlich auch kurz, nachdem Manuel und sie sich verliebt hätten, ein Semester nach Salamanca gefahren.
Aber er habe sich doch gestern schon zum Essen angemeldet, sagte sein Vater, und zwar mit dem Zusatz, es gebe eine Neuigkeit zu besprechen. Was denn diese Neuigkeit sei.
Das sei eine Neuigkeit, die dazu beitrage, dass er noch gar nicht wisse, ob er die Praktikumsstelle in Mexiko überhaupt annehmen wolle.
»Was denn?« fragte sein Vater, »bietet man dir eine Professur an?« Er lachte über seinen Scherz und trank einen Schluck Rioja.
»Nein«, sagte Thomas, »Anna ist schwanger.«
Manuel stellte sein Glas abrupt ab und begann zu husten. Er hatte sich verschluckt und kam in solche Schwierigkeiten, dass Julia aufstand und ihm auf den Rücken klopfte.
»Das ist allerdings eine Neuigkeit«, sagte er heiser, als er wieder richtig atmen konnte.
»Eine schöne«, sagte Julia, »doch, eine schöne Neuigkeit, ein bißchen früh für euch beide, aber ich freue mich. Ihr seid ein gutes Paar.«
Manuel hob die Serviette zum Mund und hustete nochmals, dann fragte er vorsichtig: »Aber – sie will doch das Kind nicht austragen?«
»Doch«, sagte Thomas, »das will sie.«
»Und ihre Ausbildung? Sie ist ja noch mittendrin.«
»Sie glaubt, dass das geht.«
»Hat sie dich hineingelegt?« fragte Manuel, und es klang hart.
Thomas errötete. »Nein, ich … ich hatte keine Kondome mehr, und es war das Ende ihrer Periode, also völlig unwahrscheinlich.«
Noch nie hatte er über so etwas Intimes mit seinen Eltern gesprochen, das hatten sie bisher immer vermieden.
»Das ist doch Unsinn«, sagte der Vater, »du gehst nach Mexiko, und dann kommst du gerade recht zur Geburt, oder wie?«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte Thomas, »es kommt alles etwas überraschend.«
Das schließe sich einfach aus, sagte sein Vater, da solle er sich keine Illusionen machen, und eine Frau, die er erst so kurze Zeit kenne, könne doch nicht die Frau des Lebens sein, zu der sie sich mit diesem Kind offenbar machen wolle. Dass es ihr ihre Karriere verbaue, sei ihre Sache, aber dass es auch ihm die Karriere verbaue, sei wohl auch seine Sache.
Von Karriere verbauen könne keine Rede sein, erwiderte Thomas, die seinige hänge bestimmt nicht davon ab, ob er ein Praktikum bei diesem oder einem anderen Projekt mache, und eine Abtreibung sei keine Kleinigkeit, da müsse schon Anna selbst darüber bestimmen.
Eine Abtreibung sei überhaupt keine Sache, zu diesem Zeitpunkt sowieso nicht, und er gebe ihr die Adresse eines Kollegen, der so etwas einwandfrei mache und ihr auch gleich sage, bei wem sie vorher das Zeugnis holen müsse, dass es für sie nicht zumutbar sei.
»Warum so heftig?« fragte Julia, »ein Enkelkind, weißt du, wie schön?«, um dann, zu ihrem Sohn gewandt, weiterzufahren, »ich würde dich und Anna jedenfalls unterstützen, so gut ich kann.«
Ihre Augen schimmerten, als sie das sagte.
Manuel starrte entgeistert auf seine Serviette.