38122.fb2
Für mich?«
Mirjam war überrascht. Anna hatte ihr ein Päcklein zugeschoben, kaum dass sie sich auf den Stufen niedergelassen hatten, die aus dem Ufer der Limmat eine Einladung zum Nichtstun machten.
Es war der Sonntag nach der letzten Aufführung von »Leonce und Lena«, und am frühen Nachmittag saßen viele junge Leute hier, sonnten sich oder liebkosten einander, rauchten oder hörten aus ihren umgehängten iPods Musik, zu der sie die Hände oder Füsse oder den ganzen Oberkörper leicht bewegten. Etwas weiter weg saß ein Dunkelhäutiger mit einer farbigen Wollmütze, dessen Finger unglaublich virtuos über eine winzige Trommel wirbelten. Es war so warm, dass einige der Männer mit nackten Oberkörpern dasaßen, und einige der Frauen in einem Bikini-Oberteil. Am Steg der Bootsvermietung herrschte ein beachdicher Pedaloverkehr, und vom See her war ab und zu das Hupen eines Dampfschiffes zu hören.
Anna hatte Mirjam bei der Dernièrenfeier am gestrigen Abend gefragt, ob sie sich heute hier treffen könnten.
Mirjam öffnete das Päcklein, das mit einem roten Band mit Goldrändern zugeschnürt war, und war entzückt. Darin lag, neben einem durchsichtigen Säckchen Schokoladetruffes, ein kleiner Stoffeisbär.
»So schön!« rief Mirjam, »Danke, Anna!« Sie küsste sie.
»Und Truffes, meine Lieblinge!« Mirjam öffnete das Säcklein, hielt es Anna hin, die eins herausnahm, und nahm sich dann selbst eins.
»Und womit hab ich das verdient?« fragte sie, während sie die Schokoladekugel im Munde zergehen ließ.
»Deine Inszenierung war sehr wichtig für mich. Es war meine erste größere Rolle –«
»– du hast es wunderbar gemacht, Anna, ich denke, du hast noch vieles vor dir!«
»– und es wird auch meine letzte sein.« Mirjam erschrak. Wie denn, was denn, wieso denn.
Es sei ihr klar geworden, entgegnete Anna, dass sie keine Schauspielerin sei.
Aber sicher sei sie das, sagte Mirjam.
Nein, nein, das habe sie ja schon in der ersten Probe gesehen, als sie wegen dieses Liedchens habe weinen müssen. Das alles nehme sie viel zu stark her. Es gelinge ihr nicht, die Distanz zur Rolle zu gewinnen, die sie zu spielen habe. Sie sei die Figur, anders gehe es gar nicht. Und das mache sie fertig.
Das komme dann schon mit der Zeit, das sei auch eine Frage der Routine, versuchte Mirjam zu trösten.
Anna schüttelte den Kopf.
»Am schlimmsten war für mich die Stelle: ›Wo ist deine Mutter? Will sie dich nicht noch einmal küssen? Ach es ist traurig, tot und allein.‹ Nie konnte ich sie sprechen, ohne an meine Mutter zu denken, ich spürte jedesmal einen Kloß im Hals, ich kämpfte jedesmal mit den Tränen, und ich fürchtete mich jedesmal davor. So kann man nicht spielen.«
»Es gibt noch andere Rollen.«
»Gretchen? Die Kindsmörderin? Solveig von der dritten hat mich gefragt, ob ich in ihrem Urfaust das Gretchen spielen wolle.«
»Du wärst super, das weiß ich.«
»Gib dir keine Mühe, Mirjam, ich werde im Sommer in die Regieklasse wechseln. Ich glaube, das ist etwas, was ich kann. Beim Theater möcht ich eben schon gern bleiben.«
Ja, Regie mache Spaß, sagte Mirjam, das habe sie jetzt gemerkt, aber leiden müsse man wohl genau gleich wie beim Spielen, bis man dran glaube, dass man seine Ideen auch umsetzen könne und dass sie etwas taugen. Sie finde es natürlich schade, wenn Anna nicht mehr spielen wolle, aber wenn sie sich das überlegt habe, sei es wohl richtig, dass sie so weitermache, man könne ja nie wissen, was noch alles komme.
Allerdings, sagte Anna, das wisse man wirklich nie, und sie habe Mirjam treffen wollen, weil sie ihren Rat brauche.
Das mit der Regieklasse halte sie für einen guten Weg, sagte Mirjam.
Darum gehe es nicht, sagte Anna, es gebe da ein größeres Problem.
Mirjam war erstaunt. Was denn das für ein Problem sei?
»Ich bin schwanger.«
Mirjam ergriff ihre Hand.
»Von Thomas?« fragte sie leise.
Anna nickte. »Ein Missgeschick. Ungeschützt, am Ende meiner Mens.«
Mirjam war baff. Lange Zeit sagte sie nichts, ließ aber Annas Hand nicht los.
»Seit wann weißt du es?«
»Seit vierzehn Tagen.«
»Und weiß es Thomas?«
»Ja, und deine Eltern auch. Und jetzt weißt es auch du.«
»Danke«, sagte Mirjam und streichelte Annas Hand. »Und jetzt? Was machst du?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht.«
Dann erzählte sie Mirjam, dass sie zuerst gedacht habe, sie wolle es austragen, dass dann aber Thomas sein Praktikum in Mexiko bekommen habe, das von Sommer bis Weihnachten gehe und dass er dann wohl etwa zur Zeit der Geburt zurückkäme und sie den entscheidenden Teil der Schwangerschaft ohne ihn bestehen müsste und überhaupt, wie sollte sie mit einem Kind die Schule weitermachen, und wenn sie im Sommer ein Jahr aussetzen würde, hätte sie Angst, den Anschluss zu verpassen. Und außerdem hätten sie und Thomas überhaupt nie davon gesprochen, wirklich zusammenzubleiben, es sei einfach sehr schön gewesen mit ihm, und das alles sei so schwierig.
Aber du könntest es dir wegmachen lassen.«
Sicher könnte ich das, und euer Vater hat Thomas schon die Adresse eines Kollegen gegeben und der Psychiaterin, die mir das Gutachten machen würde.«
Wie denn ihre Eltern reagiert hätten, wollte Mirjam wissen.
Thomas habe ihr erzählt, dass die Mutter ihre Hilfe versprochen habe für den Fall, dass dieses Enkelkind zur Welt käme, während der Vater ganz entschieden für eine Abtreibung gewesen sei.
»Er will wahrscheinlich nicht Großvater werden, das gleicht ihm«, sagte Mirjam, »aber dass Mutter dabei wäre, finde ich schön.«
Und wie Thomas reagiert habe?
Der habe sich zuerst gefreut und es als Zeichen angesehen, dass sie beide zusammengehörten, aber als das Praktikumsangebot aus Mexiko gekommen sei und auch als sie darüber gesprochen hätten, was es für ihre Ausbildung bedeute, sei er zunehmend unsicher geworden. Weder er noch sie seien ja mit ihrem Studium zu Ende.
Da wären sie natürlich nicht die einzigen, sagte Mirjam.
Ja, sagte Anna, aber das mache den Entscheid nicht leichter.
Sie seufzte, Mirjam seufzte auch, der Trommler begann zu seinen Rhythmen auch noch zu singen, lange, hohe Töne mit nur wenigen Variationen, weiter gegen den See hin bildete sich ein Gekreisch und Geflatter von Möwen um eine ältere Frau, die mit einem kleinen Kind Brotstücklein in die Luft warf.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Außer dass es für mich eine Megafreude wäre, wenn du zu unserer Familie kämst und mir eine Nichte oder einen Neffen mitbrächtest.«
»Sicher?«
»Sicher. Aber entscheiden musst natürlich du selbst.«
Es sei zuviel für sie, sie komme allein nicht weiter.
Mirjam hatte eine Idee. »Wir gehen in die Gessnerallee rüber. Ich habe noch den Schlüssel zum kleinen Proberaum, da ist heute sicher niemand.«
»Und dann?«
»Dann proben wir zwei Szenen.«
Eine halbe Stunde später saß Mirjam auf einem Klappstuhl vor einem Podest, und Anna saß auf dem Podest an einem Tisch. Eine Stehlampe daneben war das einzige Licht im verdunkelten Raum. Ein zweiter Stuhl am Tisch war leer.
»Also«, sagte Mirjam, »wir machen ein Minidrama. Es heißt ›Die Abtreibung‹. Du bist eine junge Frau, die schwanger wurde und bei einer Psychiaterin ist, von der sie eine Bescheinigung will, dass sie ihr Kind abtreiben darf. Wir sind an der Stelle, wo dich die Psychiaterin gefragt hat, ob du es dir gut überlegt hast und ob du wirklich keinen andern Weg siehst. Bitte.«
Anna schaute schweigend auf den Tisch, eine Minute, zwei Minuten. Dann hob sie den Kopf und sagte leise: »Natürlich gibt es einen andern Weg. Es gibt immer einen andern Weg, Frau Doktor.« Sie lächelte, weil sie merkte, dass sie sich auf das Spiel eingelassen hatte. Dann sagte sie entschiedener und etwas lauter: »Aber ich will ihn nicht gehen. Das ist der Punkt. Er führt in die Gefangenschaft. Ich will nicht die Gefangene eines Kindes werden und mich nach seinem Willen richten müssen und aufstehen, wenn es nachts schreit, und bei ihm bleiben, wenn es mich anschaut und ich gehen will, denn ich bin ja noch in meiner Ausbildung, ich muss immer wieder gehen, oder kann ich es zu Ihnen bringen, Frau Doktor, zum Hüten, wo sind die Tagesmütter, die Leihmütter, denen ich das Kind geben kann, damit ich mein Leben weiterverfolgen kann, meine eigenen Pläne, nicht die des Kindes? Wir schließen uns aus, wir zwei. Ich lebe vom wenigen Geld, das mir meine Mutter hinterlassen hat, die so oft nicht zu Hause war, wenn ich sie brauchte. Das ist nichts für mich.«
»Aber Frau Anna«, sagte Mirjam aus dem Halbdunkel, solche ängste hat jede junge Frau vor dem ersten Kind.«
»Ich bin nicht jede junge Frau!« rief Anna heftig, »ich bin ich! Ich! Und ich will nicht, dass ein Kind jetzt meine Zukunft organisiert für die nächsten zwanzig Jahre und mir sagt, mit wem ich zusammenleben soll und was ich überhaupt tun muss, klar?«
»Es ist klar, Frau Anna, beruhigen Sie sich«, entgegnete Mirjam, »Sie bekommen die Bescheinigung, ich wollte nur sicher sein, dass es Ihnen ernst ist.«
Dann sagte sie zu Anna: »Gut, die erste Szene ist beendet. Wir kommen zu Szene zwei. Der Vater deines Freundes, ein Arzt, hat dich um eine Unterredung in seiner Praxis gebeten. Bereit?«
»Bereit.«
Nun sagte Mirjam mit etwas tieferer Stimme: »Ich wollte Sie nur fragen, Anna, ob alles in Ordnung ist.«
Anna schaute lange ins Halbdunkel und nickte dann: »Ja, Herr Dr. Ritter, ich bekomme die Bescheinigung, es ist alles in Ordnung. Für Sie.« Dann machte sie eine lange Pause und schrie: »Aber für mich nicht! Für mich ist nichts in Ordnung, hören Sie? Ich will dieses Kind!«
»Aber warum nur, Anna?«
»Weil alles dagegen spricht, deshalb! Ich bin noch in der Ausbildung – na und? Ihr Sohn soll ein halbes Jahr nach Mexiko – na und? Ich wollte dieses Kind nicht, aber das Kind wollte mich – oder sich! Ich habe meine Mutter nie so gehasst, wie wenn sie mir sagte, ich sei ihr Wunschkind. Kinder sollen unerwünscht kommen! Ich will eine andere Mutter sein als meine Mutter eine war! Ich kann das.«
»Das können Sie später immer noch, Anna.«
»Wer weiß, ob später noch ein Kind zu mir kommen will? Wieso wollen Sie es mir wegnehmen, das Kind, Herr Dr. Ritter? Wissen Sie, was eine Abtreibung ist?« Anna erhob sich von ihrem Stuhl.
»Ein kleiner medizinischer Eingriff, ambulant und ohne –«
Mord. Abtreibung ist Mord«, sagte Anna fast tonlos und zutiefst erschrocken, »und ich will keine Mörderin sein. Und jetzt gehen Sie. Ich muss meinen Mann anrufen.«
Anna zog ihr Handy hervor und wählte die Nummer von Thomas.
»Ich bin’s, hallo. Thomas, ich wollte dir nur sagen, du kannst machen, was immer du willst, du kannst nach Mexiko gehen, oder auch nicht, ich weiß nicht, wer du bist, aber ich liebe dich – und ich behalte das Kind.«