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»Como está, señor?«

Mercedes stand im Türrahmen von Manuels Arbeitszimmer im oberen Stock. Sie trug einen farbigen Poncho, hatte eine schwarze Melone auf dem Kopf, die leicht schief saß, und hielt eine Biscuitschachtel in ihrer rechten Hand.

»Bien, gracias«, antwortete Manuel lächelnd. Viel mehr konnte er auf Spanisch gar nicht.

»No, doctorcito«, sagte Mercedes, indem sie zu seinem Schreibtisch kam. »Usted no va bien, lo ven mis ojos.«

Sie zeigte auf ihre Augen als Garanten ihrer Wahrnehmung, dass es Manuel nicht gut ging.

Und so war es. Seit Annas Auftauchen hatte sich etwas in ihm eingenistet, gegen das er vergeblich mit der ganzen Gewandtheit seiner Ironie antrat. Angst und Kummer saßen, ungebetene Gäste, in den Gemächern seiner Gefühle und ließen sich durch keine Tricks hinauskomplimentieren. Und als der Tinnitus dazukam, zogen sie ihre Familien nach, Beklemmung, Sorge, Panik, und sie hielten zusammen wie Migranten aus einem tristen fernen Land, mit denen Manuel nichts zu schaffen hatte und die nun einen Anteil von seinem Glück einforderten.

Natürlich war dies Julia nicht entgangen, und er musste ihr von seinem Tinnitus erzählen, auch davon, dass er deswegen einen Kollegen aufgesucht und sogar einem Cortisonstoß zugestimmt hatte, in der vagen Hoffnung, damit zur 20%-Erfolgsquote zu gehören. Gestern war die zehntägige Behandlungsdauer abgelaufen, und heute Nacht war er um drei Uhr erwacht, weil es geklopft hatte.

Ein klein wenig kam ihm der Tinnitus allerdings auch gelegen, diente er doch zur Maskierung seiner Besorgnis, die etwas anderem galt. Julia gegenüber hatte er gesagt, er empfinde es als Niederlage seiner ganzen Tätigkeit als Ohrenarzt, dass er nun selbst zum Opfer eines Symptoms werde, das er so oft erfolglos zu behandeln versucht habe.

Was er selbst denn einem Patienten mit Klopfgeräuschen geraten habe, hatte ihn Julia gefragt.

Einfacher seien natürlich die rauschenden und sirrenden Hörstörungen, sagte Manuel, sogar Eisenbahnen und Motoregeräusche, die an- und abschwellen, seien leichter zu ertragen, weil sie den akustischen Hintergrund unseres Alltas bilden, aber Klopfen und Hämmern gehöre zum aggresiveren Teil und habe ihn immer besonders ratlos gemacht. Eine Frau, und jetzt musste Manuel ein bißchen lachen, eine Frau vom Zürichberg übrigens, die mit einem Hammerschlag-Tinnitus zu ihm gekommen sei, habe ihm auf seiner Nachfrage hin sofort gesagt, dass sie eigentlich am liebsten eine Lehre als Schreinerin gemacht hätte, aber dann ins Gymnasium gesteckt worden sei, und der habe er empfohlen, sich eine kleine Werkstatt einzurichten und mit Schreinern zu beginnen, was sie auch getan habe, und tatsächlich habe sie sich durch die Geräusche weniger gestört gefühlt, und wenn er sich recht erinnere, seien sie sogar ganz verschwunden, dies sei schon länger her, gehöre aber zu seinen wenigen Highlights auf diesem Gebiet.

Natürlich fragte ihn Julia sogleich, wie es denn bei ihm sei, ob er vielleicht auch eine verborgene Schreinerseele habe, doch Manuel hatte von jeher eine Abneigung gegen das Handwerken gehabt, er brachte es schon beim Einschlagen von Bildernägeln fertig, sich auf den Daumen zu hauen oder den Hammer fallen zu lassen, so dass sich die Frage erübrigte. Das feine Führen von Operationsbesteck allerdings war eine andere Klasse von Begabung, über die er durchaus verfügte.

Julias Frage nach einer psychotherapeutischen Beratung hatte Manuel ziemlich schroff verneint, er sei ja wohl kein Psychiatriefall, war seine Antwort, und Julia wusste, dass es sinnlos war, weiterzubohren.

Aber langsam befürchtete er tatsächlich, er könne einer werden, denn sein veränderter Zustand musste so offensichtlich sein, dass er nicht einmal ihrer Putzfrau entgangen war, obwohl sie ihn in dieser Zeit höchstens zweimal gesehen hatte.

Heute war Freitag Abend, und Mercedes war nur seinetwegen gekommen. Sie hatte Julia gefragt, ob sie für den Doktor eine Mesa machen dürfe, um ihm gute Kräfte zu schicken, und Julia hatte die Frage an Manuel weitergereicht, zusammen mit der Erklärung, dass eine Mesa ein kleines Brandopfer für die Pachamama sei, den großen Geist der Natur.

Ob sie ihm das Haus anzünden wolle, hatte Manuel gefragt, und Julia hatte ihm von den vielen kleinen Salzteigfigürchen erzählt, die sie auf dem Markt in Cochabamba an den Ständen der Zauberer gesehen hatte, und die sich die Menschen kauften, um durch ihr Verbrennen die Erfüllung eines Wunsches zu erwirken. Der beste Tag für ein solches Opfer war der Freitag, und der beste Ort dafür war Manuels Arbeitszimmer, und so hatte er auf Drängen Julias mit einem Achselzucken und den Worten »Gut, dann machen wir das!« versprochen, am Freitag Abend da zu sein.

Nicht dass er sich wirklich etwas davon versprach, er hatte mit indianischen Ritualen schon zweifelhafte Erfahrungen gemacht.

Unter Esoterikanhängern war es zum Beispiel Mode geworden, einen Pfropf mit einer sogenannten Ohrkerze auflösen zu wollen, worunter ein Wachsröhrchen zu verstehen war, das man sich ans Ohr hielt und dann das Ende anzündete. Die Hopi-Indianer, so hieß es, lockten so durch die entstehende Wärme und den Luftsog das Schmalz aus dem verstopften Gehörgang. Das mochte zwar in leichten Fällen gelingen, aber er hatte auch schon heikle Verbrennungen des Trommelfells behandeln müssen, die durch geschmolzene Wachstropfen entstanden waren.

Hier handelte es sich jedoch um etwas anderes, in dem er keine Gefährdung sah, und da er sich im Umgang mit Tinnitus eine pragmatische Haltung angewöhnt hatte, war er mit ein bisschen Rauch in seinem Zimmer einverstanden. Auch Julias Argument, damit könne er Mercedes eine Freude machen, hatte ihm eingeleuchtet. Mercedes wusste wohl, was in an ihm und Julia hatte, und war erpicht darauf, ihrerseits einmal etwas Besonderes für sie tun zu können.

»Siéntese, doctor, siéntese!« sagte sie, als er zur Begrüßung aufstehen wollte, setzen solle er sich, bedeutete sie ihm, und genau dort bleiben, wo er war, hinter seinem Schreibtisch. Dann stellte sie sich vor ihn, hob die Blechschachtel mit beiden Händen vor ihr Gesicht, senkte den Kopf und schloss die Augen. Lange blieb sie so stehen, wortlos, und Manuel blickte auf ihren seltsamen schiefen Hut, unter dem der schnurgerade Scheitel zu sehen war, der exakt auf der Mitte ihres Schädels verlief und ihre schwarzglänzenden Haare in zwei gleiche Hälften aufteilte. Der Poncho, den sie umgelegt hatte, prangte in wunderbaren Farben, und an einem Lederbändel, den sie um den Hals trug, baumelte eine weiße Tierpfote. Das war ein anderer Anblick, als wenn sie in einer abgetragenen getüpfelten Schürze auf der kleinen Leiter stand und mit einer Ajaxflasche in der einen und einem Lappen in der andern Hand die Fensterscheiben reinigte, und je länger sie so vor ihm stand, desto weiter entfernte sie sich von der Frau, die bei ihnen zum Putzen angestellt war, und wurde zu einer unvertrauten priesterlichen Figur in einer Art Messgewand. Er schüttelte leicht den Kopf, aber etwas verbot ihm, darüber zu lachen. Auch wagte er nicht, etwas zu sagen.

Auf einmal hob Mercedes den Kopf, drehte sich abrupt um, ging zielbewusst auf das Büchergestell zu und sagte: »Aquí!« Sie stellte die Schachtel in der Nähe der Eckwand des Gestells zu Boden, maß mit den Augen nochmals die Distanz und räumte dann einen Teil der untersten zwei Regale aus, indem sie die Bücher auf das Tischchen in der Mitte des Zimmers schichtete. Es war vor allem ältere Fachliteratur.

Manuel verfolgte dies mit einer gewissen Besorgnis, er verstand nicht, weshalb sie ihr Opferfeuerchen nicht z.B. auf der Tischplatte entzünden wollte, versuchte auch einen Einwand, aber Mercedes hob sofort abwehrend beide Hände und schaute ihn mit einem Blick an, den er noch nie an ihr gesehen hatte.

Dann öffnete sie die Schachtel, entnahm ihr ein weißes Brettchen, auf dem verschiedene kleine Figuren und Gegenstände angeordnet waren, und deponierte es auf dem Tischchen.

Die Schachtel stellte sie umgekehrt auf den Teppich, legte den Deckel so darauf, dass die Ränder nach oben schauten, und machte aus einigen Feueranzünderröllchen in der Mitte ein kleines Reisigbett, auf das sie vorsichtig ihr Opferbrettchen hob. Danach zupfte sie Salbeiblätter von einem verdorrten Zweig, den sie bei sich hatte, und verstreute sie auf dem Brett. Jetzt zog sie ein Briefchen Streichhölzer hervor, doch bevor sie eines entflammte, sagte sie zu Manuel: »Doctor, jetzt gut Idee, was du wollen, bien?«

Manuel nickte und murmelte kleinlaut: »Bien, bien.«

Und als nun ein kleines Schmorfeuerchen zu brennen begann, über dem Mercedes, die im Schneidersitz danebensaß, ihren Salbeizweig so schwenkte, dass sich ein feiner Rauch gleichmäßig im Zimmer verteilte, ein Rauch, der überraschend gut und würzig duftete, überlegte sich Manuel, was er eigentlich wollte, und natürlich wusste er das schon lange, auch ohne dass eine Indiofrau mit einem Zweiglein in seinem Zimmer herumwedelte. Er wollte Klarheit darüber, wer Anna war. Dann würde vielleicht auch wieder Ruhe in seinem Ohr einkehren.

Durch den Opfernebel des Altiplano schaute er auf den Zürichsee hinaus, an dessen Ufern nach und nach die Lichterketten angingen und über den ein festlich beleuchtetes Ausflugsschiff glitt. Ein bleicher Halbmond hing so fern am Himmel, als sei er mit der Erhellung anderer Welten beschäftigt.

»Gut Idee, doctorcito?« fragte die Stimme aus Bolivien.

Manuel nickte lächelnd. »Gut Idee, Mercedes.«

Dann stützte er seinen Kopf auf die Hände und schloss die Augen.

Als er sie wieder öffnete, stand Mercedes vor ihm. Die Biscuitschachtel war geschlossen und stand auf dem Tischchen, die Bücher waren ins Regal geräumt. Immer noch hing ein feiner Nebel im Zimmer, und immer noch roch er betörend gut.

Mercedes hielt ihm einen gelben Umschlag hin.

»Estaba detrás de los libros«, sagte sie und deutete auf die unteren Reihen des Büchergestells. »Documentos?«

»Gracias«, sagte Manuel, nahm ihn und legte ihn auf den Tisch, »muchas gracias.«

»De nada, doctor, de nada«, sagte Mercedes, »qué Dios te bendiga«, küsste ihn auf die Stirn, ging dann zum Tischchen, nahm die Schachtel an sich und verließ das Arbeitszimmer.

Manuel blieb eine ganze Weile im Halbdunkel sitzen. Er war schon lange nicht mehr so ruhig und entspannt gewesen.

Endlich zündete er seine Tischlampe an, musste sich ein paar Sekunden an das Licht gewöhnen und machte dann den gelben Umschlag auf.

Darin war der Brief.

Bevor er ihn öffnete, horchte er auf. War das möglich, dass im Garten um diese Zeit noch Krähen krächzten?