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Das Fest löste sich langsam auf.
Man hatte sich zum 80. Geburtstag von Julias Mutter in einem Ausflugsrestaurant zusammengefunden, dessen bis auf den Boden reichende Fenster den Blick auf den oberen Zürichsee freigaben, auf die Berge, die sich von seinem südlichen Ufer erhoben, Etzel, Fluhbrig und Aubrig, und die Kette der Glarner und Innerschweizer Alpen dahinter, vom Glärnisch über den Drusberg und den Clariden bis zum weißglänzenden kleinen Dreieck des Titlis.
Als die Kellnerin mit der großen, aufgeklappten Sperrholzschachtel um den langen Tisch herumgegangen war, hatten sich Julias Vater und Mutters Bruder und auch Julias Bruder eine der Havanna-Zigarren daraus gegriffen und trotz der sanften Proteste von Julias Mutter angezündet, und ein feines Gewölk begann nun die obere Tischhälfte zu überziehen; mit den Sonnenstrahlen, die sich darin brachen, sah es aus, als ob sich ein Tiefdruckgebiet ankündige, und das schöne Wetter draußen machte den Aufenthalt im Säli immer unerträglicher.
Die jungen Menschen hatten bereits die Flucht ergriffen und vergnügten sich in der Minigolf-Anlage, die zum Gelände des Restaurants gehörte. Thomas hatte, auf die ausdrückliche Einladung seiner Mutter, Anna mitgebracht, und sie, Mirjam und ihre beiden Cousinen Ladina und Luisa schoben die Bälle nun lachend über den Parcours von künstlichen Bodenwellen, gekrümmten Rampen und läppischen Teichlein, nicht weil sie passionierte Golferinnen gewesen wären, sondern weil es da oben die einzige Vergnügungsmöglichkeit war. Thomas begleitete sie mit einem Notizblock, in dem er ihre Resultate aufschrieb.
Indessen verharrte die Gruppe der ältesten und der Viererklub der nächsten Generation im Zigarrendunst, denn es wurden nun noch Schnäpse und Liköre angeboten. Julias Tanten, die zwei Schwestern ihres Vaters, bestellten sich beide einen Grand Marnier, Julias Onkel, Mutters Bruder also, entschied sich fröhlich für einen Grappa, und Julias Vater wollte den Quittenschnaps probieren, der hier als Spezialität galt, nur Julias Mutter verlangte einen Pfefferminztee. »Fährst du?« fragte Julias Bruder Gino seine Frau Letizia und schloss sich dann der Quittenschnapsbestellung an, während sowohl Julia als auch Manuel bei ihrem Mineralwasser blieben.
»So bleibt man schlank, nicht?« scherzte Julias Bruder, »täusche ich mich, oder hast du abgenommen?« fragte er seinen Schwager Manuel.
»Kann schon sein«, antwortete Manuel, »weißt du, was ein Hometrainer ist?«
»Siehst du, das täte dir auch gut«, sagte Letizia zu ihrem Mann, der nun mit gerötetem Blick eine Havanna-Wolke ausstieß und zufrieden auf den Quittenschnaps schaute, der ihm eingegossen wurde. »Bis zum zweiten Strichlein«, ermunterte er die Kellnerin, und als Letizia hörbar seufzte, sagte er, Mama werde schließlich nicht alle Tage 80.
Mama indessen saß erstaunlich frisch und heiter zuoberst am Tisch neben ihrem Mann, inmitten von Kirschstengeln, Pralinés und Rosensträußen, vor sich den halben Geburtstagskuchen mit den acht ausgeblasenen Kerzen (für zehn Jahre eine Kerze), ein farbiges Couvert mit einem Gutschein für eine Woche Ferien für zwei Personen in einem Hotel in Pontresina und eines Zopfs in Form einer Bettschere, welche ihr Mirjam und Thomas gebacken hatten.
»Auf unser Geburtstagskind!« rief Gino, hob sein Gläschen in die Richtung seiner Mutter, und alle taten es ihm gleich, nippten dann ein bißchen an ihren scharfen Getränken, während Gino für seine zwei Strichlein nur einen einzigen Schluck brauchte.
Julias Eltern bewohnten immer noch das Haus in Fällanden, obwohl dessen Unterhalt zunehmend mühsamer wurde. Der Altersunterschied zwischen Vater und Mutter betrug sieben Jahre, und der Hausarzt von Julias Vater hatte Manuel gegenüber schon das Wort »dement« benutzt. Er stand manchmal morgens um fünf auf und zog sich an, um seine Kanzlei in Zürich aufzusuchen, die schon seit zwölf Jahren einem andern Rechtsanwalt gehörte. Seine Frau musste den Autoschlüssel sorgfältig verwahren, um sicher zu sein, dass er nicht plötzlich losfuhr. Seinen Fahrausweis hatte er abgeben müssen, als er mit 80 Jahren vor einem Rotlicht auf einen stehenden Wagen aufgefahren war.
Das Geburtstagskind hatte also nicht nur für ein Einfamilienhaus zu sorgen, das für zwei Menschen zu groß war, sondern auch noch für einen Menschen, welchem die Kenntnisse des praktischen Lebens immer mehr abhanden kamen. Brachte aber Julia das Gespräch auf einen Umzug, taten das ihre Eltern mit dem Satz ab, das könne man dann immer noch machen, wenn es einmal Zeit dazu sei. Prospekte von Alterswohnungen und Seniorenresidenzen, welche sie ihnen mitbrachte, waren bei ihrem nächsten Besuch jeweils verschwunden, dafür wurde sie immer häufiger um Chauffeurdienste angegangen, für Zahnarzt- oder Physiotherapiebesuche. Wieso sie kein Taxi nähmen, fragte Julia jeweils am Telefon, und wenn Mutter das Wort wie eine Zumutung wiederholte, schrie ihr Vater aus dem Hintergrund ins Gespräch, das sei sauteuer. Da ihr Bruder Gino als Elektroingenieur bei den Engadiner Kraftwerken arbeitete und mit seiner Familie in Zernez wohnte, hatte sie die ganze Last der Elternpflege zu tragen.
Früher hatte sich Julia vorgestellt, wenn die Kinder einmal erwachsen wären, warte nochmals ein großes Stück Freiheit auf sie, sie sah das wie eine Belohnung für das älterwerden an. Statt dessen war es offenbar so, dass dann die noch älteren bestimmten, was man nun zu tun hatte. Nachdem Manuels Eltern gestorben waren, der Vater vor vier Jahren und die Mutter vor zwei, galt es, ihr ganzes Haus zu räumen, eine Arbeit, die wegen der beruflichen Belastung Manuels und dessen Bruder Max weitgehend an ihr und ihrer Schwägerin hängen geblieben war und welche Julia zeitweise mit einer unglaublichen Wut auf all den Ramsch erfüllte, den ihre Schwiegereltern in ihrem viel zu geräumigen Haus, in Dachboden, Keller und Garage gehortet hatten, und ihr Herz hüpfte, wenn Schirmständer, Bilderrahmen, Schuhkästen, Nachttischchen und Ständerlampen in die Abfallmulde vor dem Haus krachten.
Julia schaute durch den Nebel zum oberen Tischende und wurde auf einmal von einem Grauen gepackt, einem Grauen vor der Zeit jenseits von 80. Onkel Markus, der ältere Bruder ihrer Mutter, war allein gekommen, weil seine Frau mit Alzheimer im Pflegeheim war und niemanden mehr kannte, oft nicht einmal mehr ihren Mann, und von den zwei Schwestern ihres Vaters war die eine geschieden, die andere verwitwet, sie lebten allein in ihren Fünfzimmerwohnungen und langweilten sich, die eine in Burgdorf, die andere in St. Gallen, ließen sich das Essen von der »Spitex« bringen und dachten nicht daran, vielleicht zusammenzuziehen, um sich gegenseitig zu unterstützen oder in ein Altersheim zu gehen, wo sie einige Sorgen los wären. Die eine sah fast nichts mehr und konnte höchstens noch eine halbe Stunde am Tag lesen. Julia hatte ihr letzthin einen tragbaren Radioapparat mit einem Kassettenspieler gebracht, damit sie sich das reichhaltige Vorleseprogramm der Blindenhörbücherei zunutze machen könnte, doch ihre Tante zitterte derart, dass sie es nicht mehr fertig brachte, eine Kassette in den Recorder einzuschieben.
War das ihre Zukunft, diese steinernen Gäste, die sich jetzt oben am Tisch mit angehobenen, brüchigen Stimmen über künstliche Hüftgelenke, Oberschenkelhalsbrüche und »Wetten, dass …?« unterhielten, sofern sie sich überhaupt noch verstanden und nicht einfach vor sich hin starrten, in die Rauchwolken vor ihren Gesichtern, wie ihr Vater?
»Wollen wir nicht noch eins singen?« schlug Julia plötzlich vor, verzweifelt fast.
Ratlose, überraschte Gesichter.
»Was denn für eins?« fragte Gino spöttisch.
»Mama, du kannst wünschen«, sagte Julia, und zu ihrem Erstaunen stimmte ihre Mutter mit schöner, klarer Stimme an »Hab oft im Kreise der Lieben«, und sofort fielen ihr Bruder und die beiden Tanten ein, »im duftigen Grase geruht«, und als es an den Refrain ging, sang sogar ihr Mann mit, mühelos eine Terz tiefer, »und alles, alles ward wieder gut.«
Weder Julia noch Manuel noch Gino noch Letizia konnten den Text und die Melodie auswendig, summten ein bißchen mit und hörten verwundert, zu wieviel Schönheit das greise Grüppchen noch imstande war, es war ihr, als habe jemand mit einem Zauberstab an eine Felswand geklopft, aus der nun auf einmal eine Quelle sprudelte.
Als die Jungen vom Minigolf zurückkamen, standen sie vor den hohen Fensterscheiben still und blickten in das neblige Säli hinein, aus dem ihnen ein Lied entgegenklang, »Wir sitzen so traulich beisammen und haben einander so lieb«.
»Das gibt’s ja nicht«, sagte Ladina, »jetzt singen die.«
»Sie können es wenigstens«, sagte Mirjam.
Anna spürte einen Kloß im Hals. Sie hatte sich entsetzlich unwohl gefühlt an der Geburtstagsfeier. Thomas’ Großvater hatte sie, als sie ihm vorgestellt wurde, mit den Worten begrüßt: »Aha, gibt’s Urenkel?« was von Julia mit einem halb verständnisvollen, halb vorwurfsvollen »Aber, aber, Papa!« kommentiert wurde. Anna hatte nie ein solches Fest erlebt, von ihren Großeltern kannte sie nur die Mutter ihrer Mutter, und die war fast in ständigem Streit mit ihrer Tochter gelegen, solange diese noch lebte.
In dieser Familie, hatte sie gedacht, als sie am Tisch saß, wären keine drei Leute miteinander befreundet, wenn sie die Wahl hätten.
Manuel und Julia hatten ihr das Du angetragen heute, aber beim Gedanken, sie werde nun ein Mitglied dieser Gemeinschaft, schauderte sie. Und die Alten, was wollten sie noch, außer Urenkeln? Da saßen sie, die Todeskandidaten, und sangen ein Lied wie einen letzten Wunsch, »ach, wenn es nur immer so blieb!« Das war es, was sie wollten, es sollte einfach immer so bleiben. Unmögliches verlangten sie, zweistimmig, Unmögliches und Grauenvolles. Als sie weitersangen »Es kann ja nicht immer so bleiben hier unter dem wechselnden Mond« kicherten die beiden Kusinen, »Gott sei Dank!«, sagte die eine zur andern, aber Anna spürte wieder ihren Kloß und wusste nicht, warum sie Lieder so anrührten. Nun winkte ihr Thomas’ Großmutter durch die Fensterscheibe zu, glücklich, rosarot, das Geburtstagskind.
Wie gut, dass mir das mit dem Lied in den Sinn gekommen ist, dachte Julia. Hoffentlich singen sie nicht noch ein drittes, dachte Gino.
Als sie später begannen, sich zu verabschieden, sagte Manuel zu Anna: »Haben wir eigentlich deine Telefonnummer?«