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»Nein, das ist nicht meine Mutter.«
Manuel stand mit Anna am Fenster seiner Praxis. Gestern hatte er sie gegen Abend angerufen und gefragt, ob sie zufällig Zeit habe, über Mittag kurz bei ihm vorbeizuschauen, er wolle sie etwas fragen. Mehrmals hatte er diesen schweren Satz für sich durchgemurmelt, um ihm am Telefon die größtmögliche Leichtigkeit zu verleihen. Offenbar war ihm dies gelungen, denn Anna war ohne Arg darauf eingegangen und kurz nach zwölf bei ihm erschienen.
Sie hatten sich auf die Patientenstühle vor seinem Schreibtisch gesetzt, und er hatte sie nach ihrem Gesundheitszustand gefragt und wollte wissen, bei welcher ärztin sie in Kontrolle sei und ob alles in Ordnung sei mit der Schwangerschaft, hatte auch nochmals seine Hilfe angeboten für den Fall, dass sie sich anders entscheide. Dies hatte er sich so zurechtgelegt, damit das Treffen seinem Sohn und allenfalls auch Julia gegenüber unverdächtig war und als Wahrnehmung seiner ärztlichen Verantwortung durchging.
Ein bißchen hatte sich Anna gefürchtet hinzugehen, fand es aber dann richtig und notwendig, vor ihrem möglichen Schwiegervater Position zu beziehen. Bei der Geburtstagsfeier war kein Raum für solche Gespräche gewesen, doch nach dem, was sie von Thomas wusste, war sie mit der Erwartung gekommen, Manuel versuche sie zu einer Abtreibung zu bewegen, und war in Gedanken nochmals die Szene durchgegangen, die sie mit Mirjam geprobt hatte. Es erstaunte sie, dass Manuel sie einzig fragte, ob sie sich ihren Entschluss gut überlegt habe, worauf sie antwortete, so etwas könne man sich schon überlegen, aber letztlich entscheide das Gefühl.
»Ich hoffe, dein Gefühl trügt dich nicht«, sagte er dann.
»Das hoffe ich auch«, sagte Anna. Sie versuchte die direkte Anrede wenn möglich zu vermeiden, da ihr das Du mit diesem Mann nicht leicht fiel.
Dann lachte Manuel fast spitzbübisch und sagte, letzthin sei ihm beim Aufräumen alter Patientengeschichten ein Foto in die Hände geraten, das er von einer Frau bekommen habe, welcher er sehr geholfen habe, und diese Frau habe ihn sofort an sie erinnert. Er stand auf, nahm von seinem Schreibtisch das Foto und hielt es ihr mit der Frage hin, ob das etwa ihre Mutter sei, vielleicht sogar mit der kleinen Anna auf dem Schoß.
Anna war auch aufgestanden, war mit dem Foto einen Schritt zum Fenster getreten, und dann hatte sie den erlösenden Satz gesagt.
»Nein, das ist nicht meine Mutter.«
Manuel war überwältigt, überwältigt wie damals, als er nach einem stundenlangen Aufstieg im Licht des Vollmonds den Gipfelgrat des Montblanc erreichte und gleichzeitig die Sonne aufging.
Er hätte laut schreien mögen, aufspringen, tanzen wie ein Verrückter vor Dankbarkeit. Statt dessen lächelte er und sagte: »Nicht? Wäre ja auch ein Zufall gewesen.«
»Ein Zufall ist es trotzdem«, sagte Anna, »es ist meine Tante.«
Ein Sturmwind erhob sich in Manuels Ohr. Vor seinen Augen wurde es Nacht. Er setzte sich auf den Schreibtisch und hielt sich mit den Händen an den Kanten. »Ihre Tante?« fragte er fast ohne Stimme.
»Ja, die Schwester meiner Mutter. Und das Kind ist meine Cousine.«
Manuel klammerte sich an den Tisch. Er wusste, dass er den Faden einer normalen Konversation nicht verlieren durfte. »Wie heißt es?« fragte er.
»Manuela.«
Weitersprechen, sagte sich Manuel, immer weitersprechen.
»Und kennen Sie sie – ich meine … haben Sie Kontakt mit den beiden?«
Anna lachte. »Wir sagen doch du, nicht?«
Manuel nickte und machte eine fahrig entschuldigende Geste.
»Natürlich kenne ich sie. Kontakt habe ich zwar nicht allzuviel. Tante Monika hat vor etwa zehn Jahren einen Diplomaten geheiratet, der jetzt in Washington ist. Manuela besucht dort die Uni, ich glaube, Soziologie.«
Der Sturmwind ebbte etwas ab. Eine kleine Aufhellung. Wenigstens waren sie weit weg, beide. Weitersprechen, Manuel, weitersprechen, und locker!
»Wie hieß sie schon wieder, deine Tante?«
»Fuchs. Damals. Jetzt heißt sie Beck.«
»Ah, richtig … Fuchs, Eva Fuchs.«
»Nein, Monika. Was fehlte ihr denn, als du ihr geholfen hast?«
Nun wurde Anna neugierig.
Manuel erschrak. Die Lüge hatte sich sofort gerächt.
»Ich, eehm … ich glaube, ich sollte mich an das Arztgeheimnis halten.«
Gerettet.
»Klar, schon gut – ich kann sie ja selbst fragen.« Anna lachte. »Die wird sich wundern.«
Achtung, Manuel, das musst du verhindern. Die darf sich nicht wundern. Bloß – wie soll das gehen? Eben erst befreit, saß er schon wieder in der Falle. Er sah keinen andern Weg, als direkt zu werden.
»Anna«, sagte er heftig aufatmend, »ich habe eine Bitte.«
Anna gab ihm das Foto zurück, setzte sich und schaute ihn an.
Manuel setzte sich ebenfalls. »Es wäre mir lieber, du würdest deiner Tante nichts erzählen.«
»Ah ja?«
»Ja. Es ist … es ist jetzt etwas zu schwierig zu erklären, aber ich bitte dich einfach darum.«
Anna war erstaunt. Aus der Autorität Dr. Ritter war unvermutet ein Bittsteller geworden, der etwas eingesunken vor ihr saß.
»Gut, wenn du meinst …«
»Das meine ich wirklich, Anna. Und es wäre mir auch recht, wenn du es Thomas und meiner Frau gegenüber nicht erwähnen würdest.«
Anna verstand immer weniger.
»Also, dass du einmal Tante Monika behandelt hast?«
»Ja. Bitte.«
»Dann hätten wir so etwas wie ein Geheimnis zusammen?«
»Nicht direkt. Es soll einfach unter uns bleiben.«
»Aber - wieso genau?«
Wie gesagt, das könne er ihr jetzt nicht alles erklären, er wäre einfach froh, wenn sie es vorderhand so halten könnte.
Sie werde es versuchen, sagte Anna und blickte auf ihre Füße, obwohl sie eigentlich Thomas gegenüber ungern Geheimnisse habe.
»Bitte«, sagte Manuel, und es schien ihr auf einmal, in seinem Blick habe sich Angst eingenistet.
Anna ging, nachdem sie die Praxis verlassen hatte, zu Fuß vom Zürichberg in die Stadt hinunter, um die Schauspielschule zu erreichen. Regelmäßig und genügend solle sie sich bewegen, so der Rat ihrer Gynäkologin.
Das Gespräch hatte sie verwirrt. Sein eigentlicher Gegenstand war nicht die Frage gewesen, ob sie das Kind behalten oder abtreiben solle; das Gespräch darüber war überhaupt nicht so verlaufen wie in der improvisierten Szene mit Mirjam, offenbar respektierte Manuel ihren Entscheid. Das hing sicher auch mit der klaren Haltung von Thomas zusammen. Dieser hatte sein Praktikum in Mexiko abgesagt; er hatte mit seinem Tessiner Kollegen gesprochen, und der hatte nun die Gelegenheit doch benutzt, nach Mexiko zu kommen, während sich Thomas vier Monate lang mit den Kastanienbäumen des Maggiatals beschäftigen würde. Seine Mutter hatte ihm bereits einen Schnellkurs in Italienisch angeboten.
Was sie noch nicht wussten, war, ob sie heiraten wollten. Damit eilte es weder ihr noch Thomas. Aber zusammenbleiben, das wollten sie, und das war die Hauptsache. Anna würde keine Alleinerziehende werden.
Sie kam an der Universität vorbei und bog in den Rechberg-Park hinter der Musikhochschule ein, einen terrassierten, stets gepflegten Garten mit alten Brunnen, verschiedensten Blumenrabatten und Spalierbäumen an den Kalksteinmauern.
Auf einer Bank war ein Schattenplatz frei, neben einer Studentin, die mit einem Markierstift in der Hand ein Buch las.
Anna setzte sich und schaute über die Stadt zur Horizontlinie der Uetlibergkette hinüber, über der ruhig eine große Sommerwolke dahintrieb, welche die Form einer Schildkröte hatte.
Soeben war ihr ein bißchen schlecht geworden.
Sie entnahm ihrem kleinen Rucksack eine Petflasche und trank ein paar Schlucke Wasser.
Bei diesem Treffen, so wurde ihr langsam klar, war es einzig und allein um das Foto gegangen, das Foto, das seltsamerweise die Schwester ihrer Mutter mit deren einziger Tochter zeigte. Ihre Tante Monika war demnach einmal Patientin bei Manuel gewesen. Das war zwar ein Zufall, aber an sich nichts Ungewöhnliches.
Das Ungewöhnliche war, dass Manuel dieses Foto so lange aufbewahrt hatte. Es war offenbar wichtig für ihn, so wichtig, dass seine Hände leicht zitterten, als er es ihr hingehalten hatte, das war ihr nicht entgangen. So wichtig, dass er daraus ein Geheimnis machte.
Also konnte es sich fast nur um eine Liebesgeschichte handeln. Eine Liebesgeschichte zwischen Manuel und ihrer Tante Monika, eine Liebesgeschichte, von der Manuels Familie nichts wusste und nichts wissen sollte. Anna lächelte bei diesem Gedanken, auch wenn sie an die Geburtstagsfeier vor zwei Tagen dachte, diese Harmoniebehauptung im Säli des Ausflugsrestaurants. Sie hatte Tante Monika immer gemocht und konnte durchaus verstehen, dass sie als junge Frau auf jemanden wie Manuel oder überhaupt auf Männer anziehend gewirkt hatte. Wie ihre Mutter erzog auch sie ihre Tochter Manuela allein, und zwei oder drei Mal, als sie noch klein war, waren sie alle zusammen in den Ferien gewesen, in Südfrankreich, wo ein Freund von Tante Monika ein Haus besaß. Dann hatten sich die beiden Schwestern zerstritten, und je länger Anna darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es ihr, dass damals Monikas Freund ein Auge auf ihre Mutter geworfen hatte.
Sie sahen sich dann fast nur noch an Weihnachten bei der Großmutter, und Tante Monika rief Anna immer etwa einen Monat vorher an, um sie zu fragen, was sie gerne lese oder was für Musik sie gerne höre, und schenkte ihr dann ein Buch oder eine CD, die ihr gefiel.
Sie bedauerte es, dass sie nie zu Manuela in die Ferien durfte, denn eigentlich hatte sie das Gefühl, bei Tante Monika sei es schöner als bei ihr zu Hause. Und als diese dann den Diplomaten heiratete, lebte sie zuerst in Stockholm, später in London und dann in Washington, und Anna beneidete ihre Cousine um die Möglichkeit, auf diese Weise die Welt kennen zu lernen. Sie hatte sie zuletzt bei Mutters Beerdigung gesehen, dort hatte Monika sie auch eingeladen, sie einmal in Amerika zu besuchen, wozu ihr aber irgendwie die Energie gefehlt hatte.
Manuel und Tante Monika ein heimliches Liebespaar – die Vorstellung begann sie immer mehr zu amüsieren.
Aber warum, fiel ihr plötzlich ein, warum hatte er dann ausgerechnet sie in das Geheimnis eingeweiht?
Ein Handy klingelte, und die Studentin neben ihr nahm es so lange nicht ab, bis Anna merkte, dass es ihr eigenes war.
Es war Manuel, der ihr sagte, er habe noch etwas vergessen. Natürlich wäre er auch sehr dankbar, wenn sie Mirjam nichts von diesem Foto erzähle.
»Okay«, sagte Anna, »schon klar.«
Manuel bedankte sich sehr, und Anna schaute zur Wolke hinauf. Die Schildkröte hatte sich inzwischen in eine Schlange verwandelt. Anna begann sich zu ärgern. Manuel hatte sie, aus welchem Grund auch immer, zur Mitwisserin einer Lebenslüge gemacht, und nun sollte sie mitlügen. Und sie ließ sich das gefallen. Gut, nichts sagen heißt noch nicht unbedingt lügen, aber es war der erste Schritt dazu. Wenn Thomas sie fragen würde, was sie heute gemacht habe, sollte sie nichts vom Treffen mit Manuel sagen. Sie hatte ihm tatsächlich noch nichts davon gesagt, da sie sich weder gestern Abend noch heute Morgen gesehen hatten. Sie sollte auch Mirjam nichts davon sagen, genauso wenig wie Julia. Ihre Tante Monika fiel ebenfalls unter das Schweigegebot.
Und Manuela?
Anna lächelte.
Von Manuela hatte er nichts gesagt.