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Mom, wieso heiße ich eigentlich Manuela?« Die Frage ihrer Tochter traf Monika unvorbereitet.

Sie saß im Arbeitszimmer im ersten Stock ihres Hauses an der Garfield Street in Washington vor ihrem Laptop und suchte im Internet die Zeltplätze rund um den Mount St. Helens ab. Sie wollte Richard, ihrem Mann, der im Sommer 64 wurde, eine Besteigung dieses Vulkans schenken, für den er sich immer interessiert hatte. Der oberste Zeltplatz lag etwa 1000 Meter unterhalb des Kraterrandes, Richard war ein guter Wanderer, und die Wege wurden als problemlos geschildert, so dass es sicher ein besonderes Erlebnis sein musste, frühmorgens aus dem Zelt aufzubrechen und diesen schicksalshaften Berg zu erklimmen. Gerade hatte sie jedoch gesehen, dass immer nur eine begrenzte Anzahl von Touristen in den Park hineingelassen wurde, man sollte sich also rechtzeitig anmelden. Richard würde morgen aus New York zurück kommen, dann wollte sie mit ihm die Details der Reise besprechen.

Nun stand ihre Tochter im offenen Türrahmen, den sie fast ganz ausfüllte. Sie war einen halben Kopf größer als ihre Mutter und war massiv übergewichtig. Bis zu Monikas Heirat war Manuela das gewesen, was man ein herziges Mädchen nannte, groß schon damals, aber schlank, und das war sie auch in der ersten Zeit in Stockholm noch geblieben. Erst mit dem Umzug nach London, als sie 15 war, begann sie langsam Speck anzusetzen, musste Hosen und Röcke weiter machen lassen, um dann in Washington vollends in die Statur einer Kugelstoßerin hineinzuwachsen, ohne dass sie sich allerdings für Sport interessierte. Sie brauchte nun die Kleidergeschäfte für übergrößen, an denen hier kein Mangel war, und Monika schmerzte der Anblick ihrer Tochter. Eigentlich verstand sie das nicht. Sie hatte immer auf eine ausgeglichene Ernährung geachtet, hatte das Birchermüesli auch im Ausland hochgehalten, so gut es ging, und sobald sie bemerkt hatte, dass Manuela nicht nur in die Höhe, sondern auch in die Breite wuchs, hielten Knäckebrote und Margarine Einzug auf den Frühstückstisch, doch dies hatte bloß zur Folge, dass Manuela in den Schulpausen um so gieriger Muffins, Donuts oder überladene Burgers in sich hineinfraß. Amerika war nicht unbedingt das Land, das zum Schlankwerden einlud, und Monika verabscheute den Kult der Größe, welcher hier auf Schritt und Tritt betrieben wurde. Die kleinste Portion Kaffee im »Starbucks« hiess bereits »Tall«, und bei Pizzas, Hamburgern und Sandwiches war sie meistens mit »Medium« schon überfordert, darüber gab es aber noch »Large« und »Extra Large« oder gar »Giant«. Die Vereinigten Staaten waren das Reich der vereinigten fettleibigen Riesen, und ihre Tochter war eine Bewohnerin dieses Reichs.

Jetzt stand sie unter der Tür, kauend, mit einem angebissenen »Milky Way« in der Hand.

»Wieso fragst du? Bist du nicht zufrieden mit deinem Namen?«

Monika versuchte etwas Zeit zu gewinnen.

»Doch, klar, ich möchte bloß wissen, wie du darauf gekommen bist.«

Monika spürte ihr Herz klopfen.

»Ach weißt du, damals hießen alle neugeborenen Mädchen Sandra, Barbara oder Daniela, und da du ja vor allem meine Tochter warst, wählte ich einen Namen, der wie der meine mit M anfängt und mit a aufhört, und natürlich gefiel er mir auch.«

»Okay, Mom.«

Sie steckte die zweite »Milky Way«-Hälfte in den Mund und drehte sich um.

»Hast du noch was vor heute Abend?« fragte Monika.

»Ich mach noch ein paar E-Mails«, sagte Manuela, »und dann will ich die Letterman-Show kucken. Kuckst du mit?«

»Vielleicht. Wer ist denn Gast?«

»Michael Moore.«

»Dann schau ich auch.«

Manuela ging die Treppe hinunter, und als von ihr nur noch der Oberkörper zu sehen war, drehte sie sich um und rief ihrer Mutter zu: »Anna aus der Schweiz hat gemailt, sie läßt dich grüßen.«

»Danke, gleichfalls!«

»Sie ist schwanger!«

Diese Nachricht kam von der untersten Treppenstufe.

Sofort stand Monika auf und ging zur Treppe. »Was hast du gesagt?«

Manuela drehte sich zu ihr um. »Anna ist schwanger.«

»Ah ja? Freiwillig?«

Manuela zuckte die Achseln, verschränkte ihre Hände über dem Treppengeländer und stützte ihren Kopf darauf.

»Warum hast du mir nie gesagt, wer mein Vater ist?«

Monika seufzte. Es war nicht das erste Mal, dass ihre Tochter diese Frage stellte, und es war nicht das erste Mal, dass ihr die Antwort darauf schwer fiel. Sie hatte sich das, als sie sich bei diesem Arzt in Zürich ihr Kind holte, einfacher vorgestellt. Damals hatte sie nur das Baby vor Augen gehabt, das Baby, das ihr manche ihrer Freundinnen mit verklärtem Lächeln hingehalten hatten, bis ihre Sehnsucht, selbst ein Baby in den Armen zu halten, unbezwingbar wurde, ein Baby, aus dem später ein fröhliches Lockenköpfchen würde, dem sie Pippi Langstrumpf erzählen würde, ein Baby, das sich bestimmt auch als Mädchen in ihrem kleinen Frauenhaushalt pudelwohl fühlen würde.

Diese Rechnung war nicht aufgegangen.

Schon im Kindergarten fragte Manuela, ob sie keinen Papa habe, und wenn sie ihr zur Antwort gab, es hätten eben nicht alle Kinder einen Papa, fragte sie, warum sie keinen habe. Der sei, nachdem er sie gemacht habe, weit weg gefahren und nicht mehr zurückgekommen, und sie wisse nicht, wo er wohne.

Diese Version hatte sie beibehalten, und als Manuela größer wurde, hatte sie ihr von einem Fest erzählt, an dem sie mit einem Fremden getanzt habe, den sie nachher zu sich nach Hause genommen habe, und am andern Morgen sei er weg gewesen, ohne seinen Namen oder eine Adresse zu hinterlassen, sie habe sich bei verschiedenen Leuten erkundigt, die auch auf dem Fest gewesen seien, aber niemand habe ihn gekannt, und er habe sich nie wieder gemeldet.

»War es wenigstens schön?« hatte Manuela einmal schnippisch gefragt.

»Aber sicher«, hatte ihre Mutter geantwortet, »wunderschön.«

Und als sie sich, entgegen allen ihren Erwartungen, in Richard verliebte, den sie auf einem Wirtschaftskongress kennen gelernt hatte, an dem sie als Dolmetscherin angestellt war, und als er sich, entgegen allen ihren Erwartungen, auch in sie verliebte und sie beschlossen zu heiraten, hatte sie zu Manuela gesagt: »Jetzt hast du einen Papa.« Doch Manuela weigerte sich, ihn Papa zu nennen, und benutzte, wenn sie zu ihm oder von ihm sprach, die Verkleinerungsform seines Namens, die auch ihre Mutter benutzte, Richi. Richard war ein paar Jahre älter als sie, hatte eine geschiedene Ehe hinter sich, war Vater zweier Söhne und war überhaupt nicht erschrocken, als ihm Monika gesagt hatte, sie habe eine Tochter.

Eigentlich, so Richard damals, habe er sich immer eine Tochter gewünscht und freue sich, auf diesem Wege noch zu einer zu kommen.

Doch die Erfahrungen mit der heranwachsenden Manuela waren ernüchternd. Sie ließ ihn immer spüren, dass er nicht ihr Vater war, sprach Freundinnen gegenüber vom Lover ihrer Mutter, was diese, als sie es einmal hörte, empörte. Sie sei verheiratet mit Richard, er sei nicht ihr Lover, sondern ihr Mann, und ob Manuela nicht merke, was sie ihm alles verdanke. Solche Wortwechsel pflegten damit zu enden, dass Manuela sagte, sie wäre lieber in Basel geblieben, mit Freundinnen, die zu ihr hielten, als alle vier Jahre in eine neue Stadt irgendwo in der Welt zu ziehen und dort irgendeine doofe deutsche Schule zu besuchen, mit lauter Kids von andern Nomaden, mit denen es gar nicht lohne, sich anzufreunden, weil alle sowieso nur auf Zeit hier seien. Oder, was für Monika noch schlimmer war, der Satz: »Wieso hast du mich nicht abgetrieben?«

Dann begann Manuela zu fressen, quoll immer mehr auf, und es war mit Händen zu greifen, dass sie unglücklich war. Und es war schwer, neben einer unglücklichen Tochter glücklich zu sein. Am schönsten waren für sie und Richard die Zeiten, in denen sie allein waren, also wenn Manuela mit der Schule auf einem Ausflug oder in einem Feriencamp war. Monika war als Teilzeitsekretärin auf der Botschaft beschäftigt, wo Richard als Wirtschaftsattaché arbeitete. Beide hatten insgeheim gehofft, dass Manuela ihr Soziologiestudium an einer Universität in einer andern amerikanischen Stadt aufnehmen wollte, aber Manuela zog es nicht nur vor, in Washington zu bleiben, weil sie an der Hubbard Universität studieren wollte, an der fast ausschließlich schwarze Dozentinnen und Dozenten unterrichteten, sondern auch weiterhin an der Garfield Street zu wohnen und nicht in einem Studentenheim in der Nähe des Campus. Es sei bequemer für sie, hatte sie gesagt.

Und da stand sie nun, unten an der Treppe, und stellte wieder einmal die Frage, von der sie genau wusste, dass sie keine Antwort darauf bekommen würde.

Dieser Fettkloß, dachte ihre Mutter, ich könnte sie umbringen. Und dann sagte sie so ruhig wie möglich den Satz, den sie schon so oft gesagt hatte: »Weil ich es nicht weiß.«

»Ich will es aber wissen.«

»Du weißt, dass ich es nicht weiß. Und was hättest du denn davon, wenn du es wüsstest?«

»Das weiß ich nicht. Es ist einfach ein Menschenrecht.«

»Es gibt wichtigere Menschenrechte«, sagte Monika unwirsch.

Du Schlange, dachte Manuela, ich könnte dich umbringen. Und dann neigte sie ihren Kopf etwas zur Seite, blickte ihre Mutter genau an und fragte sie: »Mein Vater heißt nicht zufällig Manuel Ritter?«

In Monikas Ohren begann es zu hallen, es war ihr, als ob dieser Name als mehrfaches Echo aus der Kuppel und der Krypta einer Kathedrale zurückgeworfen werde. Sie umklammerte mit der Hand den obersten Pfosten des Geländers, drehte sich schweigend weg und schaute zum Fenster hinaus auf die beleuchtete Straße hinunter, auf das Straßenschild »STREET ENDS – NO OUTLET«.