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»Viel Glück, Manuela«, sagte Anna, »ich warte hier auf dich« und setzte sich auf die Bank bei der Bushaltestelle, während Manuela auf den Neubau zuging, vor dem eine Tafel verkündete, dass hier Dr. Eduard Schwegler für dermatologische und venerologische, Dr. Stephan Zihlmann für urologische und Dr. Manuel Ritter für Ohren-, Nasen- und Halsprobleme zuständig seien. Es war kurz vor 17 Uhr.

»So you are a tourist?« fragte Frau Weibel, die Praxisassistentin. Manuela nickte.

Gerade hatte sie auf Englisch gesagt, dass sie schreckliche Ohrenschmerzen habe und froh wäre, wenn sie den Doktor sehen könnte.

»I must see, if the doctor has still time«, sagte Frau Weibel und bat sie, das Blatt mit den Personalien auszufüllen. Sie trug sich unter dem Geschlechtsnamen ihres Stiefvaters ein, Beck, Vorname Nela, und gab als Zürcher Adresse das Hotel Rütli am Central an. Dann wurde sie ins Wartezimmer gewiesen, wo sie sich setzte, mit der Hand am linken Ohr.

Es war Mitte Juli, Manuela wunderte sich über die Hitze. Sie trug nur eine leichte pinkfarbene Bluse und helle Leinenhosen, aber sie schwitzte. Jede Praxis dieser Art wäre in Amerika klimatisiert, die hier war es nicht.

Vor etwa zwei Monaten hatte ihre Cousine Anna ihr ein Mail geschickt, in dem sie ihr die Geschichte mit dem Foto erzählt und sie gefragt hatte, ob sie sich vorstellen könne, warum die Begegnung mit Dr. Manuel Ritter so wichtig für ihre Mutter gewesen sei, dass sie ihm damals ein Bild von sich und ihr geschickt habe. Sie vergaß nicht, Manuels Bitte beizufügen, dass sie, Anna, ihrer Tante Monika nichts davon erzählen solle.

Manuela war sofort klar, dass dies endlich die Spur war, die zu ihrem Vater führte. Es war ein harter Abend gewesen mit ihrer Mutter, Manuela war aufgebracht, dass sie so lange angelogen worden war, und Monika versuchte ihr begreiflich zu machen, dass sie diesem Mann versprochen habe, aus seinem Leben zu verschwinden und alles zu vermeiden, was ihm Schwierigkeiten machen könnte, schließlich habe er ja eine Familie gehabt.

Gehabt? Sein Sohn sei Annas Freund und der Vater ihres Kindes. Diese Mitteilung hatte Monika erschüttert, denn damit war eine Begegnung mit Manuels Familie fast unvermeidlich. Verzweifelt warb sie um Verständnis für ihre Situation.

Ob sie sich vorstellen könne, wie das sei, wenn es einfach nicht klappe mit den Männern?

Natürlich könne sie das, da genüge ihr ein Blick in den Spiegel!

Das sei nun eben ihre Art gewesen, dieses Problem zu lösen.

Lösen, hatte Manuela gesagt, lösen könne man das wohl nicht nennen, es müsse ihr doch klar gewesen sein, dass sie damit nur neue Probleme schaffe, und zwar happige.

Es waren endlose Gespräche voller Vorwürfe, die bis in die Morgenstunden dauerten, und die Wörter und Sätze, die das Zerwürfnis zu mildern vermocht hätten, wollten sich nicht einstellen.

Manuela war noch empörter, als sie am nächsten Tag vernahm, dass Richard die Geschichte ihrer Herkunft gekannt hatte.

Sie sei also ein Leben lang behandelt worden wie ein kleines Kind. »Ich bin betrogen«, hatte sie gesagt, »betrogen, really. Shit.«

Als sie dann ihren Plan bekannt gegeben hatte, in die Schweiz zu reisen, um ihren Vater zu treffen, bat sie Monika mit Richards Unterstützung inständig, dies nicht zu tun, sie könne damit eine Existenz ruinieren. Doch Manuela legte ihr Ticket auf den Tisch, das sie bereits gebucht hatte, und sagte, daran könne sie niemand hindern und sie sollten auch mal darüber nachdenken, ob sie vielleicht ihre Existenz ruiniert hätten mit dieser Lüge, und jedes Kind habe das Recht, seine Eltern zu kennen.

»Und wenn du deinen Vater kennst, was ist dann?« hatte Monika gefragt.

»Dann? Das weiß ich auch nicht«, hatte Manuela geantwortet, »aber es ist besser, als wenn ich ihn nicht kenne.«

Und nun trennte sie nur noch eine Türe oder eine Wand von ihrem Vater, und auf einmal fühlte sie sich wie ein Kind, das im Begriff steht, etwas Verbotenes zu tun. Möglicherweise hatte das wirklich üble Folgen für ihren Vater, wenn ihr Leben bisher ein Geheimnis geblieben war. Was sie vorhatte, kam einer Entlarvung gleich. Sie überlegte sich, ob sie sich schnell wieder davon machen solle. Aber dann dachte sie an die vielen Momente, in denen sie einen Vater in ihrem Leben vermisst hatte, und sagte sich, nein, jetzt gebe es kein Zurück, diese Begegnung habe sie zugut.

Unterdessen behandelte Dr. Ritter seinen letzten Patienten, einen Jungen, der nach einem Disco-Besuch einen Hörsturz erlitten hatte und dem er ein durchblutungsförderndes Medikament verschrieb, obwohl eine Reihe von amerikanischen Studien kürzlich ergeben hatte, dass dessen Wirkung keineswegs signifikant war. Aber der Bursche war beruhigt, als er hörte, dass man dagegen Tabletten einnehmen konnte. Manuel ermahnte ihn darüber hinaus, sich unbedingt Ohrenstöpsel einzusetzen bei seiner nächsten Disco-Party oder überhaupt bei lauter Musik, gab ihm auch ein Zweierpäcklein mit, gratis, wie er betonte, aus einer Präventionsaktion einer großen Krankenkasse.

Als ihn Frau Weibel am Telefon fragte, ob er noch eine amerikanische Touristin mit Ohrenschmerzen nehmen könne, sagte er, er komme gleich, und entließ seinen Hörsturz- Patienten.

Das Hämmern in Manuels Ohr hatte sich verstärkt. Es kam phasenweise in kurzen Abständen, und heute war es besonders arg. Gewöhnlich ebbte es nach einer Weile wieder ab, deshalb wollte er einen Moment warten. Eigentlich hatte er gehofft, es verschwinde ganz, als er die Gewissheit hatte, dass Anna nicht seine Tochter war. Seine Erleichterung darüber war groß, aber zugleich war ihm klar, dass er seinen Flecken im Reinheft damit nicht gelöscht hatte, im Gegenteil, er hatte ihn Anna gezeigt, und sie wusste nun etwas, das seine eigene Familie nicht wusste. Worum es genau ging, konnte sie zwar nicht wissen, aber es war klar, dass da etwas war, was Manuel verbergen wollte, und das war schlimm genug.

Er schaute auf die Hodler-Reproduktion an der Wand, mit dem Montblanc, der sich aus einem Wolkenring über dem Genfersee erhob. Einmal war er auf diesem Gipfel gestanden, in der Klarheit der Morgenfrühe, und um dieses Gefühl hätte er jetzt viel gegeben, in der letzten Zeit war er nur noch unter den Wolken. Es beruhigte ihn, sich mit halb geschlossenen Augen in den weißblauen Berg zu vertiefen. Er wusste nicht, wie lange er das Bild betrachtet hatte, aber das Pochen in seinem Ohr war leiser geworden.

Um so stärker erschrak er, als es dreimal an die Tür klopfte. Er seufzte. Es war also nicht vorbei. Er wusste, dass es sinnlos war, »Herein!« zu rufen, aber er stand auf, weil ihm in den Sinn kam, dass noch eine Patientin im Wartezimmer war.

Zu seiner Verblüffung stand direkt vor seiner Tür eine Hünin, die gerade die Hand angehoben hatte, um ein zweitesmal zu klopfen.

»Sorry«, sagte sie und ließ die Hand wieder sinken, »I didn’t see your assistant anymore, and I just wanted to make sure you’re still here.«

»Come in, please«, sagte Dr. Ritter und wies auf den Besucherstuhl. Manuela setzte sich und schaute ihn an, und sie musste sich gestehen, dass er ihr sofort gefiel. Sie wusste auf einmal nicht, was sie sagen sollte.

»So, you are American?« fragte Dr. Ritter, der sich ebenfalls gesetzt hatte.

Manuela nickte, sprachlos.

»From which part of the States?« fragte er weiter.

»Washington D. C.« sagte Manuela leise.

Dr. Ritter lächelte. »Oh, from the capital. And what’s your problem?«

Actually, sagte Manuela, we can speak German, denn sie wohne zwar schon länger in Amerika, sei aber Schweizerin.

Aha, sagte Dr. Ritter etwas erstaunt, gut, und was denn nun ihr Problem sei.

Manuela zog das Foto aus ihrer Tasche, das sie als Baby auf Monikas Schoß zeigte. Mutter hatte es für die Geburtsanzeigen verwendet, die sie verschickt hatte. Manuela hatte es aus ihrem Album herausgenommen und hielt es nun Manuel hin.

»Sie kennen doch dieses Foto«, sagte sie zu ihm.

Manuel schaute das Foto an und schaute Manuela an.

Er wollte etwas sagen, aber die Stimmbänder schwangen nicht mit. Manuela schaute ihn an und schaute das Foto an. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Zunge bewegte sich nicht.

Dann, auf einmal, beugte sie sich vor, stützte sich mit den Ellbogen auf die Tischplatte, barg den Kopf in ihren Händen und wurde von einem nie gekannten Weinen überfallen. Tränen brachen aus ihr heraus, als schmölze ein Gletscher in ihrem Innern, sie schluchzte, sie heulte, sie wimmerte, sie winselte, und Manuel beugte sich über den Tisch, berührte mit seinen Händen ihre Unterarme und streichelte sie sacht.

Er konnte es nicht fassen, dass dieses Riesenkind seine Tochter sein sollte. Er merkte, dass er sich immer ein schlankes, rankes und geschmeidiges Wesen vorgestellt hatte, wenn er an sie dachte, er war nie in der Lage gewesen, sie von der betörenden Erscheinung ihrer Mutter zu trennen.

Wie viele Minuten waren so vergangen? Einmal klingelte das Telefon, Manuel nahm es nicht ab, aber Manuela richtete sich plötzlich wieder auf, fragte nach Taschentüchern, und Manuel hielt ihr eine Schachtel Kleenex hin, sie zupfte ein Tüchlein nach dem andern heraus, um ihre Augen abzuwischen, sich zu schneuzen, ihre Wangen zu trocknen, zerknüllte sie alle und ließ sie auf dem Tisch liegen, von wo sie Manuel sorgsam weg hob und in den Papierkorb fallen ließ.

»Sorry«, sagte sie, »I’m so happy, but it hurts, ich meine, es tut einfach weh, aber ich bin glücklich. Und Sie?«

»Ich bin … berührt«, sagte Manuel. »Wie geht es Ihrer Mutter?«

»Gut. Sie wollte auf keinen Fall, dass ich Sie suche. Nie. Sie habe es Ihnen versprochen, sagt sie. Aber ich habe Ihnen nichts versprochen.«

»Und wieso haben Sie mich gesucht?« fragte Manuel.

Ob da ein leiser Vorwurf in seiner Stimme war?

»Ich wollte wissen, wer mein Vater ist.«

»Und jetzt?«

Manuela zuckte die Achseln. »Vielleicht sollten wir zusammen essen gehn, und Sie fragen mich, was ich so mache und wie ich all die Jahre verbracht habe.«

»Das Problem ist«, sagte Manuel, »dass meine Familie nichts von Ihnen weiß.«

»Außer Anna.«

»Anna gehört noch nicht wirklich zur Familie. Haben Sie von ihr erfahren, dass sie bei mir war?«

Manuela nickte. »Den Rest hab ich selber herausgefunden. Meine Mutter musste es zugeben. Aber sie hat dicht gehalten, 22 Jahre. Das fände ich eigentlich gut, wenn sie mich nicht belogen hätte dabei.«

»Und Thomas?«

»Thomas ist im Tessin, hat Anna gesagt. Er hat mich nicht gesehen, und ich glaube, sie hat ihm bis jetzt nichts von der Geschichte erzählt.«

Manuel atmete auf.

»Zum Glück«, sagte er.

Manuela stand auf, Manuel ebenfalls. Sie ging um den Tisch herum und stand nun vor ihm. Sie war etwas größer als er, er musste zu ihr heraufschauen, und er roch ihren Schweiß, der sich in Halbkreisen unter den Achseln ihrer Bluse abzeichnete.

»Das ist doch kein Glück«, sagte sie, »wenn jemand etwas nicht weiß, das er wissen sollte.«

»Manchmal schon«, sagte Manuel. »Wie lang bleiben Sie in der Schweiz?«

»Drei Wochen.«

Manuel seufzte.

»Ich wäre froh, wenn Sie keinen Kontakt mit meiner Familie suchen würden.«

»Mit deiner Familie?« fragte Manuela, »und wer bin denn ich?«