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Julia saß mit einer Tasse Alpenkräutertee in ihrer Ferienwohnung in Pontresina und schaute ins Feuer, das sie sich im Cheminée angezündet hatte. Sie war zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage allein hierher gefahren, Manuel wollte nächste Woche nachkommen.

Heute war sie ins Rosegtal gewandert und hätte eigentlich noch Lust gehabt, ein Stück gegen die Coaz-Hütte weiterzugehen, oder sogar bis zur Hütte selbst, doch der Weg war gesperrt, weil vor einigen Tagen eine Schlammlawine zu Tal gerutscht war, die auch eine Touristin unter sich begraben hatte. Die Nachricht hatte Julia erschreckt, offenbar war es nicht bei Regen oder Sturm passiert, sondern an einem Tag, der genau so schön gewesen war wie der heutige. Die Berge konnten ihre eigene Last nicht mehr tragen.

Schon auf dem Weg ins Tal hatten sie die enormen Wassermengen des Baches beeindruckt. Hoch oben mussten ganze Eisgebirge am Schmelzen sein. Einmal war zwischen Bach und Wegrand eine Gämse gestanden und hatte sich andauernd um sich selbst gedreht. Währenddem sie diese beobachtete, fuhr der Wildhüter mit seinem Auto heran und bedeutete ihr durch die Windschutzscheibe, sie solle weitergehen. Trotzdem blieb sie stehen und fragte ihn, ob das Tier krank sei. Es habe, sagte der Wldhüter, und nahm dabei sein Gewehr vom Rücksitz, die Gämsblindheit. Wenig später hörte sie den trockenen Schuss. Als sie auf dem Rückweg an der Stelle vorbeikam, sah sie das blutige Gras. Weiter unten kamen ihr drei Pferdekutschen mit Russen entgegen, die Champagnergläser in den Händen hielten und ihr lachend zuprosteten. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs kamen sie wieder ins Engadin, die Russen. Zur Zarenzeit waren es die Adligen gewesen, heute waren es die Neureichen. Auf der Fahrt nach St. Moritz saßen sie in den Erstklassabteilen der Rhätischen Bahn, mit einem Laptop auf dem Fenstertischchen, und schauten mit ihren Kindern zusammen, Kopfhörer in den Ohren, brutale Gangsterfilme an, während draussen die Tannenwälder des Albulatals an ihnen vorbeizogen.

Die Veränderungen. Der Schafberg, an dessen Fuß Pontresina lag, galt mit dem langsamen Auftauen des Permafrosts als so unsicher, dass knapp oberhalb ihres Ferienhauses in den letzten Jahren eine gewaltige Auffangmauer gebaut worden war, ein Erdwall, der stark genug sein sollte, um einen eventuellen Bergsturz aufzufangen. Julia erinnerte sich gut an ihren Schrecken, als sie in der ersten Informationsbroschüre gesehen hatte, dass mitten in der rot schraffierten, mit »A« bezeichneten Gefahrenzone auch ihr Haus lag.

Das Lärchenholz, das jetzt in ihrem Kamin knisterte, stammte von Bäumen, die wegen der Bauarbeiten gefällt wurden. Darunter war auch der älteste Baum des Dorfes gewesen, eine 150jährige, majestätische Lärche, die sie einmal mit Manuel zusammen umfasst hatte, der Stamm war so dick, dass sich ihre Fingerspitzen noch knapp berührten.

Wahrscheinlich hatte sich Thomas für das richtige Studium entschieden. Er war jetzt die zweite Woche im Maggiatal mit der Erfassung der Kastanienbäume beschäftigt, und es gefalle ihm sehr, hatte er ihr am Telefon gesagt. Sein Italienisch könnte besser sein, aber das liege nicht an ihren Lektionen, sondern an ihm. Julia war froh, dass er nicht nach Mexiko gegangen war. Da sich Anna entschlossen hatte, das Kind auszutragen, war das der einzig richtige Entscheid. So war es ihm möglich, während des Praktikums an den Wochenenden nach Zürich zu fahren, und zur Zeit hielt er Ausschau nach einer Ferienwohnung in Cevio oder Cavergno, damit Anna auch eine Zeit lang in den Tessin kommen konnte. Anna ihrerseits suchte in Zürich für sich und Thomas eine günstige Wohnung, die spätestens frei würde, wenn das Kind kam.

Julia freute sich auf ihr Enkelkind. Sie hatte Anna angeboten, dass sie das Kind gern einen Tag in der Woche hüten würde. Ein bisschen schmerzte es sie, dass Anna entschlossen war, es in eine Säuglingskrippe zu geben, um ihr Studium weiterführen zu können. Sowohl Thomas als auch Anna hatten gesagt, sobald die Studienpläne für das Wintersemester bekannt seien, würden sie sich einen genauen Wochenplan zurechtlegen, an dem sie beide je einen Tag übernehmen könnten, und wenn Julia auch einen übernähme, blieben nur noch zwei Tage Krippe. Trotzdem würde es ein unruhiges erstes Lebensjahr für das Kleine geben, und das missfiel Julia. Kinder brauchten am Anfang, davon war sie überzeugt, möglichst viel Ruhe und Regelmäßigkeit. Andererseits bewunderte sie Anna für ihren Mut, das Kind zu behalten, obwohl so vieles dagegen sprach.

Mirjam. Sie hatte ihren Abschluss an der Schauspielschule gemacht und durfte schon Mitte August mit den Proben zum Fosse-Stück im »Schiffbau« beginnen. Ein Glücksfall. Der ursprünglich vorgesehene Regisseur war wieder ausgestiegen, und dann hatte der Dramaturg ihren Büchner gesehen. Eine Chance. Bei einem Erfolg würden sich bestimmt noch andere Türen auftun. Im Moment war sie mit Sandra, einer Freundin aus der Kantonsschulzeit, auf einer Reise zum Nordkap in Norwegen, die ihr Manuel und sie zum Diplom geschenkt hatten. Mit einer Freundin. Nie mit einem Freund. Manchmal fragte sich Julia, ob ihre Tochter lieber Frauen hatte als Männer. Und? Was wäre dann?

Julia schob mit dem Feuereisen ein Holzstück auf die Glut, das etwas zur Seite gefallen war.

Dann? Dann wäre es halt so. Das wäre nicht einmal ihr selbst vollkommen fremd. Einmal, bei einer Einladung unter Freunden, hatte eine Frau, ebenfalls verheiratet, sie beim Abschied heftiger umarmt, als es dem Anlass zukam, hatte ihr die Zunge in die Ohrmuschel geschoben und ihr zugeflüstert, wenn sie einmal mit ihrem Mann nicht zufrieden sei, solle sie bei ihr vorbeikommen. Das Flirren, das sie bei diesem Ohrenkuss empfunden hatte, war ihr noch lange nachgegangen, aber besucht hatte sie die Frau nie.

Das Telefon läutete. Julia stand auf und ging in den Flur, doch bis sie am Apparat war, war er verstummt. Sie schaute auf die Uhr. Halb elf. Es war ein älteres Gerät, das nicht anzeigte, wer angerufen hatte, doch es konnte fast nur jemand aus der Familie sein. Sie stellte die Erlenbacher Nummer ein und ließ es lange läuten, acht oder zehn Mal. Manuel antwortete nicht. Ob er es überhaupt gewesen war vorhin, vielleicht vom Handy aus, das dann unterbrochen wurde? Wenn, dann würde er es sicher nochmals probieren. Sie fürchtete auch immer den Anruf mit der Nachricht, ihr Vater oder ihre Mutter sei gestorben. Nach Fällanden mochte sie so spät nicht mehr anrufen.

Ihre größte Sorge, das musste sich Julia eingestehen, galt Manuel. Sein Tinnitus besserte sich nicht, im Gegenteil, nach dem, was er ihr erzählte, intensivierten sich die Geräusche, und es war klar, dass ihm das zu schaffen machte.

Aber sie hatte immer mehr das Gefühl, es gebe noch etwas, das ihn belaste und über das er nicht sprechen wollte. Ob er ihr einen Krebs verheimlichte?

Sie dachte daran, bei wem überall Krebs aufgetaucht war in letzter Zeit. Walter, einer ihrer Deutschlehrer, hatte sich frühzeitig pensionieren lassen, damit er endlich mehr Zeit zum Lesen hatte, und hatte drei Wochen nach seinem Abschiedsfest den Bescheid erhalten, er habe Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium, mit Metastasen im ganzen Körper, und kämpfte seither um sein Leben, Dorothea, eine Sportlehrerin, hatte diesen Winter erfahren, dass sie Leukämie hatte, und war sechs Wochen später tot, oder der junge Katechet mit seinem Hirntumor – ob ein Tinnitus nicht auch ein Zeichen für einen Hirntumor sein konnte? Aber Manuel hatte ihr ja versichert, er sei bei Toni Mannhart in Kontrolle, der hätte so etwas bestimmt gemerkt, dafür war er ja Spezialist.

Oder hatte er irgendetwas Unrechtes getan? Es kam ihr eine Bemerkung in den Sinn, die er einmal gemacht hatte, als bei einem Praxisessen die Rede auf das Zuger Attentat kam, bei dem ein Frustrierter ins Parlamentsgebäude eindrang und in wenigen Minuten 14 Menschen erschoss. Sein Freund Zihlmann hatte gefragt, ob sie sich das vorstellen könnten, dass man an einem schönen Morgen ein Gewehr in die Hand nehme und über ein Dutzend Menschen abknalle, da hatte Manuel trocken und sehr bestimmt gesagt, ja, das könne er sich vorstellen. Und ins verblüffte Schweigen hatte er dann den Satz nachgeschoben, im Prinzip sei jeder Mensch fähig, etwas völlig Verrücktes zu tun, wenn die Umstände so seien, dass sein moralisches Bremssystem versage. Auch du und ich, hatte er dann, zu Zihlmann gewandt, hinzugefügt.

Manuel ein Verbrecher? Der, unabsichtlich vielleicht, in einer schicksalshaften Minute etwas nicht wieder Gutzumachendes angerichtet hatte?

Julia konnte es sich nicht denken, aber plötzlich schien es ihr wieder, sie kenne ihn überhaupt nicht, und der Ausdruck »mein Mann« sei eine Beschwörungsformel, derer sich die Gesellschaft bediene, um die Fremdheit zwischen zwei Menschen zu bannen.

Und plötzlich hatte sie große Sehnsucht, ihn hier zu haben, gerade jetzt, um ihm endlich näherzukommen.

Sie schaltete ihr Handy ein, und sofort kündigte ein heller Dreiklang das Eintreffen eines SMS an. »komme heute nacht nach p.sina, m« stand da.

Was? Heute Nacht? Wieso? Morgen war doch Donnerstag, und er musste in die Praxis.

Julia spürte ihr Herz klopfen.

Sie freute sich, sie freute und fürchtete sich unbändig.

Sie ging in die Küche, nahm das Puschlaver Ringbrot aus dem Kasten, das er so gern hatte, holte etwas Bündnerfleisch und einen Engadiner Käse aus dem Kühlschrank und zog aus dem kleinen Weingestell neben dem Cheminéeofen eine Flasche Veltliner. Dann legte sie neue Holzscheite auf die Glut, die bald wieder aufflackerte.

Es war halb zwölf, »heute nacht«, das konnte auch heißen, um eins oder zwei, je nachdem, wann er losgefahren war.

Julia legte sich auf das Sofa und schloss einen Moment die Augen.

Als sie erwachte, war es drei Uhr.

Manuel war noch nicht da.

Ihre Angst wuchs.