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Julia öffnete den Renault auf dem Bahnhofparkplatz; auf dem Rücksitz lag die einjährige Mirjam in einer Babytrage und schlief.
»Miam schläft«, sagte Thomas laut.
»Pssst«, sagte sein Vater und hielt einen Finger an die Lippen. Julia hob den Buben in sein Kindersitzchen und versuchte leise die Tür zu schließen, aber dennoch konnte sie einen kleinen Knall nicht vermeiden, der gerade stark genug war, Mirjam zu wecken. Die begann zu weinen.
»Miam wach«, sagte Thomas.
»Macht nichts«, sagte Manuel, der vorne eingestiegen war, lehnte sich über seinen Sitz nach hinten und sagte: »Mirjam, schau wer da ist! Miri, Miri, Miri!« Dazu bewegte er winkend seine Finger und zwinkerte ihr zu.
Aber Mirjam schaute nicht, wer da war, sondern beharrte weinend auf ihrem Unbehagen.
»Wir sind bald zu Hause!« rief die Mutter nach hinten und startete den Motor. Mirjam fuhr fort zu weinen.
»Miam still!« befahl ihr Thomas.
»Aber Thomas, so lass sie doch weinen, wenn sie will«, sagte Julia leicht gereizt und bat dann ihren Mann, der Kleinen den Nuggi zu geben, der bestimmt irgendwo in ihrer Trage war.
Manuel angelte mit seinem Arm über Julias Rücklehne nach hinten, ohne den Schnuller zu finden.
»Ich glaube, du musst anhalten«, sagte er.
»Ach nein«, sagte sie, »es dauert ja nicht lang.«
Mirjam krähte.
»Miam still sein!« kam es von hinten.
Manuel versuchte ein Machtwort: »Aber Thomas soll auch still sein.« Das war zuviel für diesen.
»Toma nicht still!« schrie er und begann nun ebenfalls zu weinen, trotzig und zwängelnd, und so fuhr der dunkelgrüne Wagen bergauf, mit wechselndem Motorengeräusch und stetigem Kindergeheul; Vernunft und Unvernunft waren gleichmäßig über die vier Wesen im fahrenden Gehäuse verteilt, die vernünftigen hatten beide ein Studium hinter sich und beschäftigten sich heute mit der Struktur des Innenohrs und den Lautverschiebungen vom Lateinischen zum Spanischen, und sie verstanden nicht, warum sich die unvernünftigen ausschließlich mit ihrem Missbehagen beschäftigten.
Langsam wurden sie von ihrem französischen Auto auf den schweizerischen Hügelzug hochgetragen, den der Linthgletscher vor zehntausend Jahren bei seinem Rückzug in die Berge als Seitenmoräne hatte liegen lassen und der heute übersät war mit Terrassensiedlungen, Villen und Einfamilienhäusern, über deren Zäune sich blühende Flieder-, Rhododendron- und Schneeballbüsche neigten und aus deren Gärten aufsteigende Grillräuchlein und das Brummen elektrischer Rasenmäher einen friedlichen Abend Anfang Mai verkündeten. Am frühen Morgen, als Manuel weggegangen war, hatte es noch geregnet, jetzt warfen gerade die letzten Sonnenstrahlen ihre überlangen Schatten auf Dächer, Bäume und Baugespanne, und alles lag wie frisch gereinigt da.
Um ihre Garageneinfahrt zu erreichen, musste man von einer ansteigenden Nebenstraße scharf links abbiegen und ein kurzes Stück steil hinunterfahren. Thomas und Mirjam, die immer noch unerlöst auf dem Rücksitz jammerten, würden sie später »das Höllentor« nennen.
über der Einfahrt und über der bergseitigen Mauer verwehrte dichtes Busch- und Strauchwerk den Blick auf das Rittersche Wohnhaus.
Es war in den dreißiger Jahren so an den Hang gebaut worden, dass das unterste Geschoss nur die halbe Fläche der zwei oberen Etagen aufwies. Die Tiefgarage war erst später hinzugekommen, was zur Folge hatte, dass der abfallende Garten nun durch eine ebene begrünte Fläche unterbrochen wurde, die einmal ein beliebter Spielplatz der Kinder werden sollte.
Ein turmartiger Vorbau auf der einen Seite des Hauses mit Erkerfenstern in jedem Stock war ein Versuch des Architekten gewesen, den Verdacht auf Biederkeit abzuwenden. Der Balkon im zweiten Stock war etwas zu eng, ihm fehlte, und das ließ sich auch vom ganzen Haus sagen, ein Stück wirkliche Großzügigkeit. Julia hatte einmal gesagt, es sei wie ein Angestellter in einem etwas zu knappen Sonntagsanzug. Sie liebte solche Vergleiche.
Trotzdem, es bot genügend Platz für sie alle, und das hatte sie, als sie vor drei Jahren möglichst rasch etwas brauchten, überzeugt.
Sie hatten das Haus kurz nach der Geburt von Thomas gemietet, als ihnen die Wohnung in Zürich zu eng wurde. Die Besitzerin war ins Altersheim gezogen, und niemand von ihrer Familie wollte es bewohnen. Ihr älterer Sohn, der die Liegenschaft verwaltete, hatte jedoch durchblicken lassen, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sie diese verkaufen würden, ihre Mutter hänge momentan noch zu sehr daran, und im Mietvertrag war auch eine Klausel mit einem Vorkaufsrecht enthalten. Manuel war damals noch Oberassistent gewesen, seine Frau unterrichtete an der Kantonsschule Wetzikon Italienisch und Spanisch mit einem halben Pensum, und so war ihnen diese Abmachung sehr entgegengekommen. Für den Kauf eines Hauses hätten sie die Mittel nicht gehabt. Ein Jahr später konnte Manuel eine Praxis übernehmen, was nochmals mit Investitionen verbunden war, und zwei Jahre danach kam Mirjam auf die Welt. Nach weiteren drei Jahren war es dann soweit, dass sie das Haus erwerben konnten, aber das wussten sie jetzt, als sie auf das Tor zufuhren, noch nicht.
Julia hielt an, während sie die Garage mit der Fernbedienung öffnete, und Manuel stieg aus, um seinen Kombi zu holen, der beim oberen Eingang ihres Hauses am Straßenrand stand.
Als Manuel seinen Wagen behutsam zwischen dem seiner Frau und der Reihe von Skis und Schlitten an der Wand parkiert hatte, war Julia mit den Kindern schon ausgestiegen, und Thomas kniete neben der Trage am Boden.
»Miam still«, sagte er und zeigte seinem Vater sein Schwesterchen, das nun zufrieden am Schnuller saugte.
»Und Thomas?« fragte Manuel.
»Toma auch still.«
»Brav«, sagte Manuel und nahm die Trage mit seiner kleinen Tochter in die rechte Hand. In der linken trug er seine Mappe, über die er noch den Regenmantel geworfen hatte.
»Papi Hand geben«, verlangte sein Sohn.
Papi verwies ihn auf Mamis freie Hand, aber Thomas lehnte ab.
»Papi Hand geben«, wiederholte er und blieb stehen, während sich sein Vater schon zur Türe begeben hatte.
»Papi hat nur zwei Hände«, sagte Julia und streckte ihm ihre Hand hin, »komm mit Mami.«
Aber Thomas war offenbar nicht zu Kompromissen aufgelegt und forderte erneut Papis Hand.
Manuel fragte Julia, ob sie seine Mappe und den Regenmantel nehmen könne, und Julia antwortete, man sollte dem Kleinen nicht immer seinen Willen lassen, und er könne gewiss auch mit ihrer Hand zufrieden sein, worauf sich Thomas auf den Garagenboden setzte und seine Hand heulend zurückzog, als sie seine Mutter ergreifen wollte.
»Dann bleib halt hocken!«, sagte Julia zu ihm und ging ebenfalls zur Türe.
Manuel hatte diese unterdessen mit dem linken Ellbogen geöffnet und hielt sie mit dem Fuß auf. »Und jetzt?« fragte er seine Frau, die begann, die Treppe hochzusteigen.
Er solle wirklich hocken bleiben, sagte sie und stieg ungerührt weiter, der mache sie heute so was von fertig.
Seufzend blockierte Manuel die Tür mit seiner Mappe, ging zu seinem quengelnden Sohn und nahm ihn unsanft bei der Hand.
»So, Schluss jetzt, steh auf«, herrschte er ihn an, was dieser damit quittierte, dass er auf den Knien blieb.
Als auch eine zweite Aufforderung nichts fruchtete, schleifte ihn der Vater über einen ölfleck, den er zu spät sah, zur Tür, welche inzwischen die Mappe an die Schwelle gedrückt hatte, während ein Stück des Regenmantels unter dem Spalt eingeklemmt war.
Auch in der Trage regte es sich, denn Mirjam hatte ihren Schnuller wieder verloren, und, durch das Gebrüll ihres Bruders angestachelt, begann auch sie wieder zu krähen.
»Julia!« rief Manuel die Treppe hinauf, »kannst du nicht schnell kommen?«
Aber Julia machte keine Anstalten zu kommen, gab nicht einmal Antwort auf seinen Hilferuf, der irgendwo in der Dreistöckigkeit des Hauses verloren gegangen war.
Und so schleppte der Oto-Rhino-Laryngologe seine beiden kleinen Feinde der Vernunft allein die Garagentreppe hoch und fragte sich, wie das alles gekommen war und was er sich da eingehandelt hatte auf seinem Weg der medizinischen Erkenntnisse, der Forschung und der Heilung.