38122.fb2 Es klopft - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 4

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Es war etwa eine Woche später, und ein anstrengender Tag näherte sich seinem Ende. Manuel hatte sich in Herrn Dr. Ritter verwandelt, hatte in Hälse, Nasen und Ohren geschaut, hatte entzündete Stimmbänder, gekrümmte Nasenscheidewände und gerötete Mandeln begutachtet, Audiogramme erstellt, Antibiotika verschrieben, einen Hörsturz behandelt, einen Tinnitus besprochen und ein Kehlkopfkarzinom entdeckt und war dabei in Rückstand auf seinen Stundenplan geraten. Gerade hatte er in seiner letzten Konsultation des Nachmittags eine schwerhörige alte Patientin wegen eines Hörapparats zur Hörberatung weitergewiesen, mit der er zusammenarbeitete, als Frau Riesen, seine Praxishilfe eintrat, bereits in der Straßenkleidung, und ihn fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie jetzt in ihre Weiterbildung gehe. Selbstverständlich, sagte er, es sei ja niemand mehr da.

Doch, sagte die Arztgehilfin, gerade sei noch eine Frau gekommen, die sich nicht habe wegschicken lassen. Sie wolle ihm von der Tinnitus-Tagung etwas bringen, es dauere nicht lang, habe sie gesagt, und sie sitze jetzt im Wartezimmer. Annette Riesen war die jüngere seiner beiden Praxishilfen, eine mädchenhafte Frau mit einem Pagenschnitt, die immer lächelte und etwas Mühe hatte, die Autorität, die ihrer Stelle zukam, auch auszuüben.

Dr. Manuel Ritter war erstaunt. Ob das eine Pharmavertreterin war, die ihm das Medikament mit der bescheidenen Erfolgsquote anhängen wollte? Oder wollte sie ihn dazu bewegen, bei weiteren Applikationsversuchen mitzumachen? Jedenfalls war er entschlossen, auf nichts Derartiges einzugehen.

Er übergab seiner alten Patientin den Zettel mit der Adresse der Hörberatung, die er in Blockschrift geschrieben hatte, begleitete sie in den Korridor, half ihr in den Mantel, verabschiedete sich und öffnete ihr die Tür.

Dann ging er zum Wartezimmer, das offenstand, und erschrak.

Unter seinen goldgerahmten eidgenössischen Diplomen saß, mit übereinandergeschlagenen Beinen, eine Frau in einer leichten, hellen Bluse und einem schwarzen Jäckchen, mit einer üppigen Halskette, einem roten Stirnband und nach hinten aufgebundenen Haaren, und es war ohne Zweifel die Frau, die in Basel an die Scheibe seines Zugs geklopft hatte. Da saß sie und schaute ihn an, mit denselben dunklen Augen und mit demselben eindringlichen Blick.

Er zögerte einen Moment, dann sagte er, immer noch unter der Tür, »Guten Tag, Frau …«

»Wolf«, sagte sie, »Eva Wolf«, und machte keine Anstalten, sich zu erheben.

»Bitte«, sagte er und machte ihr das »Darf ich Sie in das Sprechzimmer bitten«-Zeichen. Normalerweise hielt er dazu in der linken Hand die Patientengeschichte, die ihm die Praxishilfe bereit gemacht hatte, und winkelte die rechte einladend in Richtung Korridor ab. Hatte er nichts in der linken Hand, wie jetzt, imitierte er damit die Geste der rechten. Dazu machte er eine leichte Verbeugung.

»Wir können uns auch hier unterhalten«, sagte die Frau, »ich komme nicht als Patientin«, und lud Manuel ihrerseits mit einer einladenden Geste ein, sich zu setzen.

Noch nie hatte er sich zu jemandem ins Wartezimmer gesetzt. Er zögerte wieder, dann setzte er sich zu ihr, aber so, dass noch ein Stuhl zwischen ihnen war, und musterte sie nochmals.

»Das waren doch Sie«, sagte er dann, »in Basel kürzlich, als ich schon im Zug saß?«

»Ja«, sagte die Frau und nickte, »das war ich.«

»Aber wir kennen uns nicht?« Ihre Stimme kam ihm eigenartig bekannt vor, obwohl sie nicht gesprochen hatte damals.

Die Frau lächelte. »Nein«, sagte sie, »noch nicht.«

Mit der linken Hand begann sie, mit den Bernsteinen ihrer Halskette zu spielen, und fuhr fort, ihn anzuschauen. Manuel schaute sie ihrerseits fragend an und merkte dann, dass er direkter werden musste.

»Und was wollten Sie von mir?«

Die Frau wickelte ein Stück ihrer Kette um den Zeigefinger. Dann hielt sie inne.

»Ein Kind«, sagte sie.

Manuel hob die Augenbrauen und öffnete seinen Mund zu einer Antwort, doch die Sprache ließ ihn im Stich. Er blickte sie an, er starrte sie an, er maß sie mit den Augen, diese Frau, die hier vor ihm saß, in seinem Wartezimmer, aber dennoch weit entfernt vom Allgemeingültigen.

»Ein Kind?« wiederholte er dann langsam, als hätte er nicht richtig gehört.

»Ja«, sagte sie und schaute ihn so offen und rückhaltlos an, dass er seine Augen senken musste.

Er stand auf.

»Tja, Frau Wolf –«

»Ich bin nicht verrückt«, sagte sie und stand ebenfalls auf. Zu seinem Erstaunen war sie etwa gleich groß wie er.

»Das habe ich nicht gesagt«, sagte er, »aber –«

»Aber gedacht haben Sie es vielleicht.«

»Nein, aber Sie müssen zugeben, dass dies ein … etwas …« Er schüttelte den Kopf und suchte nach Worten.

»Ein etwas ungewöhnlicher Weg ist, zu einem Kind zu kommen«, ergänzte sie.

»Das ist das mindeste, was man sagen kann. Und es tut mir leid, aber ich stehe nicht zur Verfügung. Suchen Sie in Ihrem Freundeskreis nach einem Vater. Wenn ich Sie jetzt bitten darf –« Nach und nach gewann er seine Fassung wieder.

Sie trat einen Schritt näher und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Mein Freundeskreis«, sagte sie etwas leiser, »mein Freundeskreis hat versagt. Ich habe drei abgebrochene Beziehungen hinter mir, drei, nun bin ich 35 und möchte ein Kind.«

Manuel entzog seinen Arm ihrer Hand.

»Hören Sie, ich verstehe wirklich nicht, wie Sie gerade auf mich kommen, auf jemanden, den Sie nicht einmal kennen –«

»Das ist es ja«, sagte sie und legte ihre Hand erneut auf seinen Arm, »ich möchte einen Vater, den niemand kennt. Aber nicht irgendeinen. Sie waren an der Tagung, ich habe dort übersetzt, und als ich Sie sah, habe ich gewusst: Das ist er. Ich bin Ihnen zum Bahnhof gefolgt, leider nicht schnell genug. Aber jetzt bin ich da.«

Manuel zog seinen Arm wieder zurück und machte zwei Schritte hinter das Tischchen, auf dem die »Schweizer Familie« neben der »Sprechstunde«, dem »Geo« und der »Schweizer Illustrierten« lag. »Trotzdem, Frau Wolf, das geht nicht – wie haben Sie mich überhaupt gefunden?«

»Sie sind meine vierte Adresse in Zürich«, sagte sie lächelnd,  »Ihre drei Kollegen waren übrigens alle der Ansicht, mein Gehör sei in Ordnung. Ich hätte so lange weitergesucht, bis ich Sie gefunden hätte.«

»Also –«

»Ich möchte Ihnen noch etwas sagen. Ich weiß, dass Sie verheiratet sind. Es geht mir nicht darum, Ihre Ehe zu zerstören. Es geht mir auch nicht um eine Affäre mit Ihnen, geschweige denn um eine längere Beziehung. Ich will gar keine Beziehung mehr, dazu bin ich zu enttäuscht und zu verletzt. Ich möchte nur einen Vater für mein Kind. Sobald ich schwanger bin, gibt es Sie und mich nicht mehr. Ich werde keinerlei Forderungen an Sie stellen, darauf können Sie sich verlassen. Ich werde aus Ihrem Leben verschwinden und vollständig unsichtbar sein. Ich werde das Kind allein großziehen, und es wird nie erfahren, wer sein Vater ist.«

»Sie wissen, dass Sie um etwas Unmögliches bitten.«

»Weso unmöglich? Ich bitte um ein Menschenleben.«

»Ich glaube, Sie suchen eher einen Zuchtstier.«

»Soll ich denn auf ein Wunder warten wie die Mutter Gottes?«

»Warten Sie lieber auf einen Mann, der Ihnen gefällt.«

»Da brauche ich nicht zu warten«, sagte sie, machte zwei Schritte um das Tischchen herum, fasste ihn an den Schultern, legte ihre Wange an seine und ließ, fast ohne ihn zu berühren, ihre Hände auf seine Hüften gleiten.

Dr. Manuel Ritter, überrascht, blieb einen Augenblick zu lange stehen, ohne sich zu wehren, und in diesem Augenblick verwandelte er sich in einen namenlosen Mann, der zum erstenmal in seinem Leben einer Frau begegnet. Ihre Haare, ihre Haut, ihr Duft, ihre Nähe, ihre Stimme, ihre Wörter wirkten zusammen wie ein Zauber, der ihn umschlang. Als sie ihm seinen weißen Arztkittel abstreifte, war ihm, als falle sein ganzes bisheriges Leben von ihm ab; ein Dröhnen in seinen Ohren machte aus seinem Kopf eine Kathedrale, zitternd nahm er Eva an der Hand, ging mit ihr wie in Zeitlupe in den Raum, der soeben noch sein Sprechzimmer gewesen war, und schloss die Tür hinter sich.