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Er konnte es nicht fassen.
Gegen acht Uhr abends fuhr er im Auto über die Seestraße heimwärts.
Er konnte nicht fassen, was soeben geschehen war.
Es war so fremd und übermächtig gewesen, dass er es gar nicht mit sich selbst zusammenbringen mochte. War das ein anderer gewesen, der sich in diese Frau verkrallt hatte, die so schamlos in sein Leben getreten war? In welchem Schattenloch hatte denn dieser andere gelauert, um in dem Moment hervorzuspringen und ihn von seinem Weg abzudrängen, von seiner Normalroute, die über Maturität, Militär, Studium, Heirat, erstes Kind, Assistenzarzt, zweites Kind, Praxis und eigenes Haus zum Gipfel führte? Manchmal sah er sich noch als Oberarzt, hatte sich auch einmal auf eine entsprechende Ausschreibung gemeldet, aber er war schon zufrieden, dort zu sein, wo er jetzt war, die Arbeit in seiner Praxis hatte er mit Freuden angepackt, es hatte ihm nach der langen Zeit der Ausbildung und Assistenzen gefallen, mehr, es hatte ihn mit Stolz erfüllt, endlich der Alleinverantwortliche zu sein für die Probleme der Patienten, die zu ihm kamen.
Nie hätte er gedacht, dass er derart explodieren könnte, das war fast, als ob er mit Julia unglücklich wäre.
Julia. Sie war die zweite Frau in seinem Leben gewesen.
Maja. Die Freundschaft mit ihr dauerte vom letzten Jahr der Kantonsschule bis zum dritten Jahr des Studiums. Sie studierte Politologie, und dem einen Jahr, für welches sie dann nach Amerika ging, hatte ihre Beziehung nicht standgehalten, Maja hatte sich in Boston verliebt, war gleich dort geblieben und hatte geheiratet, einen amerikanischen Juristen, und er hatte sie seither nie mehr gesehen.
Julias Bekanntschaft hatte er auf einer Fete in der WG seines jüngeren Bruders gemacht, dessen damalige Freundin Romanistik studierte. Julia war als eine Freundin der Freundin gekommen, war ebenfalls Romanistikstudentin und hatte, als er sie traf, eine Geschichte hinter sich, durch deren plötzliches Ende sie noch verwundet war.
Sie hatten einmal zusammen getanzt und sich dann, auf einem Fenstersims sitzend, miteinander unterhalten.
Als ihm die kleine, hübsche Frau mit dem ungebändigten Lockenkopf, die fröhlich und melancholisch zugleich war, nicht aus dem Kopf ging, fragte er zwei Tage danach seinen Bruder und dann die Freundin seines Bruders nach Julias Adresse. Sie trafen sich, einmal, zweimal, dreimal, Julia war zuerst zurückhaltend, aber dann blieben sie zusammen. Es war keine Frage, dass sie sich liebten.
Wie lange war das her? Neun oder zehn Jahre. Julia hatte ihr Lizentiat gemacht, er seinen Doktor. Es folgte die Heirat, es kamen die Kinder. Julia hatte außer während ihres Mutterschaftsurlaubs nicht aufgehört, an der Kantonsschule Wetzikon zu unterrichten, ihr halbes Pensum Italienisch und Spanisch.
Nie hatte er sich in diesen Jahren mit einer andern Frau eingelassen. Nicht dass er unempfindlich gewesen wäre, die Nähe zu Frauen, die er in seiner Arbeit täglich erlebte, gefiel ihm durchaus; wenn es ihre Ohren- und Nasengänge zu erforschen galt, war der Abstand seines Kopfes zu demjenigen der Patientin so gering, dass er dem Duft ihrer Haare und ihrer Haut nicht entging und dass er schon bald ein kommunes Parfum von einem erlesenen unterscheiden konnte, es war ein Abstand, welcher die Intimitätsgrenze durchbrach und bei welchem ihm auch schon ein Seitenblick auf einen schönen Busen unterlaufen war, aber er hätte sich keine Anzüglichkeit irgendwelcher Art gestattet, geschweige denn einen Annäherungsversuch, weder fühlte er ein Bedürfnis dazu, noch hätte er gewusst, wie man so etwas in seiner Situation anpacken müsste.
Vom Oberarzt der Klinik, bei dem er Assistent gewesen war, war bekannt gewesen, dass er, dreifacher Familienvater, eine Freundin hatte, eine Krankenschwester aus derselben Abteilung, auch sein Freund Zihlmann, der Urologe war, hatte kürzlich eine Bemerkung gemacht, die einem Eingeständnis gleichkam, aber Manuel war nie klar gewesen, wie man eine solche Beziehung neben einer Ehe vorbeischmuggeln konnte.
Jetzt, auf einmal, wusste er es. Es war viel einfacher, als er gedacht hatte. Man stieß auf eine Frau, die ein Abenteuer suchte, fiel in einer dunklen Ecke übereinander her, mit aller Leidenschaft, die an den Rändern der Gewohnheit liegen geblieben war, und ging wieder auseinander. Auch die dunkle Ecke zu finden war nicht besonders schwer, wenn man über eine eigene Praxis verfügte.
Doch halt, hier war etwas ganz anderes im Gange. Eva mochte zärtlich gewesen sein, leidenschaftlich, unersättlich geradezu, aber es war ja gar nicht das Abenteuer, das sie wollte. Was sie wollte, und jetzt wurde Manuel erst richtig bewusst, was er gerade hinter sich hatte, war ein Kind. Hoffentlich, dachte er, hoffentlich ist nichts draus geworden. Ein Kind auf Bestellung, so etwas klappt ja selten beim ersten Mal. Sie werde sich melden, hatte sie gesagt, wenn sie ihn noch einmal treffen wolle – es wäre natürlich schön, hatte sie hinzugefügt.
Ich muss sie anrufen, dachte Manuel, und ihr sagen, dass ich sie nie wieder sehen will. Meine Frau ist Julia, und sie ist die Mutter meiner Kinder. Er war aufgewühlt und konnte sich selbst nur mit dem Gedanken beruhigen, dass das der einzige und letzte Ausrutscher seines Lebens gewesen sein musste. Habe ich denn, fragte er sich, überhaupt Evas Adresse oder wenigstens ihre Telefonnummer? Er musste sich gestehen, dass er sie weder nach dem einen noch nach dem andern gefragt hatte, derart überrumpelt war er gewesen.
Vor ihm stauten sich die Autos, alle auf der Flucht aus Zürich in die rechtsufrigen Paradiesgärten, Küsnacht lag hinter ihm, gleich kam die Abbiegespur nach links, die nach Erlenbach führte, er überholte den letzten Wagen der Kolonne und strebte den Abbiegepfeilen weiter vorn zu, nicht allzu schnell, aber schnell genug, dass das Mädchen, welches mit dem Moped zwischen zwei Autos herausfuhr, um auf die andere Straßenseite zu gelangen, auf seine Kühlerhaube geworfen wurde, während ihr Zweirad an die Tür eines stehenden Wagens geschmettert wurde. Durch sein scharfes Abbremsen kollerte sie vor ihm auf den Asphalt und blieb dort rücklings liegen.
Manuel schaltete den Motor ab, schloss einen Moment die Augen und drückte die Stirn ans Lenkrad.
Dann öffnete er die Tür, kniete neben dem Mädchen nieder und wurde zum Notfallarzt.
Sie habe schon der Polizei telefoniert, rief eine Frau aus einem geöffneten Fenster, der letzte Fahrer der stehenden Kolonne warnte die heranfahrenden Autos mit Handzeichen, hinter Manuel stand auch schon ein Wagen, dessen Lenker mit dem Pannendreieck zurückrannte und es auf die Mitte der Straße stellte.
Die junge Frau war bewusstlos und trug keinen Helm. Außer Schürfungen an den Händen war keine Verletzung zu sehen, aber immerhin reagierten ihre Pupillen, als er ihr die Augenlider öffnete. Manuel lagerte sie seitlich, sie atmete ruhig. Die Frau aus dem Fenster rief ihm zu, sie habe auch die Ambulanz benachrichtigt. Er hoffte inständig, es sei kein Schädel-Hirn-Trauma und es gebe keine inneren Verletzungen. Dann nahm alles seinen Gang, den er aus seiner Zeit als Bereitschaftsarzt kannte.
Die Störung des Verkehrs war beträchtlich, die Polizei musste die Lichtanlage ausschalten und die Benutzung der einen Fahrbahn von Hand regeln, der Unfall wurde genau aufgenommen, die Fahrerin neben und der Fahrer hinter ihm wurden als Zeugen befragt, mit der Fahrerin des beschädigten Wagens tauschte er die Adresse aus, versicherte ihr, dass er für die Reparaturkosten aufkommen werde, falls es Komplikationen mit der Versicherung des Opfers gebe. Als der Bezirksanwalt an der Unfallstelle eintraf, waren nur noch die Kreideumrisse des Mädchens am Boden zu sehen, sie selbst war bereits mit Blaulicht ins Kreisspital Männedorf transportiert worden. Manuels Wagen war auf der Abbiegespur zum Stehen gekommen, aber die Bremsspuren begannen früher und zeigten, dass er die Mittellinie überfahren hatte. Da diese dort noch nicht durchgehend war, würde wohl das Mädchen als Unfallverursacherin gelten. Manuel hatte die Frau am Fenster gebeten, bei ihm zu Hause anzurufen und mitzuteilen, dass er wegen des Unfalls später komme, aber dass ihm nichts passiert sei.
Als er nach neun Uhr die Treppe aus seiner Garage hochstieg und die Wohnung betrat, stand dort Julia mit besorgtem Gesicht und trug ihren Sohn auf den Armen.
»Papi bum!« rief ihm Thomas entgegen.
»Ja«, sagte Manuel, atmete tief ein und stieß die Luft hörbar wieder aus, »Papi bum.«