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Wie rasch der Sommer gekommen war.

Manuel und Julia hatten für drei Wochen die Ferienwohnung in Pontresina gemietet, die einem Bündner Kollegen Manuels gehörte.

Sie lag am Hang hinter der Kirche, das Parterre war durch die Familie des Kollegen belegt, wenn sie da war, und der erste Stock wurde vermietet. Sie fühlten sich wohl in den sonnigen, großzügigen Räumen und gingen sommers und winters hin.

Vor ein paar Tagen waren sie angekommen, Manuel musste nach zwei Wochen wieder zurück, er wollte die Praxis nicht zu lange schließen, Julia blieb mit den Kindern eine Woche länger.

Heute Morgen war er um halb vier Uhr aufgestanden, hatte sich einen Tee gemacht, war dann den Zickzackweg neben dem Sessellift hinaufgegangen und hatte den Piz Languard bestiegen, während gegenüber die Reihe der Berggipfel vom Licht der Morgensonne immer heller wurde und die scharfe Kante des Biancogrates wie eine Adlernase vom Gesicht des Piz Berninas abstach. Aus der Berghütte unterhalb des Gipfels war schon Rauch aufgestiegen, er war eingetreten und hatte einen Kaffee getrunken, und zwei Stunden später war er wieder in der Ferienwohnung, wo Thomas immer noch im Schlafanzug auf dem Boden herumrutschte und aus seinen Legos eine Burg baute, während Mirjam neben Julia im Kinderstühlchen am Tisch saß, die Nuckelflasche in beiden Händen, und »Mam!« rief, als er eintrat. Das war das einzige Wort, das sie kannte, es stand für alles Wichtige im Leben, Mutter, Vater, Essen, Trinken, Hallo und Ade. Julia, die Linguistin, nannte es eine Einwortsprache und wartete mit Spannung auf deren Zellteilung. Sie war überzeugt, dass Mirjams zweites Wort ihrem Bruder gelten würde.

Das waren Tagesanfänge nach Manuels Geschmack: ganz allein einen Dreitausender vor dem Frühstück, und dann zurück zur Familie. Er war kein Alpinist, aber er fühlte sich gut in den Bergen. Beim Wandern hoch oben war ihm manchmal, als habe er sich selbst im Tal zurückgelassen, und es gehe ein anderer an seiner Stelle.

Zu Beginn seines Studiums war er ein paarmal auf Hochtouren mitgegangen, mit einem Freund, der dafür sorgte, dass er sich mit den richtigen Knoten anseilte und die Steigeisen korrekt anschnallte, doch als dieser im Winter auf einer Skitour in einer Lawine ums Leben kam, verging ihm die Lust aufs Hochgebirge, und seit Thomas zur Welt gekommen war, war er etwas ängstlicher geworden. Heute allerdings hatte er sich angesichts der gleißenden Bergkette gegenüber gefragt, ob er sich nicht beim hiesigen Bergführerverein für eine Besteigung des Piz Palü anmelden könnte, die zweimal in der Woche angeboten wurde. Wenn er die Verantwortung an einen Führer abgeben konnte, schien ihm das Risiko vertretbar.

»Und, wie war’s?« fragte Julia.

»Wunderschön.«

»Möchtest du noch etwas frühstücken?«

Das Morgenglück nahm kein Ende. Er setzte sich also an den Küchentisch und wurde mit einem zweiten Kaffee und Puschlaver Roggenbrot für eine Leistung belohnt, zu der ihn niemand und nichts verpflichtet hatte, kein Praxisstundenplan, keine Patienten, keine Notfälle.

»Du solltest das auch mal machen«, sagte Manuel.

Julia lächelte.

»Sicher nicht dieses Jahr.«

Sie fühlte sich, seit sie nach Mirjams Geburt ihr Schulpensum wieder aufgenommen hatte, manchmal so müde, dass sie zweifelte, ob sie je wieder zu ihrer früheren Frische zurückfinden würde. Mirjam war nachts oft unruhig und weckte dadurch ihren Bruder, der im selben Zimmer schlief und nachher weniger gut wieder einschlafen konnte als die Einjährige, und häufig ging die Nacht so aus, dass Thomas zwischen Manuel und ihr im Bett lag, wenn sie erwachten. Erziehungsstandpunkte wurden ihr entgegengehalten, wenn sie die Rede darauf brachte, das sei falsch, mahnte sie ihre Mutter, der Kleine werde zu sehr verwöhnt damit. Tatsächlich konnte sich Julia nicht daran erinnern, dass sie als Kind je bei ihren Eltern im Bett gelegen hatte. Aber eigentlich bedauerte sie das, denn es passte zum Mangel an Zärtlichkeit, der ihre ganze Kinderzeit durchzogen hatte.

Und eine ältere Kollegin mit drei Kindern hatte ihr, als sie einmal mit ihr darüber sprach, gesagt, das sei dummes Zeug, sie solle sich doch freuen darüber, diese Zeit gehe nur zu schnell vorbei, und dann kämen die Kinder nicht mehr. Damit hatte sich Julia zufrieden gegeben. Manuel schlief, wenn er einmal eingeschlummert war, wie ein Stein, sie mochte ihn auch nicht wecken nachts, wollte ihn schonen, damit er seinem Praxisbetrieb gewachsen war, doch sie selbst konnte auch nicht halbe Nächte lang neben Thomas’ Bettchen sitzen und ihn beruhigend streicheln.

Manuel hatte schon vorgeschlagen, sie sollten ein Au-pair- Mädchen suchen, wie es andere Doppelverdienerpaare auch taten, aber Julia konnte sich nicht dafür erwärmen, sie hatte den Verdacht, sich damit noch ein drittes Kind aufzuhalsen, die waren ja alle sehr jung, und man konnte nicht im Ernst von ihnen verlangen, dass sie nachts um ein Uhr aufstanden, um einem heulenden Kind beizustehen, von dem man gewöhnlich nicht einmal wusste, warum es heulte.

So hatten sie sich mit Babysittern beholfen, wenn sie abends ausgehen wollten, Barbara, die Tochter einer Nachbarsfamilie, kam gerne, sie ging noch zur Schule und wollte Kindergärtnerin werden. Ganz ruhig war Julia allerdings nie. Einmal, als sie nach Hause kamen, saß Barbara verzweifelt im Wohnzimmer, mit Thomas auf den Knien, der mit blau angelaufenem Gesicht keuchte und hustete. Es war sein erster Pseudokruppanfall, Manuel war damals so erschrocken, dass er alles vergaß, was er darüber wusste, und einen Kollegen anrief, der Kinderarzt war. Der empfahl ihm, den Kleinen heiße Dämpfe inhalieren zu lassen, sie gingen mit ihm ins Badezimmer und ließen so lange heißes Wasser in die Wanne laufen, bis ein Saunanebel durch den Raum waberte, und tatsächlich atmete Thomas nachher wieder ruhiger.

Der nächste Anfall ereignete sich dann bei Julias Mutter, welcher Manuel für diese Fälle ein krampflösendes Zäpfchen mitgegeben hatte, aber sie sagte ihnen am andern Tag, sie habe Thomas einen Löffel mit geschmolzener Butter und Zucker gegeben, das habe schon bei Julia und deren Bruder geholfen und habe auch bei Thomas gewirkt. Manuel hatte sich etwas geärgert darüber, denn er misstraute den barfußmedizinischen Hausrezepten. Als er aber einmal spät nach Hause kam, fand er Julia mit Thomas in der Küche, und sie erzählte ihm lächelnd, dass sie soeben einen Pseudokrupp mit einem Löffel geschmolzener Butter und Zucker zum Erliegen gebracht habe. Manuel war irritiert, weil er sich nicht vorstellen konnte, was die heilende Wirkung von heißer Butter in Kombination mit Zucker ausmachte, aber als Julia fragte, was ihm wichtiger sei, ob es seinem Kind gut gehe oder ob er verstehe, warum es seinem Kind gut gehe, gab er sich geschlagen.

»Wir wollten doch picknicken gehen«, sagte Julia, »magst du noch?«

»Natürlich«, sagte Manuel.

Eine Stunde später waren sie als Darsteller einer glücklichen Familie ins Val Roseg unterwegs, Mirjam im Traggestell auf Julias Rücken, Thomas abwechselnd im Buggy, den Manuel stieß, oder davor, ihn selbst stoßend, oder auf Manuels Schultern. Sie gingen über die Brücke, unter der tief unten der Berninabach durchgurgelte (»Siehst du den Bach, Thomi?« – »Du hältst ihn gut fest, gell Manuel?«), stiegen dann durch den Lärchenwald zu einer Lichtung hoch, in der im Sommer jeden Vormittag ein kleines Kurorchester auftrat, dessen Musiker tapfer versuchten, die Mischung aus Populärem und Gefälligem über der Grenze ihres Selbstwertgefühls zu halten. Walzerklänge begleiteten sie, als sie behutsam am Pavillon und den Zuhörern vorbeigingen, die auf Bänken verstreut waren und, den Programmzettel in der Hand, lauschend in die Baumwipfel oder auf den weichen Waldboden blickten.

Thomas blieb lange stehen und blickte zu den Musikern.

»Musig!« sagte er laut, so dass einige aus dem Publikum ihre Köpfe zu ihm drehten.

»Pscht!«, sagte Manuel und versuchte ihn weiterzuziehen.

Thomas protestierte. »Toma Musig!« rief er.

Weitere Köpfe drehten sich.

»Ja«, flüsterte Manuel, »schöne Musik, ganz still zuhören.« Fragend blickte er zu Julia und wies auf eine freie Bank.

Julia nickte, und sie setzten sich, Julia auf die Kante der Bank, damit sie Mirjam in der Rückentrage lassen konnte.

Manuel nahm Thomas zu sich auf die Knie.

Die Walzerklänge schwollen an, die Donauwellen von Johann Strauß wahrscheinlich, und Manuel und Julia waren erleichtert, als keine weitere Störung aus ihrer Mitte auftrat und Thomas beim einsetzenden, eher dünnen Applaus kräftig mitklatschte.

Als Julia bekannt gab, sie wolle jetzt weitergehen, gab Thomas bekannt, er wolle hier bleiben. Manuel und Julia einigten sich, noch während des nächsten Stücks zu bleiben, es war der Sommer aus Vivaldis »Vier Jahreszeiten«.

»Mam!« rief Mirjam während des Violinsolos im langsamen Satz.

»Sie will weiter«, sagte Julia leise zu Manuel, »ich geh schon voraus.«

Als sie so unauffällig wie möglich aufstand, verlangte Thomas »Mama wart!«

»Pscht«, sagte Manuel, »Mam!« rief Mirjam erneut und dringender, und Julia bedeutete dem Kleinen, sie würde weiter vorne auf ihn warten. Das konnte dieser nicht verstehen.

»Mama da wart! Musig!« sagte er laut und klammerte sich an Julias Hosenbein. Die schmächtige Geigerin brachte ihre Kantilene mit einem Seitenblick auf den Unruheherd zu Ende, und das Orchester eröffnete das Sommergewitter des letzten Satzes.

Seufzend erhob sich Manuel, nahm Thomas an der Hand, und während dieser mit kräftiger Stimme und zum Missfallen des mehrheitlich älteren Publikums ringsum auf dem weiteren Genuss der Musig beharrte, entfernte sich das Grüppchen in einer »Mam !Musig!Pscht!«-Wolke langsam aus der Klassik im Lärchenwald.

»Vielleicht sollten wir Thomas einmal ein paar klassische Kassetten kaufen«, sagte Manuel, als sie später weiter hinten im Tal auf einer Bank am Wegrand die Brötchen aßen, die Julia vorbereitet hatte. Mirjam saß auf einer Decke im Gras und spielte mit Arvenzapfen, die ihr Thomas brachte.

Julia sagte, auch sie sei beeindruckt gewesen vom Interesse des Kleinen vorhin, sie könne sich aber genauso gut vorstellen, dass es das Ereignis an sich gewesen sei, das ihn fasziniert habe, und ja, versuchen könne man das schon.

Musikalisch gehörte sie zu den klassikgeschädigten Menschen, da sie als Kind zum Geigenspiel gezwungen worden war, bei einem Lehrer, den sie hasste, weil er sie so oft wie möglich berührte, wenn er ihr die richtigen Handstellungen bei der Bogenführung und beim Aufsetzen der Finger auf dem Griffbrett erläuterte. Die Art, wie er jeweils direkt hinter ihr stand und ihre rechte Hand mit dem Bogen mitführte, erfüllte sie noch in der Erinnerung mit Ekel, und der aufdringliche Duft von »Pitralon«, einem damals gängigen Rasierwasser, das auch das seine war, war ihr so zuwider, dass sie später Giuliano, der es ebenfalls benutzte, eine teure Flasche eines andern Aftershaves schenkte, weil sie ihn sonst buchstäblich nicht riechen konnte.

Aber eigentlich war sie musikalisch, sie sang gerne, hörte auch gerne Gesang, und wenn sie sich eine Platte kaufte, dann am ehesten von den italienischen Cantautori wie Branduardi und Lucio Dalla oder Sängern wie dem Argentinier Atahualpa Yupanqui. Auch Georges Brassens hatte es ihr angetan; als er unlängst mit 60 Jahren an Krebs gestorben war, hatte sie das Lied »J’aurais jamais dû m’éloigner de mon arbre« aufgelegt und plötzlich geweint, als hätte sie einen engen Freund verloren.

Die Arvenzapfensammlung, mit welcher Thomas Mirjam versorgte, wuchs, und da die Kinder so friedlich spielten, zog Julia ein Taschenbuch mit Novellen von Giovanni Verga hervor, das sie bei sich hatte, und Manuel streckte sich einen Moment im Gras unter dem Schatten einer Lärche aus und schlief sofort ein.

Er erwachte vom ersten Donner. Sonne und Himmelsbläue waren verschwunden, hinten im Tal drängten sich dicke schwarze Wolkenballen, und schon fuhr ein Blitz bis auf den Talboden hinunter. Sekunden später rollte der Donner heran, und nun begannen Manuel und Julia ihre Sachen einzupacken, Thomas wurde in den Kinderwagen gesteckt, Mirjam in das Traggestell, die Decke zusammengerollt und im Rucksack verstaut, aus dem Manuel die Windjacken und Kinderregenhüte herausgenommen und verteilt hatte, und dann eilten sie mit langen Schritten der nächsten Brücke über den Bach zu, Thomas wurde in seinem Buggy hin und her gerüttelt, wenn Manuel einer Wurzel ausweichen musste oder sonstwie die Unebenheiten des Fußweges zu meiden versuchte, Mirjam hüpfte auf Julias Rücken auf und ab, beide Kinder begannen zu heulen, der Wind wirbelte in die Baumkronen der Lärchen, die Blitze und der immer dichter darauf folgende Donner trieben sie und andere Spaziergänger talwärts, schoben sie fast vor sich her, und gerade als sie einen Stall erreichten, brach der Gewitterregen über sie herein, sie konnten sich nur unter das kleine Vordach stellen, aber da der Regen fast horizontal auf sie zugepeitscht wurde, war dieser Standort eigentlich sinnlos. Trotzdem blieben sie hier stehen, weil sich das Gewitter nun zuckend und krachend direkt über ihnen entlud. Julia nahm die durchnässte Mirjam aus der Trage und drückte sie an sich, Manuel hob Thomas aus dem Buggy und hielt ihn auf seinen Armen, und während sich die Kinder etwas beruhigten, fragte er Julia, ob sie denn das Gewitter nicht habe kommen sehen.

»Es tut mir leid«, entgegnete sie, »die Geschichte war so spannend.«

»Wovon handelt sie denn?«

»Von einer Liebe, von der der andere nichts weiß.«

Manuel erschrak und beschloss im gleichen Moment endgültig, Julia nichts von dem zu sagen, was passiert war. Warum auch? Es ging ja.