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VIII
Johanna begriff sofort, weshalb Immeke den Apotheker Hans Vinsebeck als »entsetzlich« bezeichnet hatte.
Er lebte in einer namenlosen Gasse, unweit der Stadtmauer, im südöstlichen Teil der Stadt. Sein Haus war klein, krumm und hatte sicherlich schon bessere Zeiten gesehen. Das Dach war sogar mit teuren Schieferplatten anstatt mit Stroh gedeckt, doch der Zahn der Zeit hatte schon gehörig zu nagen begonnen, und es sah ganz danach aus, als ob kein Zimmermann oder Baumeister in den letzten zwanzig Jahren Hand an dieses Fachwerkhäuschen gelegt hatte. Unmittelbar hinter der Eingangstüre, die man erreichte, wenn man von der verschmutzten Gasse aus zwei Stufen hinunterging, begann die Offizin, der Verkaufsraum des Apothekers Vinsebeck. Ein Raum, in welchem die Luft zum Zerschneiden dick war und sich aus den eigentümlichsten, beißenden, aber auch aus angenehmen Gerüchen zusammensetzte.
Vinsebeck selbst war hinter einem großen Tisch voller Tiegel, Körbe, Schalen und irdener Gefäße kaum auszumachen. Geschäftig wirbelte er hin und her, stampfte etwas mit einem Mörser klein, huschte dann flink zu einer Waage, um dort ein Pülverchen zu dosieren, und maß im nächsten Moment einen seltsamen, krummen Zweig aufs genaueste aus, um ihn dann an zwei Stellen zu zerschneiden.
Er hatte nicht einmal hochgeschaut, obwohl eine kleine Glocke erklungen war, als die beiden Frauen die Apotheke betreten hatten. Dennoch sagte er plötzlich, ohne auch jetzt seinen Blick zu heben, mit einer erschreckend hellen Stimme:
»Seid gegrüßt, verehrte Frau Margarethe.«
Diese erwiderte nichts weiter als »Vinsebeck« und schaute sich geduldig im Verkaufsraum um, während der Apotheker weiter herumhantierte. Johanna tat es Margarethe mit großer Neugier gleich, denn nie zuvor hatte sie eine Apotheke von innen gesehen. Staunend begutachtete sie einen bereits braun nachgedunkelten menschlichen Schädel, der sie von einem staubigen Holzregal hohläugig angrinste.
Welch armem Verstorbenen der wohl gehört haben mochte? Sicherlich einem Ehrlosen, einem Verdammten, dem es nicht vergönnt gewesen war, seine Gebeine bis zum Tage des Jüngsten Gerichts in geweihter Erde ruhen lassen zu dürfen.
»Buh«, machte es auf einmal neben ihr, und die in Gedanken versunkene Johanna schrie entsetzt auf.
Sie blickte sich erschrocken um, sah aber niemanden in ihrer unmittelbaren Nähe, von dem dieser Ton hätte kommen können. Erst als sie ihren Kopf ein wenig senkte, schaute sie in das Gesicht des lustigen Meisters Vinsebeck. Bisher war ihr nicht aufgefallen, dass es sich bei dem Apotheker ganz offensichtlich um einen Zwerg handelte, welcher sich soeben einen Scherz mit der neuen Dienstmagd der Witwe Pfeffersack erlaubt hatte.
Die Kaufmannswitwe wiederum stand in einer anderen Ecke des völlig überfüllten Raumes und lachte schallend. Auch Johanna begann zu lachen, weniger über den dummen Scherz als vielmehr über das wahrhaft amüsante Erscheinungsbild des kleinen Mannes.
Unter dem Tisch, an dem er soeben noch hantiert hatte, musste ein Podest angebracht sein, denn auf dem Boden stehend, reichte er Johanna nun nicht einmal bis zur Brust, sah aber ansonsten einem normal gewachsenen Mann sehr ähnlich. Sein Gesicht war faltig, in seinen Augen schien ein Schalk zu hausen, und ob sich noch Haare unter der eng anliegenden ledernen Kappe befanden, deren Seiten wie zwei lange Schlappohren bis über die Schultern hingen, das vermochte Johanna nicht zu sagen.
Flink huschte er zu dem Regal mit dem Schädel, stellte sich auf seine Zehenspitzen und nahm eilig den Totenkopf herunter.
»Gut, dass du mich aufmerksam gemacht hast, Mädchen. Es ist längst Zeit für die Fütterung.« Und mit dem Schädel unter dem Arm verschwand er eiligen Schrittes durch eine schmale Hintertür in einen zweiten Raum.
Schockiert blickte Johanna sich nach ihrer Herrin um, welche belustigt in ihren Handrücken hineinkicherte.
Im Nu war der kleine Mann zurück. Seine Miene war ernst und entschlossen, während er sich wieder seiner Arbeit hinter dem Tisch widmete. Seine Gäste schien er völlig vergessen zu haben.
»Vinsebeck, arbeitest du etwa noch immer an dem Homunculus?«, rief ihm Margarethe mit lauter Stimme zu.
»So ist es, gute Frau. Der Homunculus ist nach wie vor meine große Leidenschaft.«
Homunculus?
Dieses Wort hatte Johanna nie zuvor vernommen.
Was war ein Homunculus?
Das hörte sich nach einer schrecklichen Krankheit an. Nach einem eitrigen Hautausschlag oder gar nach einem wuchernden Geschwür an verborgenen Körperstellen.
»Und was ist mit der Alchemie? Hast du sie gänzlich aufgegeben?«, wollte Margarethe nun wissen.
Jetzt hielt der Zwerg für einen kurzen Moment in seiner Arbeit inne und schaute ein wenig betreten zu der Kaufmannswitwe herüber. Dann sagte er rasch: »Zwecklos.«
»Warum das?«, bohrte Margarethe weiter.
»Was, wenn es gelänge? Dann wäre Gold im Nu nicht mehr wert als eine Handvoll Kieselsteine«, erhielt sie zur Antwort.
»Kaufmännisch gedacht. Das gäbe eine herrliche inflatio, es sei denn, dir würde es glücken, deine Errungenschaft geheim zu halten«, gab Margarethe zurück.
»Ich kümmere mich lieber um den Homunculus. Denkt Ihr, gute Frau, mich gelüstet es, als Alchemist und Hexenmeister zu brennen?«
»Und du würdest nicht brennen, weiser Vinsebeck, wenn es dir tatsächlich gelänge, deinen Homunculus zum Leben zu erwecken?«
»Ach was. Ist denn etwa Albertus Magnus auf dem Scheiterhaufen gelandet?«, fragte er lapidar.
»Nein, aber auch nur deshalb, weil der große Thomas von Aquin den Homunculus des Albertus erschlagen hat, nachdem er gänzlich außer Kontrolle geraten war. Albertus hat sein Leben der Verschwiegenheit des Thomas zu verdanken.«
»Wäre Thomas verschwiegen gewesen, wüsstet Ihr dann jetzt davon?«, erwiderte Vinsebeck verschmitzt.
»Lassen wir das Gerede über den Homunculus. Ich bin geschäftlich zu dir gekommen, guter Vinsebeck.«
Jetzt ging Margarethe einige Schritte nach vorn, unmittelbar bis vor den Tisch des Apothekers.
»Ich verkaufe nur wenig von Euren Spezereien. Niemand kommt zu mir, um venezianische Seife oder florentinisches Konfekt zu erwerben. Das solltet Ihr besser dem anbieten, dessen Name mir nicht über die Lippen kommen will«, nahm Vinsebeck sogleich jedweden Verkaufsabsichten der Gewürzhändlerin den Wind aus den Segeln.
»Wegen eben diesem bin ich hier. Er soll zurück in der Stadt sein«, gab diese ruhig zurück.
»Was kümmert es mich?«, antwortete der kleine Mann gereizt. »Mein Geschäft hat er ohnehin schon ruiniert. Mehr Schaden wird er nicht anrichten können, der tumbe Scharlatan. Außerdem mag ich keinerlei Gedanken mehr an diesen Menschen verschwenden. Ihr trefft mich damit an einem wunden Punkt, gute Frau.«
»Er stellt auch meinen wunden Punkt dar, Vinsebeck«, erwiderte Margarethe.
»Ach?«, fragte der kleine Mann erstaunt und blickte seinen Gast fast entsetzt an. »Dann wisst Ihr es nun also?«
»Was weiß ich? Dass er auch mein Geschäft zu ruinieren trachtet, indem er ein zweites Gewürzkontor in einer kleinen Stadt wie Hameln aufbauen will? Ja, das weiß ich, Vinsebeck.«
Hans Vinsebeck schien erleichtert. Offensichtlich hatte er befürchtet, dass Margarethe etwas anderes sagen würde.
»Was glaubst du, weshalb er so lange fort war? In Italien, in Flandern? Kontakte hat er geknüpft, Verträge hat er ausgehandelt, und zudem versucht er beim Bürgermeister und seinen Ratskollegen gegen mich zu intervenieren. Das spüre ich. Ich hab es dem Bürgermeister schier an der Nasenspitze angesehen.«
»Aber Margarethe, das ist ein alter Hut. Wir wissen doch schon lange, dass Hasenstock der Drogenhandel allein nicht genügt. Dass er nicht schon längst mehr in Gewürzen gemacht hat, lag allein an seiner kaufmännischen Unfähigkeit. Und auf diese könnt Ihr Euch auch in Zukunft verlassen. Er ist ein Tölpel. Er muss ein Tölpel sein. Bei dem fahrenden Quacksalber Gugelmann hat er vor zwei Jahren für teures Geld Wasser erstanden, das aus dem Jungbrunnen stammen soll. Und anstatt diese aus der Weser geschöpfte Brühe gewinnbringend weiterzuverkaufen – was man ihm bei seiner fehlenden Moral durchaus zutrauen würde –, hat er es selbst getrunken, fässerweise. Besitzt er schon wenig Moral, so besitzt er von einem noch weniger: Klugheit. Dieser Mann stellt für Euch eine solch geringe Gefahr dar, wie er eine Gefahr für Euren Gatten dargestellt hat. Zumindest in geschäftlichen Dingen …«
»Es sei denn, man ernennt ihn zu meinem Vormund«, fügte Margarethe an, ohne auf den letzten, sehr nachdenklich gesprochenen Satz des kleinen Apothekers einzugehen.
»Vormund? Der?« Vinsebeck kratzte sich am Hals, dann sagte er: »Nun ja. Einfluss genug besitzt er, um sich beim Rat gehörig einzuschmeicheln und sich als den geeignetesten Kandidaten an der Seite eines hilflosen und überforderten Weibs zu präsentieren. Zumal er sich ja noch immer gern als Freund und Wegbereiter Eures verstorbenen Reinold ausgibt. Vielleicht, Margarethe, hättet Ihr ihn doch ehelichen sollen, als er nach dem Tode Eures Gatten um Eure Hand anhielt.«
»Das meinst du doch nicht im Ernst, lieber Vinsebeck.«
»Warum denn nicht?« Wieder musterte der kleine Mann die Witwe aufmerksam.
Johanna hatte den Eindruck, er wolle ihr ein Geheimnis entlocken, von dem er sich nicht sicher war, ob sie es überhaupt kannte. Doch Margarethe schien arglos zu sein.
»Weil er ein Widerling ist, ein Mensch, mit dem ich nicht einmal eine halbe Stunde in ein und demselben Raume verbringen kann, ohne nach Luft zu ringen, geschweige denn, dass ich mir vorstellen könnte, mit ihm das Bett zu teilen.«
»Das ist alles?«
»Vinsebeck, was soll die seltsame Fragerei?«, wies Margarethe das Männlein harsch zurecht. »Hören wir auf zu schwatzen, und kommen wir zu meinem eigentlichen Anliegen.«
»Und das wäre, Frau Margarethe?«
»Du musst mich heiraten. Oder zumindest sollten wir eine Verlobung eingehen, so lange, bis mein Neffe zurück in der Stadt ist.«
Johanna schluckte hörbar, sie traute ihren Ohren kaum.
War das möglich?
Hatte sie richtig gehört?
Das konnte doch nichts anderes als ein Scherz sein.
Es musste eindeutig ein Scherz der Witwe gewesen sein, denn auch der Meister Vinsebeck fing mit einem Male herzlich an zu lachen.
»Denke darüber nach! Du bist der einzige vertrauenswürdige Kandidat in dieser Stadt, und es wäre nicht zu deinem Nachteil«, sagte Margarethe ebenfalls mit heiterer Stimme. Dennoch gewann Johanna den Eindruck, dass es ihrer Herrin durchaus ernst war.
Im nächsten Moment stand die Witwe auch schon in der Türe und winkte Johanna zu sich, den noch immer belustigt den Kopf schüttelnden Apotheker zurücklassend.
»Darf ich eine Frage stellen?« Johanna brannte es, seit sie das schäbige Haus des Apothekers Vinsebeck verlassen hatten, auf den Lippen. Erst als sie die zurück zum Pferdemarkt führende breite Bäckerstraße schon zur Hälfte durchschritten hatten, getraute sie sich, Margarethe Gänslein anzusprechen.
»Ja, bitte, frag nur.« Ganz von sich aus war die Herrin am heutigen Tage dazu übergegangen, Johanna nun persönlich und nicht mehr in der dritten Person anzureden. Johanna wertete dies als Zeichen des Vertrauens und fragte nun endlich:
»Was ist ein Homunculus?«
Margarethe stutzte und sagte: »Ich dachte schon, du wagst es, mich nach dem Grund für diesen ungewöhnlichen Antrag zu fragen.« Dann wurde sie mit einem Mal todernst und raunte ihrer Magd leise zu: »Das mit dem Homunculus erzähle ich dir, sobald wir wieder hinter verschlossenen Türen sind. So amüsant diese Angelegenheit einerseits ist, so gefährlich kann sie für den verrückten Vinsebeck werden. Er hat wenige Freunde in dieser Stadt und zum Teil sogar mächtige Feinde.«
Und mit veränderter Stimme fügte sie plötzlich an: »Wenn man vom Teufel spricht …«
Ein großes Getümmel herrschte auf dem Marktplatz, welchen sie mittlerweile erreicht hatten. Zahlreiche Bauern waren aus der nahen Umgebung in die Stadt gekommen, um hier ihre frisch geernteten Überschüsse an Obst und Gemüse sowie Eier und Geflügel feilzubieten, eine Gruppe von Spielleuten führte zu lustiger Musik akrobatische Tänze auf, und zudem hielt es ein dominikanischer Wandermönch für notwendig, lauthals, aber dennoch unbeeindruckend, gegen die neuen Lehren zu wettern. Trotzdem entdeckte Margarethe inmitten all dieser vielen Menschen sofort den einen, welchem sie ganz und gar nicht hatte begegnen wollen.
Den Apotheker und Ratsherrn Peter Hasenstock.
Auch sie wurde ihrerseits entdeckt, und nachdem der wie ein bunter Pfau gekleidete Herr sie zunächst mürrischen, ja regelrecht angewiderten Blickes gemustert hatte, veränderte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Mal schlagartig. Eine Reihe weißer, ungewöhnlich gerader Zähne entblößend, schritt er eiligst auf Margarethe und Johanna zu, während die beiden Frauen stehengeblieben waren, um das Nahen dieses Mannes abzuwarten.
Nie hatte Johanna einen derartig auffälligen Gockel zu Gesicht bekommen, ja, treffender war dieser Mann nicht zu bezeichnen. Seine Haare reichten ihm bis zum Kinn und umkränzten sein Gesicht wie eine Haube, ganz so, wie sie es einmal auf einem Flugblatt mit der Abbildung des Kaisers Karl V. gesehen hatte. Auf dem Kopf trug er einen breiten, samtenen, goldbestickten Hut mit einem ganzen Busch riesiger, bunter Federn, sein karierter Umhang war mit einem breiten Schulterstück versehen, ganz offensichtlich, um den schmächtig gebauten Mann imposanter erscheinen zu lassen. Darunter trug er einen für sein Alter viel zu kurzen, ausladenden Rock, der den Blick auf seine dünnen, in engen, weißen Strümpfen steckenden Beine freigab. Sein Gesicht war blank rasiert und ganz offensichtlich stark geschminkt, denn eine solch ebenmäßige Hautfarbe konnte nicht einmal die schönste und behütetste Jungfrau aufweisen – ja, Johanna glaubte sogar erkannt zu haben, dass selbst seine Lippen und Wangen auf künstliche Weise gerötet waren. Doch all dieser Schmuck und Tand wog in seiner Übertriebenheit nichts gegen den Blick seiner langbewimperten Augen, denen es nicht gelang, sein wahres Wesen hinter einem Schleier von aufgesetzter Höflichkeit zu verbergen.
Kurz: Johanna war dieser Mann, ganz anders als der kauzige Apotheker Vinsebeck, auf Anhieb unsympathisch. Und offenbar ging es ihrer Herrin nicht anders, denn obwohl auch sie eine versucht freundliche Miene an den Tag legte, machte sie, als der Gockel auf die beiden Frauen zukam, dennoch einen verächtlich räuspernden Ton, der ihrer Magd bedeuten sollte, dass die nahende Begegnung eine von der unangenehmen Art werden würde.
»Wie ich sehe, seid Ihr wieder im Lande, Magister Hasenstock. Niemand konnte mir Genaueres über Euren Verbleib und den Zeitpunkt Eurer Rückkehr berichten. Ich machte mir schon ernsthafte Sorgen um Euer Wohlergehen.« Margarethes Stimme klang hochmütig, und es schien ihr zu gefallen, keinen Hehl daraus zu machen, dass ihre Worte geheuchelt waren.
Den Angesprochenen schien dies nicht zu bekümmern, er verneigte sich vor ihr, als handelte es sich bei Margarethe Gänslein um eine Reichsfürstin.
»Nahezu ganz Europa habe ich bereist, zuletzt das schöne Italien, werte Frau. Ein mitunter gefährliches Abenteuer. Doch das Glück war mir in jeglicher Hinsicht hold. Wen man nicht alles trifft, mit wem man nicht alles Freundschaft schließt, in Verhandlungen tritt, lohnende Geschäfte abschließt …? Vittorio Baresi, seines Zeichens Gewürzhändler aus Venedig, und August Reinbach, Fernkaufmann aus Augsburg, lassen Euch im Übrigen grüßen, gnädige Witwe Gänslein.«
Margarethe kochte innerlich. Also waren ihre Befürchtungen berechtigt gewesen. Hasenstock versuchte, einen Konkurrenzhandel zu dem ihrigen aufzubauen und war nun dabei, sogar ihre mühsam erworbenen Kontaktleute für sich zu gewinnen. Wenn es denn stimmte, was er da sagte. Sie würde noch heute Briefe an Baresi und Reinbach verfassen. Aber konnte man es ihm verdenken? Er war nie ein begnadeter Apotheker gewesen, wie etwa ein Hans Vinsebeck, nein, dazu fehlte Hasenstock das Wissen und auch die Leidenschaft. Er interessierte sich weniger für die Heilkunst als vielmehr für die Verschönerung des Lebens. Und dazu zählten nicht nur Duftwässerchen, abdeckende Gesichtspasten und Lippenrot, sondern auch Luxuswaren wie Gewürze.
Er war nicht der erste Apotheker, der sich auf solche Spezereien spezialisierte. Margarethe selbst belieferte Apothekenhäuser in Lemgo, Göttingen und Hannover mit erlesenen Gewürzen, die nicht allein aus Heil-, sondern vorwiegend aus Genusszwecken verkauft wurden. Doch offensichtlich war ihm das Feilbieten von Gewürzsäckchen in seiner Offizin nicht mehr genug. Er wollte mehr, er wollte seinen eigenen Großhandel, und damit hielt er nicht hinterm Berg. Dennoch sah Margarethe es nicht ein, ihm die Genugtuung ihres offen zutage getragenen Ärgers zu gönnen. Stattdessen lenkte sie das Gespräch auf ein anderes Thema:
»Ihr seid wahrlich ein mutiger Mann, Magister, wenn Ihr Euch getraut, nach Italien zu reisen.«
Hasenstocks tumbe Miene wurde mit einem Male ernst, ja hässlich, seine Mundwinkel fielen derart nach unten, dass Johanna glaubte, sie träfen sich bald wieder am Kinn.
»Worauf spielt Ihr an?«, fragte er nun mit einer fast dämonisch anmutenden Stimme. »Weshalb sollte ich es nicht wagen dürfen, über die Alpen zu gehen?«
»Nun, dort wütet doch nach wie vor dieser schreckliche Krieg«, antwortete Margarethe, die seltsame Veränderung im Verhalten ihres Gegenübers auf dessen Unwissenheit in politischen Dingen zurückführend.
»Ach, das meint Ihr bloß«, gab er zurück und gewann dabei seine alte Mimik wieder. »Aber diese Auseinandersetzungen betreffen doch nicht uns Handelsleute«, sagte er nun, ihr erneut einen Stich versetzend, indem er sich mit ihr auf eine Stufe hob.
Margarethe nickte nur verächtlich, während er ungerührt fortfuhr zu reden: »Ihr habt jedoch recht, meine Liebe. Rom konnte ich nicht besuchen. Es liegt nach wie vor in Schutt und Asche.«
»Daran habt Ihr gut getan, werter Hasenstock. Il Sacco di Roma. Dieser von kaiserlichen Truppen herbeigeführte Alptraum muss die Römer so sehr bestürzt haben, dass sie all ihrer Zivilisation verlustig gegangen sind. Diejenigen, die nach der Verwüstung nicht aus der Stadt geflohen sind, sollen dort nun hausen wie die Tiere. Mord, Todschlag, Raub und Schändung in allen Gassen. Aber wer weiß, mein guter Hasenstock, vielleicht hättet Ihr Euch doch recht wohlgefühlt in der heiligen Stadt?«
»Warum sollte ich mich zwischen Mord und Todschlag wohlfühlen?« Wieder veränderte er seine Miene. Johanna glaubte, dass tiefer Hass aus seinen Augen sprach, doch das schien Margarethe nicht zu bekümmern.
»Ihr habt mich missverstanden. Ich wollte auf die Heiligkeit Roms hinweisen, auf seine herausragende Stellung als Pilgerstätte, an der einem nahezu für jede Sünde Ablass gewährt werden kann.«
Offenbar genoss die Herrin es, diesen Gockel immer mehr in Verlegenheit zu bringen. Ungeduldig begann er nun von einem seiner dünnen Beinchen aufs andere zu wippen, dabei verlor er die Witwe Gänslein jedoch nicht aus den Augen. Ja, er schien regelrecht in ihrem Gesicht zu forschen.
»Was kümmert uns das ferne Italien, gute Frau?«, sagte er schließlich und schaute dann gespielt überrascht an Margarethe vorbei, um sofort zu rufen: »Oh, ich sehe, da geht mein Freund und Ratsherr Walter. Entschuldigt mich, es gibt Dringendes mit ihm zu bereden.« Ihre Hand nehmend und küssend, eilte er schließlich mit den Worten »Wir werden uns in Bälde wiedersehen, Gnädigste!« davon.
Margarethe schaute sich belustigt um. Von dem Ratsherrn Walter war nicht die geringste Spur zu sehen.
Dieser Hasenstock war und blieb doch nur ein aufgeblasener, hohler Gockel, vor dem man sich nicht zu fürchten brauchte. In geschäftlichen Dingen würde sie es leicht mit ihm aufnehmen können, solange er nicht zu ihrem Vormund ernannt wurde. Das allein galt es zu verhindern. Aber vielleicht war auch in dieser Hinsicht ihre Sorge übertrieben. Vielleicht ließ sich der Rat noch eine Weile hinhalten, und vielleicht war sie zu voreilig gewesen, Vinsebeck heiraten zu wollen. Doch Vorsicht war stets besser als Nachsicht, und sie würde Peter Hasenstock, den sie nie hatte ausstehen können, gut im Auge behalten.
Ein wenig erleichtert setzte sie nun, Johanna freundlich zuzwinkernd, die letzten Schritte bis zu ihrem Hause fort.
»Ein Homunculus ist ein vom Menschen erschaffenes, menschenähnliches Wesen«, antwortete Margarethe auf Johannas Frage, sobald sie in die Diele des Kaufmannshauses eingetreten waren und die schwere Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war. Sie streifte ihren pelzbesetzten, dunkelbraunen Umhang ab, reichte ihn Johanna und ging sofort in ihre angrenzende Schreibstube, die Magd hinter sich herwinkend.
Mit einem Nicken bedeutete sie Johanna, auch die Tür zur Schreibstube zu schließen. Der Secretarius Bennheim war an diesem Tage nicht anwesend. Es handelte sich bei ihm um ein bescheidenes, dünnes, altes Männlein, welches den Titel eines Sekretärs nicht wirklich verdiente, denn Bennheim hatte niemals eine Schule besucht, hatte es jedoch vollbracht, sich schon als Knabe selbst das Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen. Fähigkeiten, die in einer kleinen, abgelegenen Stadt wie Hameln jedoch recht selten unter den einfachen Leuten zu finden waren und den guten Mann schließlich mehr als ausreichend dazu qualifizierten, auf Anraten Margarethes seine Arbeit in der Sägemühle niederzulegen und in die Dienste der reichen Kaufmannswitwe zu treten. Seither war der spätberufene Schreiberling der schönen Witwe treu ergeben und zu ihrer unabkömmlichen rechten Hand geworden. Dennoch erledigte Margarethe die meiste Schreibarbeit nach wie vor selbst und war mitunter froh, wenn sie den alten Secretarius auf Geschäftsreise in eine der Nachbarstädte schicken konnte und somit ihre Schreibstube für sich allein hatte.
Laut aufatmend, setzte sie sich auf einen weich gepolsterten, mit hohen Armlehnen versehenen Stuhl hinter dem mit unzähligen Papieren übersäten riesigen Tisch, während Johanna noch immer mit dem kostbaren Umhang über dem Arm an der Türe stand.
Was hatte Margarethe Gänslein da soeben gesagt?
Ein Homunculus war ein von Menschenhand erschaffenes, menschenähnliches Wesen?
Das war Teufelei.
Ohne Frage, es war eindeutig Hexenwerk, was der Zwerg Vinsebeck da in seinem Hinterzimmer betrieb.
Wenn es denn der Wahrheit entsprach – denn Johanna traute sowohl ihrer Herrin als auch dem lustigen Zwerg zu, dass sie sich einen Spaß daraus machten, die neue Magd für dumm zu verkaufen.
Johanna spürte wieder einmal den stummen Blick Margarethes auf sich ruhen. Sie versuchte schon lange, sich an diesen bohrenden Blick, der ihrer Herrin so zu eigen war, zu gewöhnen. Margarethe Gänslein prüfte nun einmal alles haargenau, nicht nur ihre Wechsel und Waren, nein auch ihre Mitmenschen. Zunächst hatte Johanna diese Eigenschaft als unangenehm empfunden, gar als böswillig. Aber mittlerweile hatte sie erkannt, dass nichts anderes als Vorsicht dahintersteckte – Vorsicht und Verletzlichkeit.
»Aber der Apotheker Vinsebeck versucht das nicht wirklich?«, stotterte sie schließlich.
»Durchaus versucht er es. Jedoch recht erfolglos, wie mir scheint. Wie auch sollte so etwas gelingen?«, antwortete Margarethe, aus ihrer prüfenden Starre erwacht.
»Aber wie macht er das, wenn ich fragen darf?«
»Das interessiert dich, nicht wahr? Was glaubst du, wie sehr es alle anderen interessieren würde, wenn sie davon erführen? Schweig bloß stille darüber, sonst geht es dem armen Vinsebeck gehörig an den Kragen. In dieser Stadt haben durchaus schon Leute gebrannt.«
Johanna blickte nach den ermahnenden Worten Margarethes betreten zu Boden. Sie hatte sich mit ihrer Neugierde offenbar zu viel herausgenommen.
»Er versucht es bisher nur an Katzen und Hunden.« Die Stimme der Kaufmannswitwe klang wieder etwas versöhnlicher. »Doch allein das würde ausreichen, um ihn anzuklagen. Also Stillschweigen, Johanna, hast du verstanden?«
Johanna nickte.
»Vinsebeck«, fuhr Margarethe fort, »ist ein originelles, buntes Kerlchen. Ich mag ihn sehr gern, auch wenn ich annehmen muss, dass sein Geist mitunter verwirrt ist. Doch wer von uns ist frei von verrückten Gedanken? Er tötet halt räudige Katzen und streunende Hunde und versucht, sie dann wieder zum Leben zu erwecken. Ja, er behauptet sogar, es sei ihm bereits gelungen, und er werde nun zum Nächsten schreiten. Das halte ich für einen makabren Scherz. Nichts weiter. Doch spielt er mit derlei Scherzen Leuten in die Arme, die es nicht gut mit ihm meinen. Leute wie den Herrn, welchem wir soeben begegnet sind.«
»Auch Ihr versteht Euch nicht gut mit diesem anderen Apotheker, Herrin.«
»Werde nicht unverschämt«, herrschte Margarethe Johanna an, welche sich vor Schreck sofort eine Hand vor den Mund hielt, wobei der wertvolle Mantel zu Boden fiel. Margarethe stand auf und ging auf Johanna zu, doch anstatt ihr eine Ohrfeige zu geben, hob sie den Umhang auf, legte ihn über einen Stuhl und nickte Johanna fast ein wenig traurig zu.
»Du hast ja recht, Johanna«, sagte sie dann leise. »Ich weiß, dass ich es nicht besser mache als Vinsebeck. Zwar versuche ich mich nicht darin, dem Schöpfer ins Handwerk zu pfuschen, aber dennoch begebe ich mich mit meinem Starrsinn und meinem Hochmut in nicht minder große Gefahr. Man duldet mich, ja, aber man liebt mich nicht. Und dulden wird man mich auch nur so lange, wie meine Fuhrwerke genug Waren auf die Stadtwaage bringen. Ein misslungener Handel oder ein Monat Bettlägerigkeit, und sie verjagen mich wie eine tollwütige Hündin. Ich bin allein. Ich habe keine Familie hier, keine einflussreiche Sippschaft, keinerlei verwandtschaftliche Verbindungen zum Patriziat oder zu den Gilden, und somit genieße ich auch keinen Schutz. Ich bin allein. Und das ist meine eigene Schuld. Ich hätte es anders haben können, aber ich wollte es nicht. Ich suche die Einsamkeit und empfinde sie dennoch als unerträglich. Ist das nicht seltsam?«
Johanna wusste nicht, was sie zu diesen unerwartet offenen Worten sagen sollte. Sie fürchtete sich, wieder zu forsch zu sein und die Herrin erneut zu erzürnen. Deshalb schwieg sie.
»Ach, was rede ich denn da?«, lachte Margarethe nun etwas verlegen auf. »Du hast noch reichlich zu tun, und auch ich habe Korrespondenz zu erledigen. Würde doch zu gern wissen, welchen Eindruck der gute Hasenstock auf meine Freunde Baresi und Reinbach gemacht hat.«
Und mit einer nicht unfreundlichen, aber deutlichen Kopfbewegung wies sie Johanna nun an, den Raum zu verlassen.