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IX

Herrin, ich kann das nicht tun.«

»Aber gewiss kannst du das. Was ist denn schon dabei? Eine kurze Handbewegung, und die Sache ist erledigt.«

»Die gute Frau Mechthild wird sicherlich wütend sein.«

»Ach was. Zorn ist eine Gefühlsregung, welche meiner liebenswerten Base vollkommen fremd ist. Einsicht hingegen ebenso. Hunderte Male habe ich ihr dazu geraten, doch sie wollte nicht auf mich hören. Jetzt jedoch wird es höchste Zeit! Wirf nur einen Blick vor die Tür, hinauf zum Dach der Kirche, Johanna, sie versammeln sich bereits alle. Hörst du nicht den Lärm, den sie machen? Wenn wir jetzt nicht handeln, dann ist es zu spät, und er wird elendig vor Einsamkeit zugrunde gehen.«

»Nun gut.«

Johanna verließ die Diele, in welcher Margarethe zusammen mit ihrem Secretarius den Warenbestand prüfte, und machte sich auf den Weg auf die Galerie, von wo sie die Kammer betreten konnte, welche die Witwe Mechthild nur zu drei Zwecken verließ: zum Gang in die Kirche, zum Gang in ihre Bettstatt und zum Gang ins heimliche Gemach, das im Hinterhof untergebracht war. In ebendieses hatte sie sich vor kurzer Zeit begeben, und aus Erfahrung wussten Margarethe und auch Johanna, dass eine solche nachmittägliche Sitzung bei der lieben Frau Mechthild eine ganze Weile in Anspruch nahm. Zeit genug, um ein längst fälliges Vorhaben in die Tat umzusetzen.

Johanna schlich vorsichtig in die überheizte Kemenate, in welcher Mechthild tagaus, tagein auf der gemütlichen Fensterbank in ihrem Erker saß, stickte, nähte, den Rosenkranz betete oder einer äußerst zweifelhaften Tätigkeit, nämlich der Beschäftigung mit Los- und Wahrsagebüchern, nachging. Dieser Aberglaube war neben ihrer Putzsucht die einzige Sünde der herzensguten Frau, es sei denn, man zählte ihre Gewohnheit, jeden Tag der Gesundheit wegen mindestens einen Löffel Branntwein zu schlürfen, ebenfalls zu den bußfertigen Taten.

Mechthild war also nicht im Raume, und auch ihre Freundin, die schroffe Begine Regine, wurde an diesem Tage nicht erwartet, sodass Johanna ungehindert ihren Auftrag erledigen konnte. Ein Auftrag, der ihr persönlich nicht einleuchtete, welcher jedoch Margarethe ein großes Anliegen war.

Der Käfig stand ebenfalls auf der Fensterbank, das Fenster jedoch war verschlossen und musste erst mühsam geöffnet werden, um dem kleinen Ding die Freiheit zu schenken. Es war ein Star – einer von der Sorte Vögel, wie sie sich seit zwei Tagen auf den Dächern der umliegenden Häuser und auf dem Turm der Nicolaikirche versammelten, um gemeinsam ihre Reise in den Süden anzutreten. Mechthild hatte diesen kleinen Vogel im Frühjahr von dem Stiftsherrn Vestiarius geschenkt bekommen. Ein kleiner Begleiter und Zeitvertreiber für die alleinstehende Frau sollte es sein, welche, so anders als ihre geschäftige Base, in reiner Kontemplation und Abgeschiedenheit einem idealen Witwendasein nachging.

Johanna hatte das Fenster bereits geöffnet und steckte den Kopf heraus, um nachzusehen, wo sich die Artgenossen des Vögelchens aufhielten. Sie waren nicht zu verfehlen. In fast bedrohlichen Mengen hockten sie überall und ließen so manchen Marktbesucher schimpfen, da sie nicht nur entsetzlich laut waren, sondern nicht selten ein unwillkommenes Muster auf Kappen, Hauben oder Mänteln der Leute hinterließen.

»So, jetzt flieg!«, rief Johanna, während sie den winzigen hölzernen Käfig aus dem Fenster hielt und dessen kleine Klappe öffnete.

Es dauerte eine Weile, bis der Gefangene sich dazu entschloss, sein vertrautes Heim zu verlassen, und als er endlich hinaushüpfte, wäre er sogar beinahe abgestürzt, so wenig Übung besaß er darin, frei zu sein. Doch zu Johannas Erleichterung fing er sich schnell wieder und flog dann so eilig davon, dass es ihr nicht gelang, seinen Weg zu verfolgen.

Johanna blieb noch eine Weile am Fenster und schaute etwas verträumt hinaus, doch dann entsann sie sich, dass Frau Mechthild nun wirklich bald von ihrem heimlichen Gang zurückkehren müsste, und sie empfand wenig Lust, für die Befreiungstat verantwortlich gemacht zu werden. Diese Bürde sollte die Herrin auf sich nehmen.

Gerade wollte sie das Fenster wieder schließen, da fiel ihr Blick auf einen Mann, der soeben unmittelbar unter dem Kaufmannshaus entlangging. Er war hochgewachsen und schlank und trug ein langes, schwarzes Gewand, wie es üblich für Amtspersonen oder Angehörige gelehrter Berufe war. Selbstbewusst schritt er einher, und es gab kein Weibsbild, welches dieser Erscheinung einen anerkennenden Blick versagte. Vor der Türe des Gänslein-Hauses blieb er stehen und ging einige Schritte zurück, um es in seiner ganzen Pracht in Augenschein zu nehmen. Dabei fiel sein Blick unweigerlich auch auf das geöffnete Fenster, aus dem sich eine Magd mit einem leeren Vogelkäfig in der Hand lehnte.

»Oh, Schreck«, entfuhr es Johanna.

Sie beeilte sich, vom Fenster zu verschwinden. Hinter dem Vogelkäfig ihr Gesicht verbergend, stolperte sie rücklings in den Raum, fiel dabei sogar unsanft aufs Hinterteil, raffte sich aber rasch auf und ließ sodann den Ausguck scheppernd und krachend zuschlagen, um ihn schließlich fest zu verriegeln.

Aschfahl war sie im Gesicht, als sie wieder hinunter in die Diele ging, in welcher Margarethe und der alte Bennheim noch immer mit der Aktualisierung der Bestandsliste beschäftigt waren und sämtliche Kisten und Säcke auf Schimmel- und Insektenbefall prüften.

Margarethe schaute kurz zu Johanna herüber, als sie deren Schritte hinter sich wahrnahm.

»Was ist los mit dir? War es so entsetzlich, das kleine Ding fliegen zu lassen? Du siehst ja aus, als sei dir der Teufel persönlich begegnet.«

»Das ist er auch«, stotterte Johanna leise und für Margarethe unhörbar vor sich hin und verschwand in der Küche.

Im selben Moment kehrte die Witwe Mechthild durch die Hintertür aus dem Hof zurück. Noch lächelte sie gütig und erleichtert. Wenige Augenblicke später, als sie die Treppe zu ihrer Stube hinaufgegangen war, vernahm man jedoch ihr unterdrücktes Aufschreien.

»Et eunt homines mirari alta montium et ingentes fluctus maris et latissimos lapsus fluminum et Oceani ambitum et gyros siderum, et relinquunt se ipsos …«

»Grete, du weißt genau, dass ich das Lateinische nicht beherrsche. Du machst mir fast Angst, wenn du so dastehst, vor dich hin murmelst und in den Sternenhimmel starrst. Gruselt es dich denn gar nicht? Sieh nur, der guten Johanna ist an diesem Ort auch alles andere als wohl zumute.«

Die drei Frauen befanden sich auf der Höhe eines der vielen die Weser umgebenden Berge. Ihr Wagen mit dem Burschen wartete recht weit entfernt von ihnen auf dem Weg, während Margarethe, Mechthild und Johanna durch den Wald bis hin zu der steilen Klippe gestiegen waren, die schroff hinunter ins Wesertal zeigte.

»Augustinus«, erhielt Mechthild zur Antwort.

»Augustinus?«, fragte sie zurück.

»Diese Worte sind aus den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustinus. Petrarca hat sie gesprochen, als er vor zweihundert Jahren den Mont Ventoux in seiner südfranzösischen Heimat bestiegen hatte. Ich übersetze sie euch: Und da gehen die Menschen dahin und bewundern die Höhen der Berge, das mächtige Wogen des Meeres, die breiten Gefälle der Ströme, die Weiten des Ozeans und den Umschwung der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.«

»Und wir müssen es nun diesem Petrarca gleichtun?«, wollte Mechthild wissen, während sie sich ängstlich in der mittlerweile dunklen, verlassenen Gegend umsah.

»Genieße einfach einmal die Freiheit und die Friedlichkeit der Natur, gute Base. Das ist der Grund, weshalb ich dich hierhergebracht habe.«

»Frei fühle ich mich gewiss nicht, wenn ich annehmen muss, dass mich gleich ein wilder Wolf in seine Fänge nimmt. Und die Vorstellung, im Dunkeln diesen schroffen Abhang hinabzustürzen, ist alles andere als friedlich.«

»Die Natur ist nicht unser Feind, Mechthild. Sie ist von Gott geschaffen, und wir sollen uns an ihr erfreuen. Ebenso sollen wir uns an unserem Leben erfreuen. Warum wartest du nur still und stumm auf deinen Tod und betrachtest dein irdisches Dasein lediglich als traurigen und Verderben bringenden Weg ins Jenseits? Das nenne ich Verschwendung! Das kann Gott nicht gewollt haben, als er all dies für uns erschaffen hat.«

Und mit diesen Worten breitete Margarethe ihre Arme aus, während sie vom Mond beschienen am Rande der Klippe stand. Johanna fröstelte es bei dem Anblick. Ihre Herrin war wahrlich nicht bei Verstand, sie redete wirr, und ihr Verhalten war mehr als verdächtig. Hoffentlich wurde niemand anders Zeuge dieser seltsamen abendlichen Zusammenkunft der drei Frauen. Leicht hätte man ein solches Szenario missdeuten können. Hatte Immeke nicht erst kürzlich von vermeintlichen Hexentänzen auf einem nicht weit entfernten Hügel namens Köterberg erzählt?

»Ich will wieder zurück in die Stadt. Die Tore werden gleich geschlossen, und außerdem friert es mich. Wenn ich diesen Ausflug als Entschuldigung für den Verlust meines Haustieres betrachten soll, so sei dir vergeben, liebe Base Margarethe. Aber nun würde es mich freuen, wenn wir uns endlich wieder auf den Heimweg machten. Dir geht es nicht anders, nicht wahr, Johanna?«

Johanna nickte und ging zu Mechthild hinüber, um ihr beim Abstieg über Wurzeln, feuchtes Laub und Geröll zu helfen.

Margarethe blieb noch eine Weile zurück. Sie wusste, dass sie ihrer Base unrecht tat, wenn sie ihr freiwillige Gefangenschaft und Verschwendung von kostbarer Lebenszeit vorhielt. Denn es war nicht die ausgeglichene und ruhige Mechthild, der man diesen Vorwurf machen konnte.

Diese Worte hatte sie allein an sich selbst zu richten. Was war nur los mit ihr? Sie erkannte sich in letzter Zeit selbst nicht wieder. Hatte der Bürgermeister etwa recht gehabt, als er andeutete, ihre Körpersäfte seien nicht im Einklang? Litt sie tatsächlich an einem Überschuss schwarzer oder gar gelber Galle? Vielleicht würde ein Aderlass Abhilfe schaffen? Vielleicht sollte sie weniger Wein trinken, nur kalte Speisen essen und weniger ihrer eigenen, scharfen Gewürze zu sich nehmen, wie es der Stadtphysicus Menschen von cholerischem Temperament riet.

Nein, das würde nichts nützen, so wie es bei niemandem jemals etwas nützte. Sie war einfach nur müde – müde, kraftlos und verwirrt. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ihr Neffe Georg ein Lebenszeichen aus der Neuen Welt schickte, zurück nach Hameln kam und die Geschäfte seiner Tante übernahm. Das wäre die beste, die vernünftigste und die angenehmste Lösung aller Probleme.

Doch was würde sie, was würde Margarethe dann tun?

Was?

In einem Erker sitzen, aus dem Fenster schauen, sticken und in Orakelbüchern blättern?

Niemals.

Nein, sie musste weitermachen. Allein. Das war nun einmal ihr Los, und was nahm sie sich überhaupt heraus, sich darüber zu beschweren, dass der Herr es so gut mit ihr gemeint hatte? Schön war sie, reich war sie und klug.

Wie töricht, wie vermessen, noch mehr als das haben zu wollen.

Oder wollte sie gar nicht mehr?

Wollte sie vielleicht nur etwas ganz anderes?

Traurig ließ Margarethe die Arme wieder sinken und schickte sich an, ihrer Base und ihrer Dienstmagd zu folgen.