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XI
Hier ist es gut aufgehoben, Meister, das versichere ich Euch.«
»Was, wenn dein Bruder die Kiste dennoch findet?«
»Ach was! Der vertraut mir voll und ganz. Er ist eine Seele von Mensch.«
»Nun …«
»Ich weiß, was Ihr denkt: Sein Handwerk weist nicht gerade auf Friedfertigkeit hin. Doch da täuscht Ihr Euch. Er ist ebenso lammfromm, wie es unser Vater war. Der Alte musste einst zwei Halunken rädern. Haben die geschrien, als das Rad ihnen die Knochen zermalmt hat! Völlig zertrümmert, aber immer noch zappelnd, wurden sie dann von ihm an die Räder gebunden, und er hat sie an den Stangen aufgerichtet. Die Krähen haben schon gewartet. Das war ein Spektakel. Doch der Alte blieb ganz ruhig, keine Miene hat er verzogen. Daheim jedoch, da war es aus mit der Gelassenheit. Die Seele hat er sich aus dem Leib gespien und die ganze Nacht über gewinselt wie ein Hund. Und so ist es auch bei meinem Bruder. Im Grunde kann er keiner Fliege etwas zuleide tun, und er ist der ehrlichste Mensch unter der Sonne. Selbst wenn er die Kiste fände, würde er sie niemals öffnen, weil er wüsste, dass sie mir gehört.«
»Sie gehört aber nicht dir.«
»Euch, natürlich, Euch, mein Meister.«
Philipp war sich nicht sicher, ob er diesem Hohlkopf trauen konnte. Er hatte ihn vor einem halben Jahr in einer Waldschenke aufgelesen und ihn zu seinem Handlanger gemacht. Und bislang hatte Till Carnifex ihm gute Dienste erwiesen. Allein seine Dummheit und auch seine ungebändigte Brutalität könnten ihn eines Tages in Schwierigkeiten bringen. Bestehlen würde er Philipp jedoch nicht, dazu fürchtete Till sich zu sehr vor ihm. Dennoch behagte es Philipp ganz und gar nicht, eine Kiste voller Gold und Silber im Hause eines ihm unbekannten Mannes zu verstauen.
Doch er hatte keine Wahl. Vergraben wollte er sie nicht wieder, denn er musste stets Zugriff darauf haben. Und sie mit in das Gasthaus zu nehmen, in welchem er Unterkunft gefunden hatte, schien ihm zu gefährlich. Er hatte sich dort bislang freundlich, zurückhaltend und unauffällig gebärdet. Und dieser Eindruck sollte bleiben. Unauffällig jedoch wäre eine kleine, aber unglaublich schwere, mit einem großen Vorhängeschloss versehene Kiste nicht gewesen. Und so musste diese, ob Philipp wollte oder nicht, bei Till Carnifex’ Bruder, dem Henker von Hameln, versteckt werden. Dort, wo auch Till selber untergekommen war, denn er und Philipp durften in keinem Falle zusammen in der Stadt gesehen werden. Eine Verbindung zu dem stadtbekannten Sohn des alten und Bruder des neuen Scharfrichters hätte zu viel negatives Aufsehen erregt und Philipps Vorhaben geschadet.
Er ahnte ja nicht, dass sich seine Ankunft in der Stadt bereits herumgesprochen hatte, dass man sich bereits das Maul über ihn zerriss und sich fragte, wer dieser junge, offenbar studierte Mensch wohl sei und was er hier, an diesem Ort, weitab von der nächsten Universität, wohl suchte.
Sie legten die Kiste schließlich gemeinsam in ein für diesen Zweck in den von Generationen von Henkern, Henkersfrauen und Henkerskindern festgestampften Lehmboden gegrabenes Loch, verdeckten dieses mit einem schmalen Brett und schoben dann den morschen, als Schlafstatt dienenden Holzkasten wieder darüber.
Philipp klopfte sich den Schmutz von seiner schwarzen, langen Robe und schaute sich danach schweigend und mit ungerührter Miene in dem einzigen Raume dieses erbärmlichen Hauses um. Das Einzige, was hier nicht verstaubt, verdreckt oder vermodert war, waren die blankgeputzten Waffen. Sie standen wohlsortiert an eine brüchige Wand gelehnt. Mit dem Finger strich Philipp über die Klinge eines enormen Beiles, und sofort quoll Blut aus einer kleinen Schnittwunde.
»Dein Bruder scheint sein Handwerk zu verstehen«, meinte er, seinen blutenden Finger betrachtend.
»Wir haben als Kinder sehr viel geübt. Zu der Zeit brauchte man sich in Hameln nicht über streunende Viecher zu beklagen«, lachte Till und machte dabei eine eindeutige Geste, indem er seinen ausgestreckten rechten Zeigefinger am eigenen Hals entlangführte.
Philipp schüttelte nur müde den Kopf und sagte: »Dass du geübt bist, ist mir sehr wohl bekannt. Wenn er noch könnte, würde Ritter Eicheck ein Lied davon singen.«
Mit stolzgeschwellter Brust und einem dümmlichen Grinsen im Gesicht antwortete Till: »Kurz und schmerzlos. Das ist eine wahre Kunst.«
»Alle Achtung, Till.«
»Stets zu Euren Diensten, Meister.«
Philipp musterte den kleineren, aber ungleich kräftigeren und muskulöseren Mann von oben herab. Dann fragte er ganz unvermittelt: »Was weißt du übrigens über die Kaufmannswitwe Gänslein?«
Die schwangere Gerda war vor wenigen Tagen heimlich in das Haus von Margarethe Gänslein zurückgekehrt und wurde dort von ihrer ehemaligen Herrin verborgen gehalten. Das Mädchen war mittlerweile ordentlich rund geworden und schien eine schwierige Schwangerschaft durchzustehen. Stets beklagte sie sich über Schmerzen und gar über Blutungen, sodass alle damit rechneten, dass es zu keinem glücklichen Ende kommen werde. Unter diesen Umständen war es Margarethe besonders wichtig, sich des armen Mädchens anzunehmen, denn sie hatte bei ihrer älteren Schwester vor vielen Jahren selber miterleben müssen, wie diese an einer durch eine tote Frucht verursachten, innerlichen Vergiftung elendig gestorben war.
»Eine Schande nur, dass wir nicht einmal eine Hebamme zu Rate ziehen können, geschweige denn den Medicus«, fluchte die Witwe immer wieder nach der Rückkehr Gerdas und beauftragte Johanna schließlich, den Apotheker Vinsebeck aufzusuchen und ihm von der versteckt gehaltenen Magd und ihrem Leiden zu berichten.
»Ich glaube zwar nicht, dass er viel helfen kann, aber er wird dir sicherlich das eine oder andere Mittelchen gegen das Ziehen mitgeben. Er ist der Einzige hier, auf dessen Verschwiegenheit ich vertrauen kann. Es hat ja keinen Sinn, wenn man jemand anderes um Hilfe bittet und sie mir am Ende wieder verjagt wird.«
Johanna machte sich also an einem verregneten Nachmittag auf den Weg zum Zwerg Vinsebeck in den Süden der Stadt. Sie erledigte diesen Gang gern – nicht nur, weil damit endlich der leidenden Schwangeren geholfen wurde, sondern auch, weil sie noch immer fasziniert von den angeblichen Experimenten des kleinen Mannes war und hoffte, einen verstohlenen Blick auf das mysteriöse Treiben werfen zu können, welches im Hinterzimmer der Offizin vor sich ging.
Ihr Weg führte sie wieder durch die breite Bäckerstraße. Es war ein wahrlich nasser, kalter Herbsttag, und Johanna stapfte schnellen Schrittes über die teils gepflasterte, teils mit Stroh bedeckte Straße, um möglichst bald wieder eine warme Stube betreten zu können. Sie hatte sich in einen langen, grünen Umhang gewickelt, damit ihr schönes Kleid nicht allzu sehr mit Unrat bespritzt und das Haar nicht nass wurde. Ihre Gedanken kreisten in diesem Moment um den Homunculus.
Ob der Apotheker Vinsebeck tatsächlich einen Toten zum Leben erwecken wollte? Wie würde er das anstellen? Etwa mit einem Wunderwasser, einem heidnischen Ritual oder gar mit teuflischer Magie?
Ein angenehmer Gruselschauder lief Johanna bei diesem Gedanken über den Rücken. Sie mochte derlei Geschichten, hatte sie schon immer gemocht und es selbst als Kind nicht lassen können, zusammen mit ihren kleinen Freunden das Haus einer als Waldhexe verschrienen Frau zu beobachten. Auch wenn ihnen dies nicht gut bekommen war. Die Erinnerung daran ließ den angenehmen in einen unangenehmen Schauder übergehen. Sie schüttelte sich kurz, um diese schrecklichen Gedanken und auch die nasse Kälte zu vertreiben.
Seither waren Jahre vergangen, und im Grunde hatte sie die Ereignisse ganz vergessen gehabt. Ihre eigenen alltäglichen Sorgen und Schicksalsschläge hatten schwerer gewogen als die bösen Kindheitserlebnisse.
Doch dann war Philipp zurückgekehrt.
Sie hatte soeben die Gasse erreicht, welche zu ihrer Rechten auf den Münsterkirchhof und zum Neuen Markt führte, da ausgerechnet erblickte sie ihn erneut. Ihn, an den sie im selben Moment gedacht hatte.
Unwillkürlich vermummte sie sich noch mehr, machte einen Buckel und neigte den Kopf in Richtung Gosse. Mit langen Schritten passierte er sie, hielt keinen Moment inne, zögerte nicht und schien sie also nicht erkannt zu haben. Johanna blieb stehen und sah ihm vorsichtig nach.
Er war es. Das stand außer Frage.
Lediglich seine Kleidung hatte er geändert. Nun war er nicht mehr der junge Edelmann, als welcher er bei Eicheck erschienen war, sondern glich vielmehr einer Amtsperson. Ganz so, wie sie es vom Fenster aus bereits gesehen hatte.
Wieso nur hatte er sich wieder verkleidet?
Sie wusste nur zu genau, dass er weder ein Edelmann noch ein Studiosus oder ein Ratsherr war.
Irgendetwas führte er also im Schilde.
Und Johanna schwante, dass es nichts Gutes war.
Ihren Auftrag für einen Moment vergessend, begann sie ihm zu folgen. Sie war von Kopf bis Fuß in ihren Umhang gehüllt, und außerdem erlaubte das dichte Netz des Nieselregens ohnehin nur eine schemenhafte Wahrnehmung der Umgebung. Er würde sie sicher nicht bemerken, geschweige denn erkennen.
Nach nur wenigen Schritten bog er in den engen Durchgang zwischen zwei Häusern ein und lief dann über matschige Hinterhöfe und an Tagelöhnerunterkünften vorbei in Richtung Weser. Hier waren die Gassen eng und dunkel, es stank nach Müll und verrottendem Fisch. Kinder spielten im Matsch, Ratten kreuzten selbst am helllichten Tag ihren Weg. Johanna versuchte, Philipps davoneilende Gestalt im Auge zu behalten. Doch das war in der düsteren, vom Regenschleier verhangenen Enge dieses Viertels kaum möglich.
Sie sah ihn gerade noch in der niedrigen Türe einer kleinen Kate verschwinden, als sich ihr plötzlich eine verwahrloste Gestalt in den Weg stellte.
»Stockfisch, junges Weib? Stockfisch? Riecht noch gut. Probier einmal. Halt dein Näschen dran. Riech, riech!«
Angewidert wandte Johanna sich von dem elenden Mann mit dem fast schwarzen, verdorrten Fisch in den Händen ab. Sie empfand wenig Lust, an diesem getrockneten, aber nun vom Regen bereits wieder aufgeweichten Tier zu schnuppern. Vielmehr versuchte sie, sich die Stelle zu merken, an der sie Philipp hatte verschwinden sehen.
Sie würde wiederkehren.
Sie musste wissen, was er hier trieb.
Sie musste es wissen, weil sie befürchtete, dass sein Erscheinen in dieser Stadt kein Zufall war.
»Komm nur herein, aber verriegele bitte die Türe gut.«
Der kleine Vinsebeck hatte sie mit einem geheimnisvollen, ja verschwörerischen Gesichtsausdruck begrüßt, als Johanna seine Offizin betrat. Jetzt verschwand er, ohne sie nach dem Grund ihres Besuchs zu fragen, in seinem berüchtigten Hinterraum, und nachdem sie tatsächlich die Außentüre fest verschlossen hatte, rief er: »Tritt nur näher, Mädchen.«
Durfte sie nun tatsächlich diesen besonderen Raum betreten?
Johannas Herz begann wild zu klopfen. Vorsichtig schaute sie um die Ecke und erwartete, dass sich vor ihr ein grausiges Schreckensszenario auftat.
Doch dem war nicht so.
Vinsebeck saß, mit zwei kleinen, runden Augengläsern auf der Nase, an einem Tisch voller Blätter, welche weniger mit Buchstaben als vielmehr mit Zeichnungen versehen waren.
Schönen Zeichnungen.
Schön jedoch nur in dem Sinne, dass sie äußerst lebensnah gefertigt waren. Denn das, was Johanna unschwer auf ihnen erkennen konnte, war alles andere als schön.
Da waren abgetrennte Gliedmaßen gezeichnet, aus denen sogar noch blutige Stränge und Fetzen heraushingen. Herzen, Nieren, Lebern, Gehirne und andere Innereien waren auf weiteren Blättern zu sehen – alles Dinge, welche Johanna nur zu gut kannte, jedoch lediglich von Schweinen, Rindern und sonstigem Schlachtvieh. Diese hier sollten aber das Innere eines Menschen darstellen, was man unschwer an den Umrissen des Körpers erkennen konnte, welcher nur schemenhaft und leicht um ebendiese Organe herumgezeichnet worden war.
»Ich sammle Erfahrungen über uns Menschen, über das Innere unserer Leiber, um genauer zu sein«, sagte Vinsebeck, der Johannas Erstaunen offenbar, ohne seinen Blick zu heben, bemerkt hatte. »Was nutzt Galens Säftelehre allein, wenn wir doch aus weit mehr als Schleim, Blut und Galle bestehen? Ein Schlachtermeister weiß über die innere Anatomie des Lebens mitunter besser Bescheid als ein studierter Physicus. Das darf nicht sein.«
Johanna schluckte, wagte es aber nicht, die in ihr brennenden Fragen zu stellen. Stattdessen besann sie sich auf ihr eigentliches Anliegen und stammelte:
»Die Herrin schickt mich, es geht um eine Schwangere. Wir befürchten eine zu frühe Niederkunft.«
Vinsebeck schien wenig überrascht, schaute, wie gewohnt, nicht einmal auf und murmelte dann nur:
»Da bin ich der Falsche. Geh zu einer der Hebammen, die wissen in der Hinsicht besser Bescheid als ein Pillendreher und Bücherwurm wie ich.«
Er war in eine seiner Zeichnungen vertieft, eine menschliche Hand, von welcher jedoch die Haut gänzlich abgezogen war. Johanna schüttelte es bei diesem entsetzlichen Anblick.
»Das ist nichts Ekelhaftes«, schimpfte er plötzlich, jedoch mit einem heiteren Unterton in der Stimme. »Wunderschön sieht das aus. Unser Schöpfer, wer immer es sein mag, ist ein wahrer Meister seiner Kunst.«
»Woher, wenn ich mir die Frage erlauben darf, habt Ihr denn all dieses Wissen über den Menschen?«, fragte sie nun doch, scheu, aber dennoch ihre unterdrückte Neugier überwindend.
»Erfahrung.« Mehr sagte Vinsebeck nicht und überließ alles andere der Phantasie seines Gastes. Und in Johannas Geist taten sich wahrhaftig mit einem Mal unglaubliche Bilder auf, die sie mit einem schnellen Kopfschütteln wieder vertrieb.
»In Italien lebte bis vor wenigen Jahren ein großer Meister namens Leonardo«, begann Vinsebeck mit feierlicher Stimme zu berichten, nahm die eigentümlichen Gläser von der Nase und schaute Johanna nun endlich einmal aus seinen kleinen, schwarzen Äuglein an. »Ihn interessierte alles – der Mensch von innen wie von außen, die Welt der Tiere und der Pflanzen, die Kraft des Wassers und des Windes, die Gesetze der Chemie sowie die Möglichkeiten der Mechanik. Ununterbrochen trieb er seine Studien, forschte und erfand. Er bezeichnete sich selbst als einen »›omo sanza lettere‹«, als einen Menschen ohne Bildung. Sein ganzes Wissen und Können beruhte allein auf Erfahrung. Er erkannte, dass es in dieser Welt nichts Zufälliges gibt, alles hat seinen Sinn, seine Funktion, seine Notwendigkeit, und ebendies gilt es durch rastloses Suchen und Versuchen mit Hilfe der Erfahrung zu ergründen. Wir Menschen dürfen nicht einfach hinnehmen, was der Weltbaumeister erschaffen hat, wir müssen es auch begreifen. Und um nichts anderes bin auch ich bemüht: Ich versuche zu verstehen, was sich der Schöpfer dabei gedacht hat, als er den Menschen so und nicht anders erschaffen hat. Manche mögen das für verwerflich oder gar teuflisch halten, tatsächlich ist es vielmehr eine Lobpreisung oder besser eine Achtung des Lebens.« Und mit weniger feierlicher, sondern eher nüchterner Stimme fügte er an: »Übrigens schreckte auch Leonardo nicht davor zurück, Leichen zu öffnen.«
Johanna fuhr bei diesen Worten ein wenig zusammen, obwohl sie bereits befürchtet hatte, dass Vinsebeck seine detailfreudigen Zeichnungen nicht allein mit Hilfe seiner Phantasie hatte anfertigen können: »Macht Ihr das etwa auch?«
Er lächelte nur verschmitzt.
»Was plagt denn eure Schwangere?«, wollte er nun wissen, Johannas Frage unbeantwortet lassend.
»Frühzeitige Wehen hat sie, obwohl das Kind erst in vier Monaten erwartet wird.«
»Dann soll sie liegen und drei Mal täglich dieses Pülverchen zu sich nehmen. Zwei Prisen in heißem Tee verrührt, haben eine beruhigende Wirkung und lösen die Spannung des Mutterleibes.« In Windeseile war der Zwerg aufgesprungen, zu einem Regal geeilt und hatte mit Hilfe einer kleinen Trittleiter ein winziges, versiegeltes Tongefäß heruntergeholt. »Gewonnen aus der Keimzumpe, auch Brutblatt oder Lebenszweig genannt. Das ist ein Gewächs, dessen Keime sich leicht einnisten. Die abergläubischen Weiber behaupten, diese Pflanze übertrage als Arznei ihre Wirkung auf schwangere Frauen, indem sie dabei hilft, dass auch die menschliche Frucht sich leicht und fest einniste. Aberglaube hin oder her, das Zeug tut tatsächlich seine Wirkung. Drei Mal täglich verabreichen. Ach, bevor ich es vergesse: am besten in Johanniskrauttee geben. Auch den habe ich vorrätig, er beruhigt ebenfalls. Hinzu kommt natürlich: Ruhe, Ruhe, Ruhe! Sonst helfen die besten Arzneien nichts. Und bitte keine Birnen essen, auch wenn sie zu dieser Jahreszeit noch so verführerisch sind. Sie führen ab, nicht nur Schlacke, sondern leider auch die Leibesfrucht. Und das gilt es zu verhindern.« Er räusperte sich und machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Nun muss ich weiterarbeiten, das Leben ist nicht zum Plauschen da. Richte deiner Herrin meine allerbesten Grüße aus und teile ihr mit, dass mir ihr unerwartetes Angebot sehr schmeichelt und mir angenehme Gedanken bereitet. Mehr richte ihr nicht aus, denn mehr vermag ich noch nicht zu sagen. Sie wird es verstehen.«
Eilig geleitete er Johanna zur Tür, ohne sich für seine Dienste und die ausgehändigten Arzneien bezahlen zu lassen, und noch bevor sie ein Wort des Dankes sagen konnte, wurde die Tür hinter ihr auch schon verriegelt.
Eine Fischer- oder Tagelöhnerhütte war es. Etwas anderes konnte es nicht sein, nicht in diesem flussnahen, häufig überschwemmten und unglaublich verwahrlosten Teil der Stadt, der aufgrund seines ungesunden Klimas einfach nur »Dunse« genannt wurde. Im Grunde durfte es Johanna nicht verwundern, dass er sich hier herumtrieb, denn sie allein wusste nur zu gut um seine wahre Herkunft, die ganz und gar nicht seinem jetzigen Erscheinungsbild entsprach. Philipp war das Kind einer Verstoßenen, einer Zauberin und Dirne, aufgewachsen in einem aus Brettern, Zweigen und Reisig gefertigten Unterschlupf. Er war Schlimmes gewöhnt, und ihn schreckte sicher eine solch elende Behausung nicht wie die, in der er vorhin verschwunden war und zu welcher Johanna nun, nach dem Besuch bei Hans Vinsebeck, zurückgekehrt war.
Dennoch fragte sie sich, wer dort lebte und bei wem er dort untergekommen war.
Was führte er nur wieder Unheilvolles im Schilde?
Johanna überlegte einen Moment, ob sie ihm mit ihren Vermutungen nicht vielleicht unrecht tat. Denn das Unheilvolle, was Philipp bisher getan hatte und von dem Johanna wusste, war es nicht immer aus der Not heraus oder in der Absicht, Gutes zu tun, vollbracht worden?
Hatte es nicht immer solche getroffen, von denen man behaupten konnte, sie hätten es nicht anders verdient?
An die schrecklichen Ereignisse aus ihren Kindertagen wollte Johanna nicht zurückdenken, aber den Gedanken an den Tod des Unholds Eicheck ließ sie nun zu. Dem Widerling war durchaus recht geschehen. Johanna hatte ihn gehasst. Sie hatte ihn, noch bevor er jemals Hand an sie gelegt hatte, glühend verabscheut, denn ebendiese Hände waren es gewesen, die sie einst zur Witwe werden ließen. Eicheck war der Mörder ihres Konrad und als solcher des Todes würdig, zumindest in Johannas Augen. Dankbar könnte sie Philipp also sein, dass er sie aus den Fängen dieses Tieres befreit hatte. Im Grunde war er ihr Retter aus der Not – und das nicht zum ersten Male.
Doch diese Gedanken waren kindisch, entsprachen mehr den Heldensagen fahrender Geschichtenerzähler als der nackten Wahrheit, die gewiss nichts mit ihr, Johanna, zu tun hatte. Denn Philipp war nicht ihr Held, ihr persönlicher Racheengel. Allein der Zufall hatte sie zweimal im Leben zusammengeführt. Und wenn sie genauer darüber nachdachte, dann durfte Johanna fest davon ausgehen, dass, hätte er sie an jenem Abend auf der Burg Eicheck in der Truhe aufgespürt, auch sie nun in zwei Teile gehauen im Grabe liegen würde. Denn ein zweites Mal hätte er sie sicherlich nicht verschont, so wie es damals, vor nunmehr fünfzehn Jahren, der Fall gewesen war.
Und jetzt schien sich eine dritte Begegnung zwischen den beiden anzubahnen. War es wieder Zufall? Würde es wieder zu einer Schreckenstat kommen? Und würde diese Schreckenstat wieder ein für Johanna glückliches Ende nehmen, während andere eines grausigen Todes starben?
Nein, das konnte, das durfte nicht sein. Sie wollte es nicht glauben, aber genauso wenig konnte sie die Augen davor verschließen, dass er nun einmal wieder aufgetaucht war – dieser Dämon.
Sein Erscheinen in Hameln verhieß nichts Gutes. Das wusste Johanna mit Sicherheit.
Doch was sollte sie dagegen tun?
Sollte sie mit ihm reden und damit ihr eigenes Leben riskieren?
Sollte sie ihn anschwärzen und damit die Dankbarkeit, die er als ihr Lebensretter verdient hatte, verraten?
Oder sollte sie abwarten und ihn beobachten, darauf hoffend, dass er genauso plötzlich, wie er erschienen war, auch wieder verschwand, ohne einen Schaden anzurichten und ohne ihrer Gegenwart gewahr zu werden?
So dachte sie, im Schlamm stehend und die bescheidene, kleine Kate anstarrend. Da vernahm sie eine tiefe, männliche Stimme hinter sich, die sagte:
»Wollt Ihr mir etwa einen Besuch abstatten, Johanna? Das hätte ich niemals zu hoffen gewagt.«
Johanna wandte sich ruckartig um und blickte in ein vertrautes, freundliches Gesicht.
Erleichtert stellte sie fest, dass es nur der Scharfrichter Justus Carnifex war. Sie hatte Schlimmeres befürchtet. Doch die Erleichterung verflog in dem Moment, in welchem sie neben dem netten Henkersgesicht einer weiteren, weniger netten, eher lüstern blickenden Visage gewahr wurde. Es war jedoch weniger seine Lüsternheit, die Johanna so erschreckte, als vielmehr die Tatsache, dass sie sich nur allzu gut an diesen Mann erinnern konnte.
Das war der Kopfabschläger.
Philipps Handlanger.
Der Mörder Wilhelms von Eicheck.
Fassungslos betrachtete sie den Mann, während Justus Carnifex zu sprechen fortfuhr:
»Nicht erschrecken, Johanna, das ist mein Bruder Till. Ein Haudegen, aber dennoch ein guter Bursche. Er tut Euch nichts, auch wenn seine Narben eine andere Sprache sprechen. Was hat Euch hierhergeführt? Darf ich Euch einen Gefallen erweisen?«
Und mit diesen Worten deutete er auf den Eingang seiner Hütte, eben der Hütte, vor welcher Johanna stand und in die auf ihrem Hinweg Philipp in aller Heimlichkeit hineingeschlüpft war.
Johanna schüttelte nur verstört den Kopf, machte dann kehrt und ging eilig zurück zum Hause ihrer Herrin, um der armen Gerda endlich die versprochene Arznei zu bringen.