38227.fb2 Geheimnis der Magd - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 19

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XVII

Der an diesem Tage erneut frisch gefallene Schnee war rot von Blut. Schön sah das Zusammenspiel der beiden reinen Farben aus, die einen solch herrlichen Kontrast zueinander bildeten.

Doch Johanna hatte nicht das Bedürfnis, sich der Schönheit dieses Farbenspiels zu widmen. Vielmehr interessierte sie der Vorgang, der zu ebendiesen Blutstropfen im Schnee geführt hatte und immer noch führte. Denn in ebendiesem Moment spritzte eine riesige Fontäne aus dem geöffneten Mund des jungen Mannes, welcher dort auf einem wackeligen Schemel saß und von gleich drei kräftigen Burschen festgehalten wurde, während ein bunt gekleideter Herr mit lustigem Hut triumphierend einen riesigen Zahn samt Wurzel in die Höhe hielt und ihn der jubelnden Menge präsentierte, welche sich auf dem Pferdemarkt um den Zahnbrecher Gugelmann und seinen Wagen versammelt hatte.

»Seht her, gute Leute von Hameln! Ein kurzes Ziehen, und das Leiden des armen Felix hat nun ein Ende. Wie fühlst du dich, mein Junge?«

Felix antwortete nicht, er grinste nur erleichtert und zeigte seine verbliebenen dunklen, blutigen Zähne. Es schien ihm tatsächlich sehr viel besser zu gehen, anders als der armen Immeke, welche bereits auf einer kleinen Bank neben dem Tisch des fahrenden Baders Platz genommen hatte und mit bleichem Gesicht – Gebete an die heilige Apollonia ausstoßend – dessen harrte, was da bald kommen würde. Sie hatte schreckliche Angst, und es half ihr nur wenig, dass Johanna sie auf diesem schweren Gang begleitete und ihr beruhigend die Hand auf die Schulter legte.

»Wer ist der Nächste?«, fragte Gugelmann, mit seinen blitzblauen Augen aufgeweckt in die Runde blickend. Unwillkürlich ging ein jeder einen Schritt zurück und versuchte, sich ein wenig kleiner zu machen, aber dennoch suchte niemand das Weite. Zu spektakulär war ein jedes Mal das Auftreten dieses fahrenden Heilers, der sich, zum Leidwesen des Stadtphysicus und anderer Hamelner Heilkundiger, Scherer und Barbiere, regen Zulaufes und außerordentlicher Beliebtheit erfreute.

Götz Gugelmann – er schimpfte sich selbst einen Wundarzt – hielt nichts von Schröpfen, Aderlass und Quecksilberkuren. Vielmehr war der Großteil seiner Arbeit rein wiederherstellender, praktischer Natur. Er richtete alles, was nicht mehr so war, wie es der Herrgott am Tage der Schöpfung bestimmt hatte. Ausgekugelte Arme und Beine wurden eingerenkt, gebrochene Knochen geschient, faulende Gliedmaßen zur Not abgetrennt, Geschwüre weggeschnitten und schmerzende Zähne gezogen. Auch wenn er sich damit pries, seinen Patienten den Operationsschmerz durch einen mit Alraunenöl getränkten Schwamm, welcher unter die Nase gedrückt wurde, nehmen zu können, war dennoch alles, was Gugelmann tat, äußerst schmerzhaft und meist blutig – aber wirksam. Nur wenige, die es gewagt hatten, sich öffentlich von dem Zahnbrecher behandeln zu lassen, waren hernach dem alten Haufen zugeführt worden, das heißt an den Folgen der Behandlung verstorben. Und diejenigen, welchen dieses Unglück wiederfahren war, hätten dem Meister Gugelmann nicht einmal einen Vorwurf machen können, denn hätten sie ihn eher aufgesucht, wären gewiss auch sie gerettet worden.

Und nun war die arme Immeke an der Reihe. Ihr Leiden stellte keine Gefahr für ihr Leben dar, war aber dafür unglaublich lästig. Und seit gestern hatte es sich dahingehend entwickelt, dass Immekes ohnehin dickes Gesicht auf einer Seite noch weiter angeschwollen war und sie kaum mehr ein deutliches Wort hervorbringen konnte. Ja, sie begann sogar zu fiebern, und deshalb war es ein Glück, dass ausgerechnet jetzt Gugelmann in die Stadt kam, denn zu dem brutalen Schmied Anger wollte Immeke sich ganz und gar nicht aufmachen.

»Der Junge hier war zuerst da«, sagte sie rasch und wies auf einen Bierbrauerlehrling mit einer gequetschten Hand, welcher neben ihr auf der Wartebank hockte und gerade erst eingetroffen war, während Immeke sich nun schon seit einer ganzen Stunde auf der Bank herumdrückte und nicht den Mut finden konnte, die drei Schritte auf den durchaus freundlichen Wundarzt zuzugehen.

»Immeke, wir müssen endlich zurück ins Haus. Es gibt noch viel Arbeit zu erledigen«, flüsterte Johanna ihr von hinten ins Ohr und drückte ein wenig fester ihre Schultern.

»Ich habe solche Angst, Johanna. Lass uns einfach weggehen.«

»Das tun wir nicht. Der Junge ist der Letzte, dem du Vortritt gewährst. Hast du mich verstanden?«

»Schon gut, schon gut.«

»Du brauchst dich nicht zu fürchten, Immeke«, mischte sich nun eine junge Frau, offenbar ebenfalls eine Magd, ein. »Gugelmann ist ein wahrer Meister. Ist dir die Schwarze Hedi bekannt?«

»Meinst du etwa die Hübschlerin aus dem Frauenhaus? Das Zigeunerweib?«, fragte Immeke mit leidender, aber dennoch neugieriger Stimme.

»Genau die«, meinte die Frau und trat etwas näher zu Immeke und Johanna. »Wusstet ihr, dass die, als sie nach Hameln kam, keine Nase hatte?«

»Was?«

»Ja. Abgeschnitten hatte man sie ihr. Schnipp-schnapp. Eine Brandmarkung, damit jeder gleich erkennen sollte, was für ein loses Luder sie ist. In Göttingen soll das geschehen sein.«

»Aber die hat doch eine Nase«, erwiderte Immeke ungläubig.

»Ebendrum. Und weißt du, wer ihr die gemacht hat?«

»Der Gugelmann?«

»So ist es. Aus einem Stückchen Fleisch, das er ihr aus dem Oberarm geschnitten hat. Daraus hat er eine neue Nase geformt und sie ihr einfach angenäht.«

»Wie bei einer Stoffpuppe?«

»Ganz genau. Schau sie dir bei Gelegenheit an, dann kannst du es erkennen. Aber wann kommt man einem solchen Weib schon nahe, wenn man selber anständig ist? Sei’s drum, falls sie dir doch einmal über den Weg läuft, wirst du sehen, dass die Haut ganz dunkel ist und ein wenig verformt. Aber immerhin besser als gar nichts. Und mit ein wenig Puder vom Hasenstock – und das kann sie sich offenbar leisten – ist auch das zu verbergen.«

»Das wusste ich noch nicht«, staunte Immeke.

»Na, jetzt weißt du es. Also brauchst du wegen eines wunden Zahnes keine Angst zu haben, denn ich kann dir noch etwas erzählen. Erinnerst du dich an den einäugigen Gregor, den Bruder des Nachtwächters? Der, und das glaubst du nicht, war beim Gugelmann …«

Johanna hatte bis dahin ebenfalls dem Bericht der ihr fremden Magd gelauscht. Derlei Geschichten interessierten sie sehr, mehr jedenfalls als die wenig aufsehenerregende Behandlung des Jungen mit der gequetschten Hand. Erst als dieser gequält aufschrie, schaute sie wieder in Richtung Gugelmann, und dabei entdeckte sie in der gaffenden Menge ihn.

Da war Philipp schon wieder. Langsam wurde er zu einem gewohnten Anblick.

Er stand auf der Johanna gegenüberliegenden Seite des Kreises von Leuten, die sich um den Wagen des Zahnbrechers reihten. Doch anders als die anderen schien ihn Gugelmann und dessen Patienten nicht zu interessieren. Sein Blick war starr auf Johanna gerichtet.

Jetzt war also geschehen, was geschehen musste. Er hatte sie wiedererkannt.

Johanna spürte, wie plötzlich alles um sie herum verschwamm. Sie hörte die Stimme der Magd nur noch undeutlich in weiter Ferne, sie nahm Götz Gugelmann und den von ihm versorgten Jungen nur noch schemenhaft wahr, sie spürte auch ihre Hände nicht mehr, die wie zwei tote Fische auf den kräftigen Schultern der Köchin Immeke lagen.

Und dann begann sie schrecklich zu frieren.

»Johanna! Johanna! Wo steckt sie nur?«

Margarethe war bereits frühzeitig zusammen mit dem treuen Bennheim vom Besuch eines ihrer verpachteten Landgüter im Umland der Stadt zurückgekehrt. Es war zu einem Ritus geworden, dass sie vor Weihnachten derartige Kontrollgänge verrichtete, um zu schauen, dass der in Ländereien investierte Teil ihres hart erwirtschafteten Kaufmannskapitals auch gut und sorgsam angelegt war. Und das war er. Die Verwalter aller drei Höfe waren ausgesprochen tüchtige Männer mit fleißigen Ehefrauen an ihrer Seite und prächtig heranwachsenden Söhnen. Von Letzteren konnte die Kaufmannswitwe sich versprechen, dass sie in Zukunft neben dem unsicheren, aber dafür ungleich höheren Gewinn aus dem Fernhandel auch auf die Sicherheit gewährenden landwirtschaftlichen Erträge ihres Grundbesitzes zurückgreifen konnte.

Kaum ein zu Geld gekommener Kaufmann Hamelns und anderer deutscher Städte verzichtete auf diese traditionelle Form der Geldanlage, auch wenn die Zeiten sich dahingehend zu ändern schienen, dass Überschüsse gewinnbringender in den zahlreich aus dem Boden schießenden italienischen und süddeutschen Bankhäusern angelegt waren. Doch der Besitz von Grund und Boden bedeutete nicht nur Sicherheit, er bedeutete auch Ansehen. Es war eine beständige, sichtbare Größe, die einem jeden den Wohlstand des Eigentümers vor Augen führte, ein Wohlstand, der sogar im Falle eines gewöhnlichen Getreidekaufmanns das Hab und Gut manch eines Landadeligen übertrumpfte. Und allein diese Tatsache war Balsam auf die noch immer nach Anerkennung heischende Seele des reichen, aber außerhalb seiner Stadt verhältnismäßig rechtlosen Bürgerstandes.

Nun also war Margarethe zurück und suchte nach ihrer Magd, welche jedoch im gesamten Haus unauffindbar war.

»Margarethe?«, vernahm sie plötzlich die verschlafene Stimme ihrer Base Mechthild.

»Oh, ich wollte dich nicht in deiner Mittagsruhe stören«, entschuldigte sich Margarethe, während sie über den bitterkalten Gang im Obergeschoss auf ihre Base zuging, die, ihrer Wulsthaube entledigt, mit kleinen, ungeschminkten Augen und rosigem Gesicht in der Tür ihrer Schlafkammer stand.

»Es ist schon gut, ich war längst erwacht. Du bist bereits wieder zurück? Wir haben dich nicht vor dem Abend erwartet.«

»Das ist mir nicht entgangen, liebe Mechthild. Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf dem Dach. Wo ist Johanna?«

»Beim Zahnbrecher Gugelmann. Sie begleitet Immeke. Du weißt doch, sie hat diesen wehen Zahn.«

»Und dann geht sie zu diesem Leutbescheißer! Ich habe ihr mehrmals angeboten, den Schmied oder auch den Medicus für sie zu bezahlen.«

»Aber Margarethe, du kennst sie doch. Sie fürchtet sich.«

»Vor Gugelmann sollte sie sich fürchten. Ich hätte mir denken können, dass er in der Stadt ist, als ich bei meiner Rückkehr die Meute auf dem Pferdemarkt stehen sehen habe. Nun schließe wieder die Türe, liebe Mechthild, damit du dich nicht erkältest. Ich werde hinuntergehen und nach den beiden schauen. Hoffentlich lebt die arme Immeke noch. Nicht, dass er ihr den ganzen Kopf vom Halse gedreht oder ihr gar eine seiner den Geist umnebelnden Kräuter zu kauen gegeben hat, der Scharlatan.«

»Sonst bist du doch nicht so harsch gegenüber Menschen, die ein ungewöhnliches Leben führen, Gretchen. Was hat der Gugelmann dir nur getan?«, fragte Mechthild erstaunt.

Margarethe verzog ein wenig beklommen den Mund, dann sagte sie: »Nichts, und das wird auch so bleiben. Selbst wenn mir die Zähne im Munde schwarz werden, den ließe ich niemals an mich heran.«

Und mit diesen Worten schritt sie hinunter in die Diele, um von dort aus den verschneiten und belebten Pferdemarkt zu betreten.

Margarethe hatte es nicht weit bis zum Stand des fahrenden Zahnbrechers, der sich noch immer an dem Bierbrauerlehrling versuchte. Ein Junge, den Margarethe sehr gut kannte, schenkte sie ihm doch mitunter heruntergebrannte Kerzen, nachdem er in der Nikolaikirche beim Diebstahl derselben ertappt worden war und dann vom Henker Carnifex böse verdroschen werden musste. Es war eine Tradition, dass die Lehrburschen ihren Meistern das Lehrgeld in Form von Beleuchtungsmaterial entrichteten. Viele Handwerksmeister sahen über diese für ihre Schützlinge recht kostspielige Angelegenheit großmütig hinweg, nicht so der brutale Brauer Riethmeier. Er bestand auf der Ablieferung von Wachs und ließ sich nicht mit günstigen Kienspänen oder Tran abspeisen. So war der arme Bursche zum Diebstahl gezwungen gewesen. Und dass die gequetschte Hand nicht unbedingt von einem Unfall herrührte, davon war, wenn man den schlagfreudigen Riethmeier kannte, auszugehen.

Margarethe vermied es, einen Blick auf den Wundarzt Gugelmann zu werfen, diesen Prahlhans und Schwerenöter, aber dennoch genoss sie es, aus den Augenwinkeln wahrzunehmen, dass er seinerseits ihrer gewahr geworden war und sogar für einen Moment in seiner Arbeit innehielt. Absichtlich blickte sie nun in eine andere Richtung.

Und da stand er – Philipp Stadler, der junge Mann aus dem Rosengarten. Doch zu Margarethes Enttäuschung schien er sie heute gar nicht zu bemerken. Großgewachsen und aufrecht stand er da und schaute unverwandt geradeaus, jedoch nicht dorthin, wo das schmerzhafte Spektakel an dem armen Lehrjungen vollzogen wurde. Vielmehr schien er ins Nichts zu blicken und zu träumen. Der Ausdruck, der sich dabei auf sein Gesicht legte, gefiel Margarethe, er hatte etwas Knabenhaftes, Liebenswertes, ja, Verletzliches.

Sie ging einige Schritte auf ihn zu und stellte sich dann neben ihn. Erst als sie sich leise räusperte, erwachte Philipp aus seinem starren Traumzustand.

»Welch freudiges Wiedersehen«, sagte er leise, den Blick jedoch wieder von Margarethe abwendend. Sie deutete sein distanziertes Verhalten dahingehend, dass er sie als alleinstehende Frau offensichtlich nicht in eine missliche Situation bringen wollte, indem er öffentlich mit ihr vertraulich tat. Immerhin war er ein Fremder und zudem um viele Jahre jünger als sie.

»Ganz meinerseits«, sprach sie leise, ihn ihrerseits nicht anschauend.

»Das freut mich sehr. Es wäre mir eine Ehre, wenn es zu weiteren solcher Begegnungen kommen würde, ob zufällig oder nicht«, flüsterte er nun, sich ein klein wenig nähernd.

Margarethe glaubte zu spüren, dass seine Hand ihre Hüfte streifte.

Ein wohliger Schauder durchzog sie. Sie lächelte, den Blick auf das Gugelmann-Spektakel gerichtet.

Und Götz Gugelmann hielt wieder in seiner Arbeit inne und lächelte zurück.

Johannas Kinnlade klappte nach unten.

Das war nicht möglich. Da stand ihre Herrin. Sie hatte sich unmittelbar zu Philipp gesellt, und täuschte sie ihr Eindruck nicht ganz und gar, dann unterhielten sich die beiden sogar miteinander, auch wenn sie sich dabei nicht anschauten. Es war dennoch unverkennbar, zumindest für Johanna.

»Gute Frau, nun seid Ihr endlich an der Reihe. Ihr wartet wahrlich schon lange«, vernahm sie plötzlich die Stimme des Meisters Gugelmann, der auf einmal vor Immeke stand, sie am Ellenbogen fasste und zu sich an den Tisch führte. Immeke warf Johanna einen flehentlichen Blick zu, der so viel hieß wie: Lass mich nicht allein.

Prompt schüttelte Johanna alle wirren Gedanken von sich ab und tat, wozu sie das Haus der Witwe Gänslein verlassen hatte: Sie begleitete die leidende Immeke auf ihrem schweren Gang und hielt ihre Hand, während diese auf dem Schemel saß und ihren Mund so weit öffnete, wie es irgend möglich war.

»Da sind meine Magd und meine Köchin«, murmelte Margarethe nun. »Hoffentlich fügt dieser Tunichtgut ihnen kein Leid zu.«

»Wäre das ein großer Verlust für Euch?«, fragte Philipp leise, Johanna, die nun auf dem Podest stand, beobachtend.

»Aber natürlich«, gab Margarethe zurück, ihr Spielchen unterbrechend, indem sie ihn nun doch scharf von der Seite anblickte.

Jetzt wirkte sein Gesicht gar nicht mehr jungenhaft und friedlich. Fast hätte man es als schmerzverzerrt bezeichnen können. Margarethe führte es darauf zurück, dass Philipp in diesem Moment mit Immeke mitfühlte, welcher Gugelmann gerade einen dicken Backenzahn aus dem Kiefer brach.

Doch Philipp kümmerte sich nicht um die Köchin. Er sah sie gar nicht. Er hatte nur Augen für Johanna und für die schmerzhaften Erinnerungen, welche diese Frau für ihn verkörperte.