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XVIII
Die Arbeit ging ihr an diesem Abend leicht von der Hand.
Nahezu beschwingt erledigte Margarethe Gänslein, noch zu später Stunde in ihrer Schreibstube sitzend, eine unangenehme Aufgabe nach der anderen. Sie prüfte Rechnungen, antwortete auf den bösen Brief eines Kontorgenossen aus Brügge und setzte Mahnschreiben an so manchen Abt oder Burgherrn auf, der es in letzter Zeit versäumt hatte, die ihm gelieferten Luxuswaren zu bezahlen.
Ihr ging es gut. Endlich spürte sie wieder Hoffnung in sich aufkeimen, auch wenn sie den Grund für dieses unerwartete Gefühl nicht verstand, vielmehr nicht verstehen wollte, denn ihr Stolz verbot es, näher darüber nachzudenken, was sie in diese außergewöhnliche Stimmung versetzte. Dabei gab es eigentlich keinen Anlass zur Freude. Zwar gingen die Geschäfte nach wie vor gut. Jedoch war ihre Zukunft als Kauffrau ungewisser denn je, zudem plagten sie Probleme privater Natur – nicht zuletzt der grausame Tod ihrer Magd Gerda, deren Leichnam sie heimlich hatte vergraben lassen.
Im Grunde hätte Margarethe von Kummer und Ängsten zerfressen sein müssen, doch das war sie ganz und gar nicht.
Musste sie sich etwa dafür schämen?
Nein, sie betrachtete es vielmehr als Segen, trotz allem so voller Tatendrang zu stecken, sich derart lustvoll in die Arbeit stürzen zu können. Das konnte keine Sünde sein, nicht, solange sie frei von sündhaften Wünschen war – und das war sie. Zumindest glaubte sie, es zu sein. Erst als jemand an die kleine, vereiste Scheibe ihrer zum Marktplatz zeigenden Schreibstube klopfte, stand ihr mit einem Mal ein ganz deutlicher Wunsch vor Augen. Ja, dieser Wunsch war so konkret, dass sie schier zu wissen glaubte, wer es war, wer es sein musste, der sie hier heimlich zu fast nächtlicher Stunde besuchte.
Ihr Herz begann zu rasen, als sie sich von ihrem Stuhl erhob und zu dem Fenster ging, um die kleine Luke zu öffnen. Furcht erfüllte sie keine, vielmehr war sie in freudiger Erwartung. Ein Gefühl, wie sie es höchstens aus Kindheitstagen kannte und für welches sie sich selbst, käme sie wieder zu klarem Verstand, hart ins Gericht nehmen würde.
Die Luke war zugefroren, und Margarethe benötigte einige Kraft, um sie mit einem Ruck aufzureißen. Doch als ihr dieses schließlich gelungen war und sie hinausschaute, sah sie niemanden. Dort draußen vor dem Fenster stand keine Menschenseele. Lediglich dicke Schneeflocken wehten ihr ins Gesicht und brachten ihr die notwendige Abkühlung. Sie musste sich getäuscht haben und war wütend über ihr eigenes dummes Wunschdenken. Gerade wollte sie das Fenster wieder schließen, da vernahm sie eine dumpfe Stimme.
»Halt.«
Es klang ein wenig erstickt und ganz so, als würde jemandem eine Hand vor den Mund gehalten werden. Margarethes Herz begann wieder schneller zu klopfen, dieses Mal jedoch aus Unbehagen. Irgendetwas war hier nicht in Ordnung. Dennoch wagte sie es, den Kopf ganz aus dem kleinen Fenster zu strecken.
»Ich bin es«, hörte sie nun das erstickte Stimmchen von unten.
»Vinsebeck?«
»Genau der.«
»Aber was tust du denn da unter meinem Fenster?«
»Bin gezwungen, unten zu bleiben, reiche nun einmal nicht bis oben heran.«
»Nimm doch bitte das wollene Tuch von deinem Gesicht, wenn du mit mir sprichst. Ich kann kaum eines deiner Worte verstehen.«
»Oh, ich vergaß. Die Kälte, gute Frau. Ihretwegen habe ich mich derartig vermummt.«
»Was willst du?«
»Lasst mich zu Euch herein, und ich werde es Euch sagen.«
»Nun gut. Aber das nächste Mal, Vinsebeck, wäre ich dir dankbar, wenn du zu günstigerer Stunde zu mir kämst.«
»Aber Ihr seid doch ohnehin des Nachts wach. Und außerdem habe ich es eilig.«
»Geh zur Eingangspforte, ich bin im Nu dort und öffne dir.«
Schon bald saß das verfrorene Männlein auf einem der großen Armstühle in Margarethes Schreibstube. Es hatte ihn einige Mühe gekostet, dort hinaufzuklettern, jetzt jedoch machte er es sich bequem, indem er seine hohen Trippen abschnallte, sie polternd zu Boden fallen ließ und dann die Beine ausstreckte, welche nicht einmal bis über den Rand der Sitzfläche reichten.
Er machte einen seltsam erleichterten, fast seligen Eindruck. Ganz so, als sei eine zentnerschwere Last von ihm gefallen. Dabei waren es doch nur seine Holztrippen gewesen.
»Es muss ein dringliches Anliegen sein, das dich zu mir führt, Vinsebeck. Sag mir nicht, dass es mit unserer Hochzeit zu tun hat. Was diese Sache betrifft, bin ich mehr als enttäuscht von dir. Ja, geradezu beleidigt.«
Hans Vinsebeck wusste, dass die Witwe Gänslein im Scherz sprach, und somit war es ihm ein Leichtes, ihre Worte einfach zu übergehen, ohne sich dabei unbehaglich zu fühlen.
»Margarethe, ich komme her, um mich zu verabschieden. Viel Zeit bleibt mir nicht mehr.«
»Aber Vinsebeck – was ist geschehen?«
»Ich hatte heute früh eine Unterredung mit Hasenstock.«
»Wie kam es denn dazu?«
Hans Vinsebeck atmete lange und vernehmlich aus und blickte sich dann eine Weile mit hochgezogenen Augenbrauen im Raume um.
»Vinsebeck«, ermahnte ihn Margarethe in strengem Ton.
»Er muss mir ein Wahrheitsserum in den Wein gemischt haben. Die Folge war, dass ich sämtliche seiner hinterlistigen Fragen getreu beantwortete. Und ich befürchte, ich erzählte sogar noch einiges darüber hinaus.«
Margarethe blieb stumm.
»Unter anderem«, fügte Hans Vinsebeck etwas verlegen an, »weiß er nun auch, dass Ihr um meine Hand angehalten habt.«
Nun schlug die Witwe beide Hände vors Gesicht und fragte dann in ähnlich ersticktem Ton wie dem, welchen sie von Vinsebeck unter dem Fenster vernommen hatte: »Hast du dich etwa auch derartig ausgedrückt, als du ihm dieses erzähltest?«
»Ich fürchte, das habe ich.«
»Und wie hat er die Nachricht aufgenommen?« Margarethe nahm vorsichtig die Hände wieder fort.
Vinsebeck zuckte nur mit den Schultern: »Soweit ich mich erinnere … Zu meiner Entschuldigung muss ich vorbringen, dass ich mich in einem erbärmlichen Zustand befand. Soweit ich mich also erinnere, hat er zunächst nur gelacht. Dann aber ist es ihm bitter aufgestoßen.«
»Hast du ihm etwa auch den Grund für diesen Antrag genannt?«
»Zu meinem Bekümmern glaube ich eine gewisse Andeutung gemacht zu haben. Dahingehend, dass Ihr nun einmal eine Frau seid, welche sich auch in der Ehe nicht in ein Kämmerlein sperren lässt. Und dahingehend, dass ich nun einmal ein Mann bin, der ausgerechnet diese Aufsässigkeit an Frauen zu schätzen weiß.«
»Er ist nun also alarmiert«, sagte Margarethe schließlich nachdenklich.
»Das ist er. Und es ist gewiss nicht in seinem Sinne, dass Ihr einen Mann ehelicht, der für ihn zu einem ernst zu nehmenden Widersacher werden könnte.«
Margarethes Mundwinkel verzogen sich bei diesen Worten des Apothekers zu einem leichten Schmunzeln. Sie blickte ihn kurz an, um sicherzugehen, dass er tatsächlich überzeugt war von dem, was er da gerade gesagt hatte. Sein Gesichtsausdruck verriet nichts Gegenteiliges.
Dann klatschte sie in die Hände, stand auf und ging auf ihren Gast zu. Kurz vor seinem Stuhl blieb sie stehen.
»Mein Freund, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als uns zu beeilen.«
Vinsebeck sah zu ihr hoch und wurde plötzlich ganz blass um die Nase.
»Das ist unmöglich, gute Margarethe. Versteht mich nicht falsch, aber ich habe da durchaus andere Verpflichtungen …«
Nervös rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, die kleinen Füßchen aneinanderreibend und immer wieder ängstlich zu der Frau aufblickend, die da so herrisch und schön vor ihm aufragte. Nicht, dass Hans Vinsebeck sich verboten hätte, über die möglichen Annehmlichkeiten einer Ehe mit Margarethe Gänslein nachzudenken. Er hatte sehr viel darüber nachgedacht. Und eine solche Verbindung brächte nicht nur finanzielle Vorteile mit sich. Schließlich war er zwar klein, aber dennoch ein ganzer Mann aus Fleisch und Blut, und es gelang ihm sogar besser als manch einem großen Kerl, eine Frau nach allen Regeln der Kunst zu beglücken. So versicherten es ihm zumindest sämtliche Damen der Frauenhäuser, welche er ab und an aufsuchte. Aber dennoch gab es Wichtigeres im Leben als Geld und Fleischeslust, und das war nun einmal das Leben selbst. Und Hans Vinsebeck hing sehr an seinem Leben.
»Was für Verpflichtungen?«, fragte Margarethe erstaunt.
»Nun, es ging nicht nur um Euch in diesem Gespräch. Was Euch betrifft, so werden meine unbedachten Worte lediglich zu manch einer Unannehmlichkeit führen, zu Geplänkel mit dem Rat, zu Handelskämpfen mit Hasenstock, zu hämischen Blicken der Leute. Zu mehr jedoch nicht.«
»Wie beruhigend«, unterbrach ihn Margarethe.
»Andere Leute hingegen«, sprach der kleine Mann weiter, »könnten meiner Geschwätzigkeit wegen ernsthafteren Schaden erleiden. Meine Wenigkeit eingeschlossen. Es geht um Leben und Tod.«
»Warum das? Habt Ihr etwa auch von Eurem Homunculus gesprochen?«
»So ist es. Und zudem habe ich düstere Geheimnisse aus einer Vergangenheit ausgeplaudert, an die ich mich selbst nicht gern erinnere und an die ein Tunichtgut wie Peter Hasenstock erst recht nicht erinnert werden sollte. Geheimnisse, die auch Euren nunmehr toten Gatten Reinold betrafen, für Euch aber ohne Belang sein sollten. Deshalb fragt mich nicht dazu. Nehmt Euch lediglich in Acht und geht Hasenstock in jeder Hinsicht aus dem Wege, macht ihn Euch aber auch nicht zum Feinde. Verhaltet Euch ruhig und unauffällig. Das ist mein Rat.«
Margarethes Augen wurden groß und größer, sie vergaß fast zu atmen. In ihr stieg eine schreckliche Wut auf. Der kleine Apotheker sprach nahezu die gleichen Worte, welche sie vor wenigen Tagen erst von der Begine Regine vernommen hatte. Es waren mysteriöse Warnungen, unlösbare Rätsel, eine nahezu verschwörerische Heimlichtuerei – und beide Male war sie darauf hingewiesen worden, dass man ihr, der stolzen, starken Frau, die ganze Wahrheit ersparen müsse, um sie zu schonen, ihr aber dringend dazu rate, vorsichtig zu sein.
»Behandelt mich nicht wie ein rohes Ei, Vinsebeck. Sprecht!«, forderte sie ihn im strengen Tone auf. Doch ihre Stimme verfehlte ihre Wirkung, denn er antwortete nur:
»Das ist eine lange Geschichte, die selbst ich nicht zur Gänze kenne und verstehe.«
Wieder waren seine Worte denen der Begine so verteufelt ähnlich. Was wussten sie? Im Grunde ahnte Margarethe längst, worum es ging, sie glaubte es zumindest zu erahnen. Sie glaubte, dass Regine und Vinsebeck von dem Margarethe durchaus bekannten Geheimnis ihres Gatten sprachen. Ja, sie dachte, dass die Laienschwester und der Apotheker sie vor dem Wissen über Reinold Gänsleins verbotene Vorlieben bewahren wollten, um ihr eine nachträgliche Demütigung zu ersparen. Aber was hatte Hasenstock damit zu tun? Er – und das stand außer Frage – war dem weiblichen Geschlecht holder als hold. Niemals waren er und Reinold ein Liebespaar gewesen, niemals, dafür hätte Margarethe die Hand ins Feuer gelegt. Vielmehr sollte sie sich vor Hasenstock in Acht nehmen, weil auch er über Reinold Gänsleins Vorlieben Bescheid wusste und dieses Wissen gegen dessen Witwe verwenden könnte. Aber wenn dem so wäre, dann hätte Peter Hasenstock das doch schon längst getan. Weshalb sollte er zögerlich sein? Das wäre ganz und gar nicht seine Art.
Unverwandt fragte sie nun: »Hasenstock kennt demnach Reinolds Geheimnis?«
Vinsebeck stutzte ein wenig, er schien irritiert. Kritisch beäugte er eine Weile die noch immer vor ihm aufragende Frau und überlegte genau, wie er nun antworten sollte.
»Er weiß mehr als alle anderen. Es ist eine Geschichte, die beide zusammen erlebt haben und die mir nur in ihren traurigen Konsequenzen bekannt ist. Über die aber kann und will ich nicht sprechen. Ich mag niemandes Namen und Ehre beschmutzen, indem ich Halbwahrheiten ausplaudere. Lasst Euch aber gesagt sein: Hasenstock selbst hat so viel Dreck am Stecken, dass er seine Zunge im Zaume halten muss. Aber dennoch sollte man einen Löwen nicht zu sehr reizen, meine Liebe. Also geht ihm aus dem Weg.«
Mit pathetischer Miene griff er sodann nach Margarethes Händen und sah zu ihr auf. Offenbar hatte er diesen Moment lange vorbereitet, denn alles wirkte ein wenig aufgesetzt und zu abrupt.
Laut sprach er: »So sehr ich Euch schätze und bewundere, Margarethe Gänslein, so kann ich dennoch nicht Euer Gemahl werden. Ihr werdet sicherlich einen anderen finden, der Euch die verdiente Ehre und Liebe erweist! Nun muss ich von dannen eilen. Der Feind ist mir auf den Fersen. Fragt nicht nach meinem Wohin, ich selbst kenne die Antwort nicht.«
Dann bückte er sich nach seinen Trippen, schnallte sie im Nu an und war verblüffend rasch, ganz, als liefe er in Siebenmeilenstiefeln, verschwunden.
Hans Vinsebeck ließ eine für den Moment völlig rat- und hilflose Margarethe Gänslein zurück.
Stockfinster war es, aber dennoch herrschte auf dem nahen Marktplatz ein Heidenlärm. Johanna fürchtete, verschlafen zu haben. Im Grunde passierte ihr so etwas nicht, nicht einmal zur dunklen Jahreszeit, wenn es hieß, weit vor Sonnenaufgang die Bettstatt zu verlassen. Aber die letzte Nacht hatte sie lange wach gelegen. Zu verwirrend waren die Ereignisse des vergangenen Tages für sie gewesen, hatten ihr den Schlaf geraubt, und nun wunderte es sie nicht, dass auf dem Markt bereits das übliche Tagesgeschäft seinen Anfang nahm, während sie völlig übernächtigt in den Federn lag.
Noch immer war sie nicht ganz bei sich, als sie die nackten Füße auf den Holzboden ihrer Kammer stellte und sich die Augen rieb.
Das hört sich etwas seltsam an, war alles, was sie dachte, doch zu müde war sie, um sich eingehender über die von draußen in ihr Zimmerchen dringenden Geräusche zu wundern.
Johanna kleidete sich im Dunkeln an. Ihr Kopf brummte, und sie konnte die Augen nur mit Mühe offen halten. Am liebsten wäre sie einfach wieder nach hinten ins Bett zurückgefallen und hätte weitergeschlafen. Dann jedoch hörte sie dieses Wort. Es war bereits mehrmals gefallen, doch die schläfrige Magd hatte es bei all dem hektischen Gemurmel auf den Straßen nicht deutlich wahrgenommen. Aber die laute, dunkle Stimme eines Mannes, der unmittelbar unter dem Hause der Margarethe Gänslein stehen musste, ließ nun kein müdes Überhören mehr zu.
»Feuer«, schrie er, »Feuer!«
Mit einem Mal war Johanna hellwach, und im selben Moment begann auch die Sturmglocke zu läuten. Nicht einladend, wie dann, wenn vom Kirchturm aus zum Besuch der heiligen Messe gerufen wurde, sondern schrill und warnend. Die Vertreter der drei Wehrquartiere der Stadt wurden mit diesem Läuten zusammengerufen, um die ihnen obliegenden Löschaufgaben zu übernehmen.
Johanna lief hinaus in den dunklen Flur und dann die Stiege hinunter. Die große Ausgangstüre stand weit offen, eine eisige Kälte wehte ihr entgegen. In der Türe standen die Köchin Immeke und die Base Mechthild. Beide waren sie in Decken gehüllt und trugen noch ihre Nachthauben. Sie sprachen mit einem Mann.
»In der Südstadt soll es sein. Ich war noch nicht dort. In einer der engen Mauergassen. Verheerend! Nicht weniger als sieben Häuser sollen brennen.«
»Um Gottes willen! Und das so kurz vor dem Weihnachtsfest«, rief Mechthild und wollte klagend die Arme erheben, bemerkte aber frühzeitig, dass sie somit ihrer Umhüllung verlustig ginge, und ließ es bleiben.
»Johanna, die Stadt brennt!«, sagte Immeke zu der Magd, welche sich nun zu den beiden Frauen und dem Mann gesellte.
»Wo ist die Herrin?«, fragte Johanna. Sie wusste selber nicht, weshalb ihr ausgerechnet diese Frage als Erstes in den Sinn kam.
»In ihrem Schlafgemach wird sie sein«, antwortete Immeke, schaute dann aber mit einem ungläubigen Blick die Treppe hinauf, auf der sich trotz des nun zunehmenden Tumultes noch immer keine Margarethe Gänslein zeigte.
Sehr ungewöhnlich war das.