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XXII

Vor vielen Jahren hatte Hans Vinsebeck diesen Ort regelmäßig aufgesucht. Wenigstens einmal im Monat hatte er den recht weiten Weg von der Stadt hierher genommen, um sie zu sehen. Wäre es nach ihm gegangen, so hätte er sie täglich besucht, ja, hätte sie gar mit zu sich nach Hameln genommen, sie zu seinem Weib gemacht und sich um ihren Sohn gesorgt, als wäre er sein eigen Fleisch und Blut. Doch jedes Mal, wenn er ihr diesen Vorschlag unterbreitet hatte, hatte sie nur gelacht. Sie hatte nichts geantwortet, sondern nur laut gelacht und ihm mit ihren schlanken Händen über sein borstiges Haar gestrichen. Und dann, eines Tages – es war ein schöner Herbsttag gewesen, und Hans Vinsebeck war frohen Mutes zu ihr aufgebrochen, um ihr einen wunderschönen Kristall zu schenken –, da hatte er es gehört.

Es war ein schreckliches Geräusch gewesen, und zunächst hatte er gedacht, ein Räuber sei in ihre Hütte eingebrochen und wäre nun im Begriff, sie bestialisch zu ermorden. Der Kristall war ihm aus den Händen geglitten und ins weiche Moos gefallen, Vinsebeck war gelaufen, so schnell ihn seine kurzen Beine hatten tragen können. Und dann, kurz vor der Hütte, war er stehen geblieben.

Dort nämlich auf der Schwelle saß der Junge, klein, zusammengekauert, und hielt sich mit aller Kraft die Ohren zu, um das entsetzliche Quieken der Mutter im Innern nicht mitanhören zu müssen. In dem Moment war Vinsebeck ein Licht aufgegangen, so grell und schmerzhaft, dass er sich wünschte, es wäre doch ein Mörder gewesen, der sie derartig zum Schreien brachte. Aber es war kein Mörder. Es war ein Mann, dessen dunkles Stöhnen man nun ebenfalls deutlich vernehmen konnte und dessen Pferd und dessen Jagdhunde nur unweit der Hütte an einem Baum festgebunden waren.

Traurig war er an diesem Tage von dannen gezogen, den Kristall im Moos und den Jungen auf der Schwelle zurücklassend. Tief in seinem Innern hatte er es geahnt, ja, im Grunde hatte er gewusst, dass, wenn sie nach Hameln kam, sie es nicht seinetwegen tat, sondern zwei anderen Männern einen Besuch abstattete. Doch diese Hütte im Wald, dieser verborgene Ort, an dem sie und ihr Sohn lebten, der war immer heilig, immer rein geblieben. Hier ging nur der Alchemist Hans Vinsebeck in ehrlicher Absicht ein und aus. So zumindest hatte er es sich stets gewünscht und eingeredet. Doch darin hatte er sich bitter getäuscht; so bitter, dass er von diesem Tag an seiner großen Liebe Maria nie wieder einen Besuch abstattete und auch vergeblich auf einen Besuch ihrerseits in seinem Hamelner Apothekerhaus wartete.

Jetzt jedoch war er nach vielen Jahren zu der Waldhütte zurückgekehrt. Sie aber fehlte. Begraben habe er sie unweit der Hütte, hatte Philipp ihm einsilbig geantwortet, doch er wüsste nicht mehr, wo. Vinsebeck hatte ihm nicht geglaubt, aber auch nicht weiter nachgeforscht. Er durfte nicht in Versuchung geraten, ihre tote Hülle zu bergen und wiederbeleben zu wollen. Wichtiger war ihm, dass er nun dort weilte, wo sie als Lebende gewandelt war. Und Maria hatte gelebt, ja, sie war regelrecht lebenstoll, lebenssüchtig gewesen. Ein wunderbares Weib. So lag Vinsebeck nun erschöpft, aber selig in dem Bett, in dem sie einst geschlafen, geträumt und auch geliebt hatte – er genoss es, er fühlte sich wohl.

Er dachte darüber nach, ob man nun in der Stadt Hameln seine vermeintlichen sterblichen Überreste gefunden hatte. Und es bereitete ihm Behagen, wenn er sich vorstellte, wie sie da vor der verkohlten Leiche des Gehenkten standen und annehmen mussten, es handele sich um den vom Feuer im Schlaf überraschten unglücklichen Zwerg. Unbehaglich jedoch wurde es ihm, wenn er an Margarethe Gänslein dachte.

Ihr Erscheinen in dem bereits voll und ganz für die inszenierte Katastrophe vorbereiteten Hause war nicht Teil seines Planes gewesen, ebenso wenig wie das Auftauchen Philipps. Doch Letzterer hatte dem kleinen Mann dann tatkräftig unter die Arme gegriffen und ihm auch geholfen, die Witwe zu überwältigen und zu ihrem eigenen Schutze mundtot zu machen. Denn das hätte Vinsebeck noch gefehlt, dass man die unschuldige Frau mit seinem plötzlichen, feurigen Ableben in Verbindung brachte. Hoffentlich war auch alles geglückt und Margarethe tatsächlich nichts zugestoßen. Bedauerlich nur, dass er es nicht in Erfahrung bringen konnte, denn Philipp hatte sich vor einigen Stunden für längere Zeit von seinem Freund Vinsebeck verabschiedet. Er würde als Mittler zwischen dem nun als Einsiedler lebenden Zwerg und den Ereignissen in der Stadt Hameln nicht in Frage kommen.

Hans Vinsebeck war fortan also allein.

Nein, nicht allein, sondern regelrecht einsam war er. Hier konnte er keine Türe öffnen, die ihn hinaus ins Leben, hinaus unter Menschen trug. Öffnete er die Türe dieser Waldhütte, dann stand er im Nichts, zumindest im menschenleeren Nichts, er stand inmitten der Natur, umgeben von Bäumen, Sträuchern und wilden Tieren.

»Wie wunderbar«, sagte er zu sich, die Ärmchen unter den Kopf gelegt und die morsche Decke der Kate betrachtend. »Wie wunderbar«, wiederholte er und dankte innerlich dem guten Jungen, der dem zur Flucht bereiten Zwerg diesen grandiosen Vorschlag unterbreitet hatte. So konnte er nun hier sein, ganz nah bei ihr, ja, er lebte in ihrem Heim, lag in ihrem Bett. Ein Bett, in welchem er, trotz seiner von Anbeginn tief empfundenen Liebe zu dieser Frau, nie zuvor gelegen hatte. Dennoch war er ihr nicht mehr böse, er konnte es nicht sein. Sie war noch da, das spürte er, sie war noch hier. Ganz allein, nur mit ihm – zu zweit lebten sie jetzt in diesem Wald, auch wenn ihr Körper längst verfallen war, so bildete er sich ein, dass wenigstens ihre Seele bei ihm war. Und nicht nur das, er glaubte sogar, ihren Duft in dem alten, nie gewechselten Stroh ihres lange verlassenen und längst verfallenden Lagers wahrzunehmen.

Ja, Hans Vinsebeck war in diesem Moment überglücklich und malte sich sein zukünftiges Leben in dem abgeschiedenen Wald in den schönsten Farben aus. Hier war er unbeobachtet, hier war er frei in seinem Tun. Hier konnte er forschen und experimentieren und zu Erkenntnissen gelangen, welche die Welt bislang für unglaublich hielt.

Dies war ein Ort des Erinnerns und ein Ort des Vergessens zugleich. Und Hans Vinsebeck wollte sich gern erinnern, er war wieder bereit dazu, doch ebenso bereit war er auch zu vergessen.

Sein jüngst vergangenes Leben in Hameln, ja, das durfte nun getrost dem alten Haufen zugeführt werden.

Johannas Hände waren voller Teig, doch Immeke hatte soeben die Küche verlassen, um auf den Hinterhof zu verschwinden, sodass nun sie die Türe öffnen musste, an der es gerade geklopft hatte. Sicherlich war es ein Bote, der die Post brachte. Frau Margarethe erhielt täglich stapelweise Briefe. Und heute war noch kein Bursche da gewesen. Sich die schmierigen Finger nachlässig an der Schürze abstreifend, öffnete Johanna die schwere Eingangspforte.

Und da stand er vor ihr.

»Johanna«, sagte er nur, und sie hatte den Eindruck, als wolle er lächeln. Doch es gelang ihm nicht, sich zu verstellen. Und auch Johanna war nicht nach Lachen zumute.

»Was willst du?«, fragte sie. Es überraschte sie nun nicht mehr, ihn zu sehen, ja, sie hatte damit gerechnet, dass sein Erscheinen in diesem Hause nicht mehr lange auf sich warten ließe.

»Ich will zu deiner Herrin«, antwortete er nun kühl. Er erweckte den Eindruck, das Zusammentreffen mit dem zur Frau herangereiften Mädchen aus seinen Kindertagen möglichst kurz gestalten zu wollen.

Johanna war es recht. Ihr stand der Sinn ebenfalls nicht danach, mit diesem Mann vertraulich zu tun, aber ebenso wenig wollte sie ihn zu Margarethe vorlassen, bevor sie Gelegenheit gefunden hatte, ihre störrische Herrin vor diesem Mann zu warnen.

»Die edle Frau ist unpässlich, sie ist in Trauer um einen guten Freund, den verstorbenen Apotheker Vinsebeck.« Und bei diesen Worten stockte sie und musterte Philipp kurz. Doch dieser zeigte keinerlei Reaktion, sodass Johanna fortfuhr: »Aber ich werde ihr, sobald es ihr wieder besser geht, von Eurem Besuch berichten, mein Herr.«

Philipp nickte nur herablassend und trat nun einen Schritt nach vorn. Sein Gesicht kam dem Johannas äußerst nahe.

»Ich weiß, weshalb sie unpässlich ist, und gerade deshalb bitte ich, zu ihr vorgelassen zu werden«, raunte er hinter zusammengebissenen Zähnen und blickte Johanna dabei streng an.

»Nun gut«, antwortete diese. Ihre Stimme bebte, sie rieb sich nervös den Rest des trocknenden Teigs von den Händen und wies Philipp an hereinzutreten. Es behagte ihr nicht, die Türe hinter ihm zu schließen und nun mit ihm zusammen in einem Raum zu sein. Auch wenn es sich bei dem Raum um die riesige, offene Diele eines Kaufmannshauses handelte.

Schreckliche Bilder gingen Johanna in diesem Moment durch den Kopf, angefangen von dem warmen, blutigen Halsstumpf des Ritters Eicheck bis hin zu den offenen Bäuchen der Burschen, die, als sie noch ein junges Mädchen war, versucht hatten, ihr gewaltsam die Unschuld zu rauben.

Ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen, eilte sie, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe ins Obergeschoss hinauf, um Margarethe Gänslein den Besuch anzukündigen.

Philipp blickte ihr nach. Er musste feststellen, dass er leider noch immer unschlüssig war, was mit Johanna geschehen sollte. Und das ärgerte ihn.

Immerhin konnte sie alles verderben.

Sie konnte, wenn sie wollte.

Aber wollte sie?

Margarethe hatte sich in das kleine Gelass, die private Bibliothek und Schatzkammer ihres verstorbenen Gatten, zurückgezogen, um dort nach Hinweisen zu suchen, die sie der Lösung so manches in den letzten Wochen aufgetauchten Rätsels nahebringen könnten. Unter zahllosen Behältern mit Reliquien waren hier nämlich auch etliche persönliche Aufzeichnungen und Bücher ihres Mannes zu finden. Die Frage, inwieweit es tatsächlich eine pikante Verbindung zwischen Reinold und Peter Hasenstock gegeben hatte und ob es dabei, wie Regine angedeutet hatte, um eine Frau und ein Kind gegangen war, brannte ihr unter den Nägeln. Sie wollte Klarheit darüber, um gegen etwaige erneute unterschwellige Andeutungen oder gar böse Überraschungen gewappnet zu sein.

Das kleine Zimmerchen war über die zweite, im Obergeschoss gelegene und weniger große, aber dafür gemütlichere Stube des Kaufmannshauses zu erreichen. Und an ebendiese Stubentüre pochte nun schon seit einiger Zeit Johanna.

»Lasst mich doch einfach einmal in Frieden«, murmelte Margarethe gereizt, verließ aber dann doch das Kämmerlein und begab sich zu dem Tisch in der Stube, von wo aus sie »Herein« rief.

Einen Gast kündigte die aufgewühlte Magd an, einen Gast, nach dessen Namen Johanna offenbar nicht einmal gefragt hatte, denn als Margarethe wissen wollte, wer es sei, stammelte Johanna nur irgendetwas Unverständliches und blickte die Herrin sodann flehentlich an.

»Ihr solltet ihn nicht empfangen«, sagte sie dann.

»Wieso nicht? Wer ist es? Doch nicht etwa der Büttel, der mich mit dem vermeintlichen Tode meines Verlobten in Zusammenhang bringt?«

Johanna schüttelte den Kopf.

»Hasenstock?«

Wieder schüttelte Johanna den Kopf.

»Nun sprich schon, Mädchen, und treibe mich nicht zur Weißglut.«

»Darf ich offen zu Euch sprechen, Frau Margarethe?«

In diesem Moment wandte Margarethe den Blick von ihrer noch immer in der Türe stehenden Magd ab und schaute an ihr vorbei in die dahinterliegende Galerie. Denn dort, hinter Johannas Rücken, war Philipp Stadler plötzlich aufgetaucht und senkte mit einem nur gespielt schüchternen Blick den Kopf, um sich für sein ungebetenes Erscheinen bereits im Vorhinein zu entschuldigen.

»Ihr?«, fragte Margarethe überrascht. »So tretet doch näher und nehmt Platz«, und wieder an ihre Magd gewandt: »Johanna, bringe bitte zyprischen Wein und ein wenig Gewürzkuchen für meinen Gast und mich.«

Die kreidebleiche Magd nickte nur und war gerade im Begriff zu gehen, als er schnell und für Margarethe unbemerkt nach Johannas Arm griff und ihn so fest drückte, dass sie fast aufgeschrien hätte. Dann folgte er höflich lächelnd der Einladung der Hausherrin und betrat den Raum.

Johanna wusste Philipps Geste genau zu deuten. Es war eine Drohung, die sie dazu anhalten sollte, bloß den Mund zu halten.

Margarethe wies mit einer Hand auf den nächsten Platz an dem mit einem weißen Tuch gedeckten Tisch. Doch ihr Gast machte keinerlei Anstalten, sich zu setzen. Vielmehr schien er wie magisch angezogen von der weit geöffneten Türe im hinteren Bereich der Stube, aus welcher der Schein gleich mehrerer Kerzen leuchtete.

»Darf ich?«, fragte er, ohne auf die Erlaubnis der Hausherrin zu warten, und ging schnurstracks in Reinold Gänsleins Gelass. Ein Sakrileg, denn die sonst so fest verschlossene Kammer wurde nur von Margarethe betreten und auch das nur äußerst selten.

Ohne zu protestieren, blieb die Witwe stehen und schüttelte ungläubig den Kopf, in welchem es in diesem Moment drunter- und drüberging.

Was führte diesen dreisten Fremdling zu ihr?

Er kam ungebeten und erlaubte sich zudem, einfach in den heimlichsten Raum des ganzen Hauses einzudringen.

Warum unternahm sie nichts dagegen?

Freute sie sich etwa über sein Erscheinen?

Natürlich freute sie sich.

Sie hatte es sich sogar gewünscht. Und nun war er da.

Aber irgendetwas stimmte nicht mit diesem Mann.

Margarethe spürte es, sie hatte es schon zuvor gespürt. Und dennoch wollte und konnte sie dieses Unbehagen nicht zulassen.

Viel zu sehr genoss sie seine Anwesenheit, und es kam ihr überhaupt nicht in den Sinn, ihm zu verbieten, die heilige Reliquiensammlung ihres toten Reinold zu begutachten.

Langsam ging sie nun ebenfalls auf den Eingang des kleinen Zimmers zu, in welchem er bereits seit einigen Augenblicken verschwunden war. Sie beobachtete ihn lächelnd, wie er zwischen den zahlreichen massiven Regalen herumwanderte und deren Inhalte staunend in Augenschein nahm.

»Ich frage mich, was Ihr für all diese vielen Schätze bezahlt habt. Das ist unglaublich beeindruckend.« Nun griff er mit einer fast jungenhaften Begeisterung nach einer hölzernen und mit Edelsteinen besetzten Schatulle und las, was auf einem daran befestigten winzigen Stück Papier geschrieben stand: »›Ein Teil vom Darm des heiligen Erasmus.‹ Das ist doch jener Märtyrer, dem man bei lebendigem Leibe das Gedärm mit einer Winde herausgedreht hat. Darf ich einen Blick hineinwerfen?«

Er sah Margarethe in solch freudiger Erwartung an, dass sie nicht anders konnte, als ihm zuzunicken.

Sofort öffnete er fast andächtig die Schatulle und verzog ein wenig das Gesicht, als er darin nichts weiter als ein gräulich weißes, ledernes Röhrchen erblickte. »Vermutlich Schlachtabfälle von einem Schwein«, sagte er dann spitzbübisch und klappte das Behältnis wieder zu.

»Hütet Eure Zunge«, entfuhr es Margarethe nun in einem strengen, aber nicht unamüsierten Ton. »Dies sind die Schätze meines verstorbenen Mannes, und auch wenn ich Eure Meinung teile, so sollte man dennoch das Andenken der Toten achten und sich über ihre Marotten zu Lebzeiten nicht lustig machen. Im Übrigen habe ich Euch nicht gestattet, diesen Raum zu betreten. Was verschafft mir überhaupt die Ehre Eures unangekündigten Erscheinens? Ich kann mich nicht erinnern, Euch eingeladen zu haben.«

»Möglicherweise könnt Ihr das wirklich nicht«, antwortete er, und nun hatte sich sein Gesichtsausdruck mit einem Mal vollkommen gewandelt. Er wirkte ernst, warnend, fast ein wenig bedrohlich. »Ich bin gekommen, um mich nach Eurem Wohlergehen zu erkundigen. Es tut mir leid, dass ich bei Eurem nächtlichen Besuch im Hause Hans Vinsebecks so grob mit Euch habe umspringen müssen.«

Margarethes Miene gefror mit einem Mal zu Eis.

»Ihr wart das?«

»Es war zu Eurem eigenen Schutze. Weder Hans Vinsebeck noch meine Wenigkeit wollten, dass Ihr … Nun, dass Ihr in diese Geschichte verwickelt werdet.«

»Was habt Ihr mit Vinsebeck zu schaffen?«

»Ich kenne ihn, seit ich ein Kind war.«

»Dann hatte Johanna also recht, als sie andeutete, Ihr wäret es gewesen, der Vinsebeck des Nachts in den Wald gebracht hat.«

Jetzt wiederum durchlief es Philipp eiskalt. Er versuchte vergeblich, die Fassung zu wahren und gleichmütig zu tun, aber stattdessen verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse.

»Was ist Euch? Stimmt es etwa nicht? Ist er doch nicht am Leben? Sprecht.«

»Doch, er lebt. Aber das sollte ein Geheimnis bleiben«, stammelte Philipp. Er war mit einem Male vollkommen durcheinander – so sehr, dass ihm die kostbare Schatulle, welche er noch in Händen hielt, zu Boden fiel und in mehrere Stücke zerbrach. Kostbare Perlen und Edelsteine rollten zusammen mit dem Darm des heiligen Erasmus über die Dielen der kleinen Kammer.

Woher wusste sie …?

In wessen Auftrag verfolgte sie ihn?

Nein, so ging es nicht.

Johanna musste fort, ob Philipp nun wollte oder nicht.

»Wo finde ich den Wein aus Zypern?«, fragte Johanna barsch, als sie die Küche betrat, in welcher Immeke nun damit beschäftigt war, aus dem von der Magd angerührten Teig einen herrlichen Honigkuchen zu backen.

»Im Keller. Das zweite Fass an der rechten Wand«, gab Immeke zurück und wunderte sich über die üble Laune der sonst so gleichmütigen und gelassenen Dienstmagd.

Als Johanna nach wenigen Augenblicken wieder aus dem von der Küche aus erreichbaren Kellerloch nach oben stieg und einen randvoll gefüllten Krug mit dunkelrotem Wein in den Händen hielt, fragte die Köchin: »Ich habe ihn gesehen, den Gast unserer Herrin. Du kennst ihn, nicht wahr?«

Johanna erschrak bei diesen Worten und musste achtgeben, dass ihr nichts von dem edlen Tropfen überschwappte.

»Wie kommst du denn darauf?«, erwiderte sie und hätte dabei gerne gleichgültig geklungen.

»Na, weil er dich demletzt auf dem Markt angeschaut hat, als wolle er dich gleich auffressen.«

»Wie konnte dir das auffallen? Du hattest doch solche Zahnschmerzen«, entfuhr es Johanna, und sie ärgerte sich im selben Moment ihrer unbedachten Worte.

»Mir entgeht nichts«, meinte Immeke schelmisch, nahm einen feuchten, alten Lappen und wischte damit über den Rand des Kruges, welchen Johanna noch immer in ihren zitternden Händen hielt. »So, jetzt bring das zu den Turteltäubchen und nimm dich zusammen, Johanna, sonst verschüttest du noch alles. Du bist nicht die erste Magd, die sich in einen Freier ihrer Herrin verguckt.«

Immeke kniff ein Auge zu und zeigte mit ihrer kleinen, dicken Hand an, dass Johanna sich beeilen solle. Dann lief sie der Magd doch noch einige Schritte nach und rief ihr in verschwörerischem Flüsterton hinterher:

»Komm gleich sofort wieder herunter und erzähl mir alles. Ich vergehe vor Neugierde.«

Johanna war bereits die Stiege emporgelaufen und wollte soeben um die Ecke in den dunklen Flur des ersten Obergeschosses abbiegen, als sie fast mit Philipp zusammengestoßen wäre. Er stand dort wie angewurzelt mitten im Gang und starrte sie an.

»Was wirst du ihr erzählen?«, fragte er und griff mit beiden Händen nach ihren Schultern. Johanna fürchtete, er würde sie nun die steile, unmittelbar hinter ihr liegende Stiege hinunterstoßen. Ja, sie fürchtete dies nicht nur. Es war für sie in diesem Augenblick pure Gewissheit, dass er nun die günstige Möglichkeit nutzte, um sich ihrer zu entledigen.

Doch seine Hände zitterten, und auch seine Stimme bebte. Offensichtlich war er sich nicht schlüssig.

»Erzähle niemandem etwas. Deute nicht einmal etwas an«, zischte er nur, schob sie dann grob zur Seite und eilte die Treppe hinunter. Kurz darauf vernahm sie, wie die Haustüre krachend ins Schloss fiel.

Johanna ging auf wackligen Knien weiter zur kleinen Stube, um nach Margarethe zu schauen. Doch das Zimmer war leer. Die Tür zum Hinterraum jedoch war geöffnet.

Sie setzte den Krug und den Teller mit Gebäck auf dem Tisch ab und ging vorsichtig auf das ihr unbekannte Kämmerlein zu. Dort hockte sie, Margarethe Gänslein. Sie hockte auf den Knien und sammelte etwas vom Boden auf: Scherben, Bruchstücke aus lackiertem Holz, außerdem Zierrat wie Perlen und glitzernde Steinchen. Johanna ging nun ebenfalls in die Knie und half ihrer Herrin.

Margarethe schien verstört. Sie sprach kein Wort, und als Johanna zu reden anheben wollte, sagte ihre Herrin nur: »Schweig, bitte.«

Ja, dachte die Magd, vielleicht war es besser für alle, wenn sie weiterhin schwieg, obgleich die Last ihres Wissens und Gewissens immer drückender zu werden schien.