38227.fb2 Geheimnis der Magd - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 25

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XXIII

Mitten in der Nacht klopfte es leise an Johannas Türe.

Schlaftrunken murmelte sie: »Wer da?«, als sich auch schon quietschend, aber überaus langsam die unverriegelte Luke zu ihrer kleinen Mägdekammer öffnete.

»Ich bin es nur«, vernahm Johanna eine vertraute, weibliche Flüsterstimme und atmete erleichtert auf.

»Immeke! Weißt du, wie spät es ist?«

»Ich bin halt ein neugieriges Weibsbild. Was will man da machen?« Ungefragt hatte die füllige Köchin bereits auf Johannas Bett Platz genommen und schaute diese, eine tropfende Kerze in der rechten Hand, mit wachen, erwartungsvollen Augen an. »Wer ist nun dieser Mann?«, fragte sie dann in freudiger Erwartung.

Johanna musste ein wenig lachen, wurde dann aber sehr nachdenklich. Sollte sie die Last nun endlich von sich geben? Wenigstens einen Teil davon? Immeke war ein guter, vertrauenswürdiger Mensch, das wusste Johanna. Mit niemand anders in dieser fremden Stadt hätte sie besser über ihre Sorgen reden können. Nicht mit der weltfremden Mechthild und erst recht nicht mit der verbohrten Margarethe. Immeke hingegen war ein durchaus kluges Frauenzimmer, das zudem über eine große Portion gesunden Menschenverstandes verfügte und eine durch und durch ehrliche Haut zu sein schien.

Warum also nicht endlich das quälende Schweigen brechen?

Er würde es nicht erfahren. Und auch Margarethe würde es nicht erfahren, und vielleicht wusste ja Immeke einen guten Rat, wie man der Kaufmannswitwe verdeutlichen konnte, dass sie sich auf ein gefährliches Spiel mit diesem Manne einließ.

»Sie ist noch immer wach. Sitzt in ihrer Schreibstube, arbeitet aber nicht. Ich lauschte an der Tür: Sie singt«, begann Immeke nun in verschwörerischem Ton.

»Sie singt?«

»Ja. Das tut sie, und sie tut es wegen diesem jungen Mann. Weißt du, Johanna, seit dem Tode ihres Gatten sind nun viele Jahre vergangen. Seither hat sie zahlreiche Freier abgewiesen. Und es waren sehr gute Partien darunter, gut vom Stande und auch gut von der Erscheinung. Schöne, reiche Männer, nach denen sich ein jedes Weib in dieser Stadt die Finger abgeschleckt hätte. Nicht so unsere Herrin. Aber dieser, der scheint nun einen Weg gefunden zu haben, sich in ihr Herz zu stehlen. Wie auch immer er es geschafft hat. Sie ist ja völlig verändert, man erkennt sie in letzter Zeit gar nicht wieder. Und du weißt, wer er ist, da bin ich mir sicher. Erzähl mir also von ihm. Ich verspreche dir, bei allem, was mir heilig ist, dass ich darüber Stillschweigen bewahre.« Dabei hob sie ihre rechte Hand und nickte Johanna auffordernd zu.

»Sein Name ist Philipp. Philipp den Narren hat man ihn als Kind genannt«, begann diese. Sie wollte und konnte sich nicht länger bitten lassen. Es verlangte sie regelrecht danach zu reden.

»Du kennst ihn schon seit seiner Kindheit?«

»Ich kenne ihn nur aus der Kindheit. Als herangewachsenen Mann habe ich ihn erst hier wiedergesehen, aber sofort erkannt«, log Johanna. Und es war ihr unangenehm, die gutmütige Köchin schon zu Beginn der Geschichte anzuflunkern. Doch ihr auch von den Ereignissen um Ritter Eicheck zu berichten, würde zu weit gehen und zu privat werden, auch wenn es Immeke sicherlich sehr interessiert hätte.

»Hat er in der Nähe deines Dorfes gelebt?«

»Ja, zusammen mit seiner Mutter. Im Wald hausten sie.«

»Hausten? Ist er etwa kein Edelmann?«

»Nein, Immeke, wo denkst du hin? Er ist der Sohn einer …«, Johanna stutzte. Hexe hatte sie sagen wollen, doch sie wählte eine andere Umschreibung: »… einer einfachen Landlosen.«

»Eine Vagabundin?«

»Nein, sie waren durchaus sesshaft. Aber niemand wusste ganz genau zu sagen, womit sie sich ihr Brot verdiente. Mitunter trug sie edle Gewänder. Manchmal war sie ganz in roten Samt gehüllt, wenn sie bei den Bauern im Dorf Wurst und Brot kaufte. Sie soll mit Silberlingen bezahlt haben, Münzen, die niemand in der Lage war zu wechseln. Und auch der Knabe sah stets ordentlich aus, trug gar lederne Schuhe, obgleich sie im Wald lebten.«

»Das klingt wie ein Märchen, Johanna. Woher hatten sie all das Geld und den Tand?«

»Das fragte sich jeder. Ich weiß, dass meine Eltern häufig des Abends, wenn wir Kinder schon im Bette waren, über diese Frau sprachen. Oft stellte ich mich schlafend und lauschte ihnen. Meine Mutter nannte sie dann eine Zauberin, mein Vater nannte sie eine Dirne. Ich weiß nicht, wer von ihnen recht hatte. Vielleicht beide.«

»Dann könnte es sich bei ihm um Hexenbrut handeln?« Immeke war trotz der Empörung, welche aus ihren Worten sprechen sollte, begeistert und ermunterte Johanna durch reges Kopfnicken dazu, mit ihrer Erzählung fortzufahren.

»Er war als Knabe immer sehr scheu. Versteckte sich, wenn ihm andere Kinder begegneten. Und das aus gutem Grund. Denn wir waren allesamt nicht besonders freundlich zu ihm«, berichtete Johanna weiter. Sie hatte ihre Erinnerungen an Philipp noch nie zuvor in Worte gefasst, und es tat ihr gut, endlich darüber zu sprechen. Kurz überlegte sie, ob sie es wagen konnte weiterzuerzählen. Und beschloss, es zu tun:

»Eines Tages – es war im Herbst, und ich zählte zwölf oder dreizehn Jahre –, da geschah es.«

»Was?« Immeke rückte näher.

»Es gab Gerüchte, dass seine Mutter schon seit einigen Wochen nicht mehr in der Hütte lebte. Ein Edelmann, unser Grundherr, habe sie mit zu sich auf seine Burg genommen. Der Junge aber hause weiterhin alleine im Wald. Niemand wusste, ob dieses Gerede stimmte, denn keiner suchte den Weg zu ihrer Hütte. Dazu waren die Leute zu faul oder zu feige, aber das Maul zerrissen haben sie sich durchaus. Und auch ich war neugierig. Meine Mutter hatte mich zum Pilzesammeln geschickt. Und da passierte es, dass ich beim Suchen nicht unbedingt zufällig in die Nähe des Hexenhauses kam.«

»Und dann?«

»Als ich zu der Lichtung kam, auf der die Hütte stand, da hörte ich bereits, dass er nicht allein war. Da waren noch die Stimmen anderer Jungen zu vernehmen. Jungen aus meinem Dorf, drei an der Zahl, auch sie in meinem Alter. Sie hatten ihn an einen Baum gebunden. Bespuckten ihn, schnitten ihm sein Haar mit stumpfen Messern ab und versengten seine Haut mit glühenden Holzstäben. Doch er ließ alles über sich ergehen, rührte sich nicht, verzog keine Miene, sondern schaute sie nur unverwandt an. Er tat mir schrecklich leid. Ich rannte zu ihnen und schimpfte mit ihnen. Ich kannte sie gut, da ich mit ihnen zusammen in einem Dorf groß geworden war. Aber sie stießen mich nur fort und riefen, ich solle verschwinden. Doch ich verschwand nicht. Ich griff sie immer wieder an und wollte sie von ihrem Vorhaben abbringen. Und dann …«

Johanna brach an dieser Stelle den Bericht ab und betrachtete ihre im Schoß gefaltenen Hände. Sie hatten zu zittern begonnen. Immeke legte nun ihre kleine, feiste Hand auf Johannas und streichelte sie sanft.

»Du musst nicht weitersprechen, wenn das, was nun kommt, schwer auf deiner Seele lastet. Ich wusste ja nicht, dass es eine furchtbare Geschichte ist, die dich und diesen Mann verbindet.«

Aber Johanna fuhr dennoch mit veränderter, leiser Stimme fort. »Bis dahin waren wir Kinder gewesen. Wir hatten zusammen Steine von den Äckern gelesen, hatten auf der Dorfstraße Fangen gespielt, Äpfel aus dem Garten des Pfarrers gestohlen. Aber an diesem Tag waren sie plötzlich so anders. Zunächst prügelten sie nur auf mich ein, schlugen immer wieder meinen Kopf gegen einen Baum, und dann, als ich schon ganz schwach war … Ich wollte das nicht, was sie mit mir anzustellen versuchten, Immeke.«

»Ich kann mir denken, was es war.«

»Es ging nicht bis zum Äußersten, nicht ganz. Und dann … Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat. Er muss das Messer die ganze Zeit bei sich gehabt und damit die Seile durchtrennt haben, mit denen er an den Baum gefesselt gewesen war. Plötzlich stand er über uns. Über mir und den drei Burschen, die allesamt auf mir lagen. Und dann stach er zu.«

»Oh Gott!« Immeke machte rasch das Kreuzzeichen.

»Zunächst dachte ich, er wolle mir helfen, mich retten. Doch er hörte nicht auf, auf sie einzustechen. Sie regten sich schon lange nicht mehr. Und dann befürchtete ich, dass er gleich auch mich töten würde. Er tat es nicht meinetwegen, er tat es seinetwegen. Er tat es, weil er diese Burschen hasste, weil er uns alle hasste. Irgendwie gelang es mir, unter den regungslosen Jungen hervorzukriechen. Er hatte auch mich verletzt. Mein Bein blutete stark. Ich weiß nicht, ob es Absicht war oder im Eifer des Gefechts geschehen war. Und dann wurde mir übel. Ich musste mich übergeben, alles verschwamm vor meinen Augen. Mein Kopf dröhnte, mein Bein schmerzte, und ich verlor immer wieder die Besinnung. Darum kann ich mich an das Folgende nur noch vage erinnern. Ich erinnere mich an Unmengen von Blut, ja, an Gedärm und an den Geruch, der aus den aufgeschnittenen Leibern frisch geschlachteter Rinder strömt. Alles war wie ein schrecklicher Traum, in dem man handeln will, aber nicht handeln kann. Und dann wurde ich vollkommen ohnmächtig. Als ich wieder zu mir kam, war es bereits dunkel. Ich denke, es war Nacht. Da entdeckte ich ihn. Er war gerade dabei, ein Loch zuzuschaufeln. Das Grab der Burschen, die ihn gefoltert und mich geschändet hatten. Heimlich versuchte ich, mich davonzustehlen, doch mein verletztes Bein trug mich nicht weit. Ich fiel, und schon war er da. Er schaute mich nur an. Lange schaute er mich an, und dann sagte er: ›Wir beide haben sie getötet. Du und ich. Vergiss das nicht, wenn es dir einfallen sollte zu reden.‹ Ich nickte nur und stimmte ihm dadurch zu. Ich wollte einfach nur fort, fort aus diesem Alptraum und weiterleben. Und er ließ mich tatsächlich gehen.«

Johanna atmete tief durch und starrte stumm auf die dunkle Wand ihrer Kammer, an welcher ein schlichtes Holzkreuz hing.

»Und du hast ihn niemals verraten?«, fragte Immeke.

Johanna schüttelte den Kopf.

»Wieso nicht?«

»Ich weiß es selber nicht. Zum einen habe ich mich geschämt. Ich fühlte mich schmutzig und auch schuldig. Und dann hatte ich stets das Gefühl, ihm dankbar sein zu müssen. Wie sollte ich jemanden verraten, der mir vielleicht das Leben gerettet hatte? Außerdem habe ich ihm versprochen, nicht zu reden. Und dann war da auch noch diese unausgesprochene Drohung. Ich hatte einfach Angst, Angst vor ihm und auch vor den Zauberkräften seiner Mutter. So vieles sprach dafür zu schweigen, und nur wenig sprach dafür zu reden.«

»Und was geschah dann? Man vermisste die Jungen doch, oder etwa nicht?«

»Natürlich wurden sie vermisst und auch gesucht. Doch man fand sie nicht. Man erfand zahllose Geschichten, die das Verschwinden der vier Burschen erklären sollten. Denn auch Philipp wurde von da an nie wieder gesehen. Ich wurde zum Glück niemals damit in Verbindung gebracht. Mein Bein heilte, ohne dass selbst meine Mutter etwas von dieser Verletzung bemerkte. Und dann kam das Vergessen.«

»Bis er wieder auftauchte. Und das ausgerechnet hier in Hameln im Hause der Witwe Gänslein, bei der du als Magd tätig bist«, ergänzte Immeke.

»Kann man das einen Zufall heißen, Immeke?«

»Ich weiß es nicht, Johanna. Und ich weiß auch nicht, was ich von dieser Geschichte halten soll. Ist dieser Mann nun gut, oder ist er böse? Auf jeden Fall müssen wir die Herrin vor ihm warnen.«

»Ja, sie sollte tatsächlich über ihn Bescheid wissen. Ich habe bereits zwei Mal versucht, mit ihr zu sprechen. Ein wenig halbherzig vielleicht, weil auch mir nicht wohl bei der Sache ist. Bislang jedoch wollte sie mir nicht zuhören.«

Immeke strich ein paarmal freundschaftlich über Johannas Oberarm.

»Versuche es ein weiteres Mal, Johanna. Gleich morgen in der Früh«, riet die Köchin. Dann erhob sie sich und sagte leise: »Ich hoffe, es hat dir gutgetan, davon zu sprechen. Und jetzt versuch zu schlafen. Wir benötigen beide ein wenig Nachtruhe.«

Johanna kam nicht dazu, mit ihrer Herrin zu reden, denn gleich am nächsten Morgen stand ein Amtsdiener vor der Türe und brachte eine förmliche Vorladung für die Witwe Gänslein vorbei. Sie habe sich unverzüglich im Rathaus einzufinden, der Bürgermeister und einige Ratsherren erwarteten sie.

Margarethe versuchte, unbekümmert zu wirken, und erklärte dem verunsicherten Boten, dass man einer geschäftigen Frau wie ihr nicht derlei kurzfristige Einladungen zukommen lassen könne. Er solle dem Bürgermeister ihre besten Grüße ausrichten und ihm sagen, dass sie, sobald sie ihre Arbeit erledigt habe, gern den Weg zum Rathaus fände. Doch der Amtsdiener, so schüchtern und rot angelaufen er auch war, wollte sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben. Er müsse, so beharrte er, hier an Ort und Stelle auf die Witwe Gänslein warten, um sie die wenigen Schritte hin zum Rathaus zu begleiten, so sei seine Anweisung. Und von dieser Anweisung werde er auch keinen Abstand nehmen.

»Nun gut«, hatte Margarethe ruhig gesagt und den beflissenen Mann eine geschlagene Stunde in der kalten Diele stehen lassen, während sie ihr Frühstück ausfallen ließ und sich stattdessen allein hinter die geschlossene Türe ihrer Schreibstube zurückzog.

Als sie wieder herauskam, ließ sie sich von Johanna einen Mantel bringen, nickte der Magd nur freundlich zu und verließ dann zusammen mit dem Amtsdiener das Haus.

»Hoffentlich geht es nur darum, dass man sie nicht allein arbeiten lassen will«, meinte Immeke, welche nun im Eingang zur Küche auftauchte und mit einem fleckigen Tuch einen kupfernen kleinen Topf polierte. »Wenn jemand das mit der toten Gerda herausbekommen hat, dann stecken sie unsere Herrin gewiss ins Blumenloch. Und uns ganz bald dazu.«

Es war fast Mittag und Margarethe Gänslein noch immer nicht in ihr Haus zurückgekehrt. Johanna machte sich auf zum Schlachter Wulfmann, um den notwendigen Vorrat an frischem Fleisch und Wurst für die kommenden Tage zu bestellen. Alles sollte seinen geregelten Gang nehmen, auch wenn im gesamten Hause Gänslein eine eigentümliche Stimmung herrschte. Ihr Weg führte die Magd nicht zufällig vorbei an dem mächtigen Rathaus, in dem Margarethe nun bereits Stunden verbrachte.

Was sie darinnen wohl mit ihr anstellten?

Sie gingen doch wohl gut mit ihr um?

Oder führten sie sie gar in die Kammer im Keller, von der es hieß, dass dort die garstigsten Folterinstrumente untergebracht waren?

Vielleicht saß sie bereits an Ketten gebunden, barfüßig und nur in einen leinenen Fetzen gehüllt im kalten Blumenloch, wie nicht nur die Köchin Immeke den feuchten Kerkerraum des Rathauses schimpfte?

Im Grunde war es unmöglich, sich vorzustellen, dass einer Frau wie Margarethe Gänslein so etwas widerfahren könnte. Aber dennoch hatte Johanna ein ungutes Gefühl. Sie war sich sicher, dass man nicht friedlich in der prächtigen Amtsstube des Bürgermeisters zusammensaß, plauderte, lachte und dabei süße Kringel aß. Zu viel war in letzter Zeit geschehen: die Rückkehr und der Besuch von Margarethes erklärtem Feind Hasenstock, der von allen vermutete plötzliche Feuertod des Apothekers Vinsebeck, ganz zu schweigen von der Heimlichtuerei um die arme Gerda, deren Leiche bei Nacht und Nebel fortgebracht worden war.

Es gab also viele Möglichkeiten, weshalb man Margarethe ins Rathaus hätte berufen können. Und wenn Johanna länger darüber nachdachte, gab es sogar genügend Möglichkeiten, um die Kauffrau zum Richtblock zu führen.

Johanna blieb vor dem Rathaus mit seinen Händlerbuden im Erdgeschoss und seiner Ratsstube in der oberen Etage stehen. Aus der Weinschenke im Keller drangen bereits fröhliche Laute, etwaige Geräusche aus dem ebenfalls im Keller befindlichen Kerker und der Folterkammer waren nicht zu vernehmen. Selbst wenn Johanna es gewagt hätte, so wäre es ihr nicht gelungen, einen Blick durch die Fenster des Gebäudes zu werfen, denn die Läden waren wegen des eisigen Wetters allesamt geschlossen. Sie stand vor einer Mauer, einer wehrhaften, trutzigen Mauer, und hinter dieser dicken Wand saß, stand, lag oder hing bereits Margarethe, wurde auf die Streckbank gebunden oder an den auf den Rücken gefesselten Armen an einem Seil nach oben gezogen. So zumindest sahen die Bilder aus, welche sich vor Johannas innerem Auge zeigten. Unwillkürlich ging sie einige Schritte nach vorn, legte ihr Ohr an die kalte Rathauswand und versuchte zu lauschen. Sie erwartete, Schreie zu hören. Doch stattdessen vernahm sie nichts weiter als die Rufe der Marktfrauen und das Lachen von Kindern, welche auf dem angrenzenden Platz ihrem alltäglichen Treiben nachgingen.

Über ihr eigenes seltsames Verhalten den Kopf schüttelnd, ging sie fort von der Wand und wollte gerade ihren Weg zum Schlachtermeister Wulfmann fortsetzen, als sie den Scharfrichter Carnifex aus einem tiefer gelegenen Nebenausgang des Rathauses kommen sah. Er trug einen schweren Schlüssel in der Hand, mit welchem er die eiserne Tür, die sicherlich in den Kerker führte, hinter sich abschloss, um dann die wenigen, verschneiten Stufen hinaufzugehen, die hin zum Pferdemarkt führten.

Johanna blieb stehen und schaute ihn an. Auch er bemerkte die ihm bekannte Frau, doch anstatt sie anzulächeln, wie Johanna es von ihm gewohnt war, blickte er nur zu Boden und ging schnurstracks an ihr vorüber.

»Carnifex?«, rief sie ihm nach, woraufhin die starken Schultern des jungen Mannes zusammenzuckten, als seien sie von einer riesigen Streitaxt getroffen worden. Abrupt blieb er stehen und drehte sich um. Sein Kopf war über und über rot angelaufen.

»Frau Johanna, ich habe Euch gar nicht gesehen«, log er ganz offensichtlich. Johanna verzieh ihm, da es mehr als deutlich war, in welche Verlegenheit sie ihn unbeabsichtigt gebracht hatte.

»Hattet Ihr im Rathaus zu tun?«, fragte sie und ging nun auf den noch wie angewurzelt dastehenden Scharfrichter zu. Er wiederum wich einen Schritt zurück und kratzte sich verlegen am Kinn.

»Man muss auch dort hin und wieder nach dem Rechten sehen«, antwortete er so leise und nuschelnd, dass man ihn kaum verstehen konnte.

»In der Folterkammer etwa?«, Johannas Worte spiegelten weniger Neugierde als vielmehr Sorge wider, doch das bemerkte Justus Carnifex nicht.

»So ist es. Auch das ist meine Aufgabe. Eine leidliche zwar, aber eine notwendige.«

»Gab es dort etwa heut zu tun?«, wollte Johanna nun wissen. Ihre Stimme bebte.

»Und ob«, sagte er. »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, was es da drinnen alles zu tun gibt. Ich könnte ganze Tage und Nächte dort verbringen, und noch immer wäre die Arbeit nicht erledigt.«

Nun wurde er ein wenig munterer. Johanna hingegen blickte ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an.

»Was ist mit meiner Herrin?«, fragte sie dann vorsichtig.

»Die? Der werde ich wohl sehr bald wieder einen Besuch abstatten müssen. Ob sie will oder nicht.« Er klang fröhlich, ganz so, als bereite es ihm Vergnügen, was er mit Margarethe angestellt hatte und noch weiterhin anstellen würde.

»Ist sie noch immer dort?«

»Im Rathaus? Ja, gewiss ist sie noch dort. Ich konnte aber ein wenig mit ihr reden und habe ihr gesagt, dass wir die Sache so schnell wie möglich hinter uns bringen sollten. Natürlich ist das nichts Schönes. Wer hat es schon gern. Aber Notwendigkeit ist Notwendigkeit, und wenn sie keinen Ärger mit dem Stadtrat bekommen will, muss sie das halt über sich ergehen lassen. Doch für sie wird es ja nicht so arg. Sie hat mit der Sache im Grunde nichts zu tun. Für Euch, Johanna, wird es viel unangenehmer werden.«

Johanna traute ihren Ohren kaum und wich nun ihrerseits ein wenig zurück.

Was sprach dieser Mann da?

Er redete so, als sei es eine Selbstverständlichkeit, dass die angesehene Witwe Gänslein an diesem Tage bestialisch gefoltert worden war und weiter gequält werden würde. Aber nicht nur das. Er kündigte zudem beiläufig an, dass auch sie, die Magd Johanna, eine ähnliche, ja schlimmere Tortur, erwarte.

Es musste mit Gerdas Tod zu tun haben.

Dennoch wollte sie es genau wissen.

»Was habe ich denn verbrochen, dass es für mich noch schlimmer wird?«

Jetzt lachte er schallend, und spätestens in diesem Moment fielen zahlreiche Blicke von den auf dem Markt versammelten Hamelner Bürgern auf den Henker und die Magd, mit welcher sich der Ehrlose köstlich zu unterhalten schien. Doch das argwöhnische Kopfschütteln der Frauen und das schmutzige Lachen der Männer bekümmerten Johanna heute nur wenig. Sie bedrückten andere Sorgen.

»Na, Ihr seid die Magd. Ihr werdet mir alles zeigen müssen.«

»Mit Verlaub, ich verstehe Euch nicht, Carnifex.«

»Ich habe heute Morgen die Witwe Gänslein auf dem Weg zum Rathaus getroffen. Wir liefen uns über den Weg. Anders als andere Leute hat sie keine Angst, das Wort an mich zu richten. Und so fragte sie mich, ob es denn wirklich dringend sei, dass man ihre Grube im Hinterhof ausheben müsse. Natürlich sei es dringend, antwortete ich ihr. Deshalb verabredeten wir, dass ich in der nächsten Woche zu Euch kommen werde, um die Dreckssache zu erledigen. Und dabei werdet Ihr mir helfen müssen, während Eure Herrin sich in eines ihrer vielen Gemächer zurückziehen und alle Luken dichtmachen kann. Habt Ihr mich nun verstanden, Johanna?«

Johanna atmete hörbar auf und hielt sich erleichtert eine Hand vor die Brust. Dann jedoch fragte sie: »Und was habt ihr mit Margarethe Gänslein in der Folterkammer zu schaffen gehabt?«

»Nichts«, antwortete er empört. »Sie ist vorgeladen bei den Ratsherren. Ich weiß nicht, worum es da geht. Ich sprach lediglich hier draußen vor der Türe mit ihr, und dann machte ich mich auf, die Instrumente zu reinigen, zu ölen und die eine oder andere Verbesserung an ihnen vorzunehmen. Ein Fass ohne Boden ist das, dabei nutzen wir sie gar nicht so oft. Aber gerade das lässt sie rosten.«

Er winkte ab.

Und Johanna prustete erneut erleichtert. Was war sie nur für ein dummes Huhn! Aber dieser Carnifex hatte sich auch wirklich missverständlich ausgedrückt. Er war halt noch ein junger Kerl, und offensichtlich schien sie ihn ein wenig zu verwirren. Nun ja, damit galt es zu leben. Besser den Henker zum Freund als ihn zum Feind zu haben.

Aber war er tatsächlich ihr Freund?

Konnte sie vertraulich mit ihm reden?

Denn eine Frage brannte ihr sehr auf der Seele. Und nun nahm sie sich ein Herz und stellte sie.

»Darf ich Euch fragen, guter Carnifex, wer der Herr Eures Bruders ist?«

Verdutzt blickte er sie an.

»Der Herr meines Bruders? Mein Bruder hat keinen Herrn. Er war Söldner, hat sogar gegen die Türken gekämpft. Aber im Moment wüsste ich nicht, dass er einem Herrn dient. Er arbeitet vielmehr als mein Knecht. Als Henkershelfer sozusagen.«

»Na gut. Dann muss ich ihn verwechselt haben«, stotterte Johanna.

»Ich könnte ihn für Euch fragen«, schlug Carnifex vor.

»Bloß nicht«, rief Johanna und fasste den jungen Mann vor Schreck an die Hand. Dieser zog rasch seinen Arm fort und schaute in die Runde.

»Ihr dürft mich doch nicht berühren. Nicht, wenn andere Leute zugegen sind«, flüsterte er dann.

»Verzeiht«, stammelte Johanna nur und setzte endlich ihren Weg zum Fleischer fort.

»Bis bald«, murmelte er leise und sah ihr glücklich nach, die teils empörten, teils belustigten Blicke der Marktbesucher missachtend.

»Nun gut, dann wiederhole ich mich zum fünften Mal: Ich komme allein zurecht. Ich bin in der Lage, meinen Haushalt zu führen, meine Handelsgeschäfte mit Erfolg zu betreiben und zusätzlich meinen Bürgerpflichten nachzugehen. Was, meine Herren, erwartet Ihr mehr?« Margarethe Gänslein blieb, trotz dieser deutlichen Worte und ganz entgegen ihrem berüchtigten Naturell, ruhig und gelassen. Ein Verhalten, welches die anwesenden Herren, insbesondere den Apotheker Peter Hasenstock, nicht nur überraschte, sondern auch etwas verunsicherte.

Nervös knabberte Hasenstock nun bereits an seinem neunten süßen Kringel herum und konnte seinen hassvollen Blick nicht von der Witwe Gänslein lassen. Er hätte es doch nicht im Guten mit ihr versuchen sollen.

Denn sie schaffte es. Sie schaffte es immer wieder, den Bürgermeister und die anderen Dummköpfe um den kleinen Finger zu wickeln. Sie schaffte es. Und er musste dabei zusehen. Immerzu war es das gleiche Spiel, schon zu Zeiten Reinold Gänsleins war es so gewesen: Er, Peter Hasenstock bemühte sich, und die Gänsleins ernteten. Doch dazu hatte er nun ganz und gar keine Lust mehr. Seine Geduld und seine Gutmütigkeit waren am Ende.

Immerhin hatte er noch einen Trumpf im Ärmel, und diesen Trumpf müsste, ja, wollte er nun ausspielen. Allein die Art und Weise, wie er das anstellen sollte, war ihm noch nicht ganz klar. Denn er durfte auf keinen Fall den Eindruck vermitteln, dass er diese Frau zu erpressen versuchte. Wenn er doch nur in der Lage gewesen wäre, einen klaren Gedanken zu fassen. Doch er konnte sich heute ganz und gar nicht konzentrieren – dieses furchtbare Jucken nahm kein Ende, es wurde schlimmer und schlimmer. Seit Wochen ließ ihn seine junge Frau deshalb schon nicht mehr beiliegen, und auch als Apotheker war er in dieser Hinsicht genauso ratlos wie unwissend. Doch er hütete sich, einen Medicus aufzusuchen. Das konnte er sich als angesehener Bürger nicht erlauben, denn im Grunde seines Herzens ahnte Peter Hasenstock, was für ein Übel er da mit sich herumtrug. Verzweifelt versuchte er, seine Oberschenkel aneinanderzureiben, um sich wenigstens ein wenig Linderung zu verschaffen, aber mit dieser heimlichen Maßnahme gelangte er leider nicht an die richtige Stelle. Er würde am Nachmittag die Badestube aufsuchen, um sich dort unten gründlich zu reinigen oder, besser, sich dort unten gründlich reinigen zu lassen. Am liebsten von Susanna, dem jungen Ding mit den braunen Augen, die ihn schon so manches Mal an Maria erinnert hatte. An die wilde Maria, als sie noch jung und frisch gewesen war, damals in den Bergen. Ja, seitdem der elende Zwerg – Gott hab ihn selig – sie erwähnt hatte, ging Hasenstock die Erinnerung an diese Frau nicht mehr aus dem Kopf. Doch wo dachte er hin? Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich derlei lüsternen Gedanken hinzugeben, hier ging es um wesentlichere Dinge: Hier ging es um die Zukunft des Peter Hasenstock und um das Ende des Gewürzhandels Reinold Gänsleins.

»Aber, meine gute Margarethe, wer wüsste das besser als wir?«, antwortete der Bürgermeister und wiederholte sich nun auch zum mindestens fünften Mal.

Hasenstock wurde es zu bunt. Das Jucken im Schritt machte ihn schier verrückt. Er stand auf, und ohne nachzudenken, sagte, nein, schrie er fast:

»Wenn Ihr doch so gut zurechtkommt, Frau Margarethe, weshalb wolltet Ihr dann den Zwerg Vinsebeck ehelichen? Doch nicht seines immensen Vermögens und seiner schönen Gestalt wegen.«

Margarethe erstarrte für einen Augenblick. Sie hätte mit einem solchen Angriff seitens ihres Rivalen rechnen müssen, denn immerhin war ihr bekannt, dass Vinsebeck sich ihm gegenüber verplappert hatte. Schnell fasste sie sich und erwiderte: »Was, in Gottes Namen, redet Ihr da, werter Hasenstock?«

»Ihr wisst genau, wovon ich rede. Kein Geringerer als Vinsebeck persönlich hat es mir erzählt. Ihr höchstselbst sollt ihn regelrecht angefleht haben, dass er Euch zur Frau nimmt, damit Euch vom Rat kein Vormund bestimmt wird.«

»Welch ein Unsinn«, lachte Margarethe und schaute dabei zum Bürgermeister, der hinter seinem Pult saß und verwundert die Augenbrauen hob. Dann sagte sie in gewohnt kühler Manier: »Ich halte es für eine große Schmach, das Ansehen eines unlängst Verstorbenen derartig zu beschmutzen, indem man Lügengeschichten über ihn verbreitet, weil man weiß, dass er sich dagegen nicht mehr zur Wehr setzen kann.«

»Ist man etwa beschmutzt, wenn man Euch zur Braut hat?«, erwiderte Hasenstock, worauf er ein unterdrücktes Lachen der anwesenden Herren erntete. »Und außerdem …« Er machte eine Pause, in welcher er jeden im Raume, außer Margarethe, eindringlich anschaute. »Außerdem ließe sich durchaus vermuten, dass es kein Unfall war, durch den der bedauernswerte Vinsebeck vom Leben in den Tod befördert wurde.«

»Ach?«, meinte Margarethe. Leider wusste sie nichts weiter zu erwidern. Das heißt, sie hätte eine Menge zu erwidern gewusst, aber all das wäre in diesem Fall äußerst ungünstig für sie oder aber für ihren Freund Vinsebeck gewesen, über den sie in Erfahrung gebracht hatte, dass er durchaus noch lebte.

»Ja, ach«, sagte Hasenstock. Seine Stimme klang jedoch etwas gequält. Und Margarethe bemerkte, wie er seine Leistengegend an der Tischkante rieb. Unter anderen Umständen wäre sie belustigt gewesen, doch heute war ihr nur wenig zum Lachen zumute. »Des Weiteren«, fuhr er fort, nachdem er seine nicht unbemerkt gebliebene Handlung zur Linderung des Juckreizes beendet hatte, »… des Weiteren seid Ihr in der Tatnacht nicht in Eurem Hause gewesen, Witwe Gänslein.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«, fragte Margarethe scharf.

»Ihr wurdet gesehen, und der Zustand, in dem Ihr gewesen sein sollt, sei am besten mit dem Wort ›verwahrlost‹ zu beschreiben. Sehr ungewöhnlich für eine sonst so gefasste und, mit Verlaub, gepflegte Frau, wie Ihr es seid.«

Margarethe spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, und das machte sie nur noch wütender. Doch sie versuchte, weiterhin ruhig zu bleiben, auch wenn es ihr zunehmend schwerfiel. Dieser Mann wurde ausfallend, und das war ihr Vorteil. Denn sie kannte den Bürgermeister gut genug, um zu wissen, dass Unbeherrschtheit eine Eigenschaft war, auf welche er mit großem Unbehagen reagierte. Schließlich war er es, den es hier und jetzt zu überzeugen galt.

»Es betrübt mich sehr, werter Ratsherr Hasenstock, dass ein Mann, der mir seine Hilfe als Freund und Berater anbieten will, solch schimpfliche Gerüchte über mich verstreut. Wie« – und damit wandte sie sich an den Bürgermeister –, »wie nur, mein geehrter Herr Bürgermeister und meine geehrten Herren Patrizier, soll ich Peter Hasenstock vertrauen können, ihn gar als meinen Vormund annehmen, wenn es ihm beliebt, mir zu unterstellen, dass ich des Nachts mein Bett verlasse und durch die Straßen der Stadt streune wie eine räudige Katze? Kann er das beweisen?«

»Nun …«, antwortete Hasenstock ein wenig verunsichert. Er hatte diese Information von einer Badehaushure erhalten, ebenjener Susanna, zu der er sich noch heute begeben wollte. Eine wenig ehrenhafte Quelle, die besser unerwähnt bleiben sollte.

Der Bürgermeister erhob sich und klopfte mit der flachen Hand zweimal auf sein Pult.

»Wir verschieben diese Angelegenheit. Zu viele Ungereimtheiten scheinen sich uns noch in den Weg zu stellen. Stunden haben wir nun hier verbracht, ohne zu einer Lösung zu kommen. Mir drückt empfindlich der Magen. Meine Herren, lasst uns nun hinüber in die Schmeckstube im Neuen Schaden gehen.« Und mit einem deutlichen Kopfnicken wies er die Anwesenden an, dass sie jetzt den Raum verlassen durften.

Peter Hasenstock blickte ihn einen Moment lang fragend an, doch der Bürgermeister schien das nicht zu bemerken. Er näherte sich vielmehr der etwas blassen, aber vorerst erleichterten Margarethe und raunte ihr zu:

»Heiratet! Bald!«