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Geheimnis der Magd - читать онлайн бесплатно полную версию книги . Страница 3

I

Im Herbst des Jahres 1529 auf einem Rittergut in der Nähe der Stadt Hameln

Der Tag hatte begonnen wie jeder andere Tag im Leben der Amme Johanna. Jeder andere Tag in den letzten sechs Monaten, seitdem die Milch in ihrer Brust versiegt war und sie neue Tätigkeiten zugewiesen bekommen hatte. Johanna hätte Gott danken müssen, auf diesem ärmlichen, heruntergekommenen, vor Schmutz starrenden Rittergut als Magd verbleiben zu dürfen, nachdem ihre Dienste als Nähramme des kleinen Heinrich nicht mehr benötigt wurden.

Es gab keinen Ort, an den sie sonst hätte gehen können, die einsame Frau. Dennoch fühlte sie keine Dankbarkeit. Sie verspürte nach wie vor nur Wut und Hass. Hass insbesondere auf sich selbst; darüber, dass sie zuließ, was hier auf diesem Landadelshof mit ihr geschah. Doch von all diesen Gedanken und Gefühlen ließ sie sich nichts anmerken. Sie gehorchte, und sie arbeitete, so wie es ihr gottgewolltes Los zu sein schien.

Und so war sie auch an diesem Herbsttage pflichtbewusst mit dem ersten Hahnenschrei erwacht und aufgestanden, hatte das ihr zugewiesene Kämmerlein verlassen und zusammen mit der alten Magd in der dunklen Küche des uralten, schiefen Fachwerkhauses den Haferschleim zubereitet, der lediglich für die Bediensteten gedacht war. Die Herrschaften nämlich ruhten zu dieser Stunde noch, würden es drei weitere Stunden lang tun, und das war gut so. Denn Johanna war froh, ja geradezu selig, wenn sie nicht damit rechnen musste, ihm zu begegnen.

Er war der eigentliche Grund dafür, dass sie nicht hatte gehen müssen, nachdem der Sohn des Hauses von der Brust entwöhnt worden war. Er sah sich als ihr Gönner, ihr Wohltäter. Sie aber sah ihn nur als den Mörder ihres Gatten und zudem als einen Abscheu erregenden Lüstling, vor dem man zu keiner Stunde des Tages und an keinem Ort sicher war. Fast war Johanna erleichtert, bereits im Morgengrauen eine Gruppe von Reitern auf die Niederadelsburg zukommen zu sehen. Ein Anblick, der versprach, dass er wenigstens am heutigen Tage beschäftigt genug sein würde, um seine schmutzigen Finger von ihr zu lassen.

Johanna hatte, wie an jedem Morgen, vorsichtig die wackeligen Leitern und Stiegen des hölzernen Wachturms erklommen, wohlbedacht, nichts von dem heißen Brei zu verschütten, der für den Wachposten, einen Bauernknaben aus dem nahen Ort, bestimmt war. Der Junge schlief in einer Ecke der zugigen, morschen Aussichtsplattform und erweckte nicht den Eindruck, in dieser Nacht auch nur für einen kurzen Moment dem ihm zugewiesenen Dienst nachgekommen zu sein. Johanna sah es ihm nach und dachte nicht im Traum daran, ihn bei seinem Herrn anzuschwärzen.

Wer auch sollte die Burg, die dieser Bezeichnung selbst in ihren jungen Tagen nicht gerecht geworden war, stürmen? Niemand – außer den Steuereintreibern des Herzogs oder vielleicht wütenden Kaufleuten, welchen der Herr und Ritter mitunter gern in vermummter Gestalt am Wegesrand auflauerte, um sie um ihr Transportgut zu erleichtern. Doch weder die einen noch die anderen hatten sich jemals in der Nähe dieser mit einem faulenden, morastigen Graben und einer verrottenden Holzpalisade umgebenen Wohnstatt der Ritter von Eicheck blicken lassen. Zu unbedeutend war der Herr, zu arm, zu elend, als dass man sich auch nur die Mühe hätte machen wollen, etwa Rache an ihm zu üben oder gar Geld bei ihm einzutreiben.

In letzter Zeit jedoch hatte es durchaus Besuch gegeben. Besuch von seltsamen Männern, aus deren Mitte ein Gesicht Johanna eigentümlich bekannt vorkam. Diese Männer schienen Wilhelm von Eicheck sehr aus der Fassung zu bringen. Er betrug sich ihnen gegenüber schleicherisch, fast ängstlich, und war stets bemüht, ihnen zu gefallen. Einmal hatte Wilhelm in seiner mehr als bescheidenen Behausung für sie auffahren lassen, wie es höchstens der Herzog von Calenberg vermochte. Eigens dazu hatte er sich gewaschen und war in das nahe Hameln aufgebrochen. Dort hatte er bei einem Juden Geld geliehen, um es hernach auf dem Markt der reichen Stadt in allerlei Leckereien zu investieren, welche er von einem Bauern auf einem Ochsengespann dann zu seiner Burg hatte karren lassen. Es war ein großes Schmausen und Saufen gewesen, bei dem auch der eine oder andere köstliche Happen für die Bediensteten abgefallen war. Johanna hatte es mit viel Geschick verstanden, sich an diesem Abend nicht vor den Gästen zeigen zu müssen, sondern in der Küche zu bleiben. Der Gedanke, dem Mann, den sie in einem der Besucher zu erkennen glaubte, unter die Augen zu treten, bereitete ihr Angst. Aber dennoch fühlte sie sich jedes Mal, wenn er zu Besuch war, regelrecht gezwungen, ihn heimlich durch einen Türspalt zu beobachten.

Er hatte sich nur wenig verändert, war zu einem Mann herangereift, zu einem ansehnlichen Mann. Doch der schwelende Zorn und die unendliche Traurigkeit in seinen Augen waren geblieben. Allein das hatte ihn schon damals, in ihren gemeinsamen Kindertagen, unverkennbar gemacht. Er war es, das stand fest. Und Johanna fragte sich seither, was er hier auf der Burg ihres Herrn wollte. Wer seine Begleiter waren. Und ob diese wussten, dass es sich bei ihm ganz und gar nicht um einen Edelmann handelte.

Wie alle ihre Gedanken und Gefühle behielt sie auch diese Fragen für sich, sprach mit niemandem darüber, denn es gab niemanden, dem sie sich hätte anvertrauen oder den sie gar vor diesem ihr wohlbekannten Menschen hätte warnen wollen. Sie hatte ihn wiedererkannt und hoffte nun, dass es ihm mit ihr nicht ebenso ergehen würde. Denn nur zu gut erinnerte sie sich an das, wozu dieser Mensch, dieser Teufel, einst in der Lage gewesen war.

Jetzt waren sie wieder im Anmarsch, die eigentümlichen Gäste des Ritters von Eicheck.

Johanna blickte durch die Schießscharte des Wachturms auf den noch im Morgengrauen liegenden Weg, über welchen sich die Reiter näherten. Es waren tatsächlich dieselben. Drei an der Zahl, und auch er war unter ihnen. Sie erkannte ihn an seiner aufrechten, schlanken Gestalt. Johanna atmete tief durch. Sie war sich nicht sicher, welches für sie das geringere Übel darstellte: die grabschenden Hände ihres Brotgebers oder die Anwesenheit dieses unberechenbaren Hexensohnes.

»Heute wird dem Herrn Ritter sicher nicht langweilig«, flüsterte sie leise zu sich selbst, trat dann von dem Guckloch zurück, weckte den Knaben mit einem leichten Fußtritt auf, reichte ihm die dampfende Holzschüssel und kletterte schnell die Stiege hinunter, um dem Stallknecht Bescheid zu geben, er möge das Tor öffnen, denn der Herr empfange Besuch.

»Stell dich nicht so an.«

Er stank schlimmer als ein Misthaufen und sah auch nicht sehr viel besser aus. Sein krauses Haar und sein wirrer Bart bildeten eine Einheit, aus der nur die dicke, knollige Nase und seine winzigen, verquollenen Sehschlitze hervorblickten. Seine fleischigen Lippen waren geöffnet, er atmete schnell und hüllte Johanna ein in einen Dunst aus verfaulten Zähnen, Zwiebeln und Bier. Doch das Widerwärtigste an ihm waren die Hände, diese dicken, riesigen Pranken. Ungeschlacht und grob, waren sie dennoch überall, griffen fest zu und nahmen sich, ohne zu fragen.

Johanna versuchte, die Luft anzuhalten, als er auf ihr lag. Sie kniff die Augen zusammen und hoffte inständig, dass es bald vorüber war. Doch er war zu betrunken, um ihr eine schnelle Erlösung zu ermöglichen, aber nicht betrunken genug, um nicht zu bemerken, wie sehr sie sich gegen ihn sträubte.

»Mach mit, sonst ist es das letzte Mal, du Metze«, stöhnte er, während mehrere Tropfen seines zähen Speichels in ihr Gesicht fielen. Johanna betete, dass er diese Drohung wahr machte und es das letzte Mal sein würde.

Sie hatte so sehr gehofft, am heutigen Tage verschont zu bleiben. Und der Besuch der Reiter war tatsächlich vielversprechend verlaufen, man war zur Jagd aufgebrochen, hatte danach zusammengesessen und zu feiern begonnen. Am späten Abend waren die drei Männer wieder verschwunden, spät, aber immerhin noch so früh, dass er nicht müde und nicht trunken genug war, um wie tot auf sein Lager zu sinken. Nein, er war noch munter gewesen und hatte Johanna, als sie zusammen mit der alten Magd die Tafel abräumte, am Arm gepackt und hinter sich her die Treppe hinaufgezogen.

Jetzt lagen sie also hier in der verwaisten Knechtekammer unter dem Giebeldach des Herrenhauses, dem Ort, welcher seit der Schwangerschaft der Herrin zum Schlafgemach des Ritters Wilhelm geworden war und an dem sie sich schon so häufig mit ihm hatte treffen müssen, während seine Frau unten in ihrem Zimmer saß und stickte.

Die Herrin war eine ruhige, zurückhaltende Frau. Sie sprach nicht viel, gab den Bediensteten kaum Anweisungen, und selbst mit ihrem einzigen Kind, dem nunmehr dreijährigen Knaben Heinrich, redete sie so gut wie kein Wort. Ihre Kammer verließ sie nur selten, sie las Bücher oder verrichtete Handarbeiten. Doch manchmal, ganz unvermittelt, veränderte sie sich. Man wusste nicht, was in sie gefahren war, wenn diese Wutanfälle kamen. Vom Teufel sei sie besessen, so sprach die alte Magd hinter vorgehaltener Hand, und selbst ihr Mann, der grobe Ritter Wilhelm, bekam es in solchen, jedoch seltenen Momenten mit der Angst zu tun.

Jetzt nahte wieder einmal ein solcher Moment. So dachte Johanna, während ihr Herr, der immer noch auf ihr lag, nichts zu bemerken schien. Da waren nämlich Schritte zu hören, laute Schritte. Die morschen Stufen der Holzstiege knarrten, jemand kam die Treppe zum Dachboden herauf. Und wer anders könnte es sein als die wütende Frau, die ihren Gatten mit dessen Buhlin ertappen wollte? Nicht, dass sie nichts von dessen Zusammenkünften mit der Amme wusste. Jeder wusste es. Aber in den rasenden Momenten ihrer Wutattacken war die Dame unberechenbar und all ihr Gleichmut wie weggeblasen. In solchen Momenten war sie zu allem fähig.

»Die Herrin kommt«, keuchte Johanna und versuchte, den heißen, schweißnassen Körper des Mannes von sich zu stoßen.

Anstatt die unwillige Frau wieder in seine Gewalt zu bringen, wie es normalerweise die Art Wilhelms von Eicheck war, hielt er tatsächlich inne, lauschte mit vor Schreck geweiteten Augen, sprang dann flink wie ein Wiesel von Johanna herunter und stieß leise, aber fast panisch hervor:

»Verbirg dich in der Truhe. Schnell!«

Er hatte gerade die mit mottenzerfressenem, grauem Leinen gefüllte Holzkiste geöffnet, und Johanna war hineingeschlüpft, da sprang auch schon ruckartig die Tür zu der düsteren, kleinen Dachkammer auf. In der Eile musste sich ein Stück Leinenstoff in der Klappe der Truhe verfangen haben, sodass sie sich nicht völlig geschlossen hatte und einen Spalt breit offen stand. Das war Johannas Glück, da sie sonst in dem massiven Ding gewiss nach wenigen Augenblicken erstickt wäre. So bekam sie also weiterhin Luft und auch die Gelegenheit, durch die schmale Ritze zu beobachten, was nun in dem Zimmer vor sich ging.

Es war nicht die Herrin, die diese für Johanna so widerwärtige Zusammenkunft jäh unterbrochen hatte.

Es war einer der Reiter. Niemand anderes als ausgerechnet er – Philipp. Er und ein weiterer, Johanna unbekannter Mann, ein Kraftprotz ohne Hals und ohne Haare, neben dem der so breite und muskelbepackte Wilhelm wirkte wie ein schmächtiges Hähnchen. Ein Hähnchen ohne Federkleid, denn er war zudem immer noch splitternackt.

Doch Johanna konnte nur auf ihn, auf Philipp, starren. »Den Schönen« nannten ihn die anderen weiblichen Bediensteten in diesem Hause, da er zweifellos über ein angenehmes Äußeres verfügte. Hochgewachsen, schlank, mit dunklem, vollem Haar und großen, grauen Augen, hätte er sicherlich jedes Frauenherz für sich gewinnen können, wenn – ja, wenn er nicht auch etwas an sich gehabt hätte, was die abergläubische alte Magd als »dämonisch« bezeichnete. Und Johanna wusste nur zu gut, wie recht die unwissende Alte damit hatte.

Nun stand Philipp also dem nackten Wilhelm gegenüber, neben ihm der Kahlkopf, welcher nichts Geringeres als eine Streitaxt in der Hand hielt, und niemand sprach ein Wort. Es war eine mehr als eigentümliche Situation, und Johanna ahnte, dass dies kein freundschaftliches Beisammensein geben würde.

»Nun?«, das war das Einzige, was Philipp nach vielen, vielen Augenblicken des Schweigens sagte.

»Ich sage dir, wo es ist, ich sag es dir«, stotterte Wilhelm. Seine Stimme klang flehentlich, ja weinerlich. So hatte Johanna ihn noch nie erlebt, und fast tat er ihr leid, dieser Widerling.

»Dann sprich.«

»Im Wald hinter der krummen Linde, dort, wo wir heute auf der Jagd Rast gemacht haben, da liegt ein alter Mühlstein. Man sieht ihn vom Wegesrand aus nicht. Geht man aber wenige Schritte hinein in den Wald, so kann man ihn nicht verfehlen. Unter diesem Stein ist es vergraben. Tief vergraben, zwei Ellen tief wenigstens.« Wilhelm bebte und zitterte. Sicherlich war die nächtliche Herbstkälte, die seinen nackten, verschwitzten Körper umfing, daran nicht unschuldig, mehr noch schien es jedoch die Angst zu sein, welche ihn mit dem Eintreten dieser beiden Männer so sehr gepackt hatte.

»Gut«, sagte Philipp nur. Sein Gesicht wirkte eisern, er verzog keine Miene. Er war nicht einmal erheitert durch den seltsamen Anblick, welcher sich ihm in Form dieses schlotternden, unbekleideten Mannes bot. Der Kahlkopf neben ihm hingegen grinste unaufhörlich.

Johanna betrachtete Philipp genau. Spurlos verschwunden war er damals. Man hatte ihn für tot gehalten, tot wie die drei anderen Buben, welche vom selben Tag an unauffindbar waren. Sie allein wusste es besser und hatte dieses Geheimnis bislang für sich behalten. Aus Angst. Angst davor, dass er eines Tages zurückkehrte und seine Drohung wahrmachte. Und diese Angst ließ sie nun inständig hoffen, nicht von ihm oder seinem Spießgesellen in der Truhe entdeckt zu werden.

Doch offenbar war ihre Hoffnung vergeblich, denn im nächsten Moment fragte Philipp den bibbernden Ritter: »Bist du allein hier?«

»Mutterseelenallein.«

Philipp neigte seinen Kopf und blickte Wilhelm von oben herab kühl und ungläubig an.

»Niemand weiß von dem Geld«, stammelte dieser weiter. »Niemand.«

Jetzt schweifte der kühle Blick durch die ganze Kammer und fiel auch auf die Truhe. Er musste auf die Truhe fallen, denn sie war mit Ausnahme des uralten Bettes das einzige Möbelstück in dem kleinen Raum.

»Dein Weib muss tatsächlich garstig sein, dass du dich jede Nacht in ein derartiges Rattenloch verziehst, Wilhelm«, meinte Philipp schließlich und setzte sich ausgerechnet auf die Truhe, sodass sich nun doch der Deckel gänzlich schloss.

Fortan vernahm Johanna die Vorgänge im Raume nur noch dumpf und weit entfernt. Sie rang schon nach kurzer Zeit nach Atem und war so sehr damit beschäftigt, nicht zu ersticken, dass sie kaum mehr darauf achtete, was die Männer miteinander sprachen. Sie konnte lediglich ausmachen, dass Wilhelm erneut zu jammern, ja zu flehen begann und dabei immer lauter wurde, während sein Besucher nach wie vor auf ihrem Versteck sitzen blieb und sie somit bald dazu bringen würde, ebenfalls laut zu jammern.

Doch dazu kam es nicht.

Johanna hörte mit einem Mal einen dumpfen Aufprall, und dann öffnete sich ebenso plötzlich die Truhe. Zum Glück öffnete sie sich nur wieder einen Spalt weit, ebenden Spalt, der durch das eingeklemmte Leinenstück verursacht wurde. Philipp hatte sich offenbar erhoben und sprach etwas wie: »Jetzt, du abscheulicher Strolch, weißt du, mit wem du es die ganze Zeit zu tun hattest.«

Johanna hörte nicht auf diese Worte. Sie konzentrierte sich allein darauf, leise zu atmen und nicht keuchend nach der nun einströmenden frischen Luft zu schnappen. Es gelang ihr tatsächlich, sich zu beherrschen.

Vorsichtig lugte sie sodann wieder durch die Ritze. Das Talglicht, das den Raum bislang spärlich beleuchtet hatte, war umgekippt und erloschen, sodass es nun sehr viel dunkler in der Dachkammer war. Und die Laterne, welche die beiden Eindringlinge dabeigehabt hatten, verschwand in ebendiesem Moment zusammen mit ihnen durch die Tür aus dem Zimmer. Sie gingen also fort und hatten Johanna nicht entdeckt.

Sie wartete noch einen Moment in ihrer Truhe ab, aber als sich nichts mehr zu regen schien und auch der Herr Wilhelm sich nicht zeigte, um sie aus ihrem Versteck hervorzuholen, stieß sie von innen heraus den schweren Deckel der riesigen Kiste auf. Ihre Knochen schmerzten, und so konnte sie sich, nachdem sie hinausgeklettert war, nur sehr ungelenk fortbewegen.

Stockfinster war es nun, und Johanna gewann bald den Eindruck, dass sie ganz allein im Raume war. Alles war still, allein von draußen war das Rufen eines Kauzes zu vernehmen. Johanna atmete auf. Es zog sie nun in ihr eigenes Kämmerlein, in ihr winziges Reich neben der Küche, welches sie sich mit der guten alten, schnarchenden Magd teilte. Hier wollte sie in aller Ruhe den kurzen Rest dieser denkwürdigen Nacht verbringen.

Vorsichtig tastete sie sich durch die Dunkelheit. Aber nach nur zwei Schritten stolperte sie und fiel. Sie fiel weich, und sofort nahm sie einen ihr vertrauten, aber unliebsamen Geruch wahr.

Der Herr.

Sie lag auf dem nackten Leib Wilhelm von Eichecks, und dieser regte sich nicht.

Johanna durchlief ein eiskalter Schauder. Sie versuchte, sich aufzurichten, und stützte sich dabei auf seine Schultern. Etwas Feuchtes, Warmes klebte an ihren Fingern. Ohne zu wissen, was sie tat, tastete sie im Finstern nach seinem Gesicht.

Doch sie fand es nicht.

Da war kein Gesicht. Da war nichts als ein nackter, blutnasser Stumpf.

Sein Kopf fehlte.

Johanna schrie entsetzlich auf. Sie versuchte, sich zu bewegen, doch ihre Schenkel und Arme zitterten derartig, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnte.

Noch immer bebte sie am ganzen Leibe, als man sie schließlich blutverschmiert auf der unbekleideten Leiche des Ritters sitzend fand. Es war ihr Glück, dass die herbeieilende Herrin einen Anfall erlitt, in Ohnmacht fiel und sich tags darauf an nichts mehr erinnern konnte. Und es war ihr Glück, dass der gutmütige Hofknecht Johanna noch in derselben Nacht inständig dazu riet, den Hof des ermordeten Ritters von Eicheck schnellstmöglich zu verlassen, wenn ihr ihr eigenes Leben lieb sei.

Sie gehorchte stumpf und mit regloser Miene. Ohne zu wissen wohin, stolperte sie, nur in ihr blutiges Leinenhemd gehüllt, in die herbstliche Nacht davon.